Die neun Tage des Ekels. Der Hamburger Sülze-Aufstand 1919 und wie Elfriede Schwerdtfeger ihn von ihrem Fenster aus erlebte - Karsten Flohr - E-Book

Die neun Tage des Ekels. Der Hamburger Sülze-Aufstand 1919 und wie Elfriede Schwerdtfeger ihn von ihrem Fenster aus erlebte E-Book

Karsten Flohr

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Beschreibung

Hamburg am Rande des Abgrunds: Der erste Roman über die dramatischen "Sülze-Unruhen" im Juni 1919 Ein skrupelloser Fleisch-Fabrikant versorgt die hungernde Hamburger Bevölkerung mit "Delikatess-Sülze" - bis eines Tages eines seiner Pferdefuhrwerke umkippt und Abscheuliches ans Licht kommt ... Die Tagebücher der Kriegerwitwe Elfriede Schwerdtfeger erzählen von den folgenden "Sülze-Unruhen" - Höhepunkt und Schlussakt der Revolution von 1918/19. Nach neun Tagen wurden die Unruhen von der Reichswehr brutal niedergeschlagen und führten zur Besetzung Hamburgs durch den berüchtigten "Afrika-General" Lettow-Vorbeck. Elfriede Schwerdtfeger, die von ihrer Wohnung gegenüber der Sülze-Fabrik dem Treiben auf der Straße zusieht, wird am Morgen des 23. Juni 1919 Zeugin von etwas Ungeheuerlichem: Der Beginn des großen Hunger-Aufstands. In ihren Tagebüchern beschreibt sie hautnah den Weg Hamburgs an den Rand des Abgrunds. Eine Novelle über einen fast vergessenen Abschnitt deutscher Geschichte!

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Seitenzahl: 75

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Karsten Flohr

Die neun Tage des Ekels

Der Hamburger Sülze-Aufstand 1919
und wie Elfriede Schwerdtfeger
ihn von ihrem Fenster aus erlebte

Flohr, Karsten: Die neun Tage des Ekels. Der Hamburger Sülze-Aufstand 1919 und wie Elfriede Schwerdtfeger ihn von ihrem Fenster aus erlebte, Hamburg, acabus Verlag 2018

1. Auflage

ePub-eBook: ISBN 978-3-86282-631-5

PDF-eBook: ISBN 978-3-86282-630-8

Print: ISBN 978-3-86282-629-2

Lektorat: Sina Eilers, acabus Verlag

Cover: © Annelie Lamers, acabus Verlag

Covermotiv: Bild Speicherstadt: „Ansichten des Hamburger Hafens aus dem 20. Jahrhundert“, SEVERUS Verlag; © pixabay.com

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Der acabus Verlag ist ein Imprint der Diplomica Verlag GmbH,

Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

_______________________________

© acabus Verlag, Hamburg 2018

Alle Rechte vorbehalten.

http://www.acabus-verlag.de

Editorische Notiz:

Der Inhalt ist im historischen Kontext zu lesen. Die verwendeten Begriffe und Gedanken spiegeln nicht die des Verlages wider.

Montag, 23. Juni 1919

Arthur, du weißt ja, dass ich oft schlecht träum und dass ich dann davon aufwach. Von dem Lärm in meinem Kopf. Der Lärm, von dem du mir bei deinem letzten Front­urlaub erzählt hast, der Kanonendonner und all das. Das Geschrei von den Verletzten, das Heulen von Granaten und so. Und wenn die Schützengräben einstürzen und die Männer unter sich begraben. Aber ich weiß, dass du da heil rausgekommen bist, mein Arthur, auch wenn sie mir das Gegenteil mitgeteilt haben in diesem Brief, diesem unseligen, in dem der Kaiser seine Trauer ausgedrückt hat, dieser schreckliche Kerl. »Ihr Sohn – heldenhaft – auf dem Feld der Ehre – Vaterland« und all so’n Tüdelüt. Ich weiß, dass du eines Tages vor meiner Wohnungstür stehst und mich fragst, ob die Suppe schon fertig ist. Wie du halt so bist, immer hungrig. So warst du schon als lütter Bengel. Genau wie dein Vater, Gott hab ihn selig. Oder auch nicht. Der Fresssack. Wenn er nicht so viel gefuttert hätte, wäre er jetzt vielleicht noch da. Dann hätte ich mehr als die dreißig Mark Witwenrente. Heute hätte er leben sollen, jetzt, wo’s nix zu futtern gibt! Das wär gesünder gewesen für ihn. Naja, hilft nix. Alle müssen sehen, wie sie über die Runden kommen.

Aber heute Morgen hab ich den Lärm nicht geträumt. Der Radau, von dem ich aufgewacht bin, war wirklich da. Erst dachte ich, ich dreh mich nochmal um und dann hört es auf. Hat es aber nicht. Das Geschrei war direkt vorm Haus, Fritzi saß schon auf der Fensterbank und hat rausgeguckt. Was schaust du denn da, hab ich gesagt, hast doch noch gar kein Futter gehabt. Aber sie hat sich nicht zu mir umgedreht, hat nur miaut und mit dem Schwanz hin und her geschlagen. Da muss was los sein vor der Tür, hab ich gedacht und bin raus aus dem Bett, barfuß. Du weißt ja, dass ich das gar nicht gerne mach, wegen den Splittern im Holz. Aber ich war neugierig und die Pantoffeln nirgends zu sehen. Fritzi schleppt sie nachts immer irgendwo hin und versteckt sie. Denkt wohl, das sind ihre Jungen.

Ich also zum Fenster, aufgemacht und rausgeguckt. Du glaubst es nicht: Da schrien mindestens hundert Leute auf der Straße rum und warfen Sachen gegen die Fabrik auf der anderen Straßenseite! Kleine Reichenstraße 15, weißt ja noch, dass da die Gerberei war, von dem Heil, dem Fabrikanten, der von gegenüber. Jacob Heil. Netter Mann. Jetzt, wo er Sülze herstellt, kriegen die Anwohner in den Nachbarhäusern umsonst was von ihm, wegen dem Gestank, als Entschädigung sozusagen. Ich auch. Kostenlose Sülze. Ich glaub, das macht er, weil welche sich beschwert haben. Es stinkt wirklich übel, muss man schon sagen, nicht immer, aber ein paarmal am Tag, wenn sie die Schlote anschmeißen. Wenn ich die Sülze nicht hätte, wüsste ich nicht, wie ich über die Runden käme. Aber egal. Jetzt schrien sie da unten: Heil du Schwein, komm raus!

Ich wusste natürlich nicht, was los war. Die Schümann von nebenan hat es mir dann später erzählt, die arbeitet ja da in der Buchhaltung. Um kurz vor sieben ist da ein Pferdefuhrwerk umgekippt, sagt sie, das bei Heil rauskam, aus seiner »Delikatess Fabrik«, und Fässer auf der Ladefläche hatte. Eins ist zerbrochen, und da sind lauter Kadaver rausgeschwappt. Ratten, Hunde und Katzen. Ganz schleimig und grün vergammelt. Und außerdem so ekelhaftes Zeug von Schweinen und Pferden. Schnauzen und Augen und sogar Geschlechtsteile, hat die Schümann gesagt. Musst du dir mal vorstellen! Also, das haben die Arbeiter gesehen, die gerade die Straße langgingen auf dem Weg zum Freihafen. Und im Nu waren ganz viele Leute da und haben dieses Geschrei gemacht. Ich muss mal eben kurz aufhören, da wird an der Tür geklopft.

Arthur, du glaubst es nicht! Arthur!! Viel schlimmer kann es bei euch an der Front auch nicht gewesen sein. Was hier los ist, Ogottogott! Also, das war eben der Lütte von nebenan, der da geklopft hat, Gerhard, der Junge von der Schümann. Weißt ja noch, bei deinem letzten Fronturlaub war er gerade zur Schule gekommen, jetzt ist er neun. Er hat geweint, wusste nicht, was er machen soll. Seine Mama ist nicht da. Sie haben sie mitgenommen, sagt er. Nun hat er Angst. Ich hab ihn erstmal hierbehalten, er guckt jetzt mit Fritzi aus dem Fenster, ob seine Mama wiederkommt.

Also jetzt ist es gleich elf und in den letzten Stunden waren immer mehr Leute auf der Straße und haben Radau gemacht. Und Polizei war auch da, aber nur ein ganz paar, die konnten gar nichts machen, als die Leute in die Fa­brik gestürmt sind. Die Schümann war trotz dem Aufruhr zur Arbeit gegangen, muss sie ja, sie ist ja in der Buchhaltung, ich weiß gar nicht, wie sie da reingekommen ist, in das Gebäude, bei all den vielen Leuten. Und Gerhard ist hinter ihr hergelaufen. Und dann stürmten die Menschen in die Fabrikhalle, haben in alle Fässer und Kessel geguckt und immer mehr Radau gemacht. Anschließend haben sie alles kurz und klein gehauen und nach dem Heil gesucht. Der war noch nicht da, ist ja Fabrikant, die kommen später. Aber als er dann da war, haben sie ihn sich gleich gegriffen und verhauen. Und die Arbeiter in der Halle auch.

Und dann, hat Gerhard mir gesagt – er steht hier noch neben mir und zittert am ganzen Leib –, dann haben sie den Heil, seine Arbeiter und auch die Büroangestellten rausgeholt aus der Fabrik, die Polizei konnte nichts dagegen machen, es waren so viele. Und durch die Straßen getrieben haben sie die Leute und dabei immer wieder getreten und gehauen, mit Latten und Knüppeln. Bis zum Rathausmarkt. Und da kamen noch mehr Leute dazu und haben gejohlt und geschrien, wie sie den Heil bei den Arkaden in die Alster geschmissen haben. Da war der schon halb tot, sagt Gerhard, der hat das alles gesehen. Und er hat versucht, bei seiner Mutter zu bleiben, aber er wurde abgedrängt. Und dann hat er so ne Angst gekriegt, dass er nach Hause gelaufen ist. Zu mir. Jetzt weint er gerade nicht mehr, weil Fritzi mit ihm spielt, aber er weiß nicht, was mit seiner Mutter ist. Armer Jung. Irgendwie sieht er aus wie du, als du so alt warst, das macht wohl das blonde Haar. Ich muss mich jetzt mal um ihn kümmern, er hat bestimmt Hunger, und ich hab noch Sülze da. Ich wollte das nur schnell aufschreiben, damit ich es nicht vergesse, es ist so viel passiert. Du sollst ja schließlich alles erfahren, wenn du wieder bei mir bist. Normalerweise passiert in einem ganzen Monat nicht so viel wie heute Vormittag, mein Arthur, auch wenn ich immer mit Fritzi aus dem Fenster guck, ob du schon kommst. Du meine Güte, was die Leute alles machen! In die Alster geschmissen!

Du weißt ja, dass die Schümann einen Galan hat. Oder nicht? Sie ist ja Kriegerwitwe, ihr Mann ist gleich zu Beginn in Lüttich gefallen. Schon im September 1914. War ein hübscher Kerl, erinnerst du dich? Sie ja auch, wirklich eine schöne Frau. Wär was für dich, wenn du wiederkommst. Aber nun ist da der Bruno Birnatzky und macht ihr den Hof. Neulich hat sie mir erzählt, dass sie ihn nett findet und dass er klug ist und aus gutem Haus kommt, obwohl er Kommunist ist. Das war, als sie mir das Du angeboten hat. Sie war da ganz verwirrt an dem Tag, weil er ihr wohl allzu nahe gekommen ist, was sie noch nicht wollte. Sie ist ne Anständige, nicht so eine, die sich gleich hingibt. Die wär was für dich, wirklich. Und der Gerhard ist ja auch ein ganz Netter. Gut erzogen, der Junge.