Tödliche Versicherung - Edwin Klein - E-Book

Tödliche Versicherung E-Book

Edwin Klein

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Beschreibung

Gerrit ist verzweifelt. Seine Frau Helen wurde von der Straße abgedrängt und verunglückte tödlich. Als er von der Polizei verdächtigt wird, beginnt Gerrit selbst zu ermitteln. Dabei stößt er auf eine Luxemburger Bank und eine Versicherung. In ihm steigt ein böser Verdacht auf.

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Seitenzahl: 447

Veröffentlichungsjahr: 2005

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Verlag Michael Weyand

*

Edwin Klein

Tödliche

VERSICHERUNG

Impressum

© Verlag Michael GmbH, Friedlandstr. 4,

54293 Trier, www.weyand.de, [email protected]

Titelfoto: Alwin Ixfeld

Umschlaggestaltung: Sabine König

Lektorat: Gabriele Belker und Dr. Hans-Joachim Kann

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

ISBN 978-3-942 429-50-4

1

Schon fast Mitternacht. Der Himmel klar, ein praller, grinsender Mond, der lange Schatten warf, Sterne. Er war müde und sehnte sich nach dem Bett. Seine Tochter Nana hatte er zu den Schwiegereltern in die Eifel gebracht. Dort sollte sie die Ferien verbringen und sich erholen. Das Vorgefallene vergessen, die Erinnerungen, den schrecklichen Verlust. Wenn er ehrlich war, dann verlangte er sehr viel von einer Vierzehnjährigen. Mehr, als er von sich selbst verlangte.

Als er die Kleinstadt Saarburg erreichte, hatte er das Gefühl, gerade erst in Prüm losgefahren zu sein. Mehr als einhundert Kilometer in wenigen Augenblicken. Seit Wochen geschah es immer häufiger, dass er die Zeit verlor. An was er während der Fahrt gedacht hatte, konnte er sich nicht mehr erinnern. Auch keine Erinnerung an die Strecke, den Verkehr, das Durchfahren von Ortschaften, Bremsen, Beschleunigen und vor der Ampel stehen und warten. Es war, als hätte jemand seine Uhr vorgedreht, ihn an einen anderen Ort versetzt und aufgeweckt. Wieder ins Leben geworfen.

Oder er saß vor dem Fernseher und schaute sich einen Spielfilm an. Von der Handlung blieb nichts haften, außer vielleicht der Anfangssequenz. Das Glas vor ihm unberührt, alles geordnet an seinem Platz, als wäre die Zeit von ihm überlistet worden. Oder er von ihr. Sein Hausarzt hatte ihn beruhigt und gesagt, so etwas sei normal für Menschen in seiner Situation. Es sei normal, wenn Stress und Emotionen und persönlicher Verlust auf einen einstürmten und das gewohnte Gefüge durcheinander brachten. Auch bei ihm, der immer von sich behaupte, gefestigt zu sein, keinen Schwankungen zu unterliegen, gerade unter Stress Höchstleistungen zu vollbringen. Daran, so sein Arzt, merke er den Unterschied zwischen sich selbst und einer Maschine.

Er ließ die Kleinstadt Saarburg hinter sich, fuhr die Serpentinen hoch nach Kahren, einem höher gelegenen Stadtteil mit einer Hauptstraße, die Stoßfänger auf eine harte Probe stellte, von dort weiter in Richtung Fisch und dann zum Hostenberg. Als er in die Hofeinfahrt schwenkte, sah er sie im Scheinwerferlicht unter den tief hängenden Ästen der Atlaszeder stehen.In einem unauffälligen Ford Mondeo mit Mainzer Kennzeichen. Jeder wusste, die Polizei hatte Mainzer Kennzeichen ohne Buchstaben. Er stieg aus und wartete.

»Herr Gerrit Sommer?«

»Ja, was gibt es?«

Ein Mann kam auf ihn zu.

»Kripo Trier. Mein Name ist Streit, und das«, der Sprecher wies auf einen weiteren Mann, der langsam in das Licht der Lampe trat, »und das ist mein Kollege Frings.« Sie wiesen sich aus. Bedrohlich wirkten sie, obwohl es sicherlich nicht ihre Absicht war.

»Was gibt es?«, fragte er erneut.

»Wir hätten noch einige Fragen an Sie.«

»Um diese Zeit?« Demonstrativ schaute er auf seine Uhr.

»Um diese Zeit«, wiederholte der Beamte.

»Kommen Sie bitte mit ins Haus.«

»Nicht hier, sondern im Präsidium.«

Gerrit stutzte. Präsidium? Nicht die Polizeistelle in Saarburg? Warum mehr als zwanzig Kilometer weiter entfernt in Trier, und das kurz vor Mitternacht?

»Vielleicht können Sie mir …«

Streit wies einladend auf den Ford Mondeo. »Bitte, Herr Sommer. Glauben Sie mir, uns macht es ebenfalls kein Vergnügen, so spät in der Nacht. Wir können uns auch etwas Schöneres vorstellen.«

Die Stimme von Streit klang beruhigend. Er trat etwas näher. Gerrit konnte nun sein Gesicht deutlicher sehen. Ein Mann Anfang vierzig, Brille, Oberlippenbart. Ein freundliches Gesicht.

Gerrit wollte noch seine Reisetasche ins Haus bringen, aber die Beamten waren der Meinung, dies sei nicht nötig. Er könne sie doch einfach mitnehmen.

2

Die Fahrt verlief schweigend, lediglich unterbrochen vom Polizeifunk und dem Hinweis, man sei nun auf dem Weg.

Es war wenig Verkehr auf den Straßen. Gerrit legte die Stirn gegen das Glas der Seitenscheibe und schaute hinaus, ohne etwas zu sehen.

Natürlich wusste er, warum sie erneut mit ihm sprechen wollten. Trotzdem fragte er sich, welche Punkte es noch zu klären gab.

Sein Schwager war früher bei der Polizei gewesen. Deshalb hatte er Verständnis für die Beamten, auch wenn sie ihn um diese ungewöhnliche Zeit aufsuchten. Sie führten nur ihre Anweisungen aus. Allerdings konnte er nicht wissen, dass sie bereits einige Stunden auf ihn gewartet hatten. Dieser Umstand hätte ihm sicherlich zu denken gegeben.

»Warum fahren Sie nicht durch die Innenstadt von Saarburg, das ist näher«, meinte er, als sie auf den Zubringer bogen.

»Wir lassen Saarburg immer links liegen«, erhielt er als Antwort.

Genauso schweigend, wie die restliche Fahrt verlaufen war, brachten sie ihn auf das Präsidium. Erst jetzt fiel Gerrit auf, dass Frings ihn keinen Augenblick aus den Augen ließ. Sie eskortierten ihn zum Fahrstuhl, quetschten sich mit ihm in die enge Kabine, fuhren hoch in den dritten Stock, führten ihn in einen schmucklosen Büroraum und boten ihm einen Stuhl an, der vor einem Schreibtisch stand. Die Beamten setzten sich neben die Tür an einen niedrigen Tisch. Frings schlug die Beine übereinander, Streit machte sich Notizen in einem kleinen Buch. Gerrit musste schmunzeln. Gab es das wirklich noch, dass die Polizei sich handschriftlich Notizen machte?

Der Raum war spartanisch eingerichtet. Ein Schreibtisch, ein PC, diverse Akten, ein Bürostuhl auf Rollen und an der Längswand ein Regal, vollgestopft mit Ordnern. Auf dem Tisch brannte eine Lampe, deren Schirm den übrigen Raum in ein Halbdunkel tauchte. An der Stirnseite ein großes Fenster mit Blick auf das gegenüberliegende städtische Hallenbad.

»Kann ich bitte einen Kaffee haben?«, fragte Gerrit, um das Schweigen zu brechen.

Streit stand auf und verließ den Raum. Wenig später stellte er wortlos einen Plastikbecher vor ihm auf den Schreibtisch.

»Danke«, murmelte Gerrit. Vergeblich versuchte er, in dem Gesicht des Beamten eine Reaktion abzulesen.

Er trank den Kaffee. Nur als gesichtslose Schatten konnte er in der Ecke die Polizisten ausmachen. Frings hockte nun gleich neben der Tür rittlings auf einem Stuhl, das Kinn auf die verschränkten Arme gelegt und erweckte den Eindruck, als döse er.

Gerrit fühlte sich mit einem Mal nicht mehr wohl. Er konnte das Gefühl, eine Mischung aus Unsicherheit und Ahnung, dass etwas Unangenehmes auf ihn zukam, nicht genau einordnen.

Unerwartet wurde die Tür aufgerissen, dann zugeschlagen. Mit schnellen, abgehackten Schritten betrat jemand den Raum, ging zum Schreibtisch und ließ sich auf den Stuhl fallen. Ein Gesicht tauchte in den Lichtkreis.

»Herr Sommer?« Mit gerunzelter Stirn sah ihn der Mann abschätzend an.

Gerrit nickte.

»Mein Name ist Andres, Hauptkommissar Andres.« Der Beamte zog sich im Sitzen das Jackett aus. Unter den Achselhöhlen zeichneten sich dunkle Schweißflecke mit hellerem Rand ab. Sollte mal das Hemd wechseln, überlegte Gerrit und nahm ihn sogleich wieder in Schutz. Oft hatten die Beamten rund um die Uhr Dienst.

»Gab es Probleme?«, fragte Andres und schaute zu seinen Kollegen.

»Keine Probleme«, klang es gelangweilt zurück. Auf einen Wink von ihm verließ Frings den Raum. Lediglich Streit blieb noch neben der Tür sitzen.

Andres beugte sich nach vorn und stützte seine Arme auf den Schreibtisch. Gerrit schätzte, dass er in seinem Alter war. Dunkles, von Pomade glänzendes schwarzes Haar, braune Augen und eine olivbraune Haut verrieten seine südländischen Vorfahren. Trotz des Namens.

»Herr Sommer«, begann er freundlich und vertrauensvoll. Mit der Stimme schmeichelte er ihm, aber seine Augen waren eher kalt und berechnend auf ihn gerichtet.

»Leider müssen wir Sie nochmals belästigen, um den Tod Ihrer Frau aufzuklären.«

»Was ist denn noch unklar?«

»Alles.«

»Alles?« Gerrit sah ihn verwundert an. »Das verstehe ich nicht.« Unschlüssig drehte den Kaffeebecher zwischen seinen Fingern.

»Herr Sommer, wir haben verschiedene Möglichkeiten. Wir können Sie befragen und alles schön sorgfältig in den Computer tippen. Das dauert, denn ich kann nicht schnell tippen. Wir können Sie auch befragen und die Frage schön sauber auf Band sprechen und Ihre Antwort hinten dranhängen. Wie man das so macht. Das dauert auch. Oder wir lassen ein Tonband mitlaufen, zeichnen alles Gesprochene sozusagen ungeschnitten und im Original auf. Umso schneller sind Sie wieder zu Hause. Sind Sie mit der letzten Möglichkeit einverstanden?«

Gerrit nickte. Auch eine Videokamera hätte er akzeptiert, denn er wollte ins Bett.

In der Zimmerecke ging eine Lampe an. Gerrit erkannte mit einem schnellen Blick, dass Streit ein Tonbandgerät vor sich stehen hatte. Er stellte ein Mikrofon auf den Schreibtisch, nicht weit von Gerrit entfernt, und verband es mit dem Gerät.

»Mein Kollege wird also mit Ihrem Einverständnis alles aufzeichnen«, erklärte ihm Andres. Umständlich schlug er eine dünne Mappe auf und befragte Gerrit nach seinen Personalien und was er von Beruf sei. Als Gerrit antwortete, er habe Betriebswirtschaft studiert, stutzte der Beamte und deutete auf seine Unterlagen. Denen zufolge sei er der Inhaber von sogenannten Gesundheitszentren in Trier und Luxemburg, Health-Center nenne man das ja auf Neudeutsch, worunter er sich nicht allzuviel vorstellen könne. Gerrit verbesserte ihn, denn in Metz habe er in der Zwischenzeit auch eine Filiale eröffnet. Als Andres bezweifelte, ob man davon überhaupt leben könne, denn alles, was mit Gesundheit zu tun habe, ginge doch seit Jahren den Bach runter, nannte Gerrit nur die Höhe der Steuernachzahlung für das vergangene Jahr. Schnell kam der Beamte daraufhin zum eigentlichen Thema.

»Ich habe die Aussagen der Kollegen aus Saarburg, die noch in der Unfallnacht mit Ihnen gesprochen haben.« Er blickte auf. »Also, Herr Sommer, erzählen Sie doch bitte, was sich an diesem Tag alles ereignet hat.«

Unschlüssig zuckte Gerrit mit den Schultern. »Sie wissen doch schon alles.«

»Bitte, Herr Sommer. Ich will von Ihnen lückenlos erfahren, was Sie an diesem besagten Freitag gemacht haben.«

Gerrit war müde und wollte schnell nach Hause. Wobei er jedoch nicht wusste, wie er das hätte anstellen sollen, ohne Auto. Außerdem war ihm nicht nach einer Konfrontation zumute. Hinzu kam, dass er in den letzten Tagen unruhig und deprimiert gewesen war. Immer noch stand er unter großer nervlicher Anspannung. Er hatte vor, die Befragung so schnell wie möglich hinter sich zu bringen.

3

»Das ist ja eine runde Geschichte. Klingt plausibel«, bemerkte Andres emotionslos, nachdem Gerrit geendet hatte. Er warf einen schnellen Blick zu seinem Kollegen. Gerrit bemerkte aus den Augenwinkeln, wie dieser nickte. Demnach war alles genau aufgezeichnet worden.

»Sie hat nur einen Nachteil, Herr Sommer«, wandte sich Andres erneut an ihn. »Ich kann Ihnen leider nicht alles glauben.«

»Es geht um den Tod meiner Frau, Herr Andres. Mir ist nicht nach Lügen zumute.«

Der Beamte sah ihn abschätzend an. Ein Lächeln umspielte seine Lippen und ließ die Mundwinkel zucken.

»Genau, Herr Sommer, es geht um ein Menschenleben. Und wenn es um etwas derartig Wichtiges geht, sagt man immer die Wahrheit.«

Gerrit bemerkte die Anspielung. »Was erlauben Sie sich …«

»Herr Sommer«, unterbrach Andres ihn in einem etwas schärferen Tonfall, »sagen Sie mir bitte: Mit welchem Auto sind Sie an dem betreffenden Tag zu Ihrer Schwester gefahren?«

Gerrit überlegte nicht lange. »Ich hatte mir für das Wochenende einen Audi ausgeliehen.« Seine Müdigkeit war wie weggeblasen. Die versteckte Andeutung von Andres hatte ihn wachgerüttelt.

»Und wo war Ihr PKW? Wo war Ihr BMW?«

»Den hatte ich bei der Autofirma abgestellt.«

»Warum?«

Gerrit spürte, wie er immer nervöser wurde. »Weil ich nicht gleichzeitig mit zwei Autos fahren kann«, platzte er heraus.

Andres zeigte keine Reaktion. Lediglich die Adern an seiner Schläfe traten hervor.

Gerrit lenkte ein. »Ich wollte meinen Wagen in Zahlung geben, habe ihn bei dem Autohaus abgestellt, um zu testen, ob sich jemand dafür interessiert.«

»Und, hat sich einer interessiert?«

»An jenem Wochenende? Weiß ich nicht. Zumindest ist er schnell verkauft worden, wie man mir später erzählte.«

Andres spielte mit einem Kugelschreiber. Zwischendurch malte er abstrakte Muster auf ein Blatt und schien gedanklich abwesend zu sein.

»Ich verstehe nicht, warum Sie sich den Audi ausgeliehen haben. Sie sollten Ihr neues Auto, genau das gleiche Modell, doch eine Woche später bekommen. Das gleiche Modell. Konnten Sie nicht mehr so lange warten?«

Gerrit antwortete nicht.

»Lackspuren und Glassplitter, die wir am Unfallort gefunden haben, stammen von einem BMW«, bemerkte der Beamte unnatürlich ruhig und beobachtete Gerrit.

Der schien die Bemerkung erst nicht verstanden zu haben.

»Lackspuren und Glassplitter? Von einem BMW? Worauf wollen Sie hinaus?«

Der Beamte rückte vom Schreibtisch, drehte den Stuhl in Gerrits Richtung, schlug die Beine übereinander und verschränkte die Arme. »Ganz einfach, Ihre Frau hatte mit einem anderen Fahrzeug einen Zusammenstoß.« Andres’ Stimme klang fast einschläfernd, als ginge ihn das alles nichts an.

»Sie hatte einen Zusammenstoß?«

Der Beamte beugte sich nach vorn. »Tun Sie doch nicht so, als wüssten Sie das nicht!« Sein Tonfall änderte sich. »Natürlich hatte sie einen Zusammenstoß, und zwar mit Ihrem Auto, Herr Sommer, mit Ihrem BMW.« Scharf klangen nun die Worte, und der Zeigefinger des Beamten zuckte bei jeder Silbe in Gerrits Richtung.

Gerrit, ansonsten hellwach und mit einem scharfen Verstand ausgezeichnet – manchmal sogar bestraft, wie er meinte – hatte Mühe, dem Verhör zu folgen. »Was … Wie … Das verstehe ich nicht«, stammelte er. »Meine Frau hat doch die Kurve nicht mehr …«

»Herr Sommer, ich will es einmal so ausdrücken«, unterbrach ihn Andres. »Meiner Meinung nach war es ein … sagen wir mal … ein vorsätzlicher Unfall. Jemand hatte es auf Ihre Frau abgesehen.«

Gerrit starrte den Polizisten an. Vorsätzlicher Unfall? Und sein BMW sollte darin verwickelt sein? Wie passte das zusammen? Und was hatte sein Schwager Charly an Helens Beerdigung zu ihm gesagt? Ihm fiel es im Augenblick nicht ein.

»Ihren alten PKW haben wir in der Zwischenzeit aufgetrieben. War gar nicht so einfach, den Käufer auszumachen.« Andres sagte es, als sei er stolz darauf. »Ein Litauer. War vor zwei Wochen zu Besuch in der Gegend. Hat das Auto gleich mitgenommen.«

Der Beamte drehte sich zum Schreibtisch und blätterte in der Akte.

»Wo haben Sie die Beule vorne links an Stoßstange und Kotflügel reparieren lassen?«, wollte er wissen.

»In der Werkstatt in Saarburg.«

Andres stutzte. Hatte er nicht mit einer Antwort gerechnet?

»Ich freue mich, dass Sie zumindest das zugeben. Und wie kam es zu dem Schaden?«

»Keine Ahnung.« Gerrit hob die Schultern.

»Wenn Sie irgendwo gegen fahren, dann müssen Sie das doch merken.«

»Ich bin nirgends gegen gefahren«, machte Gerrit den Tonfall von Andres nach. »Als ich am Sonntagabend, also zwei Tage nach dem …«

»Ja, ja, ich weiß.«

»Als ich den Audi zurückbrachte und mein Auto abholte, habe ich die Beschädigung gesehen.«

»Moment mal, immer schön langsam. Sie behaupten also, erst am Sonntagabend, zwei Tage nach dem … Unglück, die Beule bemerkt zu haben?«

»Genau. Ich war in Trier ein Bier trinken, bummelte noch etwas durch die Fußgängerzone, aß eine Wurst und fuhr dann nach Hause. Später, als ich das Auto in der Garage abstellen wollte, sah ich die Beschädigung. Am nächsten Tag bin ich in eine Werkstatt gefahren.«

»Es gibt schon dumme Zufälle im Leben«, bemerkte Andres spöttisch und vertiefte sich in die Akte. Mit dem Finger lief er einigen Zeilen nach und nickte bestätigend.

»Wie hoch war noch mal die Lebensversicherung Ihrer Frau?«, schoss er unvermittelt seine Frage ab.

»Was hat denn das mit dem Unfall zu tun?«

»Sehr viel, Herr Sommer. Sehr viel. Also, wie hoch?«

»250.000 Euro.« Gerrit war verwundert, dass Andres davon Kenntnis hatte.

»Das ist eine schöne, runde Summe. Kann man nicht anders sagen. Viel Geld. Haben Sie es schon?«

Gerrit verneinte.

»Woher wir das wissen, fragen Sie sich?« Andres setzte sich in Positur, kam sich nun wichtig vor. »Herr Sommer, wenn ich einen Fall angehe, dann gibt es keine halben Sachen. Verstehen Sie?«

Wie um seinen Worten mehr Gewicht zu geben, starrte er Gerrit an. »Wenn ich etwas wissen will, dann erfahre ich das auch.«

Mit einer hektischen Bewegung ruckte Andres von seinem Stuhl hoch und begann, im Büro auf und ab zu laufen. Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, drehte er mit gesenktem Kopf seine Runden. Jedes Mal blieb er hinter Gerrit stehen, was diesen noch nervöser werden ließ.

»250.000 sind sehr viel Geld. Es wurden schon Leute für viel weniger umgebracht.« Klar und gefühllos kam die Feststellung.

Gerrit sprang auf, sein Stuhl kippte nach hinten. »Was erlauben Sie sich eigentlich? Mit welchem Recht unterstellen Sie mir, meine Frau umgebracht zu haben? Sind Sie verrückt?« Er hatte sich vor dem Beamten aufgebaut, der den Kopf in den Nacken legen musste, um zu ihm aufzusehen. »In was haben Sie sich bloß verrannt?«, fuhr er fort. »Sind Sie denn nicht in der Lage, einen solchen Fall aufzuklären? Ich frage mich, wie Sie es geschafft haben, Hauptkommissar zu werden.«

Andres verzog seinen Mund zu einem Grinsen.

»Herr Sommer«, betonte der Beamte. Gerrit roch Andres’ Nikotinatem. »Ich habe Ihnen noch nichts unterstellt. Aber Sie müssen doch zugeben: da ist ein ungewöhnlicher Zufall im Spiel. Ich will Ihnen das einmal erklären. Passen Sie gut auf! Ihre Frau, Herr Sommer, fährt mit ihrem eigenen PKW von Losheim auf der Bundesstraße 268 in Richtung Trier, biegt ab nach Saarburg und hat wenige Kilometer oberhalb von Serrig auf der Kreisstraße 139 einen tödlichen Unfall. Gut, so etwas kann vorkommen. Ein anderes Auto kommt ihr entgegen und drängt sie von der Straße ab. Auch das ist noch denkbar. Passen Sie auf, Herr Sommer, jetzt kommt das Unwahrscheinliche. Das Auto, das Ihre Frau abgedrängt hat, war kurioserweise Ihr PKW, Herr Sommer. Und Sie wollen mir weismachen, ausgerechnet an diesem Tag hätten Sie sich den Audi-Sportwagen ausgeliehen und wüssten nichts von dem Unfall? Sie wollen mir weismachen, Sie könnten sich nicht mehr an die Beule erinnern? Das ist doch zum Lachen. Eine Frau kommt durch das Auto ihres Ehemannes ums Leben, während dieser sich angeblich einen Sportwagen ausgeliehen hat. Ich frage Sie, wie passt das zusammen?«

Andres wippte auf den Zehenspitzen, als versuche er dadurch, den Größenunterschied auszugleichen.

»Erstens habe ich mir nicht angeblich ein Auto ausgeliehen«, antwortete Gerrit, sich zur Ruhe zwingend. »Zweitens ist es Ihre Aufgabe herauszufinden, wie alles abgelaufen ist. Und drittens war es kein Sportwagen, sondern eine Limousine, ein Diesel.«

»Allrad?«, wollte Andres wissen.

»Ja.«

»Tiptronic?«

»Ja.«

Und wieviel PS?« Der Beamte zeigte sich interessiert.

»Etwa zweihundertfünfzig.«

»Also doch ein Sportwagen«, stellte Andres lakonisch fest. »Und bestimmt teuer«, fügte er hinzu, als könne er sich ein solches Auto nicht leisten.

Er nahm seine Wanderung erneut auf, bückte sich, nahm den Stuhl hoch und meinte, diesmal versöhnlicher: »Bitte, Herr Sommer, setzen Sie sich wieder.«

Unschlüssig nahm Gerrit Platz und beobachtete die beiden Polizisten.

Andres verschränkte die Arme hinter dem Rücken und blickte mit gesenktem Kopf zu ihm hinunter.

»Sie haben Recht. Für den Audi gibt es für diesen Tag zumindest einen Zeugen, auch wenn es nur Ihre Schwester ist.«

Gerrit verbesserte den Beamten. »Herr Andres, es gibt nicht nur einen Zeugen. In dem Autohaus habe ich eine Bestätigung unterschrieben. Haben Sie die nicht vielleicht auch in Ihren Unterlagen?«

Andres ging nicht auf Gerrits Bemerkung ein. »Wissen Sie, was ich denke?«, fragte er nach einer Weile. »Wissen Sie, Herr Sommer, wie ich den Fall einschätze?« Er wippte erneut auf den Zehenspitzen. Seine Hände hatte er demonstrativ auf die Hüften gestützt, als wolle er mit dieser Haltung ausdrücken: dich schaffe ich doch noch allemal.

»Gehen wir einmal davon aus, Sie haben sich wirklich den Sportwagen ausgeliehen. Gut, Sie fahren spazieren, an den Stausee nach Losheim, machen sich einen schönen Nachmittag. Sie besuchen Ihre Schwester, denn Sie brauchen ja ein Alibi. In der Zwischenzeit wird Ihr Auto von einem Ihrer Bekannten unter irgend einem fadenscheinigen Vorwand abgeholt. Bekannter ist vielleicht das falsche Wort. Sagen wir lieber …, sagen wir … äh, Komplize. Na, wie gefällt Ihnen das?«

Gerrit spürte, wie seine Gereiztheit zunahm. »Nur weiter so mit Ihrer Märchenstunde. Haben Sie noch mehr zu bieten?«

»Habe ich«, kam es kalt zurück. »Ihr Komplize fährt mit Ihrem Auto an den Stausee, dort treffen Sie sich mit ihm. Sie tauschen die Autos, fahren in Richtung Saarburg, warten oberhalb von Serrig auf Ihre Frau. Als sie die Straße herunterkommt, fahren Sie …«

»Nein«, schrie Gerrit und sprang auf. »Ich habe meiner Frau nicht aufgelauert. Ich bin bis kurz vor achtzehn Uhr bei meiner Schwester gewesen.« Er war wütend und aufgeregt zugleich und stützte sich mit einer Hand auf den Schreibtisch. Auf seinem Gesicht bildeten sich rote Flecken. Nur mühsam konnte er sich beherrschen. Innerlich die Trauer um seine Frau und nun diese Unterstellungen durch die Polizei. Aus seiner Sicht an Abwegigkeit kaum noch zu überbieten.

»Geben Sie zu, Herr Sommer, so war es doch. Sie wussten genau, wo sich Ihre Frau an dem Nachmittag aufhielt.« Provozierend klangen Andres’ Worte, und es war eine Prise Gehässigkeit darin zu spüren, wie er ihm die Unterstellungen entgegenschleuderte. Gehässigkeit und Überlegenheit, die er nun ausspielte.

»Warum wollen Sie mir denn nicht glauben? Fragen Sie doch meine Schwester, die Bedienung und die Gäste.«

»Ihre Schwester haben wir befragt«, entgegnete Andres ruhig, ging zwei Schritte zur Seite und lehnte sich abwartend mit der Schulter an die Wand. »In dem Protokoll von Kommissar Burg steht, sie habe auf seine Frage hin geantwortet, Sie, Herr Sommer, seien am späten Nachmittag vom Brauhaus nach Hause gefahren. Ihre Frau kam gegen 17 Uhr 30 ums Leben. Das ist doch später Nachmittag. Oder?«

Gerrit zwang sich zur Ruhe, atmete tief durch, wandte sich kopfschüttelnd ab. Anfangs hatte er gedacht, sie wollten lediglich einige Routinefragen an ihn richten. Jetzt stellte sich heraus, sie verdächtigten ihn, am Tod seiner Frau schuld zu sein, sie umgebracht zu haben. Das ging nicht in seinen Kopf.

Kraftlos ließ er sich auf den Stuhl fallen. Ihm wurde heiß. Kleine Schweißperlen liefen von seinen Schläfen zu den Wangen und tropften vom Kinnwinkel auf sein Hemd. Die roten Flecken an Gesicht und Hals begannen zu jucken. Er kratzte sich, wischte mit dem Ärmel eines Unterarms über die Stirn. Mit zwei Fingern drückte er dann gegen die brennenden Augen, als wolle er die einsetzende lähmende Müdigkeit vertreiben. Das Reiben machte es noch schlimmer. Schließlich tränten seine Augen so stark, dass er kaum noch etwas erkennen konnte.

»In der Ecke ist ein Waschbecken«, sagte Andres, der ihn beobachtete.

Gerrit erfrischte sich, befeuchtete seine Haare und trank einige Schlucke von dem kühlen Wasser. Mit einem Papierhandtuch fuhr er sich flüchtig über Stirn und Kopf. Als sei erum Jahre gealtert, schlurfte er zu seinem Stuhl.

»Was haben Sie zu meinem Verdacht zu sagen?«, wollte Andres von ihm wissen.

»Alles Quatsch«, kam es barsch von Gerrit. Er hielt den Blick gesenkt und wünschte sich nur noch ein Bett. Seine Verfassung wurde immer schlechter. Und seine Gereiztheit hatte einen gewissen Punkt erreicht, an dem er sich zur Ruhe zwingen musste. Hoffentlich vergesse ich mich nicht, dachte er.

»Wie lange waren Sie verheiratet?«

Gerrit wusste nichts mit der Frage anzufangen, sie erschien ihm ohne Zusammenhang. »Fast 16 Jahre.«

»Das ist eine lange Zeit. War Ihre Ehe glücklich?«

»Was geht Sie das an?« Ablehnung war aus Gerrits Stimme herauszuhören.

»Eine ganze Menge. Also?«

Mit einem Lächeln auf den Lippen sagte Gerrit: »Ja, ich war glücklich verheiratet.«

»Das können Sie mir doch nicht erzählen. Nach 16 Jahren! Haben Sie eine Geliebte?«

Gerrit antwortete nicht und sah den Beamten nur an. Er ahnte, auf was Andres hinauswollte.

»Ich habe Sie gefragt, ob Sie eine Geliebte haben. Na, geben Sie’s zu. Sind Sie fremdgegangen?«

Gerrit registrierte, wie sich Andres mehr und mehr in eine Version verrannte, die er unbedingt bestätigt sehen wollte. Damit wäre dann der Fall für ihn wohl erledigt.

»Ich habe keine Freundin«, entgegnete er betont sachlich. »Unsere Ehe war wirklich in Ordnung.«

»Ha«, kam es auflachend von dem Beamten. »Sie wollen mir weismachen, dass Sie ein Saubermann sind. Jeder hat doch …«

»Nicht jeder«, unterbrach Gerrit ihn. »Sie vielleicht, aber nicht jeder.«

Er sah, wie Andres errötete und unsicher zu seinem Kollegen schielte. Hatte Gerrit zufällig einen wunden Punkt getroffen?

»Lassen wir das vorerst«, ging Andres nicht weiter darauf ein. »Hat Ihre Frau ein Testament hinterlassen?«

Gerrit überlegte einen Augenblick. Für Andres zu lange. »Na? Hat sie eins hinterlassen?«

»Nicht, dass ich wüsste.«

»In der Versicherungspolice hat Ihre Frau Sie als Berechtigten eingetragen. Und Sie wissen nicht, ob ein Testament existiert?«

»Tut mir Leid«, antwortete Gerrit.

»Bei der Beerdigung hatten Sie einen Leihwagen. Stimmt das?«

»Ja.«

«Noch nicht einmal Ihrem Schwager haben Sie etwas von diesem ominösen Schaden an Ihrem BMW erzählt. Warum eigentlich nicht? Ich dachte, Sie hätten ein so gutes Verhältnis zu ihm?«, kam es wie aus der Pistole geschossen.

Gerrit zuckte unmerklich zusammen. Zuerst konnte er mit der Frage nichts anfangen. Dann dämmerte ihm, dass auch Charly befragt worden war.

»Zu dieser Zeit hatte ich andere Dinge im Kopf«, gab er unwirsch zur Antwort. »Falls Sie es nicht wissen sollten, aber wenige Tage vorher war meine Frau verunglückt. Tödlich.«

Deutlich spürte Gerrit, wie seine Müdigkeit zunahm und er das Interesse verlor. Er betrachtete den Schreibtisch, sah die vielen Kratzer in dem Resopal, schaute sich im Raum um, trank den letzten Rest des längst erkalteten Kaffees und begann ausgiebig zu gähnen.

Andres musste gespürt haben, dass es keinen Sinn machte, das Verhör weiter fortzusetzen. Und so spielte er seinen letzten Trumpf aus, als er sagte:

»Herr Sommer, Sie sind vorläufig festgenommen.«

Erstaunt über Gerrits Ruhe erklärte er die Paragrafen, auf die er sich berief. Gerrit nickte nur, hörte etwas von einem Richter, der noch, wenn möglich, in dieser Nacht oder spätestens am kommenden Tag einen Haftbefehl unterschreiben werde und bekam mit, wie Andres den Namen eines Staatsanwalts erwähnte.

Er erinnerte sich, diesen Namen wiederholt von Charly gehört zu haben. Und Charly war auf diesen Staatsanwalt nicht gut zu sprechen.

»Wollen Sie noch jemanden anrufen? Ihren Anwalt vielleicht?«

»Ja, ich möchte jemanden anrufen. Meinen Schwager Charly.«

»Charly?«, kam es wie ein Echo von Andres. »Welcher Charly?« Und dann fragte er ahnungsvoll: »Kenne ich ihn etwa?«

Gerrit musste lächeln. »Jeder hier im Präsidium kennt ihn. Es ist der Charly.« Das Wort »der« betonte er. »Es ist euer Charly, Herr Andres.«

4

Man hatte Gerrit nach unten in eine Arrestzelle gebracht. Er bewunderte die Weitsicht der Beamten, die ihn in Kahren erwartet hatten, als sie darauf verwiesen, er brauche seine Reisetasche nicht im Haus abzustellen. Ob sie schon zu diesem Zeitpunkt gewusst hatten, dass man ihn in Trier festhalten würde?

Er streckte sich auf der Liege aus, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und lächelte erneut. Ihn hatte amüsiert, wie Andres auf den Namen Charly reagierte.

Wie Charly, der eigentlich Kurt Lindner hieß, zu seinem Spitznamen kam, wussten nur wenige. Schon als Schüler hatte Charly seine Klassenarbeiten und seine Exponate in Kunst immer mit dem Namenskürzel K. Li. abgezeichnet. Alle anderen Mitschüler unterschrieben artig mit ihrem vollen Namen. Aus K. Li., wie seinerzeit der Lehrer der Klasse provozierend vorlas, wurde Kali, und daraus irgendwann Charly. »Immer noch besser als Kuli«, hatte Charly einmal gemeint, als er die Hintergründe erklärt und auf seinen Vornamen Kurt angespielt hatte.

Charly hatte bei der Polizei schnell Karriere gemacht. In jungen Jahren war er nach ihrer gemeinsamen Zeit beim Bundesgrenzschutz als Wehrdienstersatz beim Sondereinsatzkommando in Meckenheim bei Bonn stationiert gewesen, hatte wichtige Personen und deren weniger wichtige private Aktivitäten zu schützen. Später kam er zurück nach Trier. Acht Jahre zuvor war er Leiter der Trierer Kriminalpolizei geworden. Zwei Geiselnahmen konnte er so erfolgreich beenden, dass die daraus gewonnenen Erfahrungen, die strategische Umsetzung und der unblutige Verlauf immer noch auf Polizeischulen als Muster- und Fallbeispiel zum Unterrichtsstoff gehörten. Einigen hatte das nicht gefallen. Und deshalb stolperte Charly. Über diesen Staatsanwalt Clemens. Oder eher umgekehrt: Der Staatsanwalt wollte über Charly stolpern. Charlys Mitarbeiter hatten von einem Inhaftierten erfahren, dass wichtige Indizien und Beweise des Falles, an dem sie gerade arbeiteten, in Breslau zu finden seien. Und weil der Inhaftierte die Umstände und Örtlichkeiten so genau und plausibel schildern konnte, fuhren zwei von Charlys Leuten privat, ohne dienstlichen Auftrag und ohne Antrag auf Kostenerstattung, nach Polen. Keine Beweise, keine Indizien, dafür jedoch ein Ermittungsverfahren gegen Charly von diesem bewussten Staatsanwalt, der von der Polenreise erfahren hatte. Es ging um etwa vierzig Euro Handy-Kosten zu Lasten der Steuerzahler, welche Charlys Mitarbeiter auf ihren Dienst-Handys verursacht hatten. Dabei stand noch nicht einmal fest, dass sie selbst telefoniert hatten.

Aus diesen vierzig Euro wurde ein langjähriges Ermittlungsverfahren gegen Charly. Es wurde ein Untersuchungsausschuss im Landtag einberufen, der gleichfalls über Jahre ermittelte und mehr als eine Million Euro Kosten verursachte. Fazit dieser Angelegenheit, in deren Verlauf ein Staatsanwalt es wohl nicht geschafft hatte, seinen inneren Schweinehund an die Kette zu legen: Charly wurde zuerst nach Kaiserslautern versetzt, dann wurde zwei Jahre später das Verfahren gegen ihn fallen gelassen, er in allen Punkten rehabilitiert. Ein Freispruch erster Klasse.

Und ein weiteres Fazit: Charly, der Vorzeigebeamte des Trierer Präsidiums, quittierte seinen Dienst und machte sich als Sicherheitsberater in Luxemburg selbstständig.

Gerrit ging in Gedanken das Verhör noch einmal durch. Dabei wurde ihm immer deutlicher, welche absurden Beschuldigungen Andres gegen ihn vorgebracht hatte.

Was wollte er mit der Unterstellung, er habe doch sicherlich eine Geliebte, erreichen? Etwa ein schnelles Geständnis?

Fragen über Fragen taten sich Gerrit auf. Wie kamen die Glassplitter von seinem BMW an den Unfallort? War die Beschädigung schon lange, bevor er sie entdeckt hatte, an seinem Auto gewesen?

Gerrit war jetzt nicht mehr so ruhig, wie er während des Verhörs noch den Eindruck zu erwecken versucht hatte. Zu seiner Müdigkeit meldeten sich quälende Gedanken.

Er starrte in die Dunkelheit. Von seiner Unschuld überzeugt, durfte er jedoch nicht den Fehler begehen und Andres unterschätzen. Ihm wurde bewusst, dass die Befragung durch die Polizei noch lange nicht beendet war.

Er musste dahinterkommen, was sich an diesem unheilvollen Freitag zugetragen hatte. Wie war das noch mal, fragte er sich? Konzentriert versuchte er sich zu erinnern. Es fing doch alles damit an, dass er sich an diesem sonnigen Tag den Audi ausgeliehen hatte und zu seiner Schwester gefahren war.

5

Er hat Angst. Ständig hat er Angst, seit Jahren schon. Aber nicht die gewohnte, die man empfindet, weil sich eine Gefahr ankündigt oder man eine bestimmte Ahnung hat, weil sich kahlköpfige Schläger nähern, ein Auto gerade noch bremsen kann, die Arbeitsstelle verloren geht, vor Krankheit und Tod. Seine Angst kommt nicht von außen. Sie kommt von innen, sie wohnt in ihm, sie wächst in ihm. Es ist die Angst vor dem Besonderen, das er in der Tiefe seines Bewusstseins spürt und vor langer Zeit in sich entdeckt hat. Und diese Entdeckung war furchtbar, weil er dieses schlimme Besondere überall vermutet hat, mehr oder weniger stark ausgeprägt in jedem schlechten Menschen und in den Abgründen kranker Hirne, nur nicht als Teil seiner Selbst.

Jede Angst hat eine Tür, hinter der man sie versteckt. Jede Angst. Seine jedoch, die Angst vor seinem … zweiten Ich, schlummert frei. Und so lange sie schlummert, ist er beruhigt, dann scheint sie ungefährlich. So kann es schon mal sein, dass er einige Tage nicht an sie denkt und hofft, aus dem Schlummern sei ein Schlafen, ein Todesschlafen ohne Erwachen geworden. Dann endlich könnte auch er wieder aufwachen und sich frei fühlen. Aber diesen Gefallen macht ihm das Besondere nicht. Es spielt nicht mit ihm, aber es zeigt unentwegt: Hier bin ich, lebe mit mir, setze dich mit mir auseinander, ich bin du, ein Teil von dir. Und wenn du so große Angst vor dir selbst und deinem bisher unbekannten dunklen Ich hast, dann löse das Problem. Du löst doch sonst auch alle Probleme.

6

Verträumt beobachtete Gerrit die auf- und abtanzenden Surfer auf dem Stausee in Losheim. Seine Augen wanderten über die glitzernde Wasserfläche, verharrten bei einem Schlauchboot, um das einige Jungen kämpften, wanderten weiter zu Tretbooten, auf denen junge Mädchen sich in Positur geworfen hatten, als gelte es, bei einem Casting eine Filmrolle zu ergattern.

Schritte auf Kies näherten sich.

»Hallo Gerrit, du bist ja schon da!«

Federnd sprang er die wenigen Meter von seinem Aussichtshügel hinunter und eilte auf seine Schwester zu. Sie stürmte ihm mit flatternden Haaren entgegen.

»Gut siehst du aus, Tessa.« Anerkennend sah er in ihr von Sommersprossen übersätes Gesicht und strich ihr eine kastanienbraune Locke aus der Stirn. Es war ein schönes Gesicht, nicht alltäglich, und mit einer guten Portion Ausdruckskraft, das ihn übermütig anlächelte.

»Wie geht es dir?«, fragte er.

»Gut geht’s mir, großer Bruder«, antwortete sie immer noch lachend und hakte sich bei ihm unter.

»Hast du heute nichts in deinem Geschäft zu tun?« Von unten herauf sah sie ihn an. »Sonst kommst du doch freitags immer später zu uns heraus.«

»Zu tun gibt es genug. Ich habe früher aufgehört, um den Audi auszuprobieren.«

Sie gingen an der Terrasse des Restaurants vorbei und steuerten auf den Parkplatz zu.

Tessa befreite sich von ihm und umkreiste das Auto. Eine Hand fuhr scheinbar zärtlich über das glatte Blechkleid, folgte den Linien der Karosserie. Sie trat einen Schritt zurück, bückte sich und ordnete ihre Haare, wobei sie eine Seitenscheibe als Spiegel benutzte.

»Genau wie Helen. Das ist doch typisch für euch. An keinem Spiegel könnt ihr vorbeigehen.«

»Die Konkurrenz ist groß«, bemerkte sie lächelnd. »Da hast du ja ein nettes Spielzeug.« Sie deutete auf den Wagen. »Vier Türen, und trotzdem sieht er aus wie ein Sportwagen, so geduckt. Teuer?«

»Spielzeug für Männer ist immer teuer. Ist aber nicht mein eigener, den bekomme ich erst in einer Woche.«

Langsam schlenderten sie zum Restaurant und stiegen die wenigen Stufen zur Terrasse hinauf. Flüchtig ließ er seinen Blick über die vielen Gäste des Braugasthauses schweifen. Sie saßen unter Sonnenschirmen, tranken das selbst gebraute Bier des Hauses, der Renner schlechthin. Andere aßen ein Eis oder, weil es gerade in die Jahreszeit passte, ein Stück Erdbeertorte.

Sie hatten kaum Platz genommen, als Gerrit fragte: »Und wo ist Charly?«

»Irgendwo da draußen.« Vage deutete Tessa über die Schulter. »Irgendwo treibt er sich herum. Aber heute Abend wollte er zurück sein.«

»Ist er mal wieder in den umliegenden Wäldern unterwegs?«

Sie nickte. »Manchmal schafft er fünfzig Kilometer am Tag. Er sagt, er braucht das. Die Natur und die Ruhe. Wie geht es Helen und Nana?«, wechselte sie schnell das Thema.

»Helen ist unterwegs, du kennst sie ja. Heute Mittag ist sie, wie jeden Freitag, hier in der Nähe bei ihrer Freundin, einer Heilpraktikerin. Es sollen noch andere Frauen eingeladen sein. Irgend so ein Kaffeekränzchen.«

»Helen trinkt doch keinen Kaffee«, stellte Tessa richtig.

»Dann eben … Sekt oder Champagner und Martini.«

»Klingt irgendwie … enttäuscht, wenn ich dich richtig interpretiere. Ist es so?«

Gerrit seufzte. »Helen verliert manchmal das richtige Maß. Als sie das letzte Mal von einer Nachmittagsparty nach Hause kam, hatte sie einiges getrunken. Trotzdem war sie noch mit dem Auto gefahren.« Als könne er ihren Leichtsinn immer noch nicht verstehen, schüttelte er den Kopf.

»Aha. Und was macht Nana?«

Gerrits Gesicht erhellte sich. »Stell dir vor, meine vierzehnjährige Tochter sitzt zu Hause an den Hausaufgaben. Ist das noch normal?«

Tessa lachte. »Erinnerst du dich denn nicht mehr daran, was wir gemacht haben? Auch Hausaufgaben, so lange unsere Eltern in der Nähe waren. Und dann nichts wie weg. Oder einen Freund angerufen.«

»Zerstöre doch nicht meine Illusionen«, tadelte er sie gespielt.

»Ist sie immer noch so versessen auf DVDs und das Internet?«

»Ja, und am PC macht ihr kein Junge etwas vor. Von mir ganz zu schweigen.«

Tessa stand auf und kam wenig später mit einer Flasche Cognac zurück. Gerrit registrierte, es war ihre Privatmarke. Ohne zu fragen schenkte sie ein. Sie kannte seinen Geschmack.

»Seitdem Charly kaum noch etwas trinkt, werden Wein, Whisky und Cognac in unserer Privatbar uralt.« Schmunzelnd prostete sie ihm zu.

»Ich bewundere seine Willensstärke.«

Sie ging nicht auf die Bemerkung ein. »Hat sich mit Helen alles eingerenkt?« Es sollte nicht neugierig klingen, aber trotzdem interessierte es sie.

»Es ist wieder alles okay.«

»Das ist gut. Vor einigen Monaten hat sie sich bei mir beklagt, du hättest zu wenig Zeit für sie. Du würdest dich zu sehr um deine Geschäfte kümmern.« Tessa spielte mit der Tischdecke und sah ihren Bruder nicht an. Auch ihr wäre es lieber, wenn Charly sich mehr um sie kümmerte. Nicht so oft als Sicherheitsberater in Luxemburg oder in seiner Freizeit auf längeren Touren in den Wäldern wäre. Deshalb konnte sie Helen gut verstehen.

»Natürlich habe ich einiges zu tun«, entgegnete Gerrit ruhig. »Aber wenn ich das alles nicht so intensiv anginge, könnten wir uns vieles nicht leisten. Besonders Helen müsste ihre Ansprüche zurückschrauben. Das gefiele ihr auch nicht. Man kann nicht überall seine Maximalforderungen durchsetzen.«

Er stand auf, reckte sich und schaute über den See. Nach wenigen Augenblicken wandte er sich um. Ans Geländer gelehnt, sah er seine Schwester mit nachdenklichem Gesicht an.

»Wir haben ein schönes Haus, einen Swimmingpool, einen großen Garten. Helen hat ein sündhaft teures Cabriolet. Sie braucht nicht zu arbeiten, hat Zeit für ihre Hobbys, ist immer unterwegs, und wir können jedes Jahr zweimal in Urlaub fahren. Das alles hat natürlich seinen Preis.«

Tessa konnte verstehen, warum ihr Bruder bedrückt war, wenn es um dieses Thema ging. Helen stammte aus einem reichen Elternhaus, hatte als Einzelkind nie Geldprobleme gekannt und jeden Wunsch erfüllt bekommen. Sie beide dagegen stammten aus ärmlichen Verhältnissen.

»Trotzdem habe ich vor, irgendwann die BOSO-Healthcenter abzustoßen«, fügte Gerrit hinzu, als könne er dadurch sämtliche Probleme lösen. »Dann habe ich wieder mehr Zeit für meine Familie.«

»Laufen sie denn nicht gut?«

»Im Gegenteil«, entgegnete er übermütig. »Trier ist schon immer ein Renner, in Luxemburg sind wir längst in den tiefschwarzen Zahlen, und Metz entwickelt sich hervorragend. Aber wenn ein Gewinn herausspringt und mein Partner damit einverstanden ist, werden wir alles verkaufen. Von einer finanzstarken Gesellschaft erwarte ich in den nächsten Tagen ein Angebot.«

»Wer hätte vor sieben oder acht Jahren gedacht, dass du einen Weg finden würdest, aus der Mode gekommene Fitnesscenter in Healthcenter umzuwandeln. Mit Nordic-Walking, Stretching, Thai Chi, unter ärztlicher Betreuung von einem Orthopäden, Heilfasten, Körperreinigung, Ostheopathie, Massage … habe ich etwas vergessen?«

»Zwei Heilpraktiker, ein Akupunkteur, Entschlackungskuren, Gewichtsreduktion, Reisen und Urlaub für Senioren unter dem Aspekt Fitness.«

»Du und deine Senioren.«

»Der Markt der Zukunft. Schau dich doch nur hier bei dir um. Die meisten über sechzig.«

Tessa nickte. Die Terrasse war inzwischen bis auf wenige Plätze besetzt. Überwiegend ältere Herrschaften.

»Ja, im Alter liegt für manche Branchen die Zukunft«, orakelte Gerrit und war mehr denn je von seiner Idee, sich besonders den über Fünfzigjährigen in seinem BOSO-Healthcenter zu widmen, überzeugt. BOSO bedeutete so viel wie Body and Soul und war genau wie das Wort Healthcenter eine zwangsläufige Anlehnung an die englische Sprache, ohne die, wollte man neue Wege gehen, nun mal in Deutschland nichts zu funktionieren schien. Lange hatte Gerrit überlegt, welche deutsche Bezeichnung er für den Wandel vom Fitnesscenter – also Ertüchtigungszentrum – zum Gesundheitszentrum einsetzen könnte. Ihm war nichts Passendes eingefallen. So kam er schließlich auf BOSO-Healthcenter. Mittlerweile war das Wort BOSO in seiner Branche zum geflügelten Wort geworden, erhatte es sich deshalb auch schützen lassen.

Tessa bestellte zwei Bier. Gerrit sah der Bedienung nach.

»Du hast einen guten Geschmack«, bemerkte er. »Oder hat Charly sie etwa ausgewählt?«

»Nein«, lachte sie, »dann hätten wir sicherlich eine Alte, nur weil sie weniger Gehalt verlangt. Aber warum soll denn unsere neue Bedienung, wenn sie schon meine Arbeit übernimmt, nicht auch gut aussehen?«, fragte sie kess.

»Da bin ich aber beruhigt, dass euer Eheleben noch intakt ist.«

»Wie soll ich das jetzt verstehen?« Irritiert sah sie ihn an.

»Wenn du dir schon die Konkurrenz ins Haus kommen lässt, dann muss doch bei euch alles in Ordnung sein, oder?«

»Charly meint, vor allem unsere männlichen Gäste hätten ein Anrecht auf einen weiblichen Pulsbeschleuniger.«

Es kamen immer mehr Gäste, die auf der Terrasse keinen Platz mehr fanden. Tessa stand auf, sprach kurz mit einigen von ihnen und kam zwischendurch wieder zu Gerrit zurück.

»Es tut mir Leid«, seufzte sie, während sie Platz nahm, »aber meine Stammgäste erwarten schon, dass man sich um sie kümmert und persönlich begrüßt.«

Gerrit schaute auf die Uhr. »Ich muss zurückfahren. Helen und ich sind heute Abend eingeladen.« Wie zu einer Entschuldigung hob er die Hände und stand auf.

»Das geschieht Charly recht. Warum muss er denn auch so oft in der Wildnis herumturnen? Wenn ich ihm erzähle, dass du hier warst, ärgert er sich fürchterlich.«

Seine Schwester begleitete ihn zum Auto. Die Sonne stand schon tiefer am Horizont. Langsam bog er vom Parkplatz auf die Straße und sah im Rückspiegel, wie Tessa ihm winkte. Er konnte nicht ihre Gedanken lesen, sonst hätte er gewusst, wie zufrieden sie war. Mit ihrem Mann Charly und mit ihm, ihrem Bruder. Und sie freute sich darüber, weil Charly und Gerrit sich gut verstanden. Eine Freundschaft, die nun schon über drei Jahrzehnte bestand. Manchmal war sie sogar eifersüchtig, wenn sie bemerkte, wie sie ihretwegen ein Thema wechselten, als hätten sie Geheimnisse vor ihr.

7

Gemächlich rollte Gerrit über die kurvenreiche Bundesstraße 268, die, von Bäumen gesäumt, überwiegend im Schatten lag. Manchmal wurde er von der Sonne geblendet, wenn die Straße eine Biegung machte. Dann sah es aus, als läge auf dem Asphalt ein glänzender, silbriger Film.

Gerrit konzentrierte sich, überholte einige PKWs und einen LKW, vollgeladen mit Langholz. Leise summte er zur Radiomusik, klopfte auf dem Lenkrad den Takt. Er fühlte sich wohl.

Am Panshaus nahm er die Abzweigung von der B 268 nach Saarburg. Zuerst bergauf, den Wagen voll beschleunigt. Auf der Kuppe nahm er den Fuß vom Gas. Einige Kurven, vorbei an einem Parkplatz, wo Drachenflieger ihre Autos abstellten, sich vom nahe gelegenen Fels ins Tal stürzten, um dann vom Aufwind begünstigt über dem Saartal zu gleiten. Zwei weitere Kurven, kurz beschleunigen, hinter der nächsten Biegung musste er scharf bremsen. Unwillig sah er auf seine Uhr.

»Ein Stau. Der hat mir gerade noch gefehlt«, murmelte er und dachte an Helen. »Da wird sie mir aber die Hölle heiß machen, wenn ich zu spät komme.«

Nur im Schritttempo kam er voran. Als er nach wenigen Minuten ins Tal blicken konnte, sah er das Licht eines Polizeifahrzeugs. Während er langsam näher kam, bemerkte er abseits einen Krankenwagen.

Unfall. Er hielt Ausschau nach einem beschädigten Auto, konnte aber gegen die tief stehende Sonne nichts erkennen. Als er auf gleicher Höhe war, sah er einige Polizisten am Straßenrand stehen. Mit einem Band hatten sie die Unfallstelle abgesperrt.

»Was ist denn passiert?«, wollte er von einem Polizisten wissen, der an der Unglücksstelle den Verkehr um die Einsatzfahrzeuge lenkte.

»Von der Straße abgekommen«, antwortete der Mann. »Da kommt jede Hilfe zu spät«, fügte er lakonisch hinzu, während er Gerrit ungeduldig weiterwinkte.

Wahrscheinlich genervt von den immer gleichen Fragen der Autofahrer …

Nachdenklich fuhr Gerrit talwärts, erreichte Serrig, eines der wenigen Dörfer in Rheinland-Pfalz mit Misthaufen vor Bauernhäusern, fuhr über die kurvenreiche und holprige Ortsstraße, dann an der Saar entlang Richtung Saarburg und von dort nach Kahren. Er rollte die Einfahrt hoch und stieg aus. Das Garagentor war geschlossen, also ist Helen noch nicht da, sagte er sich. Er verschloss das Auto und ging ins Haus. Den Schlüsselbund legte er im beleuchteten Flur neben dem Telefon ab. Als er auf Socken das Wohnzimmer betrat, kam ihm seine Tochter entgegen. Sie hatte einen Kopfhörer übergestülpt, den Walkman in den weiten Falten ihres Hemdes versteckt. Genussvoll biss sie in einen Toast.

»Nana, wo ist Ma?«

»Was?« In der einen Hand hielt sie den Toast, mit der anderen lüftete sie den Kopfhörer.

»Ich habe dich gefragt, wo Ma ist«, wiederholte er lauter.

»Schrei doch nicht so.« Vorwurfsvoll sah sie ihn an. »Keine Ahnung, wo Ma ist«, kam sie auf seine Frage zurück. Sie zuckte mit den Schultern und ging an ihm vorbei.

Gerrit zog das Hemd aus und stellte sich an das Wohnzimmerfenster, das die talseitige Front einnahm. Verträumt schaute er auf Täler, registrierte Dunst, der aufstieg und die Hänge hochkroch, Kuppen, bewaldete Hügel, den dünnen Mast eines Radiosenders und Ortschaften, weiß-bunt gewürfelte Sprenkel, in denen mehr und mehr die Lichter angingen. Die Welt lag ihm zu Füßen.

Er wandte sich ab, ging ins Schlafzimmer, entkleidete sich vollständig und duschte eiskalt. Das Wasser tat ihm gut, es spülte den Staub und die Wärme hinweg. Prustend drehte er sich unter dem Strahl und rieb sich die Kühle in den Körper. Anschließend rubbelte er sich trocken und warf einen prüfenden Blick in den Spiegel. Er spannte seine Muskeln an, war zufrieden mit dem, was er sah, streifte sich ein frisches Hemd über. Mit den Jeans in der Hand ging er barfuß zurück ins Wohnzimmer. Dort mixte er sich einen Drink, nippte daran, stellte das Glas ab, zog die Hose an und machte sich auf die Suche nach Nana.

Wie nicht anders erwartet fand er sie in ihrem Zimmer, wo sie mit dem Walkman vor dem Computer saß. Den ersten Computer hatte er ihr geschenkt, als sie acht war. Spätestens alle zwei Jahre gab es einen neuen. Inzwischen hatte sie sich solch profunde Kenntnisse erworben, dass Gerrit ihr nicht mehr gewachsen war. Ihren Wunsch für den nächsten Geburtstag kannte er somit schon.

Er stellte sich hinter sie. Im Augenblick tanzten verschiedene Zahlen auf dem Bildschirm, die vom Wert her immer größer wurden.

»Primzahlen«, erklärte Nana kurz über die Schulter und war schon wieder in ihr Gerät vertieft.

»Was willst du denn abfragen?«, wollte er von ihr wissen und hob leicht den Kopfhörer an.

»Nichts Besonderes, bin zufällig darauf gestoßen«, bekam er knapp zur Antwort. Gerrit konnte sich ausrechnen, dass sie am Computer herumgespielt und experimentiert hatte.

Er lupfte den Kopfhörer und fragte: »Hat Ma heute Nachmittag angerufen?«

Sie verneinte. Gerrit ging aus dem Zimmer und schloss leise die Tür.

Wo könnte Helen sein? Nachdenklich ging er zum Telefon und rief bei Peters an, wo sie beide heute Abend eingeladen waren.

»Hier Gerrit. Ist Helen schon bei euch?«

»Nein. Kommt ihr etwa nicht?«, klang es besorgt aus dem Hörer. »Es gibt auch Tiramisu.«

Gerrit lächelte. Sabine Peters kannte seine Schwäche für Süßspeisen. »Keine Angst, wenn wir einmal zugesagt haben, dann erscheinen wir auch. Bis gleich.« Er legte auf.

8

Die Party lief auf vollen Touren.

Artig überreichte er das von Helen verpackte Geschenk und beobachtete die Gäste, winkte hier, wechselte dort ein paar Worte.

Das Bier schmeckte hervorragend, genau richtig temperiert, und die Appetithäppchen machten Appetit auf mehr. Die Stimmung wurde immer ausgelassener. Einige Bekannte gesellten sich zu ihm. Bemerkungen über Wein, wovon Gerrit keine Ahnung hatte, wurden ausgetauscht, ein paar Gehässigkeiten über Lokalpolitiker und den Unsinn, der wieder einmal verzapft worden war, machten die Runde. Irgendwann fragte jemand: »Wo ist denn Helen?«

Automatisch sah Gerrit auf seine Uhr. Bin ich wirklich schon über zwei Stunden hier?, wunderte er sich und ließ seine Augen über die Gäste schweifen. »Weiß nicht. Ich dachte, sie sei inzwischen gekommen.«

Jetzt, da er an Helen erinnert wurde, entschuldigte er sich und machte sich auf die Suche nach seiner Frau. Es kam hin und wieder vor, dass sie getrennt zu Parties gingen, wenn einer von ihnen noch etwas zu erledigen hatte. Sie trafen sich dann erst bei den Gastgebern. Peters hatten weit über hundert Gäste eingeladen, die sich im Haus und draußen auf dem Grundstück tummelten. Es war nicht einfach, nach Helen Ausschau zu halten.

Zwei Stunden später und nach einer angeregten Unterhaltung über das Thema Grenzöffnung nach Osten, Zustrom von billigen Arbeitskräften aus den neuen EU-Mitgliedsstaaten, besonders aus Polen und Tschechien, machte er einen letzten Rundgang. Dann fuhr er ohne sich zu verabschieden nach Hause.

Helens Auto stand nicht in der Garage.

Er stellte den Audi ab und ging zum Haus. Poseidon, Nanas Katze, wartete miauend und mit steil aufgerichtetem, zittrigem Schwanz vor dem Eingang auf ihn.

Gerrit war noch immer nicht beunruhigt, obwohl auch neben dem Telefon keine Nachricht von seiner Frau lag. Es war schon einige Male vorgekommen, dass Helen spontan ihre Pläne geändert hatte, weil sie sich bei Bekannten oder Freunden besonders wohl fühlte. Bei diesen Gelegenheiten konnte es passieren, dass sie vergaß, ihn zu benachrichtigen.

Er mixte sich einen Gin Fiz, stellte sich wie jeden Abend für einige Minuten auf den Balkon und schaute hinaus auf die schlafende Landschaft mit den lichtbesprenkelten Ortschaften. Am Horizont vermischten sich die Konturen der Berge und Wälder mit dem Himmel zu einem undefinierbaren Schwarzblau.

Tief atmete er die klare Nachtluft ein und bedauerte die Bewohner von Trier und anderen Großstädten, die oft vom Smog geplagt wurden. In Trier, bekannt für seine Kessellage, musste es in diesem warmen Sommer unerträglich sein. Aber davon merkte er in seinem Haus oberhalb von Saarburg nichts.

Er stellte das Glas ab und ging in Nanas Zimmer. Sie lag schlafend im Bett, zusammengerollt, immer noch den Kopfhörer übergestülpt. Der Computer war eingeschaltet. Vom Bildschirm begrüßte ihn ein lustiger Vogel, der unentwegt ein Auge zukniff.

Gerrit nahm seiner Tochter den Walkman ab, deckte sie zu, schaltete den Computer aus und ging zurück ins Wohnzimmer. Unbewusst schaute er im Vorbeigehen erneut zum Telefon, aber er hatte keine Nachricht übersehen.

Er löschte das Licht bis auf eine kleine Lampe und setzte sich, nun mit einem Glas Mineralwasser, bequem in einen Sessel und legte die Füße hoch.

Nach wenigen Minuten stellte er die Stereoanlage an: Good Vibration von den Beach Boys. Entspannt schloss er die Augen und döste vor sich hin.

Ja, das mit dem Haus war ein Glückskauf gewesen.

Vor einigen Jahren hatten sie zufällig gehört, dass dieses Haus auf dem Hostenberg zu kaufen sei. Vor mehr als dreißig Jahren waren die Häuser als Teil einer Ferienanlage konzipiert worden, mittlerweile jedoch hatten die meisten Besitzer sie als Hauptwohnsitz ausgebaut und entsprechend vergrößert. Auf Anhieb verliebten sie sich in die traumhafte Aussicht und das großzügige Grundstück.

»Dieses oder keines«, hatte Helen damals spontan gesagt und Unterstützung erhalten von Nana, die nur noch Augen für den Swimmingpool hatte. Da der Preis akzeptabel war und Gerrits Geschäft immer besser lief, kauften sie das Anwesen kurz entschlossen. Bis jetzt hatten sie es nicht bereut.

Man braucht auch manchmal Glück, murmelte Gerrit vor sich hin, als hätte er bisher nur Unglück gehabt, und trank einen kleinen Schluck. Augenblicklich gestand er sich jedoch ein, in vielerlei Beziehung das Glück gepachtet zu haben. Vielleicht hat der Tüchtige auch eher ein Anrecht darauf? Oder derjenige, der schon vieles an Leid mitgemacht und erfahren hat, überlegte er.

Gerrit zuckte zusammen und schloss geblendet die Augen. Blinzelnd drehte er sich zur Tür und dachte, Helen sei nach Hause gekommen. Nana stand, sich die Augen reibend, im Wohnzimmer.

»Kannst du nicht schlafen?«

»Warum machst du nicht die Tür auf?«, entgegnete sie vorwurfsvoll.

»Was soll ich?« Erstaunt sah er sie an.

»Mach doch endlich auf, es hat schon ein paar Mal geklingelt. Vielleicht ist es Ma, und sie hat ihren Schlüssel wieder vergessen.«

Helen konnte es nicht sein, denn sie wusste, dass in der Garage ein Ersatzschlüssel versteckt war.

Gerrit drückte sich aus dem Sessel, gab Nana einen Klaps auf den Po, ging zur Haustür und fragte sich, wer zu so später Stunde noch zu ihm wollte. Ob es Charly war? Wohl kaum, denn der würde um das Haus herumgehen und wie immer über den Balkon steigen.

Oder hatte Helen so viel getrunken, dass sie nach Hause gebracht werden musste? Manchmal schmeckten ihr die Martinis teuflisch gut.

Während ihm alles Mögliche durch den Kopf ging, er noch hörte, wie Nanas Tür ins Schloss fiel, schaltete er die Außenleuchte ein. In der Diele blieb es dunkel. Er wollte genau sehen, wer mitten in der Nacht klingelte. Abwartend öffnete er die Tür einen Spalt und stellte sich seitwärts, so dass man ihn von außen nicht erkennen konnte. Diese Vorsichtsmaßnahme hatte er sich angewöhnt.

Zwei Männer standen vor dem Eingang. Gerrit warf einen schnellen Blick auf seine Uhr. Schon drei vorbei.

»Ja bitte?«

»Sind Sie Gerrit Sommer«, fragte einer der beiden.

»Ja, der bin ich.« Ihn beschlich ein ungutes Gefühl, als er in die ernsten Gesichter blickte.

»Und wer sind Sie? Was wollen Sie noch so spät?«

»Wir sind von der Polizei in Saarburg. Das ist Kommissar Höhnen.« Der Mann deutete auf seinen Kollegen. »Mein Name ist Freitag, Hauptkommissar Freitag. Dürfen wir eintreten?«

Beide griffen unaufgefordert in ihre Jackentaschen und wiesen sich aus.

»Was wollen Sie?«

Freitag machte einen Schritt auf ihn zu und fragte erneut: »Dürfen wir eintreten?«

Gerrit trat zur Seite. Er warf noch einen Blick auf die Straße, sah den dunklen PKW einige Meter von der Einfahrt entfernt auf der gegenüberliegenden Straßenseite stehen. Er verschloss die Haustür und ging an den Männern vorbei ins Wohnzimmer.

Während er den Beamten einen Platz anbot, überlegte er, aus welchem Grund sie um diese späte Stunde noch zu ihm kamen. Mit Unwillen dachte er an einen ähnlichen Besuch, der allerdings schon drei oder vier Monate zurücklag. In seinem Gesundheitszentrum hatte man bei einem Kunden aus Frankreich größere Mengen Aufputschmittel gefunden. Glücklicherweise lief es damals glimpflich für Gerrit ab. Seit diesem Vorfall hatten er und sein Partner einen weiteren Geschäftsführer eingestellt, der für das Center mit verantwortlich war.

Gerrit deutete auf eine Sitzecke: »Möchten Sie etwas trinken?«

Beide Männer verneinten, nachdem sie Platz genommen hatten.

»Geht es um Helen? Hat sie wieder eine Ampel bei Rot überfahren?« Die Frage sollte lustig klingen, kam aber dafür zu gequält heraus.

Die Polizisten wechselten schnell einen Blick, als er den Namen seiner Frau erwähnte.

Freitag, der sich zum Sprecher machte, fragte: »Ihre Frau heißt Helen Sommer, geborene Follmann?«

Gerrit nickte.

»Wieso kommen Sie darauf, es könnte sich um Ihre Frau handeln?«

»Nur so«, versuchte Gerrit beiläufig zu antworten. »Meine Tochter liegt im Bett, ist fast noch ein Kind. Ich habe der Polizei keinen Grund geliefert, nachts zu mir zu kommen. Mein Kontakt zur Polizei beschränkt sich auf die wenigen Gelegenheiten, wenn meine Frau im Straßenverkehr nicht aufgepasst hat.«

Gerrit schalt sich einen Idioten, solchen Blödsinn von sich zu geben. Dabei merkte er, dass er lediglich durch Gerede seine Unruhe zu verbergen versuchte.

»Es geht um Ihre Frau«, erklärte Freitag ernst. Seinen Blick hatte er vor sich auf den Boden gerichtet, als gäbe es dort etwas Interessantes zu beobachten. »Aber es geht nicht darum, dass sie eine Ampel oder ein sonstiges Verkehrszeichen missachtet hat.« Freitag hob den Kopf und schaute Gerrit an. »Wir haben eine traurige Nachricht für Sie.«