Die Stunde der Ökonomen - Binyamin Appelbaum - E-Book

Die Stunde der Ökonomen E-Book

Binyamin Appelbaum

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Beschreibung

Als die Ökonomen die Weltbühne betraten. Binyamin Appelbaum legt eine originelle Ideengeschichte und ein unvergessliches Porträt der Wirtschafts-Wissenschaftler vor, die in der Mitte des 20. Jahrhunderts zum weltweiten Aufstieg des Neo-Liberalismus beigetragen haben. Sie waren die Vertreter des deregulierten Marktes: Milton Friedman mit seinen libertären Idealen, Arthur Laffer, dessen Kurve auf einer Cocktailserviette dazu beitrug, Steuersenkungen zu einem wesentlichen Bestandteil konservativer Wirtschaftspolitik zu machen, oder Thomas Schelling, der dem menschlichen Leben einen monetären Wert beimessen wollte. Ihre Grundüberzeugung? Die Regierungen sollten aufhören zu versuchen, die Wirtschaft zu steuern. Ihr Leitsatz? Die Märkte würden ein stetiges Wachstum bringen und sicherstellen, dass alle von den Vorteilen profitieren. Aber die Ökonomen konnten ihr Versprechen auf breiten Wohlstand nicht einlösen. Und der Glaube an den uneingeschränkten Markt ging auf Kosten der wirtschaftlichen Gleichheit, der Stabilität liberaler Demokratien und zukünftiger Generationen. Fesselnd erzählt Appelbaum vom Aufstieg und Fall der Ökonomen sowie ihrer Ideen und macht deutlich: Das uneingeschränkte Vertrauen in den Markt gefährdet die Zukunft der liberalen Demokratie.

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Binyamin Appelbaum

Die Stunde der Ökonomen

Falsche Propheten, freie Märkte und die Spaltung der Gesellschaft

Aus dem amerikanischen Englisch von Martina Wiese

FISCHER E-Books

Inhalt

WidmungEinleitungTeil I1 Märkte für allesDer Kampf des Walter OiDer SöldnerprofessorVon »Wer kämpft?« zu »Wen kümmert’s?«2 Friedman gegen KeynesEin lichter MomentTu nicht nur irgendetwas. Steh deinen Mann.3 Eine Nation, unterbeschäftigtVolckerrevolutionFrei von InflationUnmäßigkeit oder Mäßigung4 Politische Vertretung ohne BesteuerungIhr könnt mich alle …ReaganomicsDie mageren JahreNicht gleich die Flinte ins Korn werfenTeil II5 Auf Konzerne vertrauen wirAnti-Antitrust»Posner, Baxter, Bork«»Das Kartellrecht ist doch tot, oder?«6 Frei von RegulierungUS-LuftfahrtDie Stunde7 Der Wert des LebensAbwägenDer Wert des LebensDie Regulierung der RegulierungsbehördenParalyse durch AnalyseTeil III8 Geld gleich ProblemeWirtschaftsnationalismusVerschiebung und ErschütterungChimerikaEu(ro)phonie9 Made in ChileBefreit von der FreiheitWachstum ohne UngleichheitMade in Taiwan10 PapierfischeHerr und Frau Doktor GrammSchmerzhafte BlasenPapierfischeSchlussNach der FlutDankPersonenregister

Für meine Eltern, meine Partnerin und meine Kinder

Einleitung

Als im Mittelalter die moderne Wissenschaft aufkam, bot das Christentum ein umfassendes Erklärungssystem des Menschen und der Welt; es diente den Völkern als Regierungsgrundlage, brachte Wissen und Werke hervor, entschied über Frieden wie auch Krieg, regelte die Produktion und die Verteilung der Reichtümer; nichts davon konnte es jedoch vor dem Niedergang schützen.

Michel Houellebecq, Elementarteilchen (1999)[1]

Ich kann die Bewegungen der Himmelskörper berechnen, aber nicht die Verrücktheit der Menschen.

Isaac Newton (1720)

Anfang der 1950er Jahre arbeitete ein junger Ökonom namens Paul Volcker als menschliche Rechenmaschine in einem Büro tief im Innern der Federal Reserve Bank of New York. Im Dienste der Leute, die die Entscheidungen trafen, brütete er über Zahlen und eröffnete seiner Frau, dass er wohl niemals weiter aufsteigen werde.[2] Zur Führungsriege der Zentralbank gehörten Banker, Anwälte und ein Schweinezüchter aus Iowa, aber kein einziger Ökonom.[3] Chef des Federal Reserve System war William McChesney Martin, ein Börsenmakler, der von der Spezies der Ökonomen keine hohe Meinung hatte. »Wir beschäftigen fünfzig Ökonometriker«, teilte er einem Besucher mit. »Sie arbeiten alle im Untergeschoss dieses Gebäudes, und das aus gutem Grund.« Wie er meinte, befänden sie sich im Gebäude, weil sie gute Fragen stellten. Im Untergeschoss, fuhr er fort, befänden sie sich, weil »sie ihre Grenzen nicht kennen, und sie vertrauen ihren Analysen sehr viel mehr, als meiner Erfahrung nach gerechtfertigt wäre«.[4]

Mitte des 20. Jahrhunderts war Martins Antipathie gegenüber Ökonomen unter der US-amerikanischen Elite weit verbreitet. Präsident Franklin Delano Roosevelt tat John Maynard Keynes, den bedeutendsten Ökonom seiner Generation, insgeheim als unpraktischen »Mathematiker« ab.[5] Präsident Dwight D. Eisenhower beschwor die Amerikaner in seiner Abschiedsrede, keine Technokraten an die Macht kommen zu lassen, und warnte, »die öffentliche Politik selbst könnte in die Fänge einer Elite aus Wissenschaft und Technik geraten«. Der Kongress hörte sich an, was Ökonomen zu sagen hatten, nahm ihre Aussagen aber nicht allzu ernst. »Die Ökonomik galt unter den obersten politischen Entscheidungsträgern, insbesondere im Regierungsviertel, als esoterische Disziplin, die außerstande war, ernsthafte Probleme konkret anzugehen«, schrieb ein Berater von Senator William Proxmire aus Wisconsin, einem führenden Demokraten in der Innenpolitik, zu Beginn der 1960er Jahre.[6]

Als der US-amerikanische Finanzminister C. Douglas Dillon 1963 zwei Untersuchungen über mögliche Verbesserungen des internationalen Währungssystems in Auftrag gab, verzichtete er ausdrücklich auf die Beteiligung akademischer Ökonomen. Wie ein anderer Beamter erläuterte, sei ihr Rat »für die Entscheidungsträger praktisch nutzlos«.[7]

Im selben Jahr bekräftigte der Oberste Gerichtshof die Regierungsentscheidung, die Fusion von zwei Banken aus Philadelphia zu verhindern, obwohl es Belege für den voraussichtlichen wirtschaftlichen Nutzen der Fusion gab. Das Gericht beschied die von Ökonomen vorgebrachten Argumente als irrelevant.[8]

 

Doch es kündigte sich bereits eine Revolution an. Bald schon sollte der Einfluss von Ökonomen, die an die Kraft und die Herrlichkeit der Märkte glaubten, seinen Siegeszug antreten und die Politik, die Abwicklung von Geschäften und infolgedessen auch die Abläufe des täglichen Lebens von Grund auf umwandeln.

Als das vom Wachstum geprägte Vierteljahrhundert, das auf den Zweiten Weltkrieg folgte, in den 1970er Jahren ins Stottern geriet und sich dem Ende zuneigte, überzeugten diese Ökonomen die politischen Entscheidungsträger, die staatlichen Eingriffe in die Wirtschaft herunterzufahren – und darauf zu vertrauen, dass Märkte bessere Resultate als Bürokraten erzielen.

Die Ökonomik wird oftmals als »trübsinnige Wissenschaft« bezeichnet, weil sie darauf beharrt, dass die Beschränktheit der Ressourcen uns dazu zwingt, Entscheidungen zu treffen. Die eigentliche Botschaft der Ökonomik und der Grund für ihre Popularität ist jedoch die verlockende Verheißung, dass sie der Menschheit dabei helfen kann, jene betrüblichen Fesseln des Mangels zu sprengen. Alchemisten versprachen, aus Blei Gold zu machen; Ökonomen behaupteten, mit einer besseren Politik aus dem Nichts Gold hervorzubringen.

Die vierzig Jahre von 1969 bis 2008 möchte ich in Anlehnung an den Historiker Thomas McCraw als die »Stunde der Ökonomen« bezeichnen.[9] In dieser Zeitspanne hatten Ökonomen entscheidenden Anteil daran, Besteuerung und öffentliche Ausgaben anzukurbeln, große Wirtschaftsbereiche zu deregulieren und der Globalisierung den Weg zu bereiten. Ökonomen überzeugten Präsident Nixon, die Wehrpflicht abzuschaffen. Ökonomen überzeugten die Bundesgerichte, die Durchsetzung von Kartellrechten weitgehend abzuschaffen. Ökonomen überzeugten sogar die Regierung, menschlichem Leben einen Wert in Dollar beizumessen – im Jahr 2019 rund 10 Millionen US-Dollar –, um zu bestimmen, ob Regulierungen sich lohnten.

Ökonomen wurden auch zu politischen Entscheidungsträgern. Im Jahr 1970 wurde William McChesney Martin als Vorsitzender der Fed durch den Ökonomen Arthur F. Burns ersetzt, was eine Epoche einläutete, in der Ökonomen – unter anderem Paul Volcker – die Zentralbank leiteten.[10] Zwei Jahre später, im Jahr 1972, wurde George Shultz als erster Ökonom Finanzminister und damit zu einem Nachfolger Dillons.[11] Die Zahl der im Dienst der US-Regierung stehenden Ökonomen stieg von Mitte der 1950er Jahre bis Ende der 1970er Jahre von etwa 2000 auf über 6000.[12]

Die USA waren das Epizentrum der geistigen Umwälzung und die wichtigste Schmiede für die Übertragung dieser Ideen in die Politik; die Einbeziehung der Märkte als Heilmittel gegen die wirtschaftliche Stagnation war jedoch ein weltweites Phänomen, das die Phantasie von Politikern in Staaten wie Großbritannien, Chile und Indonesien beflügelte. Mitte der 1970er Jahre begannen die USA staatliche Preisregulierungen abzuschaffen. Gegen Ende des Jahrzehnts erlaubte Frankreich den Bäckern zum ersten Mal in seiner Geschichte, den Preis für Baguettes selbst zu bestimmen.[13]

Sogar das größte kommunistische Land der Erde schloss sich der Revolution an. Im September 1985 lud der chinesische Premierminister Zhao Ziyang acht prominente westliche Ökonomen zu einer einwöchigen Kreuzfahrt auf dem Jangtsekiang ein, begleitet von einer großen Abordnung hoch angesehener wirtschaftspolitischer Entscheidungsträger Chinas. Mao Zedong hatte gepredigt, dass ökonomische Erwägungen politischen Erwägungen stets untergeordnet seien. Die in jener Woche geführten Diskussionen trugen dazu bei, dass eine neue Generation von chinesischen Führern größeres Vertrauen in die Märkte setzte und Chinas Aufbau einer eigenen Version von einer marktbasierten Wirtschaft in die Wege leitete.[14]

 

Dieses Buch ist eine Biographie der Revolution. Einige wichtige Protagonisten sind recht bekannt, wie Milton Friedman, der das amerikanische Leben wie kein anderer Ökonom seiner Zeit beeinflusst hat, und Arthur Laffer, der 1974 eine Kurve auf eine Serviette malte, die dazu beitrug, Steuersenkungen zu einem Grundmerkmal republikanischer Wirtschaftspolitik zu machen. Andere sind vielleicht unbekannter, wie Walter Oi, ein blinder Ökonom, der seiner Ehefrau und seinen Assistenten einige Berechnungen diktierte, die Nixon bewogen, die Wehrpflicht abzuschaffen; Alfred Kahn, der den Flugverkehr deregulierte und sich über die überfüllten Kabinen bei kommerziellen Flügen freute, die seinen Erfolg dokumentierten; und der Spieltheoretiker Thomas Schelling, der die Regierung unter Kennedy dazu brachte, eine Hotline in den Kreml zu installieren, und überdies herausfand, wie sich der Wert eines Menschenlebens in US-Dollar ausdrücken lässt.

Dieses Buch legt darüber hinaus die Folgen dieser Entwicklungen dar.

Die Einbeziehung der Märkte erlöste Milliarden Menschen auf der ganzen Welt aus jämmerlicher Armut. Der Handelsverkehr von Waren, Geld und Ideen knüpfte Bande zwischen Nationen, und ein großer Teil der 7,7 Milliarden Menschen auf der Erde führen dank dieser Tatsache ein wohlhabenderes, gesünderes und glücklicheres Leben.

Märkte machen es Menschen leichter, unter verschiedenen Dingen diejenigen zu erwerben, die sie gerne hätten – was von besonderer Bedeutung in pluralistischen Gesellschaften ist, in denen Vielfalt und freie Wahlmöglichkeiten einen hohen Stellenwert haben. Zudem haben Ökonomen mit Hilfe von Märkten elegante Lösungen für drängende Probleme gefunden, etwa für das Schließen eines Ozonlochs oder die Bereitstellung von mehr Nieren zur Transplantation.

Die Marktrevolution schoss jedoch übers Ziel hinaus. In den Vereinigten Staaten und anderen entwickelten Ländern bedroht sie zunehmend die wirtschaftliche Gleichheit, die Robustheit der liberalen Demokratie und das Wohlergehen künftiger Generationen.

Die Ökonomen lehrten die politischen Entscheidungsträger, sich auf die Maximierung des Wachstums zu konzentrieren, ohne die Verteilung der Gewinne zu beachten – das Augenmerk auf die Größe der Torte zu richten statt auf die Größe der Tortenstücke. Laut Charles L. Schultze, dem Vorsitzenden von Präsident Jimmy Carters Rat der Wirtschaftsberater (Council of Economic Advisers), sollten sich Ökonomen entschieden für effiziente politische Maßnahmen einsetzen, »selbst wenn dies beträchtliche Einkommensverluste für bestimmte Gruppen nach sich ziehe – was fast immer der Fall sei«.[15] Keith Joseph, ein wichtiger Berater der britischen Premierministerin Margaret Thatcher, erklärte, Großbritannien brauche mehr Millionäre und mehr Konkurse. »Wenn wir die Armut in diesem Land verringern und unseren Lebensstandard erhöhen wollen«, sagte er, »dann brauchen wir mehr Ungleichheit, als wir derzeit haben.«[16]

Die Medizin half nicht. In den Vereinigten Staaten verlangsamte sich das Wachstum während des hier behandelten halben Jahrhunderts in jedem weiteren Jahrzehnt, von durchschnittlich 3,13 Prozent in den 1960er Jahren auf 0,94 Prozent in den 2000er Jahren (inflations- und bevölkerungsbereinigt).[17]

Einige Personen wurden so reich, dass selbst Krösus vor Neid erblasst wäre, aber die Mittelschicht hat nun allen Grund zu der Annahme, dass ihre Kinder ein weniger wohlhabendes Leben führen werden.[1] Mein Vater wurde 1951 geboren. 75 Prozent der in diesem Jahr geborenen US-amerikanischen Männer verdienten mit 30 Jahren mehr, als ihre Väter im gleichen Alter verdient hatten. Ich wurde 1978 geboren. Nur 45 Prozent der in diesem Jahr geborenen US-amerikanischen Männer verdienten mit 30 Jahren mehr, als unsere Väter im gleichen Alter verdient hatten. Für meine Kinder und ihre Generation sind die Aussichten noch düsterer.[18]

Auf der Jagd nach Effizienz ordneten die politischen Entscheidungsträger zudem die Interessen der Amerikaner als Erzeuger den Interessen der Amerikaner als Verbraucher unter und tauschten gut bezahlte Arbeitsplätze gegen preiswerte Maschinen. Das wiederum schwächte das Gefüge der Gesellschaft und die Überlebensfähigkeit lokaler Regierungen. Gemeinschaften können die Folgen einzelner Arbeitsplatzverluste auffangen; dass Massenentlassungen so schmerzlich sind, liegt unter anderem daran, dass damit häufig auch die Gemeinschaft zerstört wird. Der Verlust ist größer als die Summe seiner Teile.

Überdies bedroht die nachdrückliche Förderung des Wachstums nun die Zukunft: Steuersenkungen dienten als kurzfristige Konjunkturspritzen auf Kosten der Förderung von Bildung und Infrastruktur; von begrenzten Umweltauflagen profitierten Unternehmen – aber nicht die Umwelt.

Das auffälligste Indiz für das Versagen unserer Wirtschaftspolitik ist jedoch die Tatsache, dass die durchschnittliche Lebenserwartung in den USA sinkt und sich die Ungleichheiten im Wohlstand zunehmend in der Gesundheitsstatistik niederschlagen. Zwischen 1980 und 2010 stieg die Lebenserwartung für die vermögendsten 20 Prozent der US-Amerikaner. Im selben Zeitraum sank sie für die ärmsten 20 Prozent der Bevölkerung. Besonders schockierend ist, dass sich der Unterschied in der Lebenserwartung zwischen armen und reichen amerikanischen Frauen in dieser Zeitspanne von 3,9 Jahren auf 13,6 Jahre vergrößerte.[19]

 

Der Ursprung der Ökonomik als wissenschaftlicher Disziplin ist eng mit dem Aufkommen der liberalen Demokratie verknüpft. Regierungen des Volkes, durch das Volk und für das Volk begannen, Zwang durch Überzeugungsarbeit zu ersetzen. In seiner Kulturgeschichte der Republik der Vereinigten Niederlande im 17. Jahrhundert beschreibt Simon Schama eine verblüffende Veränderung bei den Staatsakten, die nun »eher öffentlich als zurückgezogen [sind], eher hochtrabend als magisch, eher belehrend als vortäuschend«. Der englische Ökonom William Petty, mit dem laut Karl Marx »die Forschungen der klassischen politischen Ökonomik in England begannen«, war zunächst dem Commonwealth und dann König Karl II. zu Diensten, indem er anhand des Privatvermögens als Maßstab die zunehmende Abhängigkeit des Staates von Steuern begründete und rechtfertigte.[20]

Widerstandskämpfer versuchten zunehmend, mit ökonomischen Argumenten um öffentliche Unterstützung für ihre Ansichten zu werben und die Regierungspolitik zu verändern. Das 1776 erschienene erste große Werk der Ökonomik trug den Titel The Wealth of Nations (Der Wohlstand der Nationen), weil Adam Smith ein Rezept entdeckt hatte, diesen Wohlstand zu mehren: durch freie Märkte und freien Handel. Einige Jahrzehnte später, im Jahr 1817, setzte der Ökonom David Ricardo noch einen drauf, indem er behauptete, Nationen könnten größeren Wohlstand erlangen, wenn sie auf die Produktion einiger Güter verzichteten und sich auf Bereiche »vergleichsweisen Nutzens« konzentrierten. Die anderen Dinge könne man dann importieren. Diese Erkenntnis befeuerte Gegner der britischen Getreidezollgesetze, die die Einfuhr von Getreide beschränkten. Sie verbreiteten Ricardos Frohe Botschaft mit Hilfe einer neuen Technologie – der Briefmarke –, die die Verteilung der neuen Zeitschrift The Economist erleichterte.[21] Vermutlich ist der 1846 getroffene Entschluss von Premierminister Robert Peel, die Getreidezollgesetze aufzukündigen, das erste bedeutende Beispiel für eine Umgestaltung der öffentlichen Politik durch die Ökonomik.

Der Einfluss der Ökonomen wuchs mit der Verfügbarkeit von Daten – wie Bohnenstängel, die sich um Getreidehalme winden. Zu Beginn der Moderne wussten die Regierenden nur wenig über ihre eigenen Nationen. Sie hatten nur vage Vorstellungen vom Leben ihrer Untertanen, von ihrem Verdienst und ihren Besitztümern.[22] Alexis de Tocqueville ließ in einem ganzen denkwürdigen Kapitel von Democracy in America (1835; dt.: Über die Demokratie in Amerika) seiner Entrüstung ob der Anmaßung freien Lauf, das Vermögen der Vereinigten Staaten ließe sich quantifizieren. Immerhin, so schrieb er, sei diese Art der Information nicht einmal europäischen Staaten zugänglich. Doch nach und nach begannen die Nationen, Statistiken zu erstellen – das Wort bedeutete ursprünglich »Informationen über den Staat«. Im Jahr 1853 beauftragte die US-Regierung mit James D.B. De Bow einen der ersten Ökonomikprofessoren des Landes damit, die Ergebnisse ihres alle zehn Jahre stattfindenden Zensus zu analysieren. Es waren mehr Daten als bei den früheren Erhebungen gesammelt worden, darunter die erste sorgfältige Zählung bewirtschafteter Landflächen.[23]

De Bows statistische Erhebungen befeuerten die politische Diskussion über die Sklaverei. In der Streitschrift The Impending Crisis of the South von 1857, die zum Bestseller wurde und immensen Einfluss hatte, argumentierte ein junger Südstaatler namens Hinton Helper aufgrund der Zensusdaten, die Sklaverei schade dem Süden. In Helpers Augen lag das entscheidende Problem der Sklaverei, bei der die Sklaven wie Vieh gehandelt und verkauft wurden, nicht im Mangel an Moral, sondern im Mangel an Effizienz.[24]

Im Laufe der darauffolgenden 75 Jahre schenkten die politischen Entscheidungsträger den Märkten ihr Vertrauen. Der Staat weitete seine Rolle in der Ökonomie allmählich aus. Er brachte einheitliche Dollarscheine in Umlauf und gründete danach eine Zentralbank. Er führte Bundesaufsichtsbehörden ein, zuerst für die Eisenbahnen und dann für eine wachsende Zahl weiterer Industrien. Und er verabschiedete Gesetze zur Beschränkung von Monopolen. Dennoch blieb die Regierung ein kleiner und unbedeutender Akteur. Als das Land in der Großen Depression versank, verfügte der Kongress nach wie vor nicht über grundlegende Wirtschaftsdaten. Im Jahr 1932 ließ er den Rückgang der wirtschaftlichen Aktivität schätzen, woraufhin der Ökonom Simon Kuznets im Januar 1934 berichtete, dass das Nationaleinkommen sich von 1929 bis 1932 halbiert habe. Die Daten waren zwei Jahre alt und schienen noch immer wertvoll zu sein. Die Regierung druckte 4500 Kopien des Berichts, die schon bald vergriffen waren.[25]

 

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelte sich allmählich der politische Konsens, dass die Regierungen in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts sehr viel stärker in die Wirtschaftsabläufe eingreifen sollten. Die Ausschweifungen und Ungleichheiten der ersten Jahrzehnte und dann die Katastrophen der 1930er und 1940er Jahre hatten das Vertrauen der Menschen in die Märkte schwer erschüttert. Man hatte die Wirtschaft als eine Art Schaukelstuhl betrachtet, der sich vor- oder rückwärtsbewegen konnte, aber immer wieder verlässlich an seinen Ausgangspunkt zurückkehrte. Nun erregte Keynes Aufsehen mit der Behauptung, die Wirtschaft sei eher ein Stuhl auf Rädern: Nach unausweichlichen Erschütterungen brauche man die Hand des Staates, um den Stuhl wieder an seinen Platz zu rollen. Die Wirtschaft brauchte eine sorgfältige Lenkung – sowohl in guten Zeiten, um der ungleichen Verteilung von Wohlstand Vorschub zu leisten, als auch in schlechten, um Not zu lindern. In jenen Jahren waren Konservative diejenigen, die für einen geringeren Anstieg der staatlichen Regulierung und der Ausgaben für Sozialfürsorge plädierten.

Die US-Regierung weitete die Regulierung über große Bereiche wirtschaftlicher Aktivität aus. Lastwagenfahrer, die von der Interstate Commerce Commission die Genehmigung erhalten hatten, belichtete Filme zu transportieren, brauchten eine weitere Genehmigung für den Transport unbelichteter Filme. Kartellrechtliche Vorschriften verhinderten die Fusion mittelgroßer Firmen, und es wurde versucht, dominante Unternehmen wie die Aluminium Company of America zu zerschlagen. Technologieunternehmen wie AT&T mussten die Konkurrenz über neue Entdeckungen informieren. Die Bankenbranche, der man die Schuld für die Große Depression gab, wurde unter Aufsicht gestellt.

Die politischen Entscheidungsträger bemühten sich, die wirtschaftliche Ungleichheit zu begrenzen. 1946 verabschiedete der Kongress ein Gesetz, das die Regierung verpflichtete, die Arbeitslosigkeit zu minimieren. Darüber hinaus erhob der Kongress eine steil progressive Einkommensteuer und andere Abgaben, die den Bestverdienern über die Hälfte ihres Einkommens abverlangten. Das Aufkommen der Arbeiterbewegung, die während der Großen Depression von der Regierung gefördert worden war, trug dazu bei, dass nicht nur Aktionäre, sondern auch Arbeiter wachsenden Wohlstand genossen. In den 1950er Jahren gehörte über ein Viertel der US-amerikanischen Lohnempfänger einer Gewerkschaft an, darunter auch ein in Vergessenheit geratender Filmstar namens Ronald Reagan, der Präsident der Schauspielergewerkschaft Screen Actors Guild war.

Die Regierung versuchte die Auswirkungen der Ungleichheit auch dadurch abzumildern, dass sie ihren Bürgern Aufstiegsmöglichkeiten zusicherte und sie vor einem Absturz bewahrte. Von 1948 bis 1968 verdoppelte sich der Anteil der Bundesausgaben an der gesamten Wirtschaftsleistung des Landes annähernd von rund 10 Prozent auf 20 Prozent. Die Vereinigten Staaten bauten ein Fernstraßennetz, subventionierten den Ausbau des kommerziellen Flugverkehrs und schufen die Grundlagen für die Entwicklung des Internets. Überdies investierte der Staat massiv in öffentliche Schulen, Gesundheitsfürsorge und Altersversorgung – Amerika wollte zeigen, dass es einfachen Leuten ein besseres Leben bieten konnte als seine kommunistischen Rivalen.

Etwa ein Vierteljahrhundert lang lebten Amerikaner wie die Made im Speck. Es gab zwar viele Probleme – zum Beispiel die rechtlich, gesellschaftlich und wirtschaftlich untergeordnete Stellung von Frauen und Afroamerikanern –, aber die wirtschaftlichen Erträge kamen der Bevölkerung flächendeckend zugute. Ausländern fiel die egalitäre Fassade der amerikanischen Gesellschaft ins Auge: Firmenbosse und Arbeiter fuhren ähnliche Autos, trugen ähnliche Kleidung und saßen in denselben Kirchenbänken. Amerika war eine Fabrikstadt, und die Wall Street war dasjenige Stadtviertel, wo Männer mit bescheidener Vergütung das Geld anderer Menschen verwalteten. Jedes Jahr bezog etwa ein Fünftel der amerikanischen Bevölkerung ein neues Zuhause, und die meisten Amerikaner kletterten im Lauf ihres Lebens auf der Wohlstandsleiter nach oben. In Detroit chauffierte die Autoherstellung eine ganze Arbeitergeneration in die Mittelschicht, und die Autos chauffierten sie in in die Vorstädte.

 

Während der Zeit des New Deal und des Zweiten Weltkriegs traten zahlreiche Ökonomen in den Dienst der Regierung. Sie halfen zu berechnen, wo Straßen und Brücken zu bauen waren, und danach halfen sie zu berechnen, welche Straßen und Brücken wieder zurückgebaut oder abgerissen werden sollten. Der Ökonom Arnold Harberger erinnert sich, dass ein Freund von ihm während des Krieges in Washington eintraf und sich über die Wellblechhütten wunderte, die dicht an dicht an der National Mall standen. »Was ist das denn?«, fragte er. »Oh«, lautete die Antwort, »da sind die Ökonomen drin.«[26]

Politische Entscheidungsträger und Bürokraten bemühten sich, der rapiden Expansion des Regierungsapparats Herr zu werden, und ließen sich dabei zunehmend von Ökonomen unterstützen, die die Verwaltung der öffentlichen Politik rationalisieren sollten. Nach und nach nahmen die Ökonomen auch Einfluss auf die politischen Ziele. Die Keynes-Jünger überzeugten Politiker immer mehr davon, dass die Regierung durch stärkere Eingriffe in die Wirtschaft für größeren Wohlstand sorgen könne. Ihren Höhepunkt erlebte diese »aktivistische Ökonomik« in den Vereinigten Staaten Mitte der 1960er Jahre unter den Präsidenten John F. Kennedy und Lyndon B. Johnson, die mit Steuersenkungen und erhöhten Bundesausgaben alles daransetzten, das Wirtschaftswachstum zu befördern und die Armut einzudämmen.

Einige Jahre lang schienen die Maßnahmen beinahe Wunder zu wirken. Doch dann nahmen Arbeitslosigkeit und Inflation gleichermaßen zu. Anfang der 1970er Jahre begann die amerikanische Wirtschaft zu schwächeln – während Japan und Westdeutschland wiederauflebten. »Bei Autos, Stahl oder Flugzeugen sind wir nicht mehr konkurrenzfähig«, ärgerte sich Präsident Nixon. »Müssen wir uns jetzt für alle Zeiten auf die Produktion von Toilettenpapier und Zahnpasta beschränken?«[27] Nixon und seine Nachfolger Gerald Ford und Jimmy Carter versuchten die interventionistischen Verordnungen der Keynesianer weiter zu beherzigen, bis selbst einige aus deren Kreis die Hände über dem Kopf zusammenschlugen. Als die Ökonomin Juanita Kreps, die unter Carter Handelsministerin war, 1979 aus diesem Amt ausschied, sagte sie gegenüber der Washington Post, ihr Vertrauen in die Keynes’sche Ökonomik sei dermaßen erschüttert, dass sie nicht mehr auf ihren Lehrstuhl an der Duke University zurückkehren wolle. »Ich weiß nicht, was ich dort lehren soll«, meinte sie. »Man verliert den Glauben an die Lehre.«[28]

 

Die Ökonomen, die die Konterrevolution gegen die Keynes’sche Ökonomik anführten, marschierten unter einem Banner mit der Aufschrift »Auf Märkte vertrauen wir«. Ende der 1960er Jahre begannen sie die politischen Entscheidungsträger davon zu überzeugen, dass die freie Preisbildung in einer Marktwirtschaft bessere Ergebnisse zeitigen würde als Bürokraten. Sie sagten, die Verfechter der aktivistischen Ökonomik hätten den staatlichen Einfluss und ihre eigene Kompetenz überbewertet. Sie sagten auch, wer das Leben auf der Erde mit dem Management des Kapitalismus verbessern wolle, werde am Ende alles nur noch schlimmer machen.

Es gehörte schon eine gewisse Arroganz zu der Ankündigung, man könne dies alles besser handhaben, aber dahinter verbarg sich auch ein verblüffendes Maß an Bescheidenheit. Die neuen Ökonomen behaupteten nicht, die Antworten zu kennen. Vielmehr behaupteten sie, sie nicht zu kennen. Ihr Anliegen war, dass die politischen Entscheidungsträger die Bahn frei machen sollten, statt zu versuchen, gute Entscheidungen zu treffen. Regierungen sollten Staatsausgaben und Besteuerung auf ein Mindestmaß reduzieren, Regulierungen einschränken und einen freien, grenzüberschreitenden Waren- und Finanzverkehr zulassen. Wäre ein politisches Eingreifen erforderlich – etwa beim Verteilen der durch Umweltverschmutzung entstehenden Kosten –, sollten sich die Regierungen die Mechanismen eines Marktes so gewissenhaft wie möglich zunutze machen. »Falls sich zur Durchsetzung einer politischen Maßnahme ein Markt schaffen lässt, kann es sich kein politischer Entscheidungsträger leisten, darauf zu verzichten«, schrieb J.H. Dales, ein früher Verfechter des Umweltschutzes mit Hilfe von Märkten, im Jahr 1968.[29]

Im amerikanischen Leben des 20. Jahrhunderts rief dieser Appell, den Märkten zu vertrauen, auch Befürworter aus anderen konservativen Strömungen auf den Plan.[30] Er sprach insbesondere die »muskulöse Rechte« an, die sich als Gegner des Kommunismus definierte und für weniger Staatsausgaben in allen Bereichen mit Ausnahme der nationalen Verteidigung eintrat. In der Mitte des Jahrhunderts bezeichneten Liberale das Wiedererstarken des Konservatismus als Krankheit, die an den Rändern der Gesellschaft nage. Wie die Historikerin Lisa McGirr jedoch beobachtet hat, lagen die Brutstätten des wirtschaftlichen Konservatismus in den Vorstädten des Sun Belt, der Region zwischen Georgia und Südkalifornien, die sich an den staatlichen Rüstungsausgaben gesundgestoßen hatten, etwa in Orange County (Kalifornien), Colorado Springs (Colorado) und Cobb County (Georgia). Seine Anhänger waren gebildete, wohlhabende Menschen, die sich als »durch und durch modern« empfanden.[31] Sie waren der Meinung, dass alles recht gut lief und dies auch so bliebe, wenn die Regierung nicht mehr ständig dazwischenfunken würde. (Die Zahnärzte aus Orange County bestritten ihre Abhängigkeit vom Staat, der die Vertragsfirmen bezahlte, die zweimal jährlich Zahnreinigungen vornahmen.)

Die Ökonomik war eine bejahende Religion. Frühere Glaubensrichtungen betrachteten den Wohlstand mit gemischten Gefühlen, denn man ging gemeinhin davon aus, dass für das Wohlergehen eines Menschen ein anderer Mensch zu leiden habe. Dies galt durchaus für eine Welt, in der sich die Produktivität im Laufe der Zeit kaum erhöhte: Das mittelalterliche System der Zünfte schränkte den Zugang zu handwerklichen Berufen ein, weil in Rouen nur eine begrenzte Nachfrage nach Brot herrschte.[32] Adam Smith erkannte jedoch, dass sich dies mit der industriellen Revolution änderte. Mit steigender Produktivität ließ sich Wohlstand durch Ankurbeln der Wirtschaft vermehren. Egoismus konnte sich für alle auszahlen. Es ist festzuhalten, dass Smith nicht glaubte, Egoismus sei immer gut für die Gesellschaft. Doch die Beziehung der Ökonomik zu ihren Gründungstexten ist kaum so geartet wie bei den anderen großen Weltreligionen. Aus Smiths nuancierter Kostenrechnung wurde »Gier ist gut«, das sich zu einem weltumspannenden Credo entwickelt hat – sowohl bei den Reichen als auch bei den Zahlreichen, die ihnen nacheifern wollen.

Die Verfechter des Glaubens an die Märkte bauten auch eine enge Beziehung zur Unternehmenselite auf, was nicht so unvermeidbar war, wie es im Rückblick erscheinen mag. Konservative Ökonomen wie Friedman und sein guter Freund George Stigler brachten zunächst ihre Angst vor der Macht der Unternehmen zum Ausdruck und führten an: Unternehmenskonzentrationen zu beschränken sei eine der wenigen legitimen Funktionen einer Regierung. Manche konservative Ökonomen denken immer noch so. Viele entschlossen sich jedoch, mit Unternehmen gemeinsame Sache gegen den Staat zu machen. Die Ökonomen hatten Ideen und die Unternehmen hatten Geld: So sponserten sie die Forschung, stifteten Lehrstühle und finanzierten Thinktanks wie das National Bureau of Economic Research, das American Enterprise Institute und die Hoover Institution an der Stanford University.

In einem umjubelten Artikel von 1972 beschrieben die Ökonomen Armen Alchian und Harold Demsetz von der University of California in Los Angeles Unternehmen als die Apotheose des Kapitalismus – den bestmöglichen Mechanismus, effiziente Anstellungen und fairen Verdienst zu gewährleisten. In einer Fußnote hieß es, die Professoren seien dank finanzieller Unterstützung durch den Pharmazie-Giganten Eli Lilly zu ihren Ergebnissen gekommen.[33] Führungskräfte von Unternehmen und andere reiche US-Amerikaner waren außerordentlich entzückt, dass ihre Überzeugungen und Interessen als wissenschaftliche Wahrheiten verpackt wurden.

 

Wirtschaftskonservative unterhielten eine kompliziertere Beziehung zum Sozialkonservatismus der »religiösen Rechten« und zu Gegnern von Bürgerrechten für Minderheiten. Einige der bedeutendsten frühen Verfechter des Glaubens an die Märkte, vor allem Friedman, der in seiner eigenen akademischen Laufbahn antisemitischer Diskriminierung ausgesetzt war, argumentierten, dass Minderheitengruppen den Märkten gegenüber aufgeschlossen sein sollten, da dies der beste zur Verfügung stehende Schutz gegen eine Verfolgung durch die Mehrheit sei.[34] Märkte würden die Befriedigung verschiedener Bedürfnisse und Präferenzen erleichtern, weil sie abgesehen von der Zahlungsfähigkeit keinerlei Diskriminierung zuließen. Darüber hinaus vertraten Friedman und andere führende Ökonomen Auffassungen, die Sozialkonservativen ein Dorn im Auge waren, wie die Unterstützung von Einwanderung, Legalisierung von Drogen und Rechte von Homosexuellen. Viele Sozialkonservative standen dem Präsidentschaftswahlkampf des libertären Barry Goldwater im Jahr 1964 kritisch gegenüber; vielen Wirtschaftskonservativen stieß die rassistische Agenda des Präsidentschaftswahlkampfs von George Wallace im Jahr 1968 sauer auf. In den 1970er Jahren fanden die beiden Lager dann jedoch einen ausreichend großen gemeinsamen Nenner: Sozialkonservative, die um ihre sittlichen Werte, und Wirtschaftskonservative, die um ihre Grundstückswerte bangten, fühlten sich durch die zunehmende Einmischung der Regierung gleichermaßen ernsthaft bedroht. Religionsführer wie Robert Schuller, Pastor der Garden Grove Community Church in Orange County, nannte als verbindendes Merkmal der beiden konservativen Strömungen das Streben nach Wohlstand als moralisches Unterfangen. Schuller bezeichnete seine Kirche als »Einkaufszentrum für Gott« und erklärte seinen Schäfchen: »Ihr habt das gottgegebene Recht, reich zu sein.« Eine Kirchgängerin teilte McGirr mit, ihr früherer Pfarrer habe »über César Chávez und den Traubenboykott gesprochen, und man geht doch nicht in die Kirche, um sich das statt des Evangeliums anzuhören«.[35]

Der Konservatismus war eine Koalition der Mächtigen, die den Status quo gegen reale und eingebildete Bedrohungen verteidigte. Und diese Koalition hatte entscheidenden Anteil daran, dass eine marktorientierte Politik hinreichende politische Unterstützung fand. Für die Sozialkonservativen waren die Ergebnisse jedoch ein gemischter Segen. Mit der Öffnung gegenüber Märkten wandelten sich die Vereinigten Staaten zwar zu einer vielfältigeren und toleranteren Gesellschaft, doch zugleich wurden dadurch Tempo und Umfang dieser gelenkten Wandlungsprozesse eingeschränkt. Effizienz und Wirtschaftswachstum Priorität einzuräumen lieferte eine wertfreie Rechtfertigung für den Widerstand gegen eine Umverteilungspolitik und Wohlfahrtsprogramme. Und wirtschaftliche Diskriminierung – die nicht nur toleriert, sondern gefeiert wurde – ersetzte lediglich andere Formen der Diskriminierung mit Macht und auf Dauer. Wie der Historiker Daniel T. Rodgers bemerkt hat, bewirkten die Ökonomen eine Verlagerung des gesellschaftlichen Diskurses vom Wettstreit zwischen Gruppen zu Transaktionen zwischen Individuen.[36]

Die Ökonomen zeichneten die Gesellschaft als egalitäres Flachland, wo beispielsweise Unternehmen und Arbeiter auf Augenhöhe interagierten. Man stellte sich die Menschen wieder als Herren über ihr Schicksal vor, die bestens informiert und mit allen Befugnissen ausgestattet waren. Die symbolträchtigste Graphik der Ökonomik, die das Verhältnis von Angebot und Nachfrage verdeutlicht, enthält zwei Kurven, die sich in einem geschichtslosen, kontextfreien Feld überschneiden. Die große Bedeutung des Aktienmarktes – der einem Wirklichkeit gewordenen Marktplatz aus dem Lehrbuch vielleicht am nächsten kam – trug zur Verfestigung der verbreiteten Vorstellung von grausamen, aber fairen Märkten bei, einem Stereotyp, das Bemühungen entgegenwirkt, die reale Welt ein bisschen unfairer zu machen. Wenn eine schwarze Familie ein Subprime-Hypothekendarlehen aufnahm, erschienen in dem Bild des Marktes weder die Eltern und Großeltern, die außerstande gewesen waren, Wohlstand zu schöpfen, noch die Mainstream-Kreditgeber, die in dem betreffenden Viertel keine Darlehen vergaben, noch die Tatsache, wie schwierig es war, einen Job mit angemessenem Lohn zu finden und zu behalten. Das Bild des Marktes zeigte einen Kreditnehmer und einen Kreditgeber, die einen Handel abschlossen, weil sich beide einen Gewinn davon versprachen.

 

Die Ökonomen sind eine bunte Schar. In jeder ernstzunehmenden Liste finden sich Milton Friedman wie auch Karl Marx, was bedeutet, dass die Aufnahme in die Liste nicht auf die Unterstützung einer bestimmten politischen Richtung zurückzuführen ist. Wenn ich den Einfluss von Ökonomen auf die öffentliche Politik schildere, ist mir bewusst, dass jede einzelne der in diesem Buch beschriebenen Änderungen von einigen aus ihren Reihen vehement abgelehnt wurde. Tatsächlich ist es sehr gut möglich, dass nur ganz wenige Ökonomen, wenn überhaupt, alle diese Änderungen unterstützt haben.

Dennoch bin ich der Meinung, dass man Ökonomen, vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den USA, als homogene Gruppe bezeichnen kann. Die meisten US-amerikanischen Ökonomen – und insbesondere diejenigen, die die öffentlichen politischen Debatten beeinflusst haben – waren in einem engen Bereich des ideologischen Spektrums angesiedelt.

Zuweilen teilt man die amerikanischen Ökonomen in zwei Lager; man sagt, das Hauptquartier des einen befinde sich in Chicago und favorisiere Märkte für alles, während Cambridge, Massachusetts, das Hauptquartier des anderen Lagers sei und staatliche Eingriffe befürworte. Manchmal werden diese Lager auch als »Süßwasserökonomen« und »Salzwasserökonomen« bezeichnet. Diese Differenzierungen schießen jedoch weit über das Ziel hinaus; die Wortführer beider Gruppen haben die hier dargestellten zentralen Wandlungen gleichermaßen präferiert. Auch wenn die Natur zur Entropie hinstrebt, einte sie das Vertrauen darauf, dass Ökonomien ein Gleichgewicht anstreben. Für beide war das vordringlichste Ziel der Wirtschaftspolitik, den Dollarwert der nationalen Wirtschaftsleistung zu steigern. Sie hatten nicht viel Geduld für Bemühungen, die Ungleichheit anzugehen. Eine 1979 durchgeführte Umfrage unter Mitgliedern der American Economic Association erbrachte, dass 98 Prozent gegen Mietpreisbindung waren, 97 Prozent gegen Tarife, 95 Prozent flexible Wechselkurse befürworteten und 90 Prozent Mindestlohngesetze ablehnten.[37] Die Unterschiede zwischen ihnen waren fließend. Diese Unterschiede sind zwar bedeutsam – und werden deshalb hier erörtert –, aber ebenso bedeutsam war das Maß der Übereinstimmung. Kapitalismuskritik, die bei breit geführten Debatten in Europa nach wie vor in aller Munde war, kam in den Vereinigten Staaten selten auf. Diese Verschiedenheit hat der Politologe Jonathan Schlefer sehr treffend auf den Punkt gebracht: »Für Cambridge, England, war der Kapitalismus mit tiefgreifenden Problemen beladen; Cambridge, Massachusetts, kam zu dem Schluss, dass der Kapitalismus lediglich eine ›Feinabstimmung‹ benötige.«[38]

Mit der Zeit verschob der amerikanische Konsens auch in anderen Ländern die Grenzen der Diskussion.

Die realen Unterschiede zwischen Liberalen und Konservativen in Sachen Wirtschaftspolitik verschleiern meist, wie stark die Demokratische Partei wie auch die großen Parteien links von der Mitte in anderen Industriestaaten die Priorisierung wirtschaftlicher Effizienz vorangetrieben haben. Häufig sind Konservative die wirksamsten Reformer gewesen, was Benjamin Disraeli in seinem berühmten Schlagwort »Tory men and Whig measures« – sinngemäß »konservative Politiker und liberale Maßnahmen« – zusammengefasst hat. Als die Reformbewegung in jüngeren Jahrzehnten jedoch eine konservative Richtung einschlug, gaben oft Liberale die Marschrichtung zu Zielen vor, die die Konservativen allein nicht erreichen konnten. In den USA initiierte Kennedy die Steuersenkung und Carter Deregulierungen. In Großbritannien erklärte der Labour-Politiker und Premierminister James Callaghan die Keynes’schen Ideen 1976 für tot. In Frankreich setzte der sozialistische Präsident François Mitterrand Sparmaßnahmen durch, um die Nation auf die Währungsunion mit Deutschland vorzubereiten.

Der Zusammenbruch der Sowjetunion verfestigte diesen politischen Konsens. Die Aufteilung der Welt in kommunistische und kapitalistische Gesellschaften war eines der großen natürlichen Experimente der Geschichte, und das Ergebnis schien eindeutig. »Der Kalte Krieg ist vorbei und die University of Chicago hat ihn gewonnen«, jubelte der konservative Kolumnist George Will im Jahr 1991.[39] Die in den 1990er Jahren an die Macht gekommenen Vorsitzenden von Parteien links der Mitte, wie Bill Clinton in den Vereinigten Staaten und Tony Blair in Großbritannien, führten die Wirtschaftspolitik ihrer konservativen Vorgänger im Wesentlichen fort. Der Kapitalismus genoss seine Monopolstellung auf dem Markt der Ideen selbstzufrieden, und die Folgen waren absehbar: In Ermangelung von Alternativen brachte man nur schwer die Energie auf, sich mit seinen offenkundigen Unzulänglichkeiten auseinanderzusetzen.

In den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts und dem ersten Jahrzehnt des jetzigen erreichte die Vertraut-auf-Märkte-Revolution ihren Höhepunkt. Politische und soziale Beschränkungen für Marktmechanismen wurden aus dem Weg geräumt. Regierungen bemühten sich kaum noch um Marktregulierung, Investitionen in künftigen Wohlstand oder die Eindämmung von Ungleichheit. Die Wichtigkeit des Wirtschaftswachstums wurde fast schon zu einem amerikanischen Ethos. So beschwor Präsident George W. Bush die Nation nach den Anschlägen des 11. September 2001: »Wir müssen uns dem Terror entgegenstemmen, indem wir wieder zur Arbeit gehen.«

Eine beliebte Illustration für den Triumph der freien Marktwirtschaft ist eine Satellitenaufnahme der koreanischen Halbinsel bei Nacht, auf der die Südhälfte von elektrischem Licht erleuchtet daliegt und die Nordhälfte so schwarz ist wie der sie umgebende Ozean. Es ist ein mächtiges Bild, aber seine Relevanz wurde oft missinterpretiert. Wie andere reiche Nationen ist Südkorea durch sorgsame Wirtschaftslenkung zu Wohlstand gelangt. Was geschah, als Staaten beschlossen, beide Hände vom Steuer zu nehmen, werde ich Ihnen nun erzählen.

Teil I

1Märkte für alles

Um die Fische, die sie auf langen Seereisen mit sich führten, agil und frisch zu halten, pflegten die Kapitäne zusätzlich einen Aal in das Fass zu geben. Im Metier der Ökonomik ist dieser Aal Milton Friedman.

Paul Samuelson (1969)[40]

Ende 1966 kam Martin Anderson, ein junger Ökonomikprofessor der Columbia University mit libertären Tendenzen, bei einer Dinnerparty neben einem Anwalt aus Richard Nixons Kanzlei zu sitzen. Nixon war in die New Yorker Kanzlei eingetreten, nachdem er seinen ersten Rückzug aus der Politik verkündet hatte. Damals sagte er zu Reportern: »Nun könnt ihr Nixon nicht mehr herumschubsen.« Der Anwalt mochte Nixon nicht, und nach jenem Abend war er auch auf Anderson nicht gut zu sprechen. »Mit solchen Ansichten«, beschied er ihm, »sollten Sie für meinen Chef arbeiten – nicht für mich.« Einige Tage darauf erhielt Anderson einen Anruf von Leonard Garment, einem Partner aus Nixons Kanzlei und engem Berater. Garment sagte, er habe gehört, es solle da einen Columbia-Professor geben, der verrückte Dinge äußere, und lud Anderson zu einem Besuch ein. Schon bald traf sich Anderson regelmäßig mit der kleinen Gruppe, die im Geheimen Nixons politische Wiederauferstehung bei der Präsidentschaftswahl von 1968 plante.[41]

Bei einem Treffen im März 1967 richtete die Gruppe um Nixon ihr Augenmerk auf die Wehrpflicht. Die Vereinigten Staaten hatten zu den meisten großen Kriegen Männer eingezogen, doch nach dem Zweiten Weltkrieg hatte der Kongress erstmals eine dauerhafte Wehrpflicht bewilligt. Die Nation trug globale Verantwortung; niemand wusste genau, wie viele Soldaten benötigt wurden, um einen Kalten Krieg auszufechten. Im Laufe des darauffolgenden Vierteljahrhunderts zog der Staat jährlich Tausende Männer zum Wehrdienst ein.

Schon vor den 1960er Jahren war die öffentliche Unterstützung für die Wehrpflicht abgeflaut. Der Militärdienst galt zwar als allgemeine Pflicht, doch bezeichnenderweise diente weniger als die Hälfte der US-amerikanischen Männer beim Militär. Als die Kämpfe in Vietnam an Härte zunahmen, wuchs auch der Widerstand gegen die grundlegende Ungerechtigkeit, einige Männer für den Kriegsdienst auszuwählen und sie damit möglicherweise in den Tod zu schicken. Reformer lancierten Ideen wie die lokalen Einberufungsbehörden durch eine nationale Lotterie zu ersetzen oder alle Männer zur Militärausbildung zu verpflichten, aber diese Pläne änderten nichts an dem grundsätzlich ungerechten Charakter des Verfahrens.

»Ich habe eine Idee«, verkündete Anderson Nixons Männern. Er hatte soeben einen Artikel des Ökonomen Milton Friedman von der University of Chicago gelesen, der dafür plädierte, die Wehrpflicht abzuschaffen und stattdessen eine Berufsarmee mit konkurrenzfähigen Löhnen einzuführen. »Ich wüsste vielleicht, wie wir die Wehrpflicht beenden und zugleich unsere Wehrkraft stärken könnten«, eröffnete Anderson der Gruppe. »Dürfte ich meine Gedanken dazu einmal zu Papier bringen?«[42]

Die Welt verändert sich, und es ist schwer zu sagen, warum. Im Jahr 1973 schafften die USA die Wehrpflicht ab, weil in den 1950er Jahren sehr viele amerikanische Kinder zur Welt gekommen waren und weil ein unsicherer Mann namens Lyndon Baines Johnson auf das falsche Pferd setzte und weil es immer schwieriger wurde, Rekruten mit der neuen Militärtechnologie vertraut zu machen. Hinzu kam, dass das Wahlalter auf 18 herabgesetzt wurde und junge Männer in einer immer wohlhabenderen Nation keine Lust zum Kämpfen hatten. All dies spielte eine Rolle. Doch genauso trifft es zu, dass die Vereinigten Staaten die Wehrpflicht abschafften, weil Milton Friedman Anderson überzeugte, der wiederum Nixon überzeugte, der 1968 zum Präsidenten gewählt wurde.

Friedman war ein beeindruckender, 1976 mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften geehrter Akademiker, doch er verdient in erster Linie, als einer der einflussreichsten Ideologen des 20. Jahrhunderts in Erinnerung zu bleiben, als mächtiger Prophet einer konservativen Konterrevolution, die das Leben in den Vereinigten Staaten und auf der ganzen Welt von Grund auf umgestaltete.

In seinen Memoiren schrieb er 1998, die Ökonomik habe Einfluss, »weil sie Optionen in der Hinterhand hat, wenn Krisenzeiten verlangen zu handeln« – indem sie sicherstellt, dass der Kühlschrank gut gefüllt ist, wenn die politischen Entscheidungsträger hineinschauen.[43] Indem Friedman zur Abschaffung der Wehrpflicht beitrug, gelang es ihm zum ersten Mal, die Politik in die Richtung seiner Überzeugungen zu lenken. Es folgten weitere gefeierte Triumphe, doch gegen Ende seines Lebens gestand Friedman, dass er auf den ersten nach wie vor ganz besonders stolz sei. »Von allen Maßnahmen der öffentlichen Politik, an denen ich beteiligt war«, sagte er, »hat mich keine so befriedigt wie diese.«[44]

 

Milton Friedman huschte verstörend wie ein freies Elektron durch das 20. Jahrhundert und hinterließ eine Welt, die dank seiner Ideen neue Formen annahm. Er war ein kleiner Mann mit einer großen Brille und dem jungenhaften Enthusiasmus eines geborenen Verkäufers. Große Naturwissenschaftler gelten häufig als äußerst unkommunikativ; tatsächlich betrachtet man dies als ein Markenzeichen ihrer Brillanz. Großen Ökonomen hingegen gelingt es meist, ihre Ideen populär zu machen, und in dieser Kunst tat es Friedman kaum jemand gleich. Seine elektrisierende Idee war simpel und weltumspannend: Der freie Markt war das denkbar beste System der Menschenführung – zweifellos viel besser als traditionelle Regierungsformen, die auf einem absoluten Minimum zu halten seien. Falls Regierungsbürokraten jemals Kontrolle über die Sahara erlangen sollten, witzelte er, würde sehr bald der Sand knapp.

In Free to Choose, einer zehnteiligen Dokumentation von Friedmans Auffassungen, die 1980 vom Public Broadcasting Service (PBS) ausgestrahlt wurde, hielt der Ökonom einen schlichten gelben Bleistift in die Höhe und schwärmte von dessen Herstellung. »Buchstäblich Tausende Menschen haben zusammengearbeitet, um diesen Bleistift hervorzubringen«, erklärte Friedman den Zuschauern. Er zählte die Arbeiter auf, die Holz und Graphit geliefert hatten, die gelbe und schwarze Farbe, das Radiergummi und sein Metallband. »Menschen, die verschiedene Sprachen sprechen«, sagte er, »die unterschiedlichen Religionen angehören, die einander vielleicht sogar hassen würden, wenn sie sich jemals über den Weg liefen.« Und was, fragte er, indem er gegen die Bleistiftspitze tippte, habe sie zusammengebracht? »Es war die Magie des Preissystems.«

In Diskussionen war er erbarmungslos, was einen seiner Kollegen zu der Bemerkung veranlasste, man streite sich am besten mit Friedman, wenn er nicht im selben Raum sei.[45] Er hörte seinen Kontrahenten mit einem unergründlichen Lächeln zu und wartete geduldig, bis sie aufhörten zu reden, um sie dann darüber aufzuklären, warum sie unrecht hatten.

Während der ersten Hälfte seiner Karriere führte Friedman den größten Teil seiner bedeutenden Forschungsarbeiten aus. In der zweiten Hälfte stieg er dann zum »kreativsten sozialpolitischen Denker unserer Zeit« auf. So titulierte ihn Daniel Patrick Moynihan, der New Yorker Senator und öffentliche Intellektuelle, der sich ein Urteil über Friedman erlauben durfte, weil er auf dem gleichen Feld arbeitete.[46] Selbst diejenigen, die mit Friedman nicht einer Meinung waren, sahen sich außerstande, seine Attacken zu ignorieren. »Nur eine kleine Minderheit unseres Berufsstandes hat er von seinen Ansichten überzeugt«, sagte der liberale Ökonom Robert Solow in den 1960er Jahren, »doch in fast jeder Hochschule drehen sich die Gespräche am Mittagstisch Tag für Tag eher um Milton Friedman als um irgendeinen anderen Ökonomen.«[47]

Ein halbes Jahrhundert später redeten Ökonomen noch immer über Friedman – doch sehr viel mehr von ihnen waren nun seiner Meinung. Lawrence H. Summers, ein Ökonom aus Harvard, der als leitender Beamter dem Regierungsstab von Clinton und Obama angehörte, schrieb 2006, in seiner Jugend habe Friedman als der Leibhaftige gegolten, aber mittlerweile bewundere er ihn sehr. »Er hat die weltweite Wirtschaftspolitik von heute stärker beeinflusst als jede andere Persönlichkeit unserer Zeit«, schrieb Summers.[48] Andrei Shleifer, ein Kollege aus Harvard, schrieb 2009, die Jahre zwischen 1980 und 2005 seien »das Zeitalter Milton Friedmans« gewesen.[49]

 

Milton Friedmans Eltern stammten beide aus der österreichisch-ungarischen Kleinstadt Beregszász, lernten sich jedoch in Brooklyn kennen, wo Milton am 31. Juli 1912 zur Welt kam. Er wuchs in Rahway, New Jersey, auf, wo die Familie kleine Unternehmen leitete; zu verschiedenen Zeiten, eine Textilfabrik, eine Kurzwarenhandlung und eine Eisdiele. Mit 16 Jahren verließ Milton sein Elternhaus und schrieb sich an der Rutgers University ein, wo er es zum ersten und letzten Mal mit dem Militärdienst zu tun bekam. Damals verlangte die Hochschule die Teilnahme am Reserve Officers’ Training Corps; Milton leistete die zwei Pflichtjahre ab und schied dann aus dem Trainingsprogramm aus.[2] Jahre später schrieb er: »Ich betrachtete das ROTC als eine Last, die mir ohne nennenswerten Nutzen für mich oder das Land aufgebürdet wurde.«[50]

Mit dem Ziel, Versicherungsfachmann zu werden, nahm er ein Mathematikstudium auf. Doch mitten in der Großen Depression beschloss er, Ökonomik sei doch interessanter, und mit Hilfe eines seiner Professoren sicherte er sich einen Platz im Promotionsprogramm an der University of Chicago.[51] Mit ein bisschen Geld in der Tasche zog es ihn 1932 nach Westen – in den Jahren vor dem ersten Examen hatten er und ein Kommilitone vom Dekan der Rutgers University die Erlaubnis erhalten, den Studienanfängern des College weiße Socken und grüne Krawatten zu verkaufen, die dort damals obligatorisch waren.[52]Schon bald erweiterten sie ihr Verkaufsangebot um gebrauchte Lehrbücher, was einen Protest von der Campus-Buchhandlung zur Folge hatte. Zum Glück für Friedman war in der Genehmigung des Dekans nicht allzu genau festgelegt, was sie verkaufen durften.

Dennoch reichte das Geld nicht aus, um Friedman das Promotionsstudium zu finanzieren. Gemeinsam mit seiner späteren Ehefrau, einer Kommilitonin namens Rose Director, die ebenfalls in Chicago in Ökonomik promovierte, zog Friedman 1935 nach Washington, D.C. Dort reihten sie sich in das rasch anwachsende Heer von Ökonomen ein, die von der Bundesregierung zur Verwaltung der New-Deal-Programme eingestellt wurden. »Ironischerweise war der New Deal unser persönlicher Lebensretter«, schrieb Friedman. »Die neuen Regierungsprogramme sorgten besonders in Washington für eine rasante Nachfrage nach Ökonomen. Ohne den New Deal hätten wir höchstwahrscheinlich keine Anstellung als Ökonomen gefunden.«[53]

Rose, die 1910 oder 1911 in Russland geboren worden war, siedelte unmittelbar vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs mit ihrer Familie in die Vereinigten Staaten über. Sie wuchs in Portland, Oregon, auf und schrieb sich am Reed College ein, bevor sie zur University of Chicago wechselte, wo ihr Bruder Aaron Director gerade in Ökonomik promovierte. Er wurde später einer der bedeutendsten und kompromisslosesten Liberalisten seiner Generation. Rose lernte Milton in Professor Jacob Viners Seminar über Wirtschaftstheorie kennen; sie wurden nebeneinandergesetzt, weil Viner seine Studierenden nach ihren Nachnamen platzierte. 1938 heirateten sie. Als Rose ihrem Bruder die Neuigkeiten in einem Brief mitteilte, antwortete Aaron: »Sag ihm, ich werde ihm seine äußerst starken New-Deal-Tendenzen – die, unfreundlich ausgedrückt, autoritär sind – nicht vorhalten.«[54] Es war eine Ökonomen-Ehe. Milton sagte: »Ich erinnere mich an so manch lauschigen Sommerabend, an dem wir vor dem flackernden Feuer saßen und über Konsumdaten und -theorie diskutierten.« Zudem nummerierten die Friedmans häufig genutzte Argumente, weil das effizienter war. Gegen Ende ihres Lebens sagten sie »Nummer 2« statt »Du hattest recht und ich unrecht.«[55] Rose stellte ihre Dissertation nie fertig. Sie wurde Miltons Mitarbeiterin, vor allem in Fragen der öffentlichen Politik, seine Redakteurin, insbesondere von seinen bekanntesten Werken, und seine intellektuelle Instanz. Selbst nach fünfzig Jahren Ehe konnte Rose nach eigenem Bekunden Milton nicht vergeben, dass er Anfang der 1940er Jahre als junger Beamter im Finanzministerium dazu beigetragen hatte, die Machtbefugnisse des Staates auszuweiten, indem er sich die Vorschrift ausgedacht hatte, dass Arbeitgeber beim Ausstellen der Gehaltsschecks die Lohnsteuer abziehen mussten.[56]

Während der Kriegsjahre arbeitete Friedman auch für einen staatlich geförderten Thinktank, der militärische Probleme mit Hilfe von Mathematik anging. Zum Beispiel: Stattete man ein Kampfflugzeug besser mit acht kleinen Maschinengewehren oder vier großen Maschinengewehren aus?[57] Zu Friedmans Projekten gehörte das Testen von Legierungen für die Schaufeln von Triebwerksturbinen. Friedman entdeckte eine Abkürzung: Er wühlte sich durch die Daten, entwickelte eine neue Legierung und bat ein Labor des Massachusetts Institute of Technology, sie zu mischen und zu testen. Nach Friedmans Berechnungen sollte die Schaufel eine Lebensdauer von 200 Stunden haben. Nach zwei Stunden hatte sie ihr Leben ausgehaucht.[58] Wie Friedman später sagte, habe diese Erfahrung seine lebenslange Skepsis gegenüber komplizierten Formeln und Vorhersagen geschürt. Tatsächlich wurden seine Rezepte für die öffentliche Politik maßgeblich durch die Maxime bestimmt, dass Staaten im Dunkeln operierten und es bei den meisten Problemen angeraten sei, nur sehr wenig zu unternehmen und dabei langsam und stetig vorzugehen. Ehrgeizige Interventionen, so Friedman, machten meist alles nur noch schlimmer.[59]

Seiner Skepsis in Bezug auf die Zukunft stand seine zutiefst romantische Sicht auf die Vergangenheit gegenüber; stets verglich er den kranken Zustand der modernen Gesellschaft mit einer früheren Zeit, in der die Menschen nach seiner Vorstellung für sich selbst gesorgt und nach besten Kräften Wohlstand erworben hatten. Die Meritokratie, das Streben nach einer Leistungsgesellschaft, ist eine Idee, die begabte Außenseiter ganz besonders anspricht, und Friedman fasste lieber die Rolle der individuellen Initiative ins Auge als den Kontext staatlicher Förderung. Er feierte Autofahrer und nahm Straßen als selbstverständlich hin.

In seiner ganzen Karriere genoss er die Unterstützung reicher Mäzene, die erpicht auf Intellektuelle waren, welche sich für die Beschränkung der Regierungsmacht einsetzten. Das National Bureau of Economic Research, das seine Dissertation veröffentlichte und später sein höchst einflussreiches Werk über Geldpolitik förderte, war sein erster und wichtigster Schirmherr. Es wurde 1920 mit dem Ziel gegründet, Wirtschaftsdaten zu sammeln und zu publizieren – noch bevor der Staat diese Aufgabe übernahm, mit finanzieller Rückendeckung von den Rockefellers und anderen Ölbaronen. In seiner Dissertation kritisierte Friedman, dass Ärzte eine Lizenz vorweisen mussten; er argumentierte, die Regierung helfe Ärzten, den Wettbewerb auf Kosten ihrer Patienten einzuschränken. Das war harter Tobak für das Bureau. Die Lizenzvergabe galt allgemein als notwendige Form der Qualitätskontrolle, und das Bureau weigerte sich, die Studie zu veröffentlichen, wenn Friedman seine Ausdrucksweise darin nicht zügelte. 1945 erschien sie schließlich und Friedman erhielt seinen Doktortitel.[60]

In jenem Jahr war Friedman für kurze Zeit Gastdozent an der University of Minnesota, wo er sich ein Büro mit einem anderen jungen Professor, George Stigler, teilte. Für die libertäre Foundation for Economic Education verfassten die beiden Männer, die sich als Doktoranden in Chicago kennengelernt hatten, gemeinsam eine Streitschrift über die Mietpreisbindung, der sie den augenzwinkernden Titel Roofs or Ceilings? gaben.[3] Zunächst beschrieben Friedman und Stigler den rasanten Wiederaufbau von San Francisco nach dem Erdbeben von 1906, das einen Großteil der Stadt zerstört hatte. Dann vollzogen sie einen Zeitsprung von 40 Jahren und betonten, San Francisco sei nun erneut auf massive Baumaßnahmen angewiesen, um Wohnraum für die stetig wachsende Bevölkerung zu schaffen. Dieses Mal jedoch stände die Regierung dem im Wege. Sie behaupteten, dass Mietpreisbindungen vom Bau neuer Wohnungen und der Instandhaltung bestehenden Wohnraums abschreckten. Indem man die Gewinne der Vermieter beschneide, so die Autoren, schade der Staat auch den Mietern.[61]

Die Foundation for Economic Education hatte Einwände gegen eine Passage, in der es hieß, die Verringerung wirtschaftlicher Ungleichheit sei ein legitimes Ziel öffentlicher Politik, wenngleich Friedman und Stigler hinzufügten, dass die Mietpreisbindung der falsche Weg zu diesem Ziel sei. Ohne Zustimmung der Autoren fügte die Stiftung eine Fußnote ein, in der die Streitschrift als umso überzeugender dargestellt wurde, weil sie zeige, dass selbst zwei so mitfühlende Menschen wie Friedman und Stigler gegen eine Mietpreisbindung einträten. Ein Branchenverband der Immobilienmakler brachte eine halbe Million Exemplare der Schrift in Umlauf.[62]

 

Als die Streitschrift im Herbst 1946 veröffentlicht wurde, hatte Friedman Minnesota bereits verlassen, um an der University of Chicago Mitglied der ökonomischen Fakultät zu werden. Kurz nach seiner Ankunft, im Frühjahr 1947, reiste er mit Aaron Director und Stigler in die Schweiz – zum ersten Treffen der Mont Pèlerin Society, die der libertäre Ökonom Friedrich Hayek ins Leben gerufen hatte. Die Gruppe sollte die einsamen Jünger des freien Marktes zusammenbringen, die in einem Umfeld nie nachlassender Feindseligkeit für ihre weithin als gefährlich und altmodisch betrachteten Ideen kämpften. 1945 sagte der britische Historiker A.J.P. Taylor als Radio-Kommentator einer Politiksendung der BBC, dass »niemand in Europa an den amerikanischen way of life glaubt – das heißt an den Privatunternehmer, beziehungsweise wer daran glaubt, gehört zu einer besiegten Partei, die ebensowenig eine Zukunft hat wie die englischen Jakobiner nach 1688.«[63] In der ersten Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war es genauso schwierig, US-Amerikaner zu finden, die an den amerikanischen way of life glaubten.

Hayek, der 1899 in Österreich zur Welt kam und dessen Karriere schon vor der Großen Depression begann, war im Glauben an den freien Markt aufgewachsen und fiel nie von ihm ab. In seinem berühmten Buch The Road to Serfdom (Der Weg zur Knechtschaft) von 1944 griff Hayek das interventionistische Lager der Ökonomik an, das man mit John Maynard Keynes in Verbindung brachte. Laut Hayek war der Sozialismus schlecht und die Ausweitung des staatlichen Einflusses auf die Ökonomie ein rutschiger Hang, der in den Sozialismus führen würde.

Hayeks Angriff auf die Logik des Sozialismus war machtvoll und dauerhaft. Er behauptete, in der freien Marktwirtschaft lieferten die Preise viel mehr Informationen, als eine Bürokratie jemals zusammenstellen könne, und Transaktionen auf der Grundlage dieser Preise würden Ressourcen viel effizienter verteilen, als eine Bürokratie es jemals zustande bringen würde. Dagegen war seine These vom rutschigen Hang fehlgeleitete Panikmache: Wie Keynes in einer bissigen Replik bemerkte, erkenne Hayek die Notwendigkeit gewisser staatlicher Funktionen an, könne aber kaum erklären, wo die Grenze zwischen den von ihm präferierten Interventionsformen und denjenigen, die zum Sozialimus führten, liege. In Keynes’ Augen war es für eine Gesellschaft nicht nur möglich, sondern unerlässlich, einen Mittelweg zwischen Märkten und Management zu finden.[4]

Friedman fand Freunde und Erholung bei der Zusammenkunft am Mont Pèlerin, die zu einer alljährlich stattfindenden Einrichtung wurde. Er erinnerte sich: »Es war eine Woche, in der sich so geartete Menschen treffen und austauschen konnten, ohne Angst zu haben, dass ihnen jemand ein Messer in den Rücken rammen würde.«[64]

In einem Artikel von 1951 sagte Friedman voraus, auch die Öffentlichkeit werde schon bald die Geduld mit der Hinwendung der westlichen Welt zum Kollektivismus verlieren, wie er es nannte. Er nahm einen verborgenen Hunger nach Liberalismus wahr, in dem alten Sinne eines Bekenntnisses zu freien Märkten und minimaler staatlicher Einmischung. »Die Bühne ist bereitet für das Erstarken eines neuen Meinungstrends, der den alten verdrängen wird; er verkörpert die Philosophie, die die Gesetzgeber der kommenden Generation leiten wird, auch wenn die derzeitigen wohl nicht mehr empfänglich für sie sind«, schrieb er. »Ideen haben kaum eine Chance, wenn sie gegen starke Flutwellen ankämpfen müssen; ihre Stunde schlägt, wenn die Flut schwächer wird, aber der Gezeitenwechsel noch nicht eingesetzt hat.

Und wenn ich mich nicht irre, ist eine solche Zeit nun gekommen.«[65]

Der Kampf des Walter Oi

Gegen die Wehrpflicht wetterte Friedman zum ersten Mal im Juni 1956, als er am Wabash College im Westen von Indiana einen Vortrag hielt. Er war das Zugpferd eines Sommercamps für junge Professoren, das vom William Volker Fund veranstaltet wurde. Stifter dieser Einrichtung war ein Jalousienhersteller aus Kansas City, der Mitte des 20. Jahrhunderts zu den wichtigsten Sponsoren für die Verbreitung von Ideen der freien Marktwirtschaft in den USA gehörte. Der Vortrag war eine Breitseite gegen die Regierung. Die Kritik an der Wehrpflicht war der 11. Punkt auf einer Liste von 14 verfehlten Maßnahmen öffentlicher Politik, die unter anderem Nationalparks, den Postdienst und den sozialen Wohnungsbau betrafen. Der Staat, so Friedman, »greift weitgehend in die Freiheit der jungen Menschen ein, ihr Leben selbst zu gestalten«.[66]

Rose Friedman nahm diesen Vortrag zusammen mit mehreren anderen auf und machte daraus Miltons erstes Buch, Capitalism and Freedom (Kapitalismus und Freiheit). Mit dessen Publikation im Jahr 1962 etablierte sich Milton als öffentlicher Intellektueller. Es wurde zu einem der bedeutendsten Werke des 20. Jahrhunderts, nicht zuletzt, weil Ronald Reagan zu seiner Anhängerschaft gehörte. Die Tantiemen deckten die Kosten vom Sommersitz der Friedmans in Vermont, den sie »Capitaf« tauften. Zunächst half Capitalism and Freedom jedoch dabei, Friedman mit Senator Barry Goldwater bekannt zu machen.

Goldwater, der republikanische Präsidentschaftskandidat von 1964, war die Beta-Version von Reagan. In einem Sturmlauf gegen die Regierung schlug er vor, der staatlichen Aufsicht über die Energie-, Telefon- und Luftfahrtindustrie ein Ende zu setzen, Steuern zu senken und die Tennessee Valley Authority zu privatisieren, die einen Großteil des amerikanischen Südostens mit billigem Strom versorgte.

Goldwater machte Werbung für Friedmans Buch, was die Verkaufszahlen in die Höhe trieb, und Friedman schrieb einige Passagen der Rede, die Goldwater beim offiziellen Start seines Präsidentschaftswahlkampfes am 3. September 1964 hielt. »Die Republikaner werden die Wehrpflicht ein für alle Mal abschaffen«, sagte Goldwater. »Das verspreche ich Ihnen.«[67] Er war der Meinung, der Militärdienst solle als ganz normale berufliche Laufbahn gelten.

Auf dieses Thema ging Friedman einige Wochen später in einem Artikel für das New York Times Magazine näher ein; der Titel lautete »The Goldwater View of Economics« (»Ökonomik aus der Sicht Goldwaters«).[68] Er stellte die Wehrpflicht als eine Steuer dar: Der Staat beanspruchte die Zeit von Menschen und entschädigte sie dafür unangemessen, was sich darin zeigte, dass sie sich nicht freiwillig gemeldet hatten. In Friedmans Augen war dies das gleiche System der Zwangsarbeit, mit dessen Hilfe die ägyptischen Pharaonen die Pyramiden hatten erbauen lassen und Britannia in dem bekannten patriotischen Lied die Wellen beherrschte – und es war sittenwidrig. 1964 war Friedmans Sohn David 19 Jahre alt geworden, was dem Zorn seines Vaters noch mehr Zündstoff lieferte. »Wie ist zu rechtfertigen, dass wir ihm weniger zahlen als den Betrag, für den er den Dienst freiwillig antreten würde?«, schrieb Friedman ein paar Jahre später in dem Artikel, auf den Anderson und dann Nixon aufmerksam wurde. »Wie ist demnach unfreiwillige Knechtschaft außer in Zeiten größter nationaler Not zu rechtfertigen? Eine der großen Errungenschaften in der Entwicklung der Zivilisation war, dem Adligen oder dem Herrscher die Befugnis zu entziehen, Menschen in die Knechtschaft zu zwingen.«[69]

Friedmans Argumentation hätte Amerikas Gründerväter in Verwirrung gestürzt. Thomas Jefferson schrieb von der »Notwendigkeit, jeden Bürger zum Soldatendienst zu verpflichten; so war es bei den Griechen und Römern und so muss es in jedem freien Staat sein.«[70] Für George Washington gefährdete eine Armee aus Berufssoldaten die Demokratie sehr viel mehr als eine Armee aus Wehrpflichtigen. Der Widerstand gegen die Wehrpflicht war jedoch auch von alters her Tradition. Im englischen Bürgerkrieg des 17. Jahrhunderts verlangten die radikalen Levellers – eine politische Bewegung, die der städtischen Mittelschicht entsprang und eine Republik anstrebte – als eine ihrer zentralen Reformen das Ende der Wehrpflicht. Sie vertraten die Meinung, kein Mann solle zum Kampf gezwungen werden, es sei denn, er sei »überzeugt von der Richtigkeit der Sache, für die er sein Leben aufs Spiel setzt oder möglicherweise das eines anderen auslöscht«.[71]

Selbst unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg fand die Wehrpflicht durchaus nicht nur ungeteilte Unterstützung. Senator Robert A. Taft, Republikaner aus Ohio, hielt 1946 zum Memorial Day eine Rede auf dem Gettysburg National Cemetery und verurteilte die Wehrpflicht als »grundsätzlich totalitär«.[72] Der liberale Ökonom John Kenneth Galbraith trug dazu bei, dass Adlai Stevenson, der Präsidentschaftskandidat der Demokraten von 1956, die Möglichkeit der Abschaffung der Wehrpflicht in Erwägung zog, als er nur wenige Monate nach Friedmans Vortrag am Wabash College eine Rede hielt.[73] Manche witzelten, dies sei das Einzige, worin sich Friedman und Galbraith jemals einig gewesen seien.[5]

Dennoch blieben die Gegner der Wehrpflicht 1964 eindeutig in der Minderheit. Es gab zwar viele, die entsprechende Kampagnen starteten, aber kaum einer war bereit, sie bis zum Ende durchzuziehen. Das Schreckgespenst des Kommunismus lauerte im Hintergrund; das Militär war das Bollwerk der Demokratie, und die Experten waren sich weitgehend einig, dass man auf anderem Wege nicht genug Soldaten rekrutieren könne. Nach Goldwaters Rede rief Präsident Johnson auf Weisung seiner Berater einen Arbeitskreis ins Leben, der den republikanischen Kandidaten erneut als jemanden entlarven sollte, der den Wählern nur das Blaue vom Himmel versprach. Das Ergebnis war einhellig: »Die finanziellen Entschädigungen für Armeeangehörige so stark zu erhöhen, dass eine Berufsarmee entstehen könnte, ist nicht zu rechtfertigen.«[74]

Doch im selben Jahr sang Bob Dylan: »The Times They Are A-Changin’«! Präsident Kennedys berühmter Aufruf aus seiner Antrittsrede von 1961 – »Frag nicht, was dein Land für dich tun kann; frag, was du für dein Land tun kannst« – hallte gerade deshalb noch nach, weil allmählich die entgegengesetzte Tendenz Fuß fasste. Die Menschen neigten immer stärker dazu, die Rechte des Individuums über die Bedürfnisse der Gemeinschaft zu stellen. Die neue Stimmung äußerte sich zunächst in kleinen Kostproben lokaler Renitenz. Anfang der 1960er Jahre setzte Richardson, ein Vorort von Dallas, nach einer Abstimmung durch, für die Milch in den Schulcafeterias sieben Cent zu verlangen, statt staatliche Hilfe anzunehmen und die Milch für zwei Cent zu verkaufen. Der Bürgermeister von Lakeland, Florida, lehnte staatliche Gelder für einen Umbau des städtischen Wassersystems mit folgender Begründung ab: »Es erzeugt Apathie, zerstört Initiative und öffnet einem Angriff auf die Individualrechte Tür und Tor.«[75] Der Meinungsforscher Samuel Lubell, der als einer der Ersten hellhörig wurde, schrieb, die Prioritäten der Amerikaner verlagerten sich »vom Bekommen aufs Behalten.«[76] Nixon gehörte zu den ersten Politikern, die die Tragweite der Entwicklung erfassten, und formulierte Kennedys Aufforderung 1973 in seiner Antrittsrede um. »Jeder von uns sollte sich nicht bloß fragen: ›Was wird der Staat für mich tun?‹, sondern: ›Was kann ich für mich selbst tun?‹«

Weitere Umwälzungen standen bevor. Nach dem Zweiten Weltkrieg widmeten sich die Amerikaner mit Hingabe der Produktion von Nachwuchs; 19 Jahre nach jenem Babyboom, im Jahr 1964, gab es ein Überangebot an wehrfähigen jungen Männern. Von den 1,2 Millionen amerikanischen Männern, die 1938 geboren wurden, dienten 42 Prozent beim Militär. Von den 1,9 Millionen Männern, die 1947 geboren wurden, dienten nur 27 Prozent beim Militär – ungeachtet der Tatsache, dass der Vietnamkrieg eskalierte.[77] Eine der vielen Gruppen, die sich zusammenfanden, um die Wehrpflicht einer Prüfung zu unterziehen, stellte die naheliegende Frage gleich im Titel ihres Berichts: »Who Serves When Not All Serve?« (»Wer leistet den Militärdienst, wenn ihn nicht alle leisten?«)

Für die Antwort darauf waren 1964 noch die lokalen Einberufungsbehörden zuständig. In Wisconsin verzichteten sie häufig darauf, Mechaniker einzuziehen, die Spezialisten für landwirtschaftliche Geräte waren; in Alaska übergingen die Behörden Augenärzte, »weil die Leute dort eine Menge Probleme mit den Augen haben«.[78] Die Selective Service Administration feierte dieses individuelle Vorgehen und brüstete sich etwa damit, dass es die Klassenräume der Nation fülle, indem Männern, die einen Lehrerberuf wählten, eine Zurückstellung angeboten werde.[79] Einige dieser Männer wollten jedoch gar keine Lehrer sein. Zudem schickten die Einberufungsbehörden mit Vorliebe Angehörige von Minderheiten in den Krieg, was vielleicht damit zusammenhing, dass keine einzige Einberufungsbehörde im Staat Mississippi einen Afroamerikaner beschäftigte.

Darüber hinaus machte die Technik sowohl im Krieg als auch in den Fabriken manuelle Tätigkeiten zunehmend überflüssig, und die verbliebene Arbeit erforderte immer häufiger die Bedienung komplizierter Maschinen. Das Militär brauchte gut ausgebildete und erfahrene Leute, keine Wehrpflichtigen, die nach zwei Jahren wieder die Flucht antraten.

Und dann war da noch Vietnam. Am Morgen des 8. März 1965