Die Stunde der Narren - Karsten Flohr - E-Book

Die Stunde der Narren E-Book

Karsten Flohr

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Beschreibung

Das Mittelalter an der Schwelle zur Neuzeit: Bauern begehren gegen ihre Grundherren auf, die Kirche schürt den Hexenwahn, der Klimawandel führt zu Hungersnöten und Überschwemmungen. Inmitten dieser unruhigen Zeiten erwächst eine zarte Liebesbeziehung zwischen dem jungen Jakob, Sohn eines leibeigenen Bauern, und Begina, Novizin eines Klosters. Doch ihre Wege trennen sich allzu bald, denn Jakob wird für die Narrenschule auserwählt. Erst Jahre später begegnen sie sich in der Stadt wieder, wo Jakob inzwischen als Stadtnarr lebt. Als der Heilerin, deren Gehilfin Begina geworden ist, ein Hexenprozess droht und Jakob zum Hofnarren des Königs berufen wird, scheint es keine Zukunft mehr für die zwei zu geben. Doch dann nehmen die Narren das Heft des Geschehens selbst in die Hand und die Ereignisse überschlagen sich ... Nie zuvor war das Leben so von Spannungen, Gegensätzen und Umwälzungen geprägt wie im 15. Jahrhundert - kurz vor Erfindung des Buchdrucks und der Entdeckung der neuen Welt. Die Geschichte von Jakob und Begina führt die Leser*innen mitten hinein in ein pralles Panorama dieser Zeit, da man noch an Dämonen und Zauberei glaubte und die wahre Liebe sich ihr Recht erkämpfen musste.

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Karsten Flohr
Die Stunde der Narren
Historischer Roman

Inhaltsverzeichnis

Die Stunde der Narren

Teil 1

Das Dorf

»Der Keim des Todes lauert überall«

»Man wird heute ohne uns singen müssen«

»Sie haben es wieder getan!«

»Die Geister des Waldes kamen in unser Haus«

»Das ist der Preis, den du zu zahlen hast«

Teil 2

Die Stadt

»Ihr braucht nur dem Gejammer zu folgen.«

»Kein Lamm liebt seinen Metzger«

»Du kannst der größte Narr des Landes sein«

»Mit Spaßmachern kennen sie keinen Spaß«

»Du quiekst und grunzt wie ein Ferkel«

»Dass es eine so große Sache ist, ahnte ich nicht«

»Man hat sie mit dem Leibhaftigen gesehen«

Teil 3

Die Burg

»Eigentlich sollte ich längst tot sein«

»Den Bauern geschieht himmelschreiendes Unrecht«

»Hast du genug von den Menschen edlen Geblüts?«

»Sie wissen nicht, dass sie fliegen können«

»Die Furcht vor dem Höllenfeuer ist allzu groß«

»Dann brach das Inferno über sie herein«

Glossar

Impressum

Orientierungsmarken

Inhaltsverzeichnis

Teil 1

Das Dorf

Nun will ich Euch die Geschichte erzählen von Jakob dem Narren, der ein ganzes Königreich ins Wanken brachte und von dem es heißt, es habe ihn nie gegeben, ihn nicht und seine Geschichte auch nicht. Die solches behaupten, haben entweder ihre Gründe, oder es gebricht ihnen an Fantasie, um sich die Ungeheuerlichkeiten vorzustellen, die sich vor nun bald 50 Jahren zugetragen haben, nämlich um das Jahr des Herren 1450. Und zwar eben hier, an den Ufern des Rheins, hinter der Mauern der Burg, die scheinbar so unverwundbar in den Himmel ragt, und hinter den Toren der Stadt, von wo aus unser aller Geschicke gelenkt werden. Ich will beide Orte nicht beim Namen nennen, um keinen Unschuldigen, der in die Geschehnisse verwickelt war, zu desavouieren. Ich will aber doch so wahrheitsgetreu und ehrlich berichten, wie es die Ereignisse verdienen. Denn vieles lässt sich lernen aus dem, was damals geschah, vieles, was noch nie zu Gehör gebracht, weil die Edlen nicht immer die Edlen und die Niederen nicht immer die Niederen sind.
Also dann – worauf noch warten?
Doch halt, verzeiht, eines noch vorweg: Woher ich das alles weiß und wer ich überhaupt bin? Nun, der geneigte Leser wird es beizeiten erfahren, wenn er genügend Aufmerksamkeit walten lässt und nicht der Ungeduld Opfer wird, die ja eine der neuen Todsünden unserer Zeit ist, sondern artig wartet, bis ich mich offenbare und ihm zu erkennen gebe.
Jakob war wohl eben 15 Jahre alt, noch weit entfernt davon, ein Narr zu sein oder gar einer, der ein ganzes Reich aus den Angeln zu heben vermag, als er im Wald saß, an den Stamm eines Schlehenbaumes gelehnt und seine Nase tief in ein Buch steckte. Wie – ein Bauernjunge, der lesen kann? Gemach! Dazu später mehr. Was er da also aus einer losen Blättersammlung – ein Buch konnte man es nicht nennen – mühsam entzifferte, waren die ersten Worte der berühmtesten aller berühmten Ritter-Geschichten, nämlich die von Erec dem Unbesiegbaren1 der jedoch leider vor lauter Minne vergaß, dass er ein Krieger war und so zum Gespött der Ritterschaft des ganzen Landes wurde. Aber halt: So weit war Jakob noch nicht vorgedrungen, er lernte an diesem Tag den Tapfersten der Tapferen gerade erst kennen! Am Ostertag, so las er, zur Wiederkehr der schönen Jahreszeit, hielt König Artus in seinem Schloß Cardigan Hof; nie zuvor hatte man eine so herrliche Versammlung gesehen, denn viele treffliche Ritter waren dort vereinigt, unter ihnen auch Erec – kühn, immer zum Kampf bereit und stolz, sowie edle Damen und Jungfrauen, Königstöchter, schön und liebenswürdig. Ehe der Hof sich auflöste, erklärte der König seinen Rittern, er wolle den weißen Hirsch jagen, um die Sitte wiederzubeleben.
Jakob hob den Kopf, als er ein Knacken im Unterholz vernahm, und nachdem sein Blick sich geschärft hatte, stand scheinbar zum Greifen nah vor ihm ein Hirsch, mit zitternden Nüstern Witterung aufnehmend. Wieder das Knacken im nahen Gestrüpp – und der Hirsch war mit drei mächtigen Sätzen verschwunden und gab den Blick frei auf einen gebeugten, zerlumpten Alten, der in der Hand einen Korb hielt und Jakob entsetzt anstarrte. »Ich bin es nur«, sagte Jakob, der wusste, dass der Alte kaum noch sehen konnte, »brauchst dich um deine Beeren nicht zu sorgen, niemand wird davon erfahren, dass du sie dem Herrn gestohlen hast.«
Der Alte trat heran und blieb auf seinen Stecken gestützt dicht vor Jakob stehen. Der musste all seine Beherrschung aufbringen, um wegen des strengen Geruchs, den der Alte verströmte, nicht das Gesicht zu verziehen. »Reiche Ernte?«, fragte Jakob und deutete auf den Korb mit den Blaubeeren. Der Alte grummelte etwas, erwiderte: »Und du?«, und zeigte dabei mit krummem Finger auf das Säckchen, das neben Jakob im Gras lag, »Schlehenzweige? Für den Gevatter?« Sein trüber Blick wanderte den Stamm des Busches empor, den Jakob zuvor abgeerntet hatte. Jakob nickte. »So haben wir denn beide unser Geheimnis, oder?«, entgegnete er.
»Und so soll es auch bleiben«, murmelte der Alte und setzte sich schlurfend in Bewegung.
»Stolpere nicht – sonst musst du sie alle von Neuem auflesen!«, rief Jakob ihm nach und lachte. Mit einer wegwerfenden Handbewegung verschwand der Alte im Unterholz. Heute würden er und seine noch ältere Frau, die sich nur noch auf allen Vieren in ihrer Hütte fortbewegen konnte, nicht mit leerem Bauch einschlafen müssen. Jakob seufzte. War es wegen des Gedankens an die bittere Armut der beiden, an der gemessen er und seine sechs Geschwister, sein Vater und seine beiden Mütter wie Könige lebten, oder war es, weil er die Seiten schweren Herzens einsteckte und das Weiterlesen auf einen anderen Tag verlegte? Es war höchste Zeit, den Rückweg durch den Wald zum heimischen Hof anzutreten. Wahrscheinlich seufzte er wegen beidem.
Nun ja – Hof. War es ein Hof? Der Grundherr nannte es so. Und deshalb wurden alle Steuern, Abgaben und Frondienste erhoben, die ein bäuerlicher Hof zu entrichten hatte, damit die Herren in der Burg genug zu essen und zu trinken auf den Tisch bekamen. Und nicht nur die: Auch die umliegenden Klöster wollten versorgt und beköstigt sein.
Der Großvater, den Jakob nicht mehr leibhaftig kennengelernt hatte, war eigenhändiger Erbauer des Hofes gewesen: ein Lehmhaus auf einem Fundament aus Holz mit einem Dach aus Gras und Stroh. Darin ein Raum für die menschlichen Bewohner und auf der Rückseite ein Raum für die tierischen Bewohner, der den Menschen zugleich als Abort diente. Auf dem Stückchen Land hatten Jakobs Vorfahren seit Menschengedenken gelebt und sich von dem ernährt, was sie mit ihrer Hände Arbeit dem Boden abringen konnten. Das war oftmals mehr als genug, sodass man anderen, denen es nicht so gut ging, weil sie zum Beispiel schwach oder krank waren oder keine Kinder bekamen, abgeben konnte. Bis dann die anderen kamen, auf Streitrossen reitend und mit Schwertern bewehrt, und ihnen mitteilten, was man ihnen, den neuen Besitzern, wann und in welchen Mengen abzuliefern hätte. Hin und wieder musste man dann auch bei ihnen arbeiten, ihre Gärten anlegen und ernten oder für sie in einen Krieg ziehen, wenn sie nach mehr Landbesitz trachteten. Und um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen, kamen sie hin und wieder und erschlugen diesen oder jenen, der ihnen über den Weg lief, um allen zu zeigen, wie es dem ergeht, der ihnen nicht gehorcht.
Jakob freute sich jedes Mal, wenn er – so wie jetzt – aus dem Wald heraustrat und das Haus auf der nahezu kreisrunden Lichtung vor sich sah. Auf der Rückseite, nach Süden hin, ein kleiner Gemüsegarten und einige Obstbäume, und hinter dem Knick, der das Grundstück begrenzte, die Viehweide und das Getreidefeld.
»Bring sie ins Haus«, sagte der Vater, der gerade dabei war, einen neuen Brunnen auszuheben, als er Jakob mit dem Sack voll Schlehenzweigen sah, »und leg sie unters Bett. Ich seh’ sie mir später an.«
»Sie sind gut«, sagte Jakob, »der ergiebigste Strauch, den ich bislang hatte.«
»Das ist gut, aber sprich nicht so laut darüber!«, sagte der Vater und beugte sich wieder über den Brunnen. Das Jutehemd, das er zum Schutz gegen die Mücken trug, spannte über seinem muskulösen Oberkörper. Eigentlich war es ein zu heißer Tag, um bekleidet in der Sonne zu schuften, aber er legte sein Hemd nie ab. Nur manchmal, ganz kurz, wenn die Mutter es ausgewaschen hatte, und danach zog er es sich sofort wieder nass über seinen Körper.
»Nein, ich bin ganz leise«, sagte Jakob, der wusste, dass ein Sack voller Schlehenzweige für den Vater so viel Wert besaß wie für andere eine Kiste voll Gold. Denn er beherrschte die Kunst, aus der Rinde Tinte zu pressen. Heimlich natürlich, denn alles, was im Wald wächst, gehört dem Grundherrn, nur Feuerholz dürfen die Bauern sammeln, und das auch nur dann, wenn sie zuvor den Grundherrn beliefert haben und dieser der Meinung ist, dass er nun genügend davon hat. Und da es bisher nicht gelungen war, einen Busch am Haus anzupflanzen, musste die Rinde weiterhin heimlich im Wald geschält werden.
Drinnen war es wie immer dunkel. Egal wie hell die Sonne vom Himmel brannte – drinnen musste eine Kerze entzündet werden, um etwas zu sehen, denn zu klein waren die Fensteröffnungen, zu wenig Licht ließen die gegerbten Rinderhäute durch, mit denen sie bespannt waren2. Eine Kerze brannte auf einem Holzklotz in der Mitte des Raumes, und nachdem Jakobs Augen sich an das Dunkel gewöhnt hatten, sah er seine Mutter. Sie lag im Bett und schlief, wie sie es meistens tat. Es hieß, bei Jakobs Geburt sei in ihrem Kopf etwas geschehen, etwas sei kaputtgegangen, weshalb sie dem Vater nun keine Frau mehr sein konnte. So lag sie im Bett, man fütterte sie, wusch sie und wartete, wann sie zu sprechen begann. Denn das tat sie manchmal, wenn sie ihre Visionen hatte. Dann wurde ganz schnell der Pfarrer aus dem Nachbardorf geholt. Jakobs Mutter hatte Marien-Erscheinungen. Der Pfarrer schrieb begeistert alles auf und berichtete dann in der Kirche davon, im Gottesdienst. Jakobs Mutter war eine Art Berühmtheit in der Gegend, wenngleich kaum jemand wusste, wie sie aussah, lag sie doch seit fünfzehn Jahren im Bett in der Dunkelheit.
Nun hatte sie offenbar gerade keine Erscheinung, sie atmete gleichmäßig und rührte sich nicht. Jakob, nachdem er das Säckchen mit der Dornrinde unter das Bett geschoben hatte, setzte sich neben sie und legte seine Hand auf die ihre. Nie hatte ihm jemand gesagt, was während der Geburt geschehen war, trotzdem hatte er das Gefühl, dass es mit ihm zu tun hätte, mit seinem Eintritt in die Welt. In den ersten Jahren danach soll die Mutter ihren einzigen Sohn hin und wieder angesehen und dabei gelächelt haben, wurde berichtet. Doch je weiter ihr Geist sich von der Welt entfernte, desto seltener geschah dies.
Wäre nicht der Bruder des Vaters bald darauf verstorben – er geriet unter die Hufe seiner wild gewordenen Rinder –, hätte der Vater sich wohl eine neue Frau suchen müssen, obwohl die alte ja noch lebte. Ob der Grundherr das genehmigt hätte – wer weiß? Bei Hochzeiten ihrer Leibeigenen sind die Herren oft kleinlich, so als nähme man ihnen persönlich etwas weg.
So jedoch zog die Frau des Bruders des Vaters ins Haus und brachte ihr Neugeborenes mit. Inzwischen hatte sie fünf weiteren Kindern das Leben geschenkt, die Jakob, da er der älteste von ihnen war, wie einen Vater ansahen. Das war dem Vater sehr recht, hatte er doch genug mit dem Hof zu tun, als dass er sich auch noch um Kinder kümmern könnte, wie er sagte. Insgeheim wunderte Jakob sich darüber manchmal, hatte doch die Frau das Getreide zu dreschen, das Brot zu backen, die Kühe zu melken, den Gemüsegarten zu pflegen, die Kleidung zu nähen, die Feuerstelle Tag und Nacht zu bewachen, weshalb sie fast immer entzündete Augen hatte, Obst einzukochen, Bier zu brauen, das Essen zu machen und den Liebestrank für den Gatten zuzubereiten, für den sie täglich Löwenmaul, Tulpenzwiebeln, Lauch, Disteln, Kichererbsen und Fenchel frisch zubereitete.
Dass Jakob ein wenig hinkte und für sein Alter etwas zu klein war – was alle auf die schwere Geburt zurückführten – störte die Kinder nicht und auch sonst niemanden. Man kann im Gegenteil sagen, dass alle, auch die Bewohner der umliegenden Höfe, die zusammen das Dorf bildeten, ein Lächeln auf dem Gesicht hatten, wenn sie Jakob sahen. Er brauchte gar nichts Besonderes zu tun, seine bloße Anwesenheit wirkte erheiternd. Irgendetwas ging von ihm aus, was die Leute fröhlich stimmte, ohne dass sie es merkten. Und wenn er dann doch etwas tat, wurde es richtig lustig.
Jakob konnte nämlich vieles, was die meisten nicht können. Er konnte auf den Händen laufen, an manchen Tagen sogar auf einer Hand, er konnte die unmöglichsten Grimassen ziehen, er konnte schielen in beide Richtungen, und was die Leute am meisten verblüffte: Er konnte mit den Ohren wackeln. Manchmal, bei Zusammenkünften der Dorfgemeinschaft, wenn zum Beispiel über die Anlage des neuen Dorfangers geredet wurde, konnte er seine Ohren in die Richtung desjenigen drehen, der gerade das Wort hatte. Und wenn zwei gleichzeitig aus verschiedenen Richtungen sprachen, konnte er die Ohren in verschiedene Richtungen drehen. Damit hatte er schon manchen Zwist beigelegt, weil alle, auch die ärgsten Streithähne, vor Lachen nicht mehr sprechen konnten.
An diesem Abend würde der Vater ihn zu einer Versammlung mitnehmen, bei der ein neuer Schulze3 gewählt werden sollte, und wie üblich schien es der reichste Bauer werden zu sollen. Es gab aber auch die Gegenmeinung, dass der Schulze eben nicht der Reichste von allen sein solle, um gar nicht erst in Versuchung zu kommen, die Nähe zum Grundherrn zu suchen und mit diesem gemeinsame Sache zu machen. »Das hat man nämlich schon oft genug erlebt«, schimpfte der Vater. »Wir brauchen einen Dorfobersten«, erklärte er, »der sich für sein Dorf einsetzt und keinen, der sich als Handlanger der adligen Herren aufführt und am liebsten selbst einer von denen wäre.« Aber das sagte er nur leise und nur zu Jakob.
Ihr wundert Euch, verehrter Leser dieser Zeilen, dass Halbwüchsige wie Jakob bei solchen Versammlungen zugegen waren? Oh ja, das waren sie tatsächlich. Denn wie Ihr wisst, treten die Kinder bereits mit dem sechsten Lebensjahr in die Arbeitswelt ein, haben ihre Aufgaben und Pflichten und wehe ihnen, sie erledigen diese nicht zur Zufriedenheit! Und dementsprechend dürfen sie dann eben auch bei den Versammlungen dabei sein, das ist ja nur gerecht. Die Knaben, muss ich einschränkend sagen, aber das versteht sich von selbst: nur die Knaben!
Die Zusammenkunft der Dorfbewohner im Stall des in der Mitte des Dorfes gelegenen Hofes war festgesetzt zum Glockenschlag des nahen Klosters, der dort die Nonnen zum Abendgebet rief. So wusste jeder, wann er sich auf den Weg machen musste. Bei Einbruch der Dämmerung würde man dann wieder auseinandergehen, um vor der Dunkelheit den heimischen Hof erreicht zu haben, da die Bauern die Dunkelheit fürchteten, auch die stärksten und großmäuligsten unter ihnen. Denn im Dunkeln nähern sich die Dämonen des Waldes den Häusern der Menschen, manchmal schauen sie zu den Fenstern herein, und wenn drinnen kein Licht brennt, kommen sie sogar herein. Deshalb muss immer ein Bewohner bei der Kerze wachen, damit diese während der Nacht nicht erlischt. Die Kerze, die den Raum in jener Nacht von Jakobs Geburt erleuchtet hatte, soll für einen Augenblick erloschen sein.
Das Glockengeläut würde jedoch noch eine Weile auf sich warten lassen – wie lange, wusste man nicht genau, aber der Sonnenstand ließ darauf schließen, dass noch Zeit genug war, die Schlehenrinde in Augenschein zu nehmen. Und so betrat der Vater den Raum lautlos, da seine Schritte auf dem Sandboden kein Geräusch verursachten, und näherte sich dem Bett der schlafenden Mutter, neben dem Jakob eingenickt war. Sein Kopf lag auf ihrer Brust. Der Vater betrachtete die beiden eine Weile und vollführte dann mit der rechten Hand eine Bewegung, als würde er sie segnen.
Die Mutter besaß als einzige Hausbewohnerin ein eigenes, wenn auch schmales Bett. Alle übrigen schliefen gemeinsam auf Strohsäcken in dem breiten Holzkasten, der Vater und die Frau seines verstorbenen Bruders in der Mitte, die Kinder nach Alter sortiert um sie herum: die Jüngsten innen, die älteren am Rand. Jakobs Schlafstatt befand sich ganz außen.
Nun zog der Vater den Sack unter dem Bett der Mutter hervor, leise zwar, aber nicht leise genug, als dass Jakob nicht erwacht wäre, trug ihn zum gegenüberliegenden Ende des Raumes, wo die Bretter des Esstisches aufgestapelt lagen, der zu den Mahlzeiten aufgestellt wurde, und breitete die Zweige darauf aus. Nachdem er sie begutachtet hatte, sagte er: »Recht hast du: Das sind gute Zweige! Merk dir, wo der Busch steht, damit du beim nächsten Mal wieder dort ernten kannst. Und nun hol mir den Hammer.«
Und dann begann er, mit dem Holzhammer die Rinde abzuklopfen. Jakob ging derweil hinter das Haus, um am alten Brunnen eine Schale mit Wasser zu füllen. In diese wurde dann gerade so viel Rinde gelegt, dass sie gut bedeckt war. »Drei Tage«, sagte der Vater, »diese brauchen drei Tage. Dann kochen wir sie auf. Gib Acht, dass niemand hineintritt.«
Jakob wollte eben fragen, ob er zur Erfüllung dieser Aufgabe drei Tage neben der Wasserkumme ausharren solle, als sich beide von einem Geräusch aufgeschreckt zum Bett der Mutter umwandten. Diese hatte sich halb aufgerichtet und versuchte mit weit aufgerissenen Augen in dem dunklen Raum etwas zu erkennen. Jakob ergriff die Kerze und eilte ans Bett, der Vater stellte sich hinter ihn und legte ihm seine schweren Hände auf die Schultern. Sie hielten den Atem an, während die Mutter vom einen zum anderen sah und dann ihren Blick auf Jakob richtete. »Du bist das Licht der Welt«, sagte sie mit ungewohnt kräftiger Stimme. Dann lächelte sie glücklich wie ein junges Mädchen und ließ ihren Kopf auf den Strohsack zurückfallen, während sie Jakob weiterhin unverwandt ansah. Als dieser sich vorbeugte und eine Hand an ihre Wange legte, schloss sie begleitet von einem Seufzen die Augen und wandte das Gesicht ab. Ihr Atem ging lang und gleichmäßig, sie war wieder in ihrer eigenen Welt. Der Vater und Jakob standen noch neben dem Bett, als sie aus der Ferne die Glocken der Klosterkirche vernahmen. »Wickle dir etwas um die Füße«, sagte der Vater, »dort, wo wir jetzt hingehen, steht die Gülle manchmal knöchelhoch.«
Warum ich dies alles so ausschweifend schildere? Nun, ganz einfach: Die Fähigkeit, aus der Rinde des Schlehenbusches gute Tinte zu machen – und zwar die beste weit und breit –, beherrschten nur wenige. Der Vater hatte es von seinem Vater gelernt und der von seinem Vater und so weiter. Und nun lernte es Jakob. Und sie hüteten ihr Wissen wohlweislich. Denn allein von dem Ochsen, der den Pflug zog, den fünf Milchkühen, drei Schweinen, zwölf Hühnern, einem Hahn sowie dem alten Esel, der den Karren mit dem Zehnten zog, der alle dreißig Tage beim Grundherrn abgeliefert werden musste, hätte man so viele Mäuler nicht stopfen können. Und wie man getrost annehmen konnte, würden es gewiss noch einige mehr werden, denn die Frau des Bruders des Vaters verstand sich vorzüglich auf die Herstellung des Liebestrankes.
Ein weiterer Grund für Heimlichkeit: Gute Tinte war den Dienern Gottes sowie den Hohen Herren vorbehalten, nur ausgewählte Vertraute durften sie herstellen – und sie wurde teuer gehandelt. Jakobs Vater verkaufte sie heimlich an einige wenige Abnehmer, darunter das Nonnenkloster, dessen Glocken eben ihr Geläut beendeten, was Jakob und seinen Vater zur Eile antrieb.
Anselm von der Heyde, der langjährige Schulze des Dorfes, war unerwartet zu Tode gekommen, davon zeugten verschiedene Berichte angeblich gut Informierter, die jedoch alle nicht der Wahrheit entsprachen: Er ist weder beim Angeln von einem Rudel Karpfen ersäuft noch beim Melken von der Kuh erschlagen worden, auch ist er nicht von vorbeiziehenden Landsknechten zum Zeitvertreib gehenkt worden, denn solche waren seit mehreren Jahren nicht in der Gegend gesichtet worden. Nein: Er war schlicht und einfach in den Armen seiner liebenden Frau entschlummert, seinem hohen Alter von 39 Jahren nach einem langen und arbeitsreichen Leben Tribut zollend. Nun musste also ein neuer Schulze her, und der, der es gern werden wollte und dafür bereits die Unterstützung des Grundherrn besaß, war der, den alle im Dorf am meisten hassten. Es versprach also ein unterhaltsamer Abend zu werden.
Wie die meisten kleineren Ansiedlungen besaß auch das Dorf, in dem Jakob lebte, keinen Namen. Die Grundherren benannten solche Dörfer zwar oft nach dem jeweiligen Schultheiß, der dort in ihrem Sinne Recht sprach, aber diesen Namen nahmen die Dorfbewohner nicht oder nur ungern in den Mund. Der Schultheiß war nämlich in der Regel der lästigste Dorn im Fleisch der Dorfbewohner. In seiner Gegenwart musste man sich gut überlegen, was man sagte, um nicht unvermittelt irgendwelcher Aufsässigkeiten bezichtigt und dafür angeklagt zu werden. Zuletzt war dies dem Schweinebauern so ergangen, als er unvorsichtigerweise in Hörweite des Schultheiß darüber klagte, dass er keinen eigenen Eber halten dürfe, sondern seine Säue vom herrschaftlichen Eber decken lassen müsse, wofür er erstens eine Gebühr zu zahlen und zweitens auch noch die Hälfte der Frischlinge abzuliefern hatte. Dies und die neue Eichelsteuer, die zu entrichten war, wenn die Schweine sich zur Mastzeit im herrschaftlichen Wald an Eicheln gütlich taten, sei unzumutbar. Es wurde dann Gericht über den Ärmsten gehalten, im Beisein eines Büttels des Grundherrn, und nur die Tatsache, dass der Schweinebauer kürzlich dem Steuereintreiber geholfen hatte, nachdem dessen Rappe sich über einen den Weg querenden Igel so erschrocken hatte, dass er seinen Reiter abwarf und der Mann sich einen Arm brach, bewahrte ihn vor dem Schandturm. Man beließ es bei einer Tracht Prügel und wandte sich dann der Verkündung einer neuen Sterbesteuer zu, die jeder Mann und jedes Weib künftig an den Grundherrn zu entrichten hatte, wenn sein Gefährte verschieden war, und zwar so lange, bis er einen neuen Partner als Arbeitskraft präsentieren konnte. Es fiel den anwesenden Bauern – wie man sich denken kann - schwer, so leise zu murren, dass kein Mitglied der Obrigkeit es hören konnte.
Kurzum: Das Dorf, in dem Jakob aufwuchs, war namenlos, allenfalls nannte man es gelegentlich nach dem nahen Nonnenkloster »Katharinendorf«, aber nur, um einem Fremden zu erklären, wo er sich gerade befand. Fremde kamen allerdings äußerst selten des Weges.
Das Dorf bestand aus acht Häusern, kreisförmig angeordnet, in der Mitte der Hof des Ziegenbauern, der so genannt wurde nicht wegen seiner Ziege, sondern wegen seines Bartes, der ihm ein ähnliches Aussehen verlieh. Auf ihrem Weg dorthin erwarteten Jakob und sein Vater die anderen Bauern zu treffen und wunderten sich, als dies nicht geschah. »Lass uns schneller gehen, wie’s scheint, sind wir spät dran!«, mahnte der Vater. Jakob presste die Buchseiten fest an sich, die er unter dem Hemd versteckt hielt und in denen er heimlich zu lesen gedachte, falls ihn die bevorstehende Zusammenkunft langweilen sollte.
Groß war ihre Überraschung, als sie beim Eintreffen niemanden vorfanden außer den Ziegenbauern, seine Frau und deren drei Töchter. »Morgen!«, rief der Ziegenbauer, »die Versammlung ist morgen! Ihr habt euch im Tag geirrt, seid einen Tag zu früh.« Aber, beruhigte er sie, sie bräuchten nicht gleich den Rückweg anzutreten, denn sein Weib habe am Morgen einen Krug frischen Bieres gebraut, den man gern bereit sei, mit den Gästen zu teilen.
So kam es, dass sie alle vor dem Haus auf der Schlachtbank saßen, denn es war, wie sich herausstellte, nicht nur ein Krug Bier gebraut worden, sondern gleich mehrere, und außerdem kamen die Bäuerin und ihre Töchter zum ersten Mal in den Genuss einer Dorfversammlung. Wie das? So wundert Ihr Euch wohl, mein treuer Leser, wir haben doch gerade erfahren, dass diese erst am nächsten Tag stattfinden würde! Ganz einfach: Es war Jakob, der vor den Augen der Anwesenden mit verteilten Rollen eine solche Versammlung vorspielte, so wie sie ihm gerade in den Sinn kam. Auf der Tagesordnung seiner Vorführung stand die Klärung der Frage, ob die Enten auf dem Dorfteich sich frei an der Entengrütze bedienen durften oder ob dafür eine Abgabe an den Grundherrn fällig sei, denn es war ja sein Teich so wie jeder Stein und jede Pfütze, und: wie die verspeiste Grütze zu berechnen wäre. Einer machte den Vorschlag, die Enten nicht alle gemeinsam, sondern getrennt nach Hof-Zugehörigkeit auf dem Teich schwimmen zu lassen, um genauer bestimmen zu können, wie viel Grützsteuer dafür zu entrichten sei. Ein anderer meinte, es sei sinnvoller, wenn man die Grütze abschöpfe und auf die Höfe verteilte und erst dann die Enten an ihr Futter ließe, um auf diese Weise den Verbrauch ermitteln zu können. Und ein Dritter meinte, man sollte eine solche Steuer schlichtweg ablehnen, ihm wurde jedoch vom Schulze streng über den Mund gefahren und damit gedroht, den Schultheiß von solch aufrührerischem Vorschlag in Kenntnis zu setzen.
Ich kann Euch sagen, dass das Lachen der Zuschauer kein Ende nahm und am Schluss Tränen der Erheiterung liefen, als ein Weiterer aus Jakobs frei erfundener Versammlung den Vorschlag machte, die Enten selbst darüber entscheiden zu lassen, worauf Jakob flugs im Watschelgang umherlief und quakte, man solle dem Grundherrn die Grütze als Vorsuppe servieren, wenn er denn schon so erpicht darauf sei, und den Enten im Gegenzug in Honig eingelegte Bärentatzen anbieten, was, wie alle wussten, die Lieblingsspeise des hohen Herren war. Als Jakob sich am Ende wie ein Schauspieler vor seinem Publikum verneigte und zum Dank für den Applaus mit den Ohren wackelte, fiel eine der Töchter vor Lachen von der Bank und kugelte sich den Bauch haltend vor Jakobs Füßen im Sand. »Nun seht ihr, warum ich meine Töchter immer noch nicht verheiratet habe!«, jammerte der Ziegenbauer und machte ein trauriges Gesicht, »sie sind so albern, dass auch der Einfältigste sie nicht zum Weib haben möchte!«
»Oh!«, erwiderte Jakob, »wenn’s das nur ist: Ich nehm’ gern alle drei! Ein besseres Publikum wird’s auf der ganzen Welt nicht geben …« Er verbeugte sich erneut und verschwand dann radschlagend um die Hausecke.
Der Vater war auf dem Rückweg recht ernst. »Du solltest bedachter sein damit, wie du deine Worte setzt, Sohn«, sagte er. »Nicht jeder ist so arglos wie der Ziegenbauer und seine Frauen. Mancher lacht dir mittags ins Gesicht und sitzt am Abend beim Schultheiß, um ihm zu berichten, welch ein Aufrührer du bist, um dafür eine Belohnung zu erhalten.«
Jakob pflichtete ihm bei, aber der Vater ließ es damit nicht bewenden. »Und das Buch habe ich sehr wohl bemerkt. Ich habe dich nicht in die Kunst des Lesens eingeweiht, damit du uns alle damit in Gefahr bringst. Du weißt sehr wohl, dass ein Bauer nicht lesen darf4 und was mit ihm geschieht, wenn er es trotzdem tut und dabei ertappt wird.«
Wieder pflichtete Jakob ihm bei. »Nun gut, dann lies jetzt noch, bis es dunkelt, aber so, dass dich niemand dabei sieht«, befahl der Vater streng, als sie ihre Hütte erreichten. Jakob dankte ihm, zog die Seiten hervor und setzte sich an die rückwärtige Hauswand neben dem Stall.
Der Tag ging zur Neige. Unterhalb der Burg lag ein Ort, dorthin ritt Erec, las Jakob. Zur Burg begab er sich nicht, damit der, den er verfolgte, ihn nicht bemerkte. Sämtliche Häuser der Stadt aber waren bis unters Dach mit Gästen belegt. Er fand keinen einzigen, der bereit gewesen wäre, ihn aufzunehmen. Zudem war er völlig mittellos. Er konnte sich ja nicht vorbereiten, war der Aufbruch doch ganz plötzlich gekommen, wie ich es euch schon erzählt habe. Gar nichts besaß er ­und das machte ihm große Sorge – außer dem Pferd und seiner Kleidung. Ziellos ritt er weiter, bis er in der Ferne ein altes Gebäude bemerkte und er dachte, daß er dort die Nacht über bleiben könnte, denn er hatte keine andere Wahl. In dem Haus sah er einen alten Mann sitzen mit vom Alter schneeweißem Haar, das ihm schön gekämmt über die Schultern fiel. Er trug einen Rock aus Schafsfell, strahlte aber dennoch eine Würde aus, gerade wie ein Edelmann. ›Ihr seid mir willkommen, bei allem, was ich habe‹, sagte der Alte. An Dienerschaft hatte er nur seine Tochter –sie war das allerschönste Mädchen, von dem wir je gehört haben. ›Geh, meine Tochter, kümmere dich um den Herrn, der sich herablässt, unser Gast zu sein. Tu es sorgfältig, daß ich dich nicht tadeln muss.‹
Was die schöne Tochter antwortete, entging Jakob, da ihm die Augen zufielen und die Buchseiten aus der Hand glitten. Erst viel später in dunkler Nacht erwachte er mit schmerzenden Gliedern, als ihn eine Fledermaus am Kopf streifte. Todmüde schleppte er sich ins Haus, und da im Bett alle kreuz und quer durcheinander lagen, sodass für ihn kein Platz blieb, legte er sich zu seiner Mutter, deren schwerer, langsamer Atem ihn umgehend wieder in den Schlaf geleitete.
*
Nun ist es Zeit, einiges Lobende über die Frau des Bruders des Vaters zu sagen, denn sie war ein tüchtiges Weib. Jakob konnte und mochte sich zwar nicht vorstellen, dass sie möglicherweise noch tüchtiger war, als es seine Mutter einst gewesen war, aber er hatte große Achtung vor ihr. Eher zierlich und klein von Wuchs, verfügte sie doch über beachtliche Energie. Als zum Beispiel die älteste und schon recht betagte Kuh des Hofes sich mit der Niederkunft ihres vierten Kalbes arg quälte und nach einem halben Tag erschöpft am Boden lag, ohne das Werk vollendet zu haben, nahm die Frau des Bruders des Vaters kurzerhand die Suppe vom Feuer, die sie für das Abendessen bereitete, und schritt zur Tat: Ihr jüngstes Neugeborenes wie immer auf den Rücken gebunden, kniete sie hinter der stöhnenden Kuh nieder, was ihr aufgrund ihres sehr runden Bauches, in dem ihr siebentes Kind auf den Eintritt in die Welt wartete, doch recht schwerfiel. Dann schob sie ihren Ärmel hoch, gab der Kuh einen Klaps auf das Hinterteil und stieß ihren Arm tief in das Tier hinein. Mit zusammengepressten Augen und Mund arbeitete sie im Leib des Tieres herum, keines der umstehenden Kinder wusste, was genau sie machte, vermutlich wusste sie es selbst nicht, außer, dass sie nach dem Kälbchen suchte. Eines der kleineren Kinder begann zu weinen, weil es um die Mutter fürchtete, als diese plötzlich rief: »Da hab ich dich!« Und dann stemmte sie ihre Füße mit aller Kraft gegen den Leib der Kuh und zerrte das Kalb heraus. Erschöpft lag die Frau des Bruders des Vaters am Boden und sah zu, wie die Kuh sich mühsam erhob und ihr Junges ableckte.
Jakob eilte ins Haus und holte den großen Daubenbecher voll Dünnbier5, den die Frau dankbar entgegennahm und in großen Schlucken leerte. Als der Vater am Abend vom Acker kam und das Kalb auf zittrigen Beinen neben der Kuh stehen sah, tätschelte er das Tier und sagte: »Na, das hast du ja wieder mal gut hingekriegt.«
Wenn ich die Schwangerschaft der Frau des Bruders des Vaters erwähnte – die ich von nun an der Kürze wegen die neue Mutter nennen werde –, dann nicht, weil es etwas Besonderes gewesen wäre. Im Gegenteil: Schwangerschaften waren ein wichtiger Teil der Lebensgrundlage. Denn der Grundherr, der immer wieder betonte, wie sehr ihm das Wohl seiner Bauern am Herzen lag, hatte entschieden, dass die Pacht halbiert würde, solange die Frau eines Bauern schwanger sei oder während der letzten drei Monate ein Kind zur Welt gebracht hätte, da sie als Arbeitskraft in dieser Zeit ja nur die Hälfte zu leisten vermöge. Das war zweifellos eine sehr kluge Erkenntnis des Grundherrn und die Schlussfolgerung eine lobenswerte. Und so waren die Bauern bemüht, ihre Weiber ständig in froher Erwartung zu halten, was natürlich zu einer großen Kinderschar führte, die am Ende wesentlich mehr erwirtschaften konnte als eine kleine. Was durchaus auch zum Nutzen des Grundherrn war. Aber wir wollen jetzt nicht darüber rechten, ob seine Entscheidung in Wahrheit nur dem Eigennutz diente. Es macht auch keinen Unterschied.
Jakob also hatte die neue Mutter von Herzen lieb. Und ihre Kinder ebenso. Meistens zumindest. Es war hin und wieder ärgerlich, wenn sie ihn aufstöberten, kaum dass er sich in einen ruhigen Winkel zurückgezogen hatte, um zu lesen, aber ihre Zutraulichkeit, wenn sie ohne Hemmung auf ihm herumkletterten, rührte ihn. Ja, er hatte es durchaus gern, wenn sie seine Gesellschaft suchten: Drei Mädchen und drei Jungen, zwei der letzteren Zwillinge, die allesamt begierig darauf waren, in Haus und Hof mitzutun und zu helfen, was mit ihren kleinen Händen möglich war. Jakob wusste sehr wohl, was das kindliche Wehgeschrei zu bedeuten hatte, das nicht selten von einem der Nachbarhöfe herüberwehte. Sein Vater und die neue Mutter jedoch hatte er noch nie Hand an eines der Kinder legen sehen. Wie es ihm schien, gab es auch keinerlei Veranlassung dazu. Und wenn doch irgendwann einmal Streitigkeiten unter den Kindern ausbrachen, brauchte Jakob nur auf Händen um die Ecke zu kommen und die Augen zu verdrehen, schon löste sich jedes Gezänk in Freudengeschrei auf.

»Der Keim des Todes lauert überall«

Zur Dorfversammlung am nächsten Tag ging der Vater dann doch nicht. Denn die Mutter erlebte gerade eine neue Marien-Erscheinung. Diese hatte sich wie üblich angekündigt, indem sie Psalmen und Bibelverse murmelte, sodass schleunigst Pater Gotwinus geholt wurde – eine Aufgabe, die Jakob zufiel. Der Gottesmann brauchte seiner nur angesichtig zu werden, schon eilte er herbei, da er wusste, was die Stunde geschlagen hatte. Und daran tat er gut, denn was die Heilige Muttergottes diesmal mitzuteilen hatte, war von allergrößter Bedeutung.
Niemand außer dem Pfarrer durfte an ihrem Bett sitzen, wenn die Mutter von ihrer Vision berichtete. Entsprechend neugierig waren alle, als er endlich aus der Tür trat, und umringten ihn. Der Pfarrer aber winkte Jakob und den Vater herbei und ging mit ihnen einige Schritte hinter das Haus. Dort senkte er den Blick, faltete die Hände, atmete tief durch und sagte bedeutungsschwer: »Das Antoniusfeuer6!«
Jakob sah seinen Vater verständnislos an, der ebenso ratlos dreinblickte. »Das Antoniusfeuer!«, wiederholte der Pfarrer. »Es kehrt zurück!«
Nun werden wohl allenfalls die Älteren unter Euch, verehrte Leser, eine Vorstellung davon haben oder gar eine eigene Erinnerung an den Schrecken und das Grauen, das diese Seuche verbreitet. Für die Jüngeren will ich es kurz schildern: Diese todbringende Erkrankung, die den Körper des Menschen binnen weniger Stunden von innen heraus wie ein Feuer aufzehrt, gilt von alters her als die schlimmste Strafe Gottes, die er sich je für die Menschen einfallen ließ, abgesehen vielleicht von der Sintflut oder – wenn wir denn ganz weit zurückgreifen wollen – von der Vertreibung aus dem Paradies. Und immer, wenn die Krankheit die Menschen heimsucht, beginnt das Rätselraten: Wofür straft der Herr uns diesmal? Welche Sünde wurde begangen? Und vor allem: von wem? Einen oder am besten mehrere Schuldige galt es dann schnellstens zu finden, denn sie zu richten, ist der erste und wichtigste Schritt zur Heilung. So war es seit jeher: Meistens erschlug man einige Juden, verbrannte Krüppel und Wahnsinnige oder vierteilte schwarze Katzen. Die grauenhafte Krankheit zog sich dann sehr schnell zurück, zumindest wurde nicht mehr viel über sie geredet. Aber dass sie jetzt noch einmal wiederkehren würde –wer hätte das für möglich gehalten? Es musste Schreckliches geschehen sein.
Er würde sofort damit beginnen, in den umliegenden Roggenfeldern die Saat des Bösen zu beschwören, verkündete der Pfarrer, da man ja mittlerweile wisse, dass die Seuche gewöhnlich hier ihren Ausgang nahm. Sollte sie es aber wagen, sich dem Zeichen des Allmächtigen zu widersetzen, würde er sie in aller Heiligen Namen verfluchen! So sprach der fromme Mann, und gleich darauf sah man ihn mit über den Kopf erhobenem Kreuz singend durch die Felder gehen und zwischendurch Beschwörungen ausstoßen.
Jakob und der Vater beobachteten ihn von Ferne. »Er ist ein Mann Gottes und weiß es nicht besser«, sagte der Vater nach einer Weile, »wir Bauern jedoch kennen die wahre Ursache der Seuche. Ich sprach schon einmal davon, erinnerst du dich, Sohn? Der Keim des Todes lauert in der Ähre des Roggens: die schwarzen Spelze, schwarz wie der Teufel – sie sind’s, die das Gift enthalten! Also: Wenn der fromme Mann sein Werk vollendet hat, geh’ auf den Acker und betrachte jeden einzelnen Halm. Und solltest du hier oder dort tatsächlich einen schwarzen Spelz entdecken, brich ihn ab und nimm ihn mit! Wir werden ihn am Abend verbrennen.«
Und so kam es, dass Jakob während der nächsten Tage damit beschäftigt war, Halm für Halm den Roggenacker zu durchkämmen auf der Suche nach dem schwarzen Spelz. Er tat dies sehr gewissenhaft, denn die Worte seiner Mutter waren ihm heilig. Aber nach sechs Tagen stand fest: Es war kein schwarzer Spelz vorhanden, das Antoniusfeuer würde zumindest hier nicht wüten. Was Jakob insgeheim beschäftigte, war allerdings die Frage, ob die teuflische Krankheit ohne die Warnung der Heiligen Muttergottes und die Verfluchungen durch den Pfarrer vielleicht doch ausgebrochen wäre und er nur deshalb keine schwarzen Ähren gefunden hatte, weil sie bereits verdammt und verflucht worden waren. Aber er verwarf diesen Gedanken schnell und wandte sich erleichtert seinem Buch zu, denn er fand, nach erfolgreicher Erledigung einer so wichtigen Aufgabe hätte er das verdient.
Der Vater war allerdings nicht dieser Ansicht, und als er Jakob in seinem bevorzugten Leseplatz unter dem Kirschbaum sitzend fand, befahl er ihn herein. »Die Tinte ist zu hell!«, sagte er erzürnt. »Wir müssen sie neu aufkochen. Und wenn sie dann immer noch nicht genügend dunkel ist, müssen wir roten Wein hinzugeben.«
»Aber wir haben keinen«, erwiderte Jakob.
»Denkst du, das weiß ich nicht? Lass dir etwas einfallen, besorge welchen, statt dir mit dem ständigen Lesen die Augen zu verderben.«
Jakob musste lächeln, als er aus dem Haus trat: So knurrig war der Vater nur, wenn er über sich selbst erzürnt war, und das war er wohl gerade. Denn er selbst war es, der den Schlehensud nicht lange genug gekocht hatte. Und nun war guter Rat teuer …
Jakob ging auf direktem Weg zum neuen Dorfschulzen – der, den alle hassten und der das Amt dennoch erhalten hatte, weil keiner es gewagt hatte, offen gegen ihn zu stimmen. Der Schulze sah Jakob erstaunt an, als dieser vor seiner Tür stand und sein Begehr vortrug. »Messwein?«, fragte er, »du fragst nach Messwein?«
»Ich frage nicht für mich!«, beeilte sich Jakob zu erklären. »Der Herr Pfarrer schickt mich. Er war drei Tage lang bei meiner lieben Mutter, die wieder Visionen hatte, und so wird in der Kirche ein großer Andrang erwartet, weil alle wissen wollen, was der Pfarrer zu berichten hat. Und da benötigt er natürlich mehr Messwein als gewöhnlich, ist das schwer zu verstehen?«
Der Schulze sah den Jungen erbost an: So hatte noch nie jemand mit ihm gesprochen! Er holte schon zu einer Ohrfeige aus, als er den Jungen sagen hörte: »Wenn Ihr das tut, wird das Antoniusfeuer Euch verzehren – Euch und Eure gesamte Brut.«
Dem Schulze klappte der Unterkiefer herunter, grunzend drehte er sich um, verschwand im Haus und kam kurz darauf mit zwei Krügen roten Weines wieder heraus. »Mein letzter!«, sagte er. »Hätt’s denn nicht auch weißer getan?«
»Jesu Blut«, raunte Jakob, »Jesu Blut! Hat je schon einer gehört, dass es weiß gewesen wäre?«
»Verschwinde!«, knurrte der Schulze, »und wehe, du hast mich hinters Licht geführt!«
Diese Drohung klang in Jakobs Ohren noch eine Weile nach, aber als er und sein Vater mithilfe des Messweines der Tinte ihre richtige, tiefrote Farbe verliehen hatten und der Vater seinem Sohn anerkennend auf die Schulter klopfte, vergaß er sie. Stattdessen schlug er flugs die Seite des Buches auf, die er schon vor einigen Stunden zu lesen beabsichtigt hatte.
Das Mädchen war entzückend anzusehen, las er mit klopfendem Herzen. Sie trug ein grünes Kleid, das völlig durchlöchert war und ganz verschlissen, sodaß ihr Leib hindurch schimmerte, weiß wie Schwanengefieder. Es heißt, daß kein Mädchen je von solch vollendeter Gestalt war. Wär sie reich gewesen, dann hätte ihr nichts zu einer vollkommenen Ehefrau gefehlt. Ihr Leib schimmerte durch die ärmlichen Kleider wie eine weiße Lilie, die inmitten schwarzer Dornen steht. Ich glaube, Gott hat seine ganze Sorgfalt auf sie verwendet, daß sie so schön und so anmutig wurde. Es tat Erec leid, daß sie sich so viel Mühe machte. Er sagte zu ihrem Vater: Das sollten wir ihr nicht zumuten, daran ist sie nicht gewohnt. Das ist eher meine Aufgabe. Da sagte der Alte: Man soll dem Gastgeber seinen Willen lassen, so ist es richtig. Aber wirhaben keine Knechte. So ist es in Ordnung, daß sie es tut. Und das Mädchen tat, was der Vater ihr auftrug. Mit ihren weißen Händen versorgte sie das Pferd. Und wäre Gott auf Erden unterwegs gewesen, glaube ich, daß selbst er mit einem solchen Pferdeknecht zufrieden gewesen wäre. Auch wenn ihre Kleidung armselig war, hat doch sicher keiner je einen so reizenden Schildknecht gehabt wie Erec, fils de roi Lac, als sie sein Pferd versorgte. Von solchem Knecht gefüttert zu werden, ließ sich das Pferd gern gefallen.
*
Was Jakob in dieser Nacht träumte, ließ ihn später rätseln, ob es eine vom Gelesenen ausgelöste Erinnerung war oder eine Vision. Er träumte nämlich, ein wunderschönes Mädchen stünde plötzlich schneeweiß vor ihm und sähe ihn still an, als wäre sie eine Offenbarung. Erst mit dem Hahnenschrei löste sich das Bild des Mädchens in Luft auf.
Egal was es war: Jakob sollte das Mädchen seines Traumes tatsächlich am Vormittag des nächsten Tages sehen, als er nämlich zum Weizenfeld geschickt wurde, wo das Brot der hohen Herren heranwuchs7, um zu prüfen, ob das Korn auch schicklich gedieh. Dies war durchaus der Fall, wie Jakob zufrieden feststellte, als er sich wieder aufrichtete – und unvermittelt dem schönsten Wesen gegenüberstand, das er je gesehen hatte! Reglos stand er da und konnte nichts anderes tun, als es anzusehen, kein Wort formte sich in seinem Kopf, geschweige denn auf seinen Lippen. Und dem Mädchen ging es anscheinend ebenso: Es stand wie angewurzelt da und sah Jakob so tief in die Augen, dass er das Gefühl hatte, sie berühre den Grund seiner Seele. Stundenlang standen sie einander gegenüber, so erschien es Jakob. In Wahrheit waren es nur einige Wimpernschläge, bis eine Nonne herbeieilte, die in einer Hand einen Strauß Kräuter hielt, mit der anderen das Mädchen packte und mit sich zog.
Nun erst bemerkte Jakob, dass auch das Mädchen als Nonne gewandet war und einen Strauß in der Hand hielt. Die beiden waren offenbar Kräuter sammeln gewesen und eilten in Richtung des Klosters davon, als wäre der Leibhaftige hinter ihnen her. Erst als sie aus seinem Blickfeld entschwanden, nahm Jakob das Atmen wieder auf und schaffte es, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Selig schwebte er zum Hof zurück und hörte dabei die himmlischen Heerscharen singen.
*
Es dauerte nicht lange, da unternahm der Pfarrer erneut die beschwerliche Wanderung von seiner Kirche in das kleine Dorf, in dem Jakob lebte. Ob es wegen des Antoniusfeuers war, das ihm keine Ruhe ließ, oder ob es andere, geheime Gründe dafür gab – wer weiß? Auf jeden Fall war es unzweifelhaft so, dass Jakob und sein Vater, als sie um die Mittagszeit die Hütte betraten, den frommen Mann am Bett der schlafenden Mutter vorfanden. Er kniete dort, hatte sein Haupt auf den Rand des Strohsackes neben den Leib der Mutter gelegt und schnarchte wie ein Wildschwein. Vater und Sohn, die eben aus dem Bienenstock am Waldrand Wachs geholt hatten, das sie für die Kerzen benötigten, mit denen sie das Kloster zu beliefern hatten, blieben wie angewurzelt stehen. Erst als eines der Kinder der neuen Mutter über die Türschwelle gekrochen kam und einen schrillen Laut ausstieß, schrak der Gottesmann auf. Das kleine bunte Holzkreuz, das er in der Hand gehalten hatte, fiel zu Boden, und als er sich der Peinlichkeit seiner Situation bewusst wurde, erhob er sich behände und nahm eine würdevolle Haltung ein. »Ihr seht mich hier, weil ich mich vergewissern musste, ob es Neues über das Antoniusfeuer gibt«, erklärte er. »Gott sei Dank ist dies nicht der Fall! Meine Fürbitten haben ihre Wirkung gezeigt.«
»Natürlich, natürlich«, entgegnete der Vater, nahm seine Mütze ab und verbeugte sich. »Und was gedenkt Ihr nun zu tun?«
»Ich werde zur Vorsicht ein weiteres Mal auf den Acker gehen und mich selbst davon überzeugen.«
Als der Vater nichts erwiderte, sah sich der Pfarrer unbehaglich im Raum um, bis sein Blick auf das krabbelnde Kind fiel, das ihn um seinen Schlaf gebracht hatte. »Weiß er nicht, dass es dem Herrn missfällt, wenn Kinder auf diese Weise über den Boden kriechen?«, fragte er den Vater scharf. »Es ist animalisch, Gott missbilligt dies! Wozu hat er den Menschen vom Tier unterschieden, frage ich dich. Sorg’ er dafür, dass dieses Kind nicht länger wie ein Tier über den Boden kriecht!« Und damit verließ er energischen Schrittes das Haus.
Jakob und der Vater sahen ihm nach, wie er den Weg zum Roggenacker einschlug und wenig später mit erhobenem Kreuz durch das Getreide schritt und dabei lauthals sang. Der Vater sah Jakob an: »Und du hast wirklich keinen schwarzen Spelz übersehen?«, fragte er. Jakob überlegte ausgiebig, bevor er antwortete: »In der Natur der Sache liegt es, dass man nie weiß, ob man etwas übersehen hat, denn wenn man dies wüsste, hätte man ja noch einmal nachgesehen und wäre dann sicher, nichts übersehen zu haben. So kann ich Euch nur antworten: Sollte sich eine Ähre des Teufels auf dem Feld befinden, wird sie sich jetzt wohl so sehr fürchten, dass sie verdorrt zu Boden fällt und niemandem mehr schadet.«
»Dein Wort in Gottes Ohr«, sagte der Vater und konnte ein Grinsen nicht verbergen. »Und nun lass uns die Kerzen ziehen, damit wir morgen den Nonnen von der Heiligen Katharina den Wachszins überbringen können.«
*
Nachdem dies getan war und die Familie am Abend an dem langen Holztisch beisammensaß, erschien plötzlich ein unerwarteter Gast, er fiel förmlich mit der Tür ins Haus! Es war der Ziegenbauer –äußerst erregt und heftig gestikulierend. »Beruhige dich!«, sagte der Vater, »es ist noch reichlich Rübenmus vorhanden. Nimm davon und sättige dich.«
Aber der Ziegenbauer schüttelte wild den Kopf, immer noch mit Worten ringend, die ihm nicht über die Lippen kommen wollten. »Was treibt dich denn so um?«, fragte der Vater, »ist’s wegen dem schwarzen Mann im Feld? Das ist nur der Pfarrer, du kennst ihn doch recht gut! Er verflucht gerade das Ungeziefer, und dafür sollten wir ein wenig dankbar sein …«
»Nein, nein, das ist es nicht!« stammelte der Ziegenbauer. »Es ist – es ist wegen denen vom Dorf am anderen Ende des Waldes …«
»Was ist mit denen?«, fragte der Vater, »mit denen haben wir’s nicht! Wann bekommt man die schon mal zu sehen? Auf dem Weihnachtsmarkt in der Stadt vielleicht, aber gesprochen habe ich nie mit einem.«
Der Ziegenbauer sah düster in die Runde, bevor er plötzlich wild den Vater fixierte. »Das wirst du nun auch nimmermehr können«, sagte er, »nimmermehr!« Als alle ihn ratlos anblickten, fügte er leise hinzu: »Sie haben das Dorf dem Erdboden gleichgemacht.«
Jakobs Vater und die neue Mutter erhoben sich gleichzeitig und traten an den Ziegenbauern heran. »Wer?«, fragten sie.
»Landsknechte waren’s – die Landsknechte des Grundherrn.«
Da es daraufhin so still im Raum war, dass man nur die schlafende Mutter in ihrem Bett atmen hörte, dröhnte die Stimme umso lauter, die von der Tür her ertönte: »Und dafür gibt es allen Grund!«
Im Türrahmen stehend, vom letzten Tageslicht beschienen, sah der Pfarrer wie ein Waldgeist aus. Langsam betrat er den Raum. »Und wenn ihr vermeiden wollt, dass es euch ebenso ergeht wie denen, solltet ihr euch stets bewusst sein, dass es Gottes Ordnung ist, in der ihr lebt! Jeder, der glaubt, daran etwas ändern zu müssen, erhebt sich gegen den Allmächtigen. Und diese straft er fürchterlich!«
Majestätisch näherte er sich dem Tisch. »Der Mensch muss sein, was Gott will«, sprach er langsam und drohend. »Wer sollte uns den Acker bestellen, wenn alle Herren wären?« Er ließ den Blick von einem zum anderen gleiten und fragte dann: »Ihr wisst, wer dies gesagt?«
»Ich denke: nein!«, ließ sich Jakob vernehmen.
Der Pfarrer schnellte herum. »Ah, der hinkende Narr meldet sich zu Wort, er kommt mir gerade recht!«, dröhnte er. »Der Heilige Thomas8 war’s! Und er sagte außerdem: Die einen beten, die anderen kämpfen, die dritten arbeiten. Der Kopf, das ist die Kirche; die kämpfenden Hände, das sind die Ritter; die Füße, die das Gewicht aller tragen, das sind die Bauern …«
»Und wenn’s den Füßen zu beschwerlich wird?« Jakob hatte sich von seinem Stuhl erhoben und näherte sich dem Pfarrer so weit, dass er dessen Nase mit der seinen berührte.
Die Augen des Gottesmannes weiteten sich, als er die Arme ausbreitete und mit hocherhobenem Kopf rief: »Dann – dann ist der Zweck erreicht! Wisst ihr nicht die Worte, die Gott Adam und seinem verfluchten Weib hinterher schleuderte, als er sie aus dem Paradies vertrieb? Er sprach: Verdammt sei der Acker um deinetwillen, mit Kummer sollst du dich darauf ernähren in alle Ewigkeit! So sprach der Herr, und wer sich dem entgegenstellt, der wird ein schreckliches Ende nehmen.«
»Aber gilt das nur für die Bauern, hoher Herr? Ich habe noch nie gehört, dass der Allmächtige auch die Edlen, die Ritter und die Könige verflucht hat …«
»Dir wird man eines Tages noch die Zunge aus dem Maul entfernen, listige Schlange! Aber vorher sage ich dir: Nein, diese nicht! Denn diese sind es, die Gott der Herr liebt – diese, die ihm frommen und die sein Werk auf Erden vollenden. Diese sind die Besseren, weshalb der Herr sie an seiner statt auf Erden herrschen lässt.«
Er drehte sich langsam einmal im Kreis, sah alle im Raum der Reihe nach an, auch die Kleinsten. »Merkt euch das und richtet euch danach, wenn ihr nicht wollt, dass es euch ebenso ergeht wie jenen hinter dem Wald, welche die heilige Ordnung missachteten und zerstören wollten! Jeder einzelne von ihnen wurde gerichtet, auch das Vieh, die Ungeborenen und die Idioten …«
Während er diese Worte sprach, verließ er den Raum.
»Er ist wahnsinnig!«, entfuhr es Jakob, der darauf eine schallende Ohrfeige von seinem Vater erhielt und gleich darauf noch eine mit dem Handrücken quer über den Mund. »Schweig!«, zischte er, »wenn du uns nicht alle dem Zorn des Allmächtigen ausliefern willst!«