Die Stimme des Todes - Edwin Klein - E-Book

Die Stimme des Todes E-Book

Edwin Klein

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Beschreibung

„Er soll von einer Hellfire getroffen worden sein? Blut und Fingerkuppe wurden gefunden, aber von ihm nichts … Alles verbrannt, alles verdampft!“ Leutnant Daniel Burmester, vor acht Monaten in Afghanistan im Einsatz verstorben und beerdigt, ist plötzlich wieder auferstanden. Und er kann sich an nichts mehr erinnern. Sein Bruder Carsten versucht, die Vergangenheit zu rekonstruieren und kommt einem ungeheuren Geschehen auf die Spur. „Man sagt, der Tod habe eine Stimme und kündige sich an …“ Daniel Burmester hat sie bereits gehört.

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Edwin Klein

Die Stimme

des Todes

Thriller

Südwestbuch

Inhalt

1 Prolog

2 Heute

3 Vor einigen Monaten

4 Heute

5 Vor einigen Monaten

6 Heute

7 Vor einigen Monaten

8 Heute

Prolog

Man sagt, der Tod habe eine Stimme und kündige sich an. Manchmal schon Tage, Wochen oder sogar Monate vorher, als gebe er Gelegenheit, sich vorzubereiten. Dann auch wieder abrupt und ohne Vorwarnung, dafür umso lauter und dringlicher. Was er sage, das sei oft an den Gesichtern der Verstorbenen zu erkennen. Nur fragen könne man niemanden mehr, denn wer die Stimme gehört habe, der sei bereits auf dem Weg in eine andere Welt. Das zumindest sagt man.

Aber es gibt auch Ausnahmen. Als einer von wenigen kannte er die Stimme des Todes, eines ganz speziellen Todes. Zwar bisher nur aus der Entfernung, aber er kannte sie. Sein Tod kam normalerweise überraschend und kündigte sich trotzdem auf eine ihm eigene Art an. Allerdings nur für diejenigen, die ihn verstanden. Zuerst ein feines Brummen, das allmählich lauter und in der Tonlage höher, am Ende sogar schrill wurde. Dann plötzlich für einige Sekunden fast Stille, höchstens ein feines Rauschen, in der sich, wie er wusste, der Tod justierte, um stabil zu sein. Und spätestens zehn Sekunden danach die zerfetzende Stimme, das war das letzte, was man vielleicht noch hören konnte.

Um dieser speziellen Todesstimme zu entkommen, gab es nur eine Möglichkeit. Mit Beginn der Stille aufspringen, rennen, sich verstecken und einen sicheren Unterschlupf aufsuchen, mindestens fünf Meter in der Tiefe. Allerdings machte das nur Sinn, wenn man sicher war, nicht das Ziel des Todes zu sein, sonst lief man ihm womöglich genau in die Arme.

Dass der Tod es heute auf ihn abgesehen hatte, wusste er, denn schließlich war er es, der ihn rief. Genau aus diesem Grunde wartete er auch auf ihn. Dabei wirkte er entspannt, wie er in der Mittagssonne auf einem alten Stuhl saß, die Beine hochgelegt auf die Reste einer Mauer, die zu einem größeren Gebäude gehörte. Um ihn herum noch andere Gestalten, sie hockten im Schatten an Tischen, standen in kleinen Gruppen zusammen oder bewegten sich über den freien Platz, einen Innenhof. Nicht weit entfernt auch zwei träge vor sich hinstapfende Esel, die sich in einem Gestell eingebunden im Kreis drehten, Wasser aus einem Brunnen schöpften und dabei eine Menge Staub aufwirbelten.

Aber niemand war so konzentriert wie er. Mit geschlossenen Augen hatte er all seine Sinne angespannt. Heute würde er von Süden kommen, aus der Sonne heraus und deshalb nicht zu sehen sein. Aber der Wind kam zum Glück auch aus dieser Richtung und trug die Geräusche etwas schneller an sein Ohr. Das würde ihm vielleicht zwei weitere Sekunden verschaffen.

Vor sich auf seinen Oberschenkeln lagen ein Handy und ein Plastikbeutel, gefüllt mit einer dunklen Flüssigkeit. Und in der Flüssigkeit der ultimative Beweis. Neben ihm war ein Gewehr an die Mauer gelehnt, und auf dessen Spitze ein Stahlhelm, wie ihn Soldaten trugen.

Der Staub, den die Esel aufwirbelten, wehte in seine Richtung. Er störte ihn nicht. Im Gegenteil, es kam ihm vor, als könnte er sich sogar verstecken. Obwohl er es nicht darauf anlegte, im Gegenteil. Der Tod sollte ihn sehen. Er schaute sich immer genau an, auf wen und was er es abgesehen hatte. Aus vielen Kilometern, manchmal tausend und mehr.

Unwillkürlich erstarrte er und vergaß für wenige Sekunden zu atmen: Das Brummen. Es schwoll an und wurde heller, schriller. Zwei Gestalten huschten noch über den Platz. Er richtete sich etwas auf, neigte den Kopf zu Seite, als könnte er dadurch besser hören. Das Geräusch erstarb, zehn Sekunden Stille, dann die hässliche Stimme des Todes, ein zerfetzendes, berstendes, infernalisches Brüllen. Der Tod begann mit seiner Zerstörung, eine Feuerwalze fraß alles im Umkreis von dreißig Metern. Steine und Erdreich flogen durch die Luft, Staub wurde aufgewirbelt und allmählich fortgeweht in die Weite der kahlen Hochebene. Und genau dort, wo er gesessen hatte, befand sich nun ein Bombentrichter, in dem man bequem zwei Autos verstecken konnte. Die Mauerreste waren hinweg gesprengt worden und das Gebäude zur Hälfte eingestürzt.

Es wurde unnatürlich ruhig. Das Knistern von Feuer war zu hören, und nach einer kleinen Ewigkeit, wie es sich anfühlte, die ersten Schreie und Menschen, die zögernd und vorsichtig näher kamen. Denn manchmal schlug der Tod auch ein zweites Mal zu.

Heute

Sie beobachteten ihn schon seit einer Weile. Langsam kam er auf sie zu, mit unsicheren Schritten, und er wirbelte dabei kleine Staubwolken auf. Es schien, als torkelte er leicht. Seine Kleidung war verschmutzt, die Haare lang, und er trug einen Bart. Aber bei dieser Hitze keine Kopfbedeckung, das war mehr als ungewöhnlich. Von Mal zu Mal schaute er hoch zum Himmel und schützte dabei seine Augen mit der Hand. Dann wieder blickte er in ihre Richtung. Allmählich hoben sie die Gewehre und fixierten ihn über den Lauf. Zwei zielten vorerst auf die Beine, der dritte nahm das Telefon und drückte eine Taste, um den Vorfall zu melden.

Ein vierter kam wenig später hinzu, stellte einen Kasten auf den Tisch, baute eine Art Objektiv auf und fixierte damit den Ankömmling. Negativ, sagte er nach einigen Sekunden und meinte damit, dass der Fremde keinen Sprengstoffgürtel trug. Die Gewehrläufe senkten sich etwas, aber die Spannung blieb. Es kam nicht oft vor, dass sich ihnen jemand unangekündigt auf diese Art und Weise näherte. Zu Fuß und ohne Kopfbedeckung. Und noch nicht einmal ein Einheimischer.

Noch etwa fünfzig Meter. Der Mann blieb stehen, als überlegte er sich seine weitere Vorgehensweise. Er drehte sich einmal um sich selbst und setzte dann zögernd seinen Weg bis zur Sicherheitsschleuse fort. Ohne die Deckung zu verlassen, wurde er weiter von den Männern in Uniform beobachtet.

Bevor sie ihn ansprechen und nach seinem Anliegen fragen konnten, brach der Fremde zusammen. Die Soldaten waren unschlüssig und rührten sich zuerst einmal überhaupt nicht. Konnte ja alles ein Trick sein. Viele ihrer Kameraden waren gestorben, weil sie die Situation falsch eingeschätzt hatten. Spielende Kinder, die sie mit den Fahrzeugen umrundeten und dadurch genau auf eine Mine fuhren. Frauen, die schreiend auf sie zuliefen und einen Sprengsatz zündeten. Durch einen Autounfall Verletzte am Straßenrand, die man versorgen wollte und die dann plötzlich mit Maschinenpistolen schossen. Autos mit einem aufgemalten Roten Kreuz, welche das Stoppkommando ignorierten und die man nicht sofort beschoss. Zu lange gewartet aus Respekt vor dem Roten Kreuz, die Explosion kostete vier Soldaten das Leben. Verständlich also, dass sie nicht auf einen neuen Trick hereinfallen wollten.

Einer von ihnen wagte sich etwas nach vorn und sprach den am Boden liegenden an, aber von ihm kam keine Reaktion. Wieder der Griff zum Telefon, eine andere Taste wurde gedrückt, und wenige Minuten später traten zögernd zwei Sanitäter näher.

Sie beobachteten nun gleichfalls den Unbekannten, der vielleicht dreißig Jahre alt war, aber wesentlich älter wirkte. Und ungepflegt.

„Er atmet flach“, meinte einer der Sanitäter.

„Und seine Augenlider zittern“, der andere. „Ein Zeichen, dass er wirklich ohnmächtig ist. Wer sich verstellt …“

Der Mann am Boden drehte sich etwas, seine Jacke öffnete sich dabei und sie konnten sehen, er trug nichts unter ihr verborgen. Auch das Hemd stand offen, die nackte, braungebrannte Brust war zu erkennen.

„Kein Afghane“, stellte der erste Sanitäter fest. „Braune Haare, starker westlicher Einschlag.“

Aber dadurch, dass sie den Ohnmächtigen anstarrten, wurden sie auch nicht klüger. Schließlich rangen sie sich dazu durch, zu ihm zu gehen und ihn zu untersuchen.

Sie knieten neben dem Mann, einer hob leicht seinen Kopf, der andere flößte ihm etwas Wasser ein. Zumindest schluckte der Fremde und dann schlug er die Augen auf.

„Helft mir“, sagte er auf Deutsch und die Sanitäter zuckten zusammen.

„Es ist einer von uns“, schrie der ältere über die Schulter und gemeinsam wuchteten sie ihn auf die Trage. Anschließend ging es fast im Laufschritt durch die ersten und die zweite Schleuse in das Camp Marmal der Bundeswehr in Mazar i-Sharif. Die Gewehrläufe senkten sich mehr und mehr. Es war ja einer von ihnen.

Man brachte den Fremden in die Sanitätsstation, zog ihm die Jacke aus und lege ihn auf ein Bett. Die erste Untersuchung ergab keine Verletzungen. Puls etwas flach, aber regelmäßig. Der Mann kam zu sich und schaute in die Runde. Seine Augen schienen jedoch nichts mitzubekommen.

„Sprechen Sie Deutsch?“, fragte jemand, um ganz sicher zu gehen.

„Ja. Ich bin Deutscher. Glaube ich.“ Das „Glaube ich“ kam zögernd und erst nach ein paar Sekunden, als sei er sich nicht sicher, aber doch wiederum so, als schlösse er die Möglichkeit ein.

Die Sanitäter sahen sich verständnislos an. Inzwischen war ein Arzt erschienen, der sich nun um den Mann kümmerte.

„Wie heißen Sie?“

Der Angesprochene reagierte nicht.

„Woher kommen sie?“

Der Mann drehte den Kopf, als wollte er andeuten, er komme eben aus dieser Richtung. Irgendwoher. Im Zweifelsfall von den Bergen oder der Hochebene.

„Alle Funktionen normal“, stellte der Arzt fest. „Scheint dehydriert zu sein. Er muss ordentlich trinken.“

Man fertigte ein EKG an, es gab keine signifikanten Veränderungen außer einem leicht erhöhten Sinusrhythmus. Kein Wunder. Man nahm ihm Blut ab, um es zu untersuchen.

Einer der Sanitäter hatte sich die Jacke angeschaut in der Hoffnung, einen Ausweis oder irgendein Dokument zu finden.

„Nichts, absolut nichts“, sagte er in Richtung des Arztes.

„Gebt ihm etwas Leichtes zu essen und ausreichend zu trinken. Dann lasst ihn mal die Nacht durchschlafen.“

Ein anderer der Sanitäter kam auf die glorreiche Idee und fragte den Fremden etwas auf Englisch. Er antwortete auch flüssig in dieser Sprache. Die Männer schauten sich erneut an in der Hoffnung, der jeweils andere wisse eine Erklärung. Und es war der Arzt, dem es in den Sinn kam, seine drei Brocken Dari zu nutzen und fragte ihn in der persischen Landessprache, wie es ihm gehe.

„Danke, mir geht es gut“, antwortete der Fremde auf Dari. Nun war das Erstaunen noch größer. Arzt und Sanitäter sahen sich an, aber keiner erlöste die Verunsicherung durch eine Feststellung. Welcher Deutsche sprach schon Dari?

Die zwei Soldaten von vorhin schauten in das Krankenzimmer und fragten, ob alles in Ordnung sei.

„Der spricht nicht nur Deutsch, auch Englisch und Dari“, erhielten sie zur Antwort. Das allerdings interessierte sie nicht sonderlich, scheinbar war alles in Ordnung. Sie nickten und gingen wieder.

Der Arzt stand etwas breitbeinig, hielt sich mit einer Hand den Ellbogen des anderen Armes und stützte sein Kinn auf. Er überlegte, in welche Kategorie er diesen Fremden packen konnte. Und weil er in keine zu passen schien, meinte er lapidar: „Wie gesagt, was Leichtes zu essen, viel zu Trinken, genügend Schlaf, dann sehen wir weiter.“

Inzwischen war auch bereits der Kommandant des Lagers, Oberst Nellinger, informiert worden. Ob es jemanden gebe, der vermisst werde. Ein Deutscher oder ein Engländer. Das war nicht der Fall. Einer solle in Deutschland anrufen, vielleicht sei ein Tourist überfällig. Jemand, der sich seit längerer Zeit nicht gemeldet habe, männlich, so um die dreißig Jahre alt. Oder ein Aussteiger, den es immer wieder mal gebe. Vielleicht sogar ein Pazifist, ein selbsternannter Friedensstifter, wie sie hie und da im Land herumliefen. Oder ob jemand gesucht werde, der sich nach Afghanistan abgesetzt habe. Allerdings wäre die Überprüfung nicht so einfach, denn noch hatten sie außer dem Geschlecht und einem ungefähren Alter noch keinen Namen.

„Habt ihr schon die Fingerabdrücke genommen?“, fragte der Kommandant anlässlich einer Lagebesprechung in die Runde.

„Das verstößt doch gegen das Grundrecht“, bekam er zu hören. „So ohne Grund und ohne Einwilligung.“

„Und wie ist es mit der unerlaubten Blutabnahme?“

Er erhielt keine Antwort.

„Wo?“, fragte der Oberst. „Wo verstößt es gegen das Grundrecht? Doch nicht hier bei uns.“ Mit leicht spöttischem Ausdruck sah er sein Gegenüber an. Der reagierte jedoch nicht.

„Und was, wenn wir die Abdrücke haben. Womit vergleichen?“

Das wusste der Oberst nun leider auch nicht. Aber ein BKA-Mitarbeiter, der an der Besprechung teilnahm, wusste es. Er hatte Zugang zu allen Datenbanken, in denen Fingerabdrücke hinterlegt waren.

Und so geschah es gleich am kommenden Morgen. Der Fremde hatte keine Einwände, weil er immer noch nicht seinen Namen kannte. Er zuckte mit der Schulter und sagte jedes Mal, wenn er gefragt wurde, wie er denn heiße: „Ich weiß es nicht.“

Das kam den Anwesenden, ein Oberstleutnant als Vertreter des Kommandanten, BKA-Mitarbeiter Zengerle und dem Arzt Kranick irgendwie seltsam vor. Jeder kannte doch schließlich seinen eigenen Namen.

Es war Kranick, der als Mediziner auf die glorreiche Idee kam, den Bundeswehrpsychologen Emsland hinzuzuziehen. Der hörte sich an, was man bisher festgestellt hatte oder auch nicht, betrachtete sich den Fremden, der einen eher unauffälligen, teilweise sogar lethargischen Eindruck auf ihn machte und bat dann die Anwesenden, mit ihm alleingelassen zu werden.

Nach zwei Stunden eröffnete der den auf seinen Bericht wartenden Männern, dass es sich um eine höchst traumatisierte Person handeln müsse. Näheres, was zum Beispiel die Ursache sei, könne er noch nicht sagen. Müller, diesen Namen gaben sie dem Fremden vorübergehend, dazu den schönen Vornamen Andreas, finde sich nur bruchstückhaft mit der Wirklichkeit zurecht, aber wenn es um seinen privaten Bereich gehe, tue sich ein großes Loch auf. Weder wisse er, ob er verheiratet sei, noch wo er wohne und lebe, die Schule besucht, eventuell studiert oder gearbeitet habe.

„Er weiß auch nicht, seit wann der in Afghanistan ist und warum. Wie er hergekommen ist, wer ihn begleitet hat, wie lange er bleiben wollte. Da ist nichts, an was er sich erinnern kann.“

„Könnte er uns verarschen?“, fragte der Oberstleutnant.

Emsland überlegte. „Die Möglichkeit besteht natürlich noch jetzt, zu Beginn. Aber eigentlich glaube ich nicht daran. Die Symptome sind zu eindeutig, alles deutet auf ein Trauma hin.“

„Sie meinen ein Posttraumatisches Belastungssyndrom?“, gab Oberstleutnant Ottenwald Einblick in seine profunden psychologischen Kenntnisse.

„Im weitesten Sinne, ja. Wissen Sie eigentlich, dass Müller an der linken Hand ein Fingerglied fehlt?“

Es war Zengerle vom BKA, bei dem sich diese Information festkrallte und ihn nicht mehr losließ. Er erinnerte sich, etwas gelesen zu haben, wo eine fehlende Fingerkuppe eine Rolle spielte. Und als er es endlich gefunden hatte, ließ er sich auf den Stuhl fallen und stöhnte: „Das ist unmöglich.“

Er verglich seine Unterlagen, sah die Fotos eines Soldaten und war bemüht, diesen Müller zu erkennen. Aber es fiel ihm wegen der langen Haare und des Bartes schwer.

Zengerle eilte zu Oberst Nellinger und konfrontierte diesen mit seiner Vermutung. Der Oberst zeigte eine ähnliche Reaktion wie Zengerle. „Das kann absolut nicht sein“, war seine wenig geistreiche Bemerkung und er machte dabei ein Gesicht, als ziehe er sich selbst in Zweifel. Aber knapp eine halbe Stunde später wussten sie Bescheid, es war nicht unmöglich. Zwei Soldaten, die Müller früher noch von Kundus gekannt hatten, wo er einmal stationiert gewesen war, hatten sich ihren ehemaligen Kameraden diskret angeschaut und waren sich absolut sicher. Das sei er, es gebe keinen Zweifel.

„Einer der Schneidezähne steht leicht schief. Das ist für mich der ultimative Beweis. Aber auch ansonsten hätte ich ihn wiedererkannt.“

Noch am gleichen Tag gab es eine Dringlichkeitssitzung. Oberst Nellinger verwies auf allerhöchste Geheimhaltungsstufe, unbedingtes Stillschweigen, auch unter Kollegen, kein Ton und keine Silbe dürften außerhalb des Raumes dringen. Oberstleutnant Ottenwald, Arzt Kranick, Psychologe Emsland und Zengerle, der Mitarbeiter des BKA, der ansonsten als Koordinator in Kabul in der Deutschen Botschaft tätig war, nickten wie auf Kommando. Sie wurden zumindest vorübergehend zu einer verschworenen Gemeinschaft.

„Leutnant Daniel Burmester, vor acht Monaten im Einsatz verstorben und kurz darauf in Deutschland beerdigt“, sagte der Oberst und schaute vielsagend in die Runde. Es war niemand da, der ihn korrigieren und von seinem Alptraum erlösen wollte. Ein Totgesagter, in allen Ehren Beerdigter, war plötzlich wieder auferstanden und stand einfach so vor dem Stützpunkt. „Wie es aussieht, handelt es sich genau um diesen Daniel Burmester.“

Die Anwesenden schauten den Kommandanten von Camp Marmal, wie der Bundeswehrstandort bezeichnet wurde, an, als zweifelten sie an dessen Verstand. Und sie taten es scheinbar noch mehr, als ihnen der Oberst die Fakten von Leutnant Daniel Burmesters Ableben schilderte. Als sie schließlich ein Video sahen, welches kurz vor dem Einschlag aufgenommen worden war, dann weitere Aufnahmen, die man einen Tag später angefertigt hatte, schüttelten sie überaus verwundert den Kopf. Wie sollte jemand dieses Desaster überlegt haben?

„Er soll von einer Hellfire getroffen worden sein? Blut und Fingerkuppe wurden gefunden, aber von ihm nichts, weil er im Zentrum gewesen ist? Alles verbrannt, alles verdampft?“, fragte der Psychologe nach, als wollte er sich erneut vergewissern.

Der Oberst nickte. „Ihr habt es vorhin gesehen. Das ist die Originalaufnahme. Einmal von der Drohne selbst, der Predator, dann danach die vom Raketenkopf. Es wurden zwölf Personen getötet, andere Angaben sprechen von vierzehn, unter ihnen auch, wie uns die Amerikaner mitteilten, zwei oder drei Taliban. Die Einheimischen haben die Zivilisten sehr schnell beerdigt, wir konnten nicht sofort zur Unglücksstelle, man hat uns bedroht. Und als wir einen Tag später dort waren, gab es nicht mehr viel zu sehen. Wir vermuteten damals, dass gewisse Teile von Daniel Burmester zusammen mit denen der toten Afghanen, darunter zwei Kinder und zwei Frauen, beerdigt worden sind. Was die Hellfire 144CC übrig lässt, kann man oft nicht mehr zuordnen.“

Das klang fast wie eine Entschuldigung, und der Oberst deutete auf seine Unterlagen, die jeder in Kopie vor sich liegen hatte. Auf einem großen Monitor an der Wand wurden sie gleichfalls gezeigt.

In den kommenden Minuten studierte man die Fakten und Beweise. Es war still, nur das Rascheln von Papier war zu hören oder ein erstauntes nach Luft schnappen.

„Wenn ich das hier betrachte“, der Oberstleutnant und Stellvertreter und deutete auf die Papiere, „dann ist es wirklich unmöglich, dass es sich bei unserem seltsamen Besucher um Burmester handelt.“

Alle anderen Anwesenden pflichteten ihm bei.

„Der Standortanalyse nach befand er sich gleich neben dem Trichterkern. Und die Hellfire 144CC ist bekannt wegen ihrer Feuerkraft. Allein die Predator ist groß genug, sie abzufeuern.“

Auch jetzt, bei der genau gegenläufigen Argumentation, gab es keinen Einwand. Was der Oberstleutnant sagte, deckte sich mit den Einschätzungen der anderen und ihren Erfahrungen.

„Kein Wunder, dass dieser Burmester nicht mehr weiß, wer er ist“, meinte der Psychologe.

Wenn es vor einigen Tagen noch geringe Zweifel gegeben hatte, inzwischen waren diese absolut hinweggefegt worden. Man hatte Daniel Burmester untersucht, sich die Verletzung angeschaut, sie mit der gefundenen Fingerkuppe verglichen, sein Blutbild verglichen, seine Fingerabdrücke verglichen, seine DNA verglichen, einfach alles verglichen, was man in den Unterlagen des für tot erklärten Leutnants finden konnte. Es gab nur Übereinstimmungen.

Der Psychologe war permanent damit beschäftigt, sich mit Daniel zu unterhalten und zu eruieren, wo genau seine Erinnerung zeitlich gesehen abgeschnitten worden war und an welchem Punkt sie wieder einsetzte. Und genau das war sein Problem. Daniel wusste von sich und seiner Kinder- und Jugendzeit überhaupt nichts mehr. Kannte weder Vater noch Mutter, noch seinen Bruder, den man inzwischen informiert hatte und der auf dem Weg nach Afghanistan war. Und wenn er auf Fragen antwortete, dann oft ohne Zusammenhang. Er sprang von einem Thema zum anderen, schilderte die flimmernde Luft im Hochsommer in den Bergen und erzählte im gleichen Satz von abgerissenen Körperteilen, von Verletzten und Toten. Und trotzdem kam es Emsland vor, als könnte es eine gewisse Systematik geben, nur müsse er noch dahintersteigen, welche.

Noch war es der Bundeswehr gelungen, nichts nach draußen dringen zu lassen. Zwar hatte man in Berlin das Kanzleramt und den zuständigen Staatssekretär informiert, nicht jedoch Calw, wo Daniel stationiert gewesen war.

Um sich ein Bild von Daniel, der inzwischen auf diesen Namen hörte, und dessen Zustand zu machen, wollte man sich am Nachmittag im Besprechungsraum treffen. Zu den vier Personen, die bereits mit Daniel Kontakt hatten, sollten noch Bruder Carsten und sein ehemaliger Leiter und Koordinator vom Bundesnachrichtendienst, Helge Wommerding, hinzukommen.

Wommerdings erster Weg führte zum Kommandanten. Er überreichte ihm ein Schreiben des Kanzleramtes, wonach er allein weisungsbefugt sei und den weiteren Verlauf bestimmen dürfe. Auf Nellingers erstaunten Blick hin erklärte der BND-Mitarbeiter, dass er selbstverständlich als Kommandant des Stützpunktes auch weiterhin nach außen als Leiter auftreten dürfe, jedoch sei jede Verlautbarung und Äußerung und Weitergabe von Inhalten nur mit seiner, Wommerdings Zustimmung erlaubt. Vorerst jedoch sei absolutes Stillschweigen geboten entsprechend der Geheimhaltungsstufe III. Ein Telefonanruf in Berlin bestätigte die Angaben des BND-Mitarbeiters.

Emsland als Psychologe übernahm es, bevor man Daniel in den Raum bringen wollte, die Anwesenden über das zu unterrichten, was sich in den Sitzungen bereits ergeben hatte.

„Zuerst einmal vorweg: ich habe die Erlaubnis von Daniel Burmester, Sie hier über all das zu unterrichten, was sich auf die Bundeswehr bezogen in unseren Gesprächen ergeben hat. Das rein Familiäre klammern wir also aus.“

Emsland schaute in die Runde, man nickte ihm unmerklich zu, als hätte man es verstanden.

„Selbst mir fällt es schwer, etwas Ordnung hineinzubringen. Daniel weiß immer noch nicht, dass er Daniel ist. Aber er spricht von Begebenheiten, die er meiner Meinung nach selbst erlebt hat und meint jedoch, es sei ein unbekannter Dritter gewesen. Wenn er nachher etwas sagen sollte – was noch nicht sicher ist, Daniel kommt mir sehr eingeschüchtert und introvertiert vor, so ganz im Gegensatz zu seinem früheren Verhalten –, dann werde ich vielleicht eingreifen müssen, um eine gewisse Ordnung herzustellen. Ausschließlich aus dem Grund, um das, was er sagt, verständlicher zu machen. Inzwischen bin ich mit seinen Gedankensprüngen etwas vertraut und weiß, was er andeuten will. Einige Male konnte ich ihn so wieder auf das Thema zurückführen.“

Erneut schaute Emsland in die Runde, niemand stellte eine Frage. Sie hielten sich ja alle für Experten.

„Aus psychologischer Sicht habe ich nichts einzuwenden, dass Carsten Burmester“, Emsland schaute einen jungen Mann an, der als Zivilist sofort durch seine saloppe Kleidung auffiel, „und der Koordinator des BND, Herrn Wommerding“, seine Augen wanderten zu einem anderen Zivilisten, der jedoch ein weißes Hemd trug und kurz geschnittene, akkurat gekämmte Haare, „… wie gesagt, ich habe nichts einzuwenden, dass Daniel vorerst nicht erfährt, dass es sich um seinen Bruder und einen ehemaligen Vertrauten handelt. Wir wollen seine Reaktion abwarten. Vielleicht setzt ja bei ihm die Erinnerung ein.“

Als auch jetzt keine Reaktion erfolgte, kam Emsland noch kurz auf die mögliche Verletzung oder Schädigung von Daniel zu sprechen. Er sei sich mit Doktor Kranick einig, dass Daniel ein Schädel-Hirntrauma erlitten haben müsse, möglicherweise sogar ein schweres, welches eine Phase der Bewusstlosigkeit impliziere von sicherlich mehr als sechzig Minuten. Damit verbunden seien Blutungen, Ödeme und Einklemmung des Gehirns. Inwieweit Daniel überhaupt medizinisch versorgt worden sei, das entziehe sich seiner Kenntnis.

Daniel betrat den Raum, blieb in der Tür stehen und blickte sich um. Emsland deutete auf einen Stuhl neben sich. Er wollte mit Daniel als Team auftreten, um ihm eventuell den Einstieg zu erleichtern. Außerdem saßen alle an einem ovalen Tisch, es gab also kein direktes Gegenüber.

„Ist er eigentlich noch Angehöriger der Bundeswehr?“, fragte Oberstleutnant Ottenwald seinen Chef, Kommandant Nellinger.

Der zuckte mit der Schulter. „Ich würde sagen nein. Er ist ja offiziell tot und beerdigt worden.“

„Ach so?“

Emsland übernahm es, die einleitenden Worte zu sprechen. Man war übereingekommen, dass er die ersten Fragen an Daniel richten sollte.

„Daniel, Sie wissen, dass Sie Angehöriger der Bundeswehr sind?“

Der Angesprochene nickte. „Sie haben es mir gesagt.“

„Ist Ihnen einer der Anwesenden bekannt?“

Daniel schaute sich die Männer der Reihe nach an. Aber kein Erkennen war in seinen Augen zu sehen, bei niemandem verharrte sein Blick länger. Auch nicht, als er seinen Bruder anschaute, der sich sehr zusammenreißen musste. Am liebsten wäre Carsten, er konnte sich bereits seit geraumer Zeit damit vertraut machen, dass sein Bruder lebte, aufgesprungen und hätte Daniel in die Arme genommen. Es nicht zu tun, fiel ihm verdammt schwer. Aber er hatte sich verpflichten müssen, absolut ruhig und neutral zu sein. Man wolle herauszufinden, wie tief sich Daniels Zustand manifestiert habe und ob es im Unterbewussten zumindest noch Verknüpfungen gab, die ihn an seine weiter zurückliegende Vergangenheit erinnerten.

In Carsten waren zwiespältige Gefühle, und sein Herz schlug am Hals. Er atmete stoßweise und wischte sich mit einer fahrigen Bewegung den Schweiß von der Stirn. Was für ein Gegensatz. Als Jugendliche und mehr noch im Erwachsenenalter nahmen sie einander hin, ohne eigentliche Bruderliebe zu zeigen und zu empfinden. Carsten war sogar auf den Jüngeren neidisch, weil er glaubte, er habe es viel einfacher im Leben gehabt. Er, der Ältere war stets der Vorreiter gewesen, woran Daniel partizipiert hatte. Zwar trafen sie sich später ein- oder zweimal im Jahr, aber fast immer zu familiären Anlässen. Wenn sie sich gegenseitig besuchten, dann wohl eher, weil es unter Brüdern so üblich war. Nun saß er ihm gegenüber, nur durch einen Tisch getrennt. Und er spürte in sich etwas, von dem er glaubte, es sei nicht vorhanden. Eine innere Unruhe, auch ein gewisses Maß an Angst, wie sich sein Bruder wohl zeigen würde. War er noch der Alte? Oder würde er es wieder werden können? Carsten wollte es sich nicht eingestehen, aber es war Verantwortung, die sich bemerkbar machte. Und Sorge. Und etwas, von dem er noch nicht wusste, was es genau war. Denn von Bruderliebe hatte er bisher nur gehört.

„Nein, ich kenne niemanden.“

„Wo haben Sie Dari gelernt?“

Daniel zuckte mit der Schulter. „Ich habe mit Leuten gesprochen, glaube ich. Vielleicht deswegen.“

„Und Englisch?“

„Ich weiß es nicht.“

„Sie sind hier im Bundeswehrcamp Marmal in Mazar i-Sharif.“

„Ja, das hat man mir gesagt.“

„Erinnern Sie sich noch, wie Sie hierher gekommen sind?“

„Es war ein langer Weg. Ich bin viel gelaufen, manchmal, so glaube ich, auch in einem Auto gefahren.“

„In einem Auto?“

Daniel nickte.

„Und wo hat die Fahrt oder Ihre Wanderung begonnen?“

„Es war warm, die Sonne brannte, der Schatten kurz. Ich höre Geräusche, ein Flugzeug oder so, dann sehe ich einen Blitz.“

Emsland schaute bedeutungsvoll die anderen Anwesenden an. Das war der Moment, in dem die Rakete einschlug. Alle hatten es verstanden.

„Und nach dem Blitz hat Ihre Wanderung begonnen?“

Daniel überlegte. „Ich weiß nicht genau. Da sind Vorhänge, viele Vorhänge, die alles verbergen. Ich kann nichts deutlich erkennen. Zu Beginn sind sie ganz dicht und dunkel. Manchmal ist dahinter oder davor ein Schatten, mehr auch nicht. Und ich habe viel Durst.“

„Hat man Ihnen zu trinken gegeben?“

„Ja, ich glaube. Denn der Durst war weg, dann kam er wieder. Ich glaube.“

Emsland schaute auf seine Unterlagen, er hatte sich seine Notizen gemacht. „Was war vor dem Blitz? Wir haben doch darüber gesprochen.“

„Ich war auf Reisen, hier und dorthin. Ich habe ein Auto gefahren, über feste und unbefestigte Straßen. Ich habe ein Gewehr gehalten, hoch zum Himmel geschaut, gefilmt. Und ich habe Schiffe auf dem Meer gesehen.“

„Sie sprechen in der Ichform. Noch vor zwei Tagen war da eine dritte Person. Wer war die dritte Person?“

Daniel schaute Emsland an. „Sie haben zu mir gesagt, ich sei das. Es gebe die dritte Person nicht. Deshalb spreche ich in der Ichform.“

„Erinnern Sie sich an das, was Sie sagen?“

Daniel nickte. „Es kommt mir so vor, als sehe ich jemanden. Die dritte Person. Wenn Sie Recht haben, dann sehe ich aber mich selbst.“

Emsland schaute bedeutungsvoll in die Runde, denn diese Erkenntnis war Daniel bisher noch nicht gekommen. Er bewertete dies als ganz wichtige Veränderung in Daniels Entwicklung.

„Meer, Wellen, Schiffe. Daran erinnern Sie sich. Das scheint mir der Anfang zu sein, der Sie sehr beschäftigt, weil Sie immer wieder darauf zurückkommen. Könnten Sie einfach mal genau an diesem Punkt beginnen und uns alles berichten, was Ihnen einfällt?“

Vor einigen Monaten

Irgendwie erschienen ihm die Umstände sehr geheimnisvoll. Nicht nur, dass er nach Belgien fahren sollte, damit man ihn dort anrufen konnte. Und dazu noch in einer öffentlichen Telefonzelle, vor der er zu einer bestimmten Uhrzeit zu warten habe. Dafür gebe es Gründe. Auch am Telefon selbst wurde der Anrufer nicht konkret, nannte noch nicht einmal seinen Namen und besprach mit ihm lediglich den Treffpunkt und die Sicherheitsvorkehrungen. Anreisen in mehreren Etappen, Taxis wechseln, immer wieder in ein Geschäft oder ein Gebäude einkehren, wieder Taxis wechseln, einen Teil des Weges zurückgehen und die Umgebung beobachten, mit allen Mitteln jeden Verfolger abschütteln. Dann sich in dem bestimmten Café in Gibraltar an den äußersten rechten Tisch mit dem Rücken gleich neben dem Fenster schräg zur Wand setzen und die Times lesen.

Er erfüllte alle Auflagen, obwohl sie ihm unsinnig erschienen, denn noch wusste er überhaupt nicht, um was es ging. Allerdings war ihm der Kontaktmann bekannt, der dieses Treffen arrangiert hatte. Nur wegen ihm war er bereit, zu erscheinen. Aber eine gewisse Ahnung hatte er schon.

Er las nicht in der Times, sondern beobachtete wie in einem alten Hollywoodfilm durch zwei Löcher den Vorplatz. Sonnig war es, keine Wolke am Himmel, ein wunderschöner Apriltag. So sehr er auch seine Umgebung inspizierte, sie war an Unauffälligkeit nicht mehr zu überbieten. Autos rollten langsam vorbei, auf der gegenüberliegenden Straßenseite liefen Passanten, Touristen und Einheimische, welche mehr oder weniger intensiv die Auslagen betrachteten. Junge Männer, die hinter jungen Frauen herpfiffen, ihnen einige Schritte folgten, eine Bemerkung fallenließen und, nicht beachtet, wieder kehrtmachten und es wenige Sekunden später bei einer anderen erneut versuchten, wie überall auf der Welt. Ältere Menschen, langsam und gebeugt gehend, jedem Hindernis ausweichend, die man nicht beachtete, wie überall auf der Welt.

„Halten Sie die Zeitung weiterhin hoch und wenden Sie nicht den Kopf“, hörte er eine Stimme aus dem Innern des Cafés. Sein Kontakt musste bereits auf ihn gewartet oder einen anderen Eingang benutzt haben, denn ihm war niemand aufgefallen, der das Gebäude betreten hatte.

„Ist das nicht etwas überzogen?“, entgegnete er leise. „Warum das geheimnisvolle Getue?“

„Ich habe meine Gründe, Daniel Burmester. Gleich kommt ein Taxi mit der Nummer 64. Steigen Sie ein, man wird Sie zu einer bestimmten Stelle bringen.“

Noch bevor Daniel antworten konnte, sah er durch die Zeitung das Taxi am Straßenrand anhalten.

„Bitte gehen Sie, ich bezahle.“

Daniel stieg ein, der Fahrer fragte nicht nach dem Ziel und ordnete sich wieder in den fließenden Verkehr. Wenige Straßen weiter bog er nach links ab und fuhr einen Berg hinauf. Weiter oben, auf dem Felsen von Gibraltar, hatten die berühmten Affen ihre Heimat.

Nach wenigen Minuten hielt das Taxi, der Fahrer deutete auf einen schmalen Feldweg, der abzweigte. Daniel stieg aus, das Fahrzeug setzte sich sofort in Bewegung, und er stand einige Augenblicke unschlüssig am Straßenrand. Schließlich wandte er sich zum Weg und stieg einen Anhang hinauf. Gleich nach der ersten Biegung sah er eine Bank, und dort wartete bereits jemand auf ihn.

„Klappt doch gut“, wurde er von einem sportlich aussehenden Mann um die vierzig empfangen, der auf einen Platz neben sich deutete. Trotz des warmen Wetters trug er eine Krawatte, die Jacke hatte er über seine Oberschenkel gelegt und seine Haare waren streng nach hinten gekämmt.

„Helge Wommerding“, stellte er sich vor. „Vom BND, wie Sie bereits wissen. Ich bin zuständig für die eher etwas ungewöhnlichen … Fälle, so wie der mit Ihnen.“

Daniel fragte sich, inwieweit sein Fall denn ungewöhnlich sei. Ihm fiel nichts ein. Hatte er etwas verpasst?

Als Daniel nicht antwortete, sprach Wommerding weiter: „Oberst Bartel, Ihr Vorgesetzter, scheint ja ein großer Fan von Ihnen zu sein. Ich kenne ihn schon etwas länger und habe bisher nicht gewusst, dass er sogar in der Lage ist, ein Lob auszusprechen. Und auf Sie bezogen war es sogar überschwänglich. Normalerweise lässt mich so etwas stutzig werden. Diejenigen, die man zu viel lobt, möchte man oft loswerden.“

Immer noch antwortete Daniel nicht und wartete ab, in welche Richtung sich das Gespräch entwickelte. Die Umstände und erst recht die Art, wie sein Oberst mit ihm gesprochen hatte, waren für ihn Indiz genug, dass es sich um etwas … enorm Wichtiges handeln müsse. Ohne das Drängen und die Bitte seines Vorgesetzten, den er sehr schätzte, wäre er nicht nach Gibraltar gereist.

Wommerding legte seine Jacke zur Seite und griff die dünne Mappe, die darunter verborgen war.

Er schlug sie auf und sprach leise: „Daniel Burmester, achtundzwanzig, Nahkampfausbildung, Offizier auf Zeit, Leutnant, Nachrichtenoffizier der Bundeswehr in Afghanistan. Spezialgebiet Ortung von Funk- und Handysignalen. Guter Kontakt zu den Amerikanern, die seine Arbeit schätzen. Kritisch, einmal verwarnt wegen einer Handgreiflichkeit gegenüber einem Vorgesetzten, aber durch Zeugen entlastet. Ledig, Abitur, abgebrochenes Studium der Informatik. Einssechsundachtzig, neunzig Kilogramm. Habe ich etwas vergessen?“

„Römisch katholisch, Hetero, Schuhgröße fünfundvierzig, ein Bruder, Eltern Beamte, schuldenfrei, keine ansteckenden Krankheiten, Phobie gegen Arroganz und Dummheit.“

Daniel hörte, wie Wommerding kicherte. „Wir wissen eben nicht alles.“

Als Daniel auch weiterhin schwieg, fragte Wommerding: „Können Sie sich vorstellen, was der Grund unseres Treffens ist?“

Der Angesprochene schaute seinen Nebenmann an. Kurze Haare, helle Augen, schöne Zähne und im Gegensatz zu ihm glatt rasiert. Alles in allem eine sympathische Erscheinung. Sportlich wirkte er obendrein, und der Anzug stammte auch nicht von der Stange.

„Der Oberst, meine Fähigkeiten, das dicke Lob, es kann doch nur um Afghanistan gehen. Die ganze Scheiße fängt doch mehr und mehr an zu stinken.“

„Was meinen Sie genau?“

Daniel lachte knapp. „Warum sind wir eigentlich immer noch dort? Die windelweichen Formulierungen der Politik sind doch gequirlte Kacke. Friedensmission, dass ich nicht lache. Wir haben in dem Land nichts zu suchen. Und die Amerikaner und alle anderen auch nicht.“

„Terrorbekämpfung. Wir sind die Guten und wollen das Land von den Taliban befreien.“

„Das gleiche reklamieren die Taliban auch für sich. In deren Augen sind wir die Terroristen, die Ungläubigen, diejenigen, die das Land entweihen. Und ihr Krieg ist im Gegensatz zu unserem heilig.“

„Al-Kaida, das dürfte doch als Grund genügen.“

Daniel schaute Wommerding an. Überzeugend klang das nicht. „Je mehr Zivilisten sterben, desto stärker werden die Taliban und Al-Kaida. Wenn das das Ziel sein sollte, dann Chapeau, voll erfüllt.“

„Vielleicht haben Sie Recht, Herr Burmester. Vielleicht ist genau das das Ziel der Amerikaner. Sie benötigen immer eine gewisse Grundgefahr, um so zu agieren, wie sie agieren. Um Gelder locker zu machen und Gesetze durchzupeitschen. Und ist sie nicht vorhanden, dann werden sie kreativ und selbst tätig. Ich sage nur Grenada, Irak, Vietnam …“

Daniel stutzte. „Ist das die offizielle Meinung des BND?“

Wommerding schüttelte den Kopf. „Nein.“

„Und wieso …“

Wommerding nahm ein Blatt aus der Akte. „Ich weiß, Sie können es nicht mehr hören. Kundus und all die ungeklärten Umstände. Bitte lesen Sie.“

Zögernd folgte Daniel der Aufforderung und stutze nach wenigen Zeilen. Der damalige Vorfall, zu der Zeit war er noch nicht in Afghanistan stationiert gewesen, hatte vielen unschuldigen Zivilisten das Leben gekostet. Oberst Klein war für alle der Übeltäter, der den amerikanischen Piloten nach deren mehrmaligem Nachfragen den Befehl gegeben hatte, die beiden Tanklastzüge zu bombardieren. Dabei stützte er sich auf einen Informanten vor Ort, der ihm sieben Mal per Telefon bestätigt haben wollte, wonach es sich bei den dort versammelten Personen überwiegend um Taliban-Kämpfer handelte.

„Was bedeutet hier dieser Funkspruch? So kenne ich ihn nicht.“ Daniel schaute den BND-Mitarbeiter skeptisch an.

„So kennt ihn niemand. Die amerikanischen Piloten haben intern mit ihrer Leitstelle kommuniziert, und wir haben anfänglich davon nichts mitbekommen. Demnach waren vier Geländewagen mit etwa zwanzig bis dreißig schwerbewaffneten Taliban unterwegs zu diesen Tanklastzügen. Einer der Piloten hat sie im Tiefflug vertrieben. Hätte er sie weiterfahren lassen, wäre der Oberst sehr entlastet worden.“

Auf Daniels Stirn bildeten sich Falten. „Und warum diese Aktion?“

Wommerding zuckte mit der Schulter, schaute Daniel jedoch mit einem ironischen Lächeln an.

„Also wollte man ihn ins Messer laufen lassen“, konstatierte Daniel. „Vorausgesetzt, der Funkspruch stimmt.“

„Glauben Sie mir, er stimmt“, begann Wommerding ernst. „Wir vom BND verstehen auch unsere Aufgabe und können genauso gut spionieren wie andere. Oder Telefone anzapfen, Funksprüche mithören, uns in Knotenpunkten der Glasfaserkabel einloggen, eben das volle Programm. Wir haben sogar offiziell durch den Innenausschuss des Bundestages das Mandat, die afghanische Regierung nach allen Regeln der Kunst auszukundschaften. Aber nicht nur das. Ein Vizechef des BND hat bereits 2009 vor dem Parlamentarischen Kontrollgremium eingeräumt, im Ausland Computer durch den Bundestrojaner Govware attackiert zu haben. Neunzig Fälle hat er notgedrungen zugegeben, um die anderen vierhundert verschleiern zu können. Angegriffen wurden politische Institutionen, Behörden, und Unternehmen von souveränen Staaten, also nicht nur Afghanistan und vergleichbare Länder.“ Er setzte sich zurecht und schlug ein Bein über das andere. Mit dem gleichen Ernst sprach er weiter: „Unsere vom BND durch SIGINT gewonnenen Erkenntnisse geben wir in Afghanistan an die US-Streitkräfte weiter, und die übernehmen das in ihr PRISM-Programm. Und zwar basierend auf einer Vereinbarung mit der NSA, die noch unter der rot-grünen Bundesregierung im Jahr 2002 geschlossen worden war. Darin hat die NSA, und jetzt wird es spannend, zugesichert, dass die deutschen Gesetze eingehalten würden. Das konkretisierte man 2004 in einem Anhang, der explizit die Schutzfunktion des Artikels 10 des Grundgesetzes behandelt, wonach also von den Amerikanern das Brief- sowie das Post- und Fernmeldegeheimnis garantiert werden. Na, was sagen Sie jetzt?“

Wommerding, der Daniel nicht aus den Augen gelassen hatte, konnte dessen Veränderung mitbekommen. So etwas wie Skepsis, gemischt mit Unmut stellte er in seinem Gesicht fest. Er war also auf dem richtigen Weg, denn Daniel signalisierte eine gesteigerte Neugier.

„Zurück zu uns. Die Lage zwischen den beiden Staaten ist angespannt, der große Bruder hat uns ausspioniert, Leute beim BND angeworben, einen von ihnen hat man aus Deutschland ausgewiesen. Schon ein deutliches Zeichen. Die Amis wollen die Deutschen nicht nur deswegen, aber deswegen noch mehr, permanent ins Messer laufen lassen. Erst recht in Afghanistan, weil wir denen zu moralisch sind und zu sehr nachdenken. Immer alle Eventualitäten beachten, um Himmels Willen nichts falsch machen wollen, Angst vor Kritik und dem eigenen Fehlverhalten haben. Gut, wir hatten nicht den 11. September, aber das darf doch nicht für unseren großen Bruder fortwährend die Ausrede sein für Verstöße gegen das Völkerrecht und die Genfer Konvention.“

Daniel war über diese aus seiner Sicht ungewöhnlichen Erläuterungen und Äußerungen eines BND-Mitarbeiters erstaunt. Waren sie die tatsächliche Überzeugung von Wommerdings oder ein Teil seiner Taktik, die darauf abzielte, ihn zu ködern?

„Papier, das ist … Gibt es keinen anderen Beweis?“

Wommerding griff in seine Jacke, nahm ein Smartphone und spielte eine bestimmte Sequenz ab. Deutlich konnte Daniel den damaligen Funkspruch hören, jedes Wort war zu verstehen, und der Inhalt deckte sich mit der schriftlichen Ausführung.

„Kein Fake?“

„Kein Fake“, antwortete Wommerding.

„Wie sind Sie da rangekommen?“ Daniel deutete auf das Smartphone.

Wommerding schmunzelte. „Wir können es, wie gesagt auch. Nachrichten abfangen. Sogar bei unseren Freunden, wenn es nötig ist. Und in vielen Fällen ist es nötig.“

Ohne dass der BND-Mitarbeiter es ihm erklärte, konnte dieses Abfangen nur in Afghanistan abgelaufen sein. Allerdings gab es seiner Kenntnis nach keinen Ort mit Spezialgeräten, an dem es unbemerkt hätte geschehen können. Folglich gab es unentdeckte Orte, die er und seine Kameraden nicht kannten.

Daniel schaute hinunter ins Tal und weiter hinaus auf die Meerenge von Gibraltar. Schiffe sah er, welche die von der Sonne angestrahlte silbrige Wasseroberfläche durchschnitten. Einen klaren Blick hatte er bis hinüber nach Afrika.

„Ich erinnere mich an die Untersuchungen der Staatsanwaltschaft, die später das Verfahren gegen den Oberst eingestellt hat. Und dann auch noch die Zivilklagen der Angehörigen. Sind wir in Kundus gelinkt worden?“

„Ja.“

„Und Ihre Spezialaufgabe ist es …“

„ … dafür zu sorgen, dass wir in Zukunft nicht mehr gelinkt werden.“

„Und ich bin sozusagen …“

„Genau.“ Wommerding schaute zu Daniel, und zum ersten Mal begegneten sich ihre Blicke für einige Sekunden. Beide waren bemüht, den anderen einzuschätzen. Aber sie waren auch bemüht, ihre Überlegungen zu verbergen.

„Kundus ist inzwischen geräumt“, begann Daniel, „die Bundeswehr verabschiedet sich bis auf wenige kleinere Einheiten, die ISAAF ist weg. Ich bin Nachrichten- und Verbindungsoffizier, Kontaktmann zur Bevölkerung, rekrutiere auch schon mal einen Afghanen für die Mitarbeit mit uns. Aber im kommenden Jahr werde ich ausscheiden und mein Studium fortführen.“

Wommerding konnte sich vorstellen, wie das Rekrutieren aussah und welchen Sinn es hatte. Wer die besten Informationen vorweisen konnte, war immer im Vorteil. „Herr Burmester, es ist noch viel Zeit bis dahin. Vielleicht verlängern Sie sogar?“

Daniel schlug die Beine übereinander. „Warum denke ich die ganze Zeit, dass man mich vielleicht benutzen könnte? Als Köder oder was auch immer.“

„Wir werden immer benutzt“, entgegnete Wommerding lapidar. „Ich bin doch selbst das beste Beispiel. Man hat mich bekniet, gelobt, überzeugt und zu einem BND-Mitarbeiter mit gesonderten Befugnissen hochgestuft, allein und ausschließlich mit dieser prekären Mission dem Kanzleramt unterstellt. Das hat meiner Eitelkeit geschmeichelt und den Neid meiner Kollegen angestachelt, wodurch ich mich noch mehr geschmeichelt gefühlt habe. Und ich habe ein Budget von vorerst drei Millionen, die ich nach Belieben einsetzen darf. An Geld fehlt es nicht. Das sollten Sie vielleicht auch wissen. Oder interessiert Sie Geld nicht?“

Daniel zuckte mit der Schulter. Was hätte er darauf antworten sollen? „Sie wollen mich vielleicht sogar gegen unsere Verbündeten einsetzen?“

„Nur wenn Sie es auch wollen. Und wenn es sich aus der Situation ergibt, es quasi eine unabdingbare Notwendigkeit ist.“

„Will ich es denn?“, fragte Daniel. „Mit den amerikanischen Kollegen komme ich gut zurecht.“

„Sie wollen es, weil Sie dadurch mithelfen können, diese unsäglichen Angriffe von Drohnen, lassen Sie es mich mal so ausdrücken, in geordnete Bahnen zu lenken. Der Anteil der toten Zivilisten beträgt mehr als achtzig Prozent aller Opfer. Nicht Terroristen, sondern unbescholtene Bürger werden hauptsächlich liquidiert, darunter zu einem Drittel Kinder. Und das von unseren Verbündeten in einem fremden Land und ohne Zustimmung der jeweils zuständigen Regierung. Normalerweise verhält sich so nur ein Schurkenstaat.“

Wommerding sagte Daniel nichts Neues. Niemandem waren die Fakten besser bekannt als ihm, weil er in Afghanistan direkt in den Einsatz dieser Drohnen mit eingebunden war. Aber nicht nur dort, sondern auch in Pakistan, Somalia, Zentralafrika und besonders im Jemen wurden sie von US-Streitkräften eingesetzt. Bei Veranstaltungen, Hochzeiten und auf Märkten entfalteten sie ihre zerstörerische Wirkung. Allein der Verdacht, es könnte ein potentieller Al-Kaida Terrorist in der Nähe sein, rechtfertigte ihren Einsatz. Dass man dadurch die Terroristen zur Weißglut bringen konnte, schien Teil des Kalküls zu sein. Der Wütende und Hasserfüllte überlegt nicht logisch. Er schlägt blind zurück und ist genau dadurch sehr verwundbar.

Wommerding atmete einige Male tief durch. Daniel kam es vor, als überlegte er sich seine Worte. „Noch nie haben die US-Streitkräfte den Einsatz von Drohnen bestätigt, doch sie sind die einzigen, die über die unbemannten Flugzeuge verfügen. Und viele werden aus Deutschland gesteuert ins Ziel gebracht. Das behagt unserer Regierung überhaupt nicht, alle diesbezüglichen Fragen hat man aus Washington elegant umschifft. Die Angriffe der ferngesteuerten Flugzeuge, die nach Ansicht der US-Regierung notwendig zur Bekämpfung von Terrorgruppen wie Al-Kaida sind, stehen nicht nur bei uns seit langem in der Kritik, da, wie gesagt, dabei regelmäßig unbeteiligte Zivilisten zu Tode kommen. Jemen ist inzwischen eines der Haupteinsatzgebiete. Vor geraumer Zeit eine Hochzeitsgesellschaft, fast zwanzig Tote, nicht ein einziger Terrorist, wie wir heute wissen. Trotz der Drohnenangriffe bleibt der Al-Kaida-Ableger, die AQAP, im Jemen höchst aktiv. Bei einem Vergeltungsangriff auf das Verteidigungsministerium in Sanaa wurden im Gegenzug von den Terroristen 56 Menschen getötet, darunter zwei Deutsche. Erstaunlicherweise hat sich die Al-Kaida für diesen Anschlag entschuldigt, meines Wissens das erste Mal überhaupt, und die Schuld einem ihrer Kämpfer in die Schuhe geschoben. Die Spirale dreht sich immer weiter. Durch die Vorgehensweise der Amerikaner kann man sich seine Terroristen heranzüchten. Wir haben vorhin darüber gesprochen. Jetzt kennen Sie meine eigentliche Funktion als Mitarbeiter des BND, der dem Kanzleramt unterstellt ist“, sagte Wommerding und fügte bedeutungsvoll hinzu: „Wir müssen unseren Freunden auf die Finger schauen. Sie irgendwie kontrollieren. Und wenn uns das nicht gelingt, dann zumindest dafür sorgen, dass nicht andere zum Sündenbock werden. Also wir.“

Es war eine geraume Zeit still. Daniels Spezialität als Nachrichtenoffizier in Afghanistan war das Aufspüren von Handynummern, die man eindeutig Terroristen zuordnen konnte. Einmal bekannt, gab es ein deutliches Ziel für den Einsatz der Drohnen. Es war dann oft nur eine Frage von Tagen, bis das entsprechende Handy für alle Zeit stumm blieb. Mehrfach war er Zeuge geworden, dass allein schon ein anfänglicher vager Verdacht genügte, um die Stimme des Todes erklingen zu lassen. Einmal hatte er massiv vor einem Einsatz gewarnt, die Person sei noch nicht identifiziert worden, aber leider vergeblich.

„In Kundus haben uns die Amerikaner verschaukelt, bei den Drohnen tun sie es auch. Ich habe Belege dafür, dass bei mehr als ein Drittel der Einsätze die Angaben angeblich von der Bundeswehr stammen. Also von Ihnen und Ihren Kollegen. Mit diesem Freibrief im Gepäck ballern sie dann in der Gegend rum wie verrückt. “

„Sie behaupten also, Herr Wommerding, unser Verbündeter verschafft sich via Bundeswehr sagen wir mal … eine Legitimation zum Töten?“

Wommerding nickte.

„Haben Sie dafür Beweise?“

Wommerding reichte ein weiteres Blatt an Daniel weiter. Auf ihm verzeichnet waren die Verbindungen eines bestimmten Handys. Daniel kannte die Nummer. Siebenmal war die gleiche Verbindung hergestellt worden, und zwar die mit der Leitstelle der Bundeswehr in Kundus kurze Zeit vor dem Bombenangriff auf die beiden Tankwagen. Jeweils zuvor und danach kamen einmal drei und dann wiederum zwei Verbindungen mit einem anderen, zweiten Kontakt zustande.

„Die sieben sind bekannt. Wer ist am anderen Ende der restlichen fünf Verbindungen gewesen?“

„Unsere Freunde, die US-Streitkräfte.“

Daniels Augenbrauen wanderten nach oben, als überlegte er. „Das bedeutet, der für uns tätige Informant…“, wollte er ansetzen, und Wommerding hob eine Hand. „Sagen Sie es nicht, denken Sie es nur.“

Seit Jahren wurden sie festgehalten. Offiziell auf Kuba in dem Lager Guantanamo, verdeckt und abgeschottet, in Israel sowie, in unterschiedlichen Dependancen des Irak, auch Masuren in Polen, Afghanistan und dem ehemaligen Jugoslawien. Nicht zu vergessen die inzwischen aufgelöste Zentrale des rumänischen Geheimdienstes in Bukarest, weiterhin Riga in Lettland, Baku, der Hauptstadt Aserbaidschans und Thailand. Auch schon mal kurzzeitig in Deutschland, denn Frankfurt am Main war seit jeher das Drehkreuz der geheimen CIA-Flüge in diverse europäische Staaten und auch nach außerhalb, ohne dass die Behörden etwas davon erfuhren. Allesamt waren die unfreiwillig und ohne Gerichtsurteil Gekidnappten nach Auskunft der Amerikaner schlimme Terroristen, Verbrecher der übelsten Sorte, aber nicht ein einziger saß ein auf amerikanischem Territorium. Jemanden jahrelang ohne Gerichtsurteil und ohne Gerichtsverfahren einzusperren, lediglich gestützt auf einen mehr oder weniger begründeten, oft jedoch meist vagen Verdacht des Militärs, das hätte gegen die amerikanische Verfassung verstoßen. Erst recht, wenn nicht zu erkennen war, dass man es überhaupt auf ein Gerichtsverfahren abgesehen hatte. Es könnte ja ein Freispruch herauskommen. Menschenwürde, Persönlichkeitsrechte, Genfer Konvention, allesamt schöne Floskeln für diejenigen, die sich anmaßten, sich nicht daran zu halten. Deshalb verlagerte man bereits seit Jahren das Problem konsequent in ausländische Staaten, die, in Kenntnis der auch juristischen und völkerrechtlichen Umstände, gegen finanzielle und andere Unterstützung erstaunlicherweise eng mit dem großen Bruder kooperierten. Und im Ausland gab es keine limitierende amerikanische Verfassung.

Aber die USA traten nie selbst auf, auch nicht die CIA oder die NSA, man bediente sich stets aus Gründen der Tarnung und wegen der späteren Ausredemöglichkeiten einer zwischengeschalteten Gesellschaft, so wie beispielsweise der CSC, Computer Science Corporation. Obwohl der NSA zugeordnet, half sie der CIA beim weltweiten Entführungsprogramm, organisierte und mietete Flugzeuge und Besatzungen, um gekidnappte Terrorverdächtige zu Geheimgefängnissen zu bringen.

Die von CSC gecharterten Maschinen waren in vielen Staaten, manche Regierungen wissen davon heute noch nicht, verdeckt im Einsatz. Der entführte Deutsche Khaled al Masri wurde in einer Gulfstream der CSC aus einem Foltergefängnis in Afghanistan nach Albanien geflogen, wo ihn die privaten Sicherheitsleute auf einem Waldweg aussetzen. Allerdings erst, nachdem die US-Regierung auf politischen Druck Deutschlands zum ersten Mal überhaupt zugeben musste, einen Unschuldigen monatelang inhaftiert und gefoltert zu haben.

Um trotz aller verdeckten Maßnahmen nicht in Konflikt mit den einzelnen befreundeten westlichen Regierungen zu geraten, wurden die Gefangenen regelmäßig verschoben, kurzfristig verlegt und in ein anderes Land ausgeflogen, um nach geraumer Zeit wieder zurückzukommen und erneut brutal verhört zu werden. Bohrmaschinen spielten dabei immer eine Rolle.

Viel hatte man in den vergangenen Jahren darüber lesen können, im Fernsehen wurden schreckliche Bilder gezeigt, einige der Soldaten outeten sich, kamen sogar anschließend in den USA vor Gericht und wurden verurteilt. Allesamt nur Einzelfälle, so die offizielle Verlautbarung der amerikanischen Regierung. Folglich kein Grund zur Aufregung. Wenn man von so etwas erfahre, dann gehe man mit der geballten Kraft des Rechtes dagegen vor, wie einige Urteile beweisen sollten.

Geändert hatte sich fast nichts, außer dass die Angelegenheit nun noch diskreter abzulaufen schien. Zwar meldete man die Flüge inzwischen an – auch andere zwischengeschaltete Firmen waren neben der CSC nun dafür zuständig –, jedoch nicht den Grund des Transports und die Namen der Passagiere.

Insassen von Guantanamo erkannte man im Fernsehen, abgesehen von den offenen Drahtkäfigen, in denen sie untergebracht waren, sofort an der orangefarbenen Kleidung und an den langen Bärten und Haaren. Und die Dauer der Gefangenschaft an den stumpfen, stupiden Augen, wenn diese zufällig von einer Kamera eingefangen wurden. Falls jedoch einmal einer vor Gericht kommen sollte, dann musste unbedingt der Verdacht der geistigen Instabilität vermieden werden. Deshalb baute man jeden Inhaftierten nach einer Foltersession wieder psychologisch auf. Desto wirkungsvoller war das nächste Verhör.

Seit geraumer Zeit schienen die Amerikaner Probleme mit den Gefangenen zu haben, sprich mit deren Gesundheit. Ein Virus grassierte, nach und nach kam jeder in die Krankenstation, um diese wieder nach einigen Tagen als geheilt zu verlassen. Und diejenigen, die der Virus verschont hatte, wurden prophylaktisch behandelt. Schließlich wollte man sicher gehen.

Erstaunlicherweise verbreitete sich dieser Virus nur dort, wo die Amerikaner ihre Terroristen festgesetzt oder Zugriff auf sie hatten. Die Bewacher blieben auf wundersame Weise verschont. Auch die umliegende Bevölkerung und das Flugpersonal sowie die Spezialisten, die immer neue Verhörvarianten ausprobierten. Waterboarding war nicht mehr ihr Allheilmittel, die Bohrmaschine diente eher zur schnellen Abschreckung, Streaming machte enorme Konkurrenz. Grelle Lichtblitze in Verbindung mit Ultraschall und niedrigen dumpfen Schallfrequenzen, die extreme Übelkeit, Kopfschmerzen und Wahnvorstellungen provozierten, das schien noch erfolgreicher zu sein. Zumindest gab es bisher keinen Toten zu beklagen, dafür jedoch viel schnellere Geständnisse. Zugegeben, etwas verwirrt waren die Probanden anschließend schon. Und dieser Zustand schien in manchen Fällen irreversibel zu sein. Was soll es. Waren ja nur Feinde des Staates.

In einem Gefängnis nahe von Bagdad saßen annähernd vierhundert Terroristen ein, schön getrennt von den übrigen Inhaftierten. Auch bei Ihnen hatte es der Virus versucht, aber nach massiver medizinischer Gegenwehr war er in die Schranken verwiesen worden. Um auch die letzten Zweifel zu beseitigen und ganz sicher zu gehen, machte man an diesem späten Abend einen letzten Rundgang und wollte die Wirksamkeit der Gegenmaßnahme überprüfen.

Zwei Männer schoben langsam in der Mitte des Ganges, links und rechts die verschlossenen Zellen, einen Wagen vor sich her. Auf dem Wagen zwei eher unscheinbare, antiquiert anmutende Geräte in der Größe eines Schuhkartons mit Zeigern, Skalen und farbigen Lichtbändern. Und mit einem kleinen Monitor.

Sie richteten ihre Geräte auf die erste Zelle zu ihrer rechten aus. Ein Zeiger schlug aus, auf dem zweiten tanzte ein Lichtbalken und auf einem Monitor tauchte ein Name auf: Burdal Habib.

Die Geräte etwas weiter gedreht, veränderten sich der Zeiger und der Lichtbalken, nun war auf dem Monitor Sakim Malid zu lesen. Die beiden Männer sahen sich an, grinsten leicht und nickten, als hätten sie genau dieses Ergebnis erwartet. In der Zelle hinter der Metalltür saßen genau diese beiden Terroristen ein.

Nach einer halben Stunde hatten sie den kleinen Rundgang beendet, öffneten die Tür zum Zentralgebäude und schoben ihren Wagen hinaus in einen breiteten Flur und von dort in einen großen, kahlen Raum mit Haken an den Wänden und Rinnen im Boden, in denen etwas ablaufen konnte. Auch Wasser. Zuerst entkleideten sie sich, nahmen die Schutzmaske ab, dann den Overall und darunter die mit dünnen Bleiplatten ausstaffierten Schutzwesten.

„Jetzt haben wir sie für alle Zeiten“, sagte der Kleinere und so etwas wie Zufriedenheit war aus seiner Stimme herauszuhören. „Keiner von ihnen kann uns zukünftig noch entkommen“, fügte er hinzu.

„Tolles System, tolle Geräte, tolle Idee“, entgegnete der Größere. „Wer hat sie eigentlich gehabt?“

Der Kleinere zuckte mit der Schulter. „Irgendein Bürofuzzi“, meinte er lapidar. „Von der NSA, wie ich gehört habe. Weil jede Nervenaktivität auch aus elektrischen Strömen besteht, produziert unser Nervengewebe und insbesondere unser Gehirn ständig Magnetfelder, die mit empfindlichen Detektoren empfangen werden können. Dieses Prinzip hat er sich zueigen gemacht und bei unseren Kandidaten derart verstärkt, dass wir es nicht nur wie einen Daumenabdruck identifizieren und messen, sondern auch die Unterschiede feststellen können.“

„NSA?“ Der Größere runzelte die Stirn. „Die können auch so etwas?“ Er schüttelte den Kopf, als hätte er dies der krakenartigen Einrichtung nicht zugetraut, wandte sich ab und schaltete das erste Gerät aus. Der Lichtbalken ging zurück auf null und zeigte nun keinen Magnetismus mehr an. Das zweite Gerät, entwickelt, um auch noch so geringe Spuren von Radioaktivität zu messen, wurde gleichfalls ausgeschaltet.

„Der Bürofuzzi hat beides so miteinander kombiniert, dass es immer neue Varianten gibt. Jede kommt nur einmal vor und kann sofort einer bestimmten Person zugeordnet werden, wenn man sie entsprechend behandelt hat. Hast du ja gerade vorhin mitbekommen.“

Der Größere nickte. „Unendlich viele Möglichkeiten soll es geben. Und demnächst steht die Weiterentwicklung, so groß wie ein Handy, an jedem unserer Flugplätze. Unmöglich, dass ein derart Behandelter unerkannt in unser Land kommen kann. Auch nicht nach zwanzig oder dreißig Jahren.“

„Auch nicht nach dreißigtausend Jahren“, verbesserte ihn der Kleine. „Aber ich kenne niemanden, der bisher so alt geworden ist“, fügte er grinsend hinzu. „Du etwa?“

Fast jeden Morgen saß er um diese Zeit in seinem Büro. Nicht viel größer als ein normales Badezimmer, war es mit Monitoren, elektrischen und elektronischen Geräten zugestopft, dass kaum Platz blieb, sich zu bewegen. Gleich neben ihm standen einige antik anmutende Kassettenrekorder, die längst aus der Mode gekommen waren. Zum Ausgleich lagen allerdings ein Handy, ein iPad, ein Smartphone auf dem Tisch und ein monströs anmutendes Telefon, das man mit Hilfe eines Satelliten benutzen konnte. Letzteres war sein Hauptwerkzeug.

Carsten, knapp über dreißig mit schon etwas lichterem Haar, starrte auf die Uhr. Nur noch wenige Augenblicke. Er setzte sich zurecht, ging noch einmal im Kopf seinen Text durch und die zu erwartende Frage – aus Zeitgründen wurde an ihn immer nur eine gestellt –, er war bereit.

Exakt um acht Uhr an diesem Morgen klingelte das Satellitentelefon. Carsten schaltete einen der Rekorder ein, Geräusche von vielen Menschen, fahrenden und hupenden Autos, hie und da eine laute Stimme, auch über Mikrofone verstärkt, und ein Muezzin waren zu hören. Genau wie gestern Abend in einem Beitrag des Fernsehsenders BBC.

Carsten nahm das Telefon und meldete sich mit Henning Vonderhuit, freier Auslandskorrespondent in Ägypten.

„Und hier eine Stellungnahme zu den Vorkommnissen und Kairo von unserem Auslandskorrespondenten“, hörte er die Stimme des SWR3 Nachrichtensprechers. „Herr Vonderhuit, beschreiben Sie bitte die Situation auf dem Tahir-Platz.“

„Es ist erst kurz nach neun am Vormittag. Nachdem es in den vergangenen Monaten ruhig geworden war um die inzwischen als Terrorgruppe eingestufte und verbotene Moslembruderschaft, haben sie sich gestern und auch heute um diese Uhrzeit bereits wieder zusammengefunden, um gegen die Regierung und die neuen Gesetze und Verordnungen zu protestieren. Es kam zu vereinzelten Handgreiflichkeiten und dem Einsatz von Knall- und kleinen Sprengkörpern, die jedoch bisher nicht zu Toten und Verletzen geführt haben. Noch scheint die Lage unter Kontrolle zu sein.“

„Gibt es Anzeichen, dass man den Platz, wie angekündigt, stürmen will?“

„Noch sieht es nicht so aus“, entgegnete Henning/Carsten. „Allerdings haben sich bereits Soldaten mit ihren Militärfahrzeugen in den Nebenstraßen versammelt und können zu jeder Zeit, wenn es denn diesen Befehl geben sollte, eingreifen und die nicht genehmigte Versammlung auflösen. Deutlich ist zu spüren, dass die Spannung mehr und mehr zunimmt.“

„Danke nach Kairo. Das war unser Korrespondent Henning Vonderhuit.“

Zwanzig Minuten später berichtete Carsten als Bernd Ballinger aus Ankara; wieder einmal hatten Oppositionelle wegen der immer noch ungeklärten und neu hinzugekommenen Korruptionsfälle ein Regierungsgebäude besetzt. Wenig später war er Friedhelm Wurz, der, mitten im indischen Monsun stehend, die dortigen Überschwemmungen kommentierte und schnelle Hilfe anmahnte, die versprochen worden sei. Am Nachmittag mutierte er zu Herbert Klinger, der in Afghanistan die Auswirkungen des Bundeswehrabzugs beschrieb und sich beschwerte, dass nun die Taliban massiv in das Vakuum vorgestoßen seien. Kundus und Umgebung sei wieder größtenteils in ihrer Hand und die von den Deutschen angeleierten Projekte, so auch die vier Schulen, die man gebaut habe, als Integrationsprojekt von Mädchen und Jungen gleichermaßen zu besuchen, hätte man inzwischen geschlossen.

Carsten war mit dem heutigen Tag zufrieden. Vier Auslandsberichte, jeder im Durchschnitt mit zweihundert Euro vergütet, die auf ein Konto einer Agentur wanderten – seiner –, das konnte sich sehen lassen.

Skrupel hatte er keine. Warum auch, es gab keine Zeugen und seine Masche war absolut wasserdicht. Nie würden ihn die einzelnen Radiosender über das Satellitentelefon orten können. Jeden Morgen um sieben bot er seine Dienste an und legte die Zeiten so fest, dass es keine Überschneidungen gab. Zudem verstellte er seine Stimme, manchmal auch hielt er sich, wenn es angebracht war, ein Tuch vor den Mund. Berichtete er von einem Außeneinsatz, dann waren die Begleitgeräusche oft so laut, dass man ihn nie würde identifizieren können.

Getürkt waren seine Nachrichten nicht, lediglich leicht veraltet, weil er sie überwiegend einige Stunden vorher von ausländischen Fernsehsendern abgriff und in seinem Sinne etwas modifizierte. Machte im Grunde genommen doch auch jede Zeitung, redete er sich heraus, denn fast alles, was man heute lesen konnte, stammte von einer Presseagentur.

Gut, er gab vor, am Ort des Geschehens zu sein. Das stimmte nun mal nicht. Aber genau das war seine einzige Lüge oder die einzige Ungereimtheit. Natürlich zahlten genau deswegen die Sender auch entsprechend mehr. Niemand würde sich für einen Bericht aus seinem Büro interessieren. Juristisch gesehen war es eine Art von Betrug. Ihm diesen nachzuweisen würde extrem schwerfallen. Aber das für ihn überschaubare Risiko nahm er in Kauf.

Aufzupassen hatte er trotzdem. Einmal verwechselte er den vorgegebenen Namen mit einem anderen, berichtete über die Seuche Ebola als Korrespondent Gerrit Jung, der eigentlich zu gleichen Zeit in der Ukraine war und wenige Minuten zuvor bei einem anderen Sender seinen Bericht abgeliefert hatte. Es gab kurzfristig Komplikationen. Aber das war elegant von ihm ausgebügelt worden.

Carsten konnte von sich behaupten, dass er immer als einer er ersten vor Ort war, der von einem interessanten Ereignis berichtete. Als es um die Ukraine ging, war er der erste Deutsche, der vom Maidan-Platz berichtete und vom Kampfgeschehen mit den Separatisten. Später, als die inflationäre Entwicklung einsetzte, jeder jeden interviewte, zog er sich zurück, um wieder beim Abschuss eines Passagierflugzeuges erneut als einer der ersten vor Ort zu sein. Gaza und die Hamas waren über Wochen sein Renner. Dank einer professionellen Geräuschkulisse glaubte der Hörer, er sei immer an vorderster Front anzutreffen. Aktueller ging es nicht mehr.

Ständig informierte er sich über das Weltgeschehen und bastelte auch schon mal eine kleine, private herzzerreißende Geschichte zusammen. Ein Hund, der in einen Brunnen gefallen war, eine Katze eingeklemmt in einem Abflussrohr, ein Kind aus Versehen im Ausland zurückgelassen auf einem Rastplatz. Sobald ein Unwetter, ein Tsunami, ein Flugzeugabsturz oder ein Unglück über den Bildschirm flimmerte, rief er per Spezialtelefon seine Sender an. Dabei half ihm ein ausgetüftelter Plan, der vor ihm auf dem Schreibtisch lag, damit nicht ein Henning Vonderhuit aus Kairo bereits zwei Stunden später aus Melbourne berichtete. Bis zu zwölf verschiedene Reporteridentitäten hatte er sich inzwischen angeeignet, die unentwegt um die Welt tourten und mit ausgesprochen aktuellen Beiträgen sein Konto auffüllten.

Carsten ging nach nebenan in seine Wohnung, trank ein Glas Mineralwasser und setzte sich wieder einmal vor den … Fernseher. Seit geraumer Zeit stellte er sich nicht mehr die Frage, wie lange er noch seine Tätigkeit ausüben wollte. Es war wie es war. Und so wie es war, war es eigentlich gut. Er als kleines unbedeutendes Rädchen im Nachrichtengeschäft konnte eh nichts kaputtmachen und noch weniger etwas bewirken. Dass die Nachrichten gekauft wurden, man sie einsetze, um etwas zu bezwecken, zu erreichen, manchmal auch, um die Konsumenten zu informieren, war ihm schon seit langem bewusst. Jede Nachricht hatte, je nachdem wie man sie verwendete, einen anderen Sinn und eine andere Absicht. Ein einziges Wort, eine etwas andere Betonung konnte sie verfälschen und ihren Inhalt modifizieren, so wie es dem Verbreiter beliebte. Nachrichten wurden immer mehr zu Meinungen und Tendenzen von all denen, die sie normalerweise neutral an die Konsumenten weiterzuleiten hatten.

Die Erkenntnis, dass Nachrichten nicht berichtet, sondern gemacht wurden, ließ ihn vor fast zehn Jahren sein Journalistikstudium abbrechen. In verschiedenen Bereichen war er danach tätig gewesen, der jetzige, den er seit annähernd vier Jahren ausübte, sagte ihm am besten zu. Da und dort ging er auch einer Nebentätigkeit nach und recherchierte für seine Freundin, eine Anwältin. Oder er beobachtete Personen. Von Mal zu Mal half er auch einem ehemaligen Studienkollegen aus und überführte teure Luxuslimousinen ins Ausland. Vor wenigen Jahren noch in den Süden, aber in letzter Zeit fast nur noch gegen Osten. In die Ukraine jetzt weniger, dafür aber nach Russland und noch weiter.