Die Stunde der Wölfe - Patricia Briggs - E-Book

Die Stunde der Wölfe E-Book

Patricia Briggs

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Beschreibung

Unter den Werwölfen von Aspen herrscht Aufruhr. Als ein Notruf eintrifft, dass einer der Ihren eine Feengeborene angegriffen haben soll, müssen Charles und Anna sofort handeln. Doch was sie am Tatort erwartet, übertrifft ihre schlimmsten Befürchtungen. Je weiter sie ermitteln, umso tiefer geraten sie in den Sog einer bittersüßen Liebesgeschichte voller Magie und Gefahr …

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Seitenzahl: 497

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Das Buch

Die Werwölfe von Aspen Creek sind in Aufruhr: Der Marrok, ihr Anführer und der mächtigste Werwolf der USA ist spurlos verschwunden und hat die Angelegenheiten des Rudels seinem Sohn Charles und dessen Gefährtin Anna übergeben. Und ausgerechnet jetzt erhalten Charles und Anna die Nachricht, dass Hester, eine außerhalb des Rudels lebende Wölfin, angegriffen wurde. Sofort machen sich die beiden auf den Weg zu Hester, können jedoch nichts mehr für sie tun. Eines ist Charles und Anna jedoch klar: ein mächtiger Feind hat das Rudel des Marrok ins Visier genommen. Ein Feind, der sich uralter, schwarzer Hexenmagie bedient …

Die MERCYTHOMPSON-Serie

Erster Roman: Ruf des Mondes

Zweiter Roman: Bann des Blutes

Dritter Roman: Spur der Nacht

Vierter Roman: Zeit der Jäger

Fünfter Roman: Zeichen des Silbers

Sechster Roman: Siegel der Nacht

Siebter Roman: Tanz der Wölfe

Achter Roman: Gefährtin der Dunkelheit

Neunter Roman: Spur des Feuers

Zehnter Roman: Stille der Nacht

Die ALPHA & OMEGA-Serie

Erster Roman: Schatten des Wolfes

Zweiter Roman: Spiel der Wölfe

Dritter Roman: Fluch des Wolfes

Vierter Roman: Im Bann der Wölfe

Fünfter Roman: Die Stunde der Wölfe

Die Autorin

Patricia Briggs, Jahrgang 1965, wuchs in Montana auf und interessiert sich seit ihrer Kindheit für Fantastisches. So studierte sie neben Geschichte auch Deutsch, denn ihre große Liebe gilt Burgen und Märchen. Neben erfolgreichen und preisgekrönten Fantasy-Romanen wie Drachenzauber und Rabenzauber widmet sie sich ihrer Mystery-Saga um Mercy Thompson. Nach mehreren Umzügen lebt die Bestsellerautorin heute gemeinsam mit ihrer Familie in Washington State.

PATRICIA BRIGGS

Ein ALPHA & OMEGA-Roman

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Titel der amerikanischen Originalausgabe

BURN BRIGHT

Deutsche Übersetzung von Vanessa Lamatsch

Deutsche Erstausgabe 12/2018

Redaktion: Anita Hirtreiter

Copyright © 2018 Hurog, Inc.

Copyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe

und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Dirk Schulz, Splitter

unter der Verwendung eines Motivs von Fotolia

by Adobe Stock / Aarrttuurr

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-23154-5V002

www.heyne.de

Für Michael, mein Herz, der mir beigebracht hat,meinen Träumen zu folgen.

Prolog

Eine Geschichte ohne Ende

Es war einmal eine kleine Quelle, die durch die Berührung eines Erdgeistes ein wenig Magie in ihrem kalten reinen Wasser trug. Zwar war es nicht besonders viel, aber dadurch wurde die Welt besser, denn die winzigen Funken davon brachten klitzekleine Stückchen Güte hervor.

Es gibt eine bestimmte Art des Bösen, das keine Freude ertragen kann, selbst wenn es um so bescheidenes Glück geht wie das, was in dieser Quelle lebte.

Ein solches Böses siedelte sich darin an und suchte sich seine Opfer unter denen, die das bisschen Heilung zu schätzen wussten, das der Born bot. Irgendwann gelang es selbst der Erdmagie nicht mehr, das Böse aus dem Wasser zu filtern, und die leichte Magie der Quelle wurde für dunklere Zwecke eingesetzt.

Und so starb ein wenig Freude in der Welt, und das Böse war für eine gewisse Zeit zufrieden.

Dieses Böse bestimmte die jetzt verunreinigte Quelle auf die eine oder andere Weise für sehr lange Zeit. Die Zeiten änderten sich, und das Böse änderte sich mit ihnen; wurde geschickter darin, Beute anzuziehen. Manchmal nährte es sich von Unschuld, manchmal von Magie, manchmal von Schönheit – doch das Böse fand immer Befriedigung darin, der Welt alles Gute zu stehlen, dessen es habhaft werden konnte.

Irgendwann wurde das Böse einer Person gewahr, die versuchte – wie die Quelle es einst getan hatte –, ein wenig Gutes in einer Welt zu tun, die inzwischen dunkel und trostlos war. Das Böse erhielt Kunde von einem Monster, das gegen andere Monster kämpfte, und erachtete es nicht als besseres Mahl als tausend andere derselben Art. Trotzdem konnte es, aufgrund seiner Natur, nicht zulassen, dass so jemand weiterlebte. Es stellte eine Falle, um denjenigen zu fangen, der ein Held war – schließlich war es eine Wonne, dabei zuzusehen, wie ein Held gestürzt wurde. Ebenso stellte es eine Falle, um ein Monster zu fangen, denn sogar das Böse fürchtete sich ein wenig vor so einem.

Derjenige, der die Falle aufstellte, war wahrhaft ein Monster. Derjenige, der in die Falle tappte, war zudem ein Held.

Doch er war auch ein Künstler – und nicht irgendein Künstler. Ein Künstler wie er fand Schönheit und Freude in der Welt und sorgte dafür, dass alle sie sehen konnten. Ein Künstler, der – wie die Quelle es einst getan hatte – ein wenig Magie verteilte und Glück zurückließ, wo vorher keines existiert hatte.

Ein Künstler wie dieser war ein größerer Happen, als das Böse – selbst ein so altes, hinterhältiges Böse wie dieses – mühelos schlucken konnte.

Viel wurde im Kampf verloren, und er kam beide Seiten teuer zu stehen. Soweit bekannt ist, brennt das Feuer dieser Schlacht immer noch.

1

Es war schrecklich. Einfach nur schrecklich.

Er rannte so schnell er konnte, glitt zwischen den Bäumen hindurch. Die Äste und Dornen streckten sich und verlangten alles von ihm ab, um in solcher Geschwindigkeit durch ihr Gebiet zu laufen. Er konnte förmlich fühlen, wie der Boden sein Blut und seinen Schweiß aufnahm – spürte, wie die Scholle sich bei dem Geschmack regte. Gefährlich. Es war nicht klug, die Erde mit seinem Blut zu tränken, wenn er so aufgeregt war.

Fast hätte er seine Schritte verlangsamt.

Niemand jagte ihn.

Niemand wusste auch nur, dass er hier war. Sie hatten die Bäume gesehen, die seinem Willen gehorchten, aber nicht ihn. Die Bäume … Er würde sich vor ihr vielleicht für die Bäume rechtfertigen müssen.

Sie hatte ihn angewiesen wegzulaufen; und er hatte gezögert, um die Bäume zu rufen. So funktionierte ihre Abmachung nicht, doch er konnte nicht einfach zulassen, dass sie entführt wurde – nicht, wenn es in seiner Macht stand, das zu verhindern.

Denk nach, denk nach, denk nach. Die Worte waren seine, allerdings hörte er sie in ihrer Stimme. Sie hatte so hart daran gearbeitet, ihm Regeln aufzuerlegen. Die erste Regel lautete: denk nach.

Lustig, dass alle dachten, sie wäre die Gefahr, sie wäre die Verrückte. Sehr lustig – und seine Lippen verzogen sich zu einem Grinsen, das nur der Wald sehen konnte. Es war nicht Erheiterung, die sein wildes Lächeln auslöste. Er war sich nicht sicher, welches Gefühl dafür verantwortlich war, doch es wurde getrieben von Wut, einem so tief reichenden Zorn, dass die Erde – aufgerüttelt durch sein Blut – sich eifrig hob, um ihm zu Willen zu sein. Die Erde war von allen Elementen am schwersten zu erwecken, allerdings auch dasjenige Element, das sich am meisten nach Gewalttätigkeit verzehrte.

Er könnte einfach umkehren. Zurückgehen und ihnen beibringen, was ihnen dafür zustand, dass sie jemanden angefasst hatten, den er liebte …

Nein.

Erneut erklang ihre Stimme, die voller Macht in seinen Ohren widerhallte. Sie herrschte über ihn, obwohl er so viel älter war, so viel stärker. Doch sie besaß Macht über ihn – eine Macht, die er ihr aus Liebe, aus Verzweiflung, aus Trostlosigkeit geschenkt hatte. Und ihre Abmachung, ihre Gefährtenbindung (erst ihr Wort, dann seines), bestand seit langer Zeit.

Jeder, der sich die Mühe machte, sich umzusehen, würde erkennen können, wie gut sie auf ihn aufpasste – es standen immer noch Bäume auf diesem Berg, und er konnte Vögel davonfliegen hören, die erschraken, als er an ihnen vorbeilief. Wenn die Abmachung versagt hätte, gäbe es weder Bäume noch Vögel. Gar nichts. Seine Macht war alt und hungrig.

Aber ihre Bindung hatte ihm Gleichgewicht geschenkt, ihm Sicherheit gegeben. Seine wunderschöne Werwolf-Gefährtin hatte seine innere Leere mit Liebe bereichert. Und als das nicht gereicht hatte, hatte sie auch Ordnung in sein Chaos gebracht.

Ordnung … dieses Wort … Nein, Disziplin war das Wort, nachdem er so verzweifelt suchte. Sie hatte ihm klare Anweisungen gegeben.

Mit der Eleganz eines Hirsches sprang er über einen umgefallenen Baum.

Ruf den Marrok, hatte sie ihn angewiesen. Und hatte ergänzt: verdammt noch mal jetzt sofort. Das war die richtige Vorgehensweise. Den Marrok rufen und um Hilfe bitten. Doch der Grund für seine Geschwindigkeit – dieses Verdammt noch mal jetzt sofort – hing damit zusammen, dass – wenn er sich erlaubte, langsamer zu werden –, er sich umdrehen würde und …

Der Berghang stöhnte unter seinen Füßen. Ein leises Heben, das nur jemand wie er – oder seine wahre Liebe – spüren würde.

Seine eiligen Schritte … die sich verlangsamt hatten … nahmen wieder an Geschwindigkeit auf. Sie war am Leben, seine Liebe, seine Gefährtin, seine Hüterin. Sie war am Leben, also musste er den Marrok rufen und nicht den Berg heben oder das Wasser rufen.

Nicht heute.

Heute musste er den Marrok rufen und ihm sagen … und die Stimme seiner Gefährtin erklang so deutlich in seinem Kopf, als liefe sie an seiner Seite …

Ich weiß, wer die Verräterin ist…

Charles kippte den Monitor in einen angenehmeren Winkel und verschob die Tastatur, bis sie sich richtig anfühlte.

Er hatte seinem Dad mitgeteilt, dass er das Rudel ganz wunderbar von seinem eigenen Haus aus führen konnte, während Bran unterwegs war. So, wie er es das letzte Dutzend Mal, als der Marrok die Gegend verlassen musste, auch getan hatte. Dieses Mal war allerdings abzusehen gewesen, dass es eine Weile dauern würde; und sein Vater hatte betont, wie wichtig es war, sich dem Rhythmus des Rudels anzupassen.

Es war nicht so, als hätte er die Argumente seines Dads nicht nachvollziehen können – einige der uralten Wölfe unter der Kontrolle seines Vaters standen Veränderungen nicht gerade flexibel gegenüber –, aber dafür Verständnis zu zeigen, machte es ihm auch nicht leichter, im Büro seines Dads, in dessen persönlichem Revier, zu funktionieren.

Charles konnte nicht im Büro arbeiten, ohne es zu seinem eigenen zu machen – und würde das nicht für Aufregung sorgen, wenn sein Vater zurückkam und alles rückgängig machen musste? Aber Bran würde ihn verstehen, so wie ein dominanter Wolf den anderen verstand.

Charles musste einräumen – wenn er es auch nur sich selbst gegenüber eingestand –, dass er die Mahagoni-Bücherregale bloß deswegen auf die andere Seite des Raums geschoben und die Bücher lediglich aus dem Grund alphabetisch nach Autor statt nach Thema geordnet hatte, um Bran zu nerven. Anna, so vermutete er, war immer noch die Einzige überhaupt, die ehrlich davon überzeugt war, er hätte Sinn für Humor. Also war er sich ziemlich sicher, seinen Dad davon überzeugen zu können, dass die Umorganisation einfach nötig gewesen war.

Charles hatte die Bücherregale erst verschoben, nachdem Bran ihn heute Morgen angerufen hatte – nicht ganz einen Monat, nachdem er das Rudel in Charles’ Obhut übergeben hatte –, um ihn wissen zu lassen, dass die ursprüngliche Aufgabe abgeschlossen war und er entschieden hatte, noch eine weitere Woche zu verreisen.

Charles konnte sich nicht erinnern, wann Bran sich das letzte Mal eine Auszeit von seinen Pflichten genommen hatte. Er war sich nicht einmal bewusst gewesen, dass sein Dad überhaupt fähig dazu war. Doch wenn Charles sein Leben neu ordnen musste, dann fühlte er sich auch berechtigt, ein paar Veränderungen vorzunehmen, die es ihm erleichterten, damit umzugehen. Und so hatte er das Büro seines Dads nach seinen Vorlieben umgestaltet.

Trotzdem brauchte Charles länger als normal, um sich in seine Arbeit zu vertiefen, weil sich sein Wolf in der Machtzentrale seines Dads ruhelos fühlte. Irgendwann wurde die diffizile Jagd, die da internationale Finanzanlage hieß, interessant genug, dass Bruder Wolf sich ablenken ließ.

Es war ein kompliziertes Unterfangen, auf dieser Ebene mit Geld zu spielen. Der Kampf gefiel Bruder Wolf, umso mehr, als er gut darin war. Bruder Wolf neigte zu Eitelkeit.

Irgendwann, angelockt von der subtilen Pirsch auf Hinweise in den elektronischen Daten auf dem Bildschirm, versank er in dem, was seine Gefährtin »Finanztrance« nannte, auf der Jagd nach vagen Gerüchten; Aktien, deren Wert scheinbar ohne Grund stieg; einer neuen Firma, die sich um Finanzierung bemühte, aber irgendetwas nicht preisgab. Charles konnte nicht erkennen, ob dieses Unternehmen etwas Gutes oder Schlechtes verheimlichte. Er recherchierte gerade die Vorgeschichte eines Ingenieurs, der für seinen Posten ein astronomisch hohes Gehalt erhielt, als er von dem Geräusch einer Tür, die gegen die Wand knallte, gestört wurde.

Er sah auf. Aufgrund der Unterbrechung seiner Jagd war Bruder Wolf dicht unter der Oberfläche. Dass es die Gefährtin seines Dads war, die ohne Erlaubnis in (jetzt) sein Revier gestürmt war, verbesserte seine Laune kein bisschen.

»Du musst etwas wegen deiner Frau unternehmen«, verkündete Leah. Sie achtete nicht auf das unwillkürliche Knurren, mit dem er auf ihren Tonfall reagierte. Wenn sie über Anna sprach, sollte sie das lieber mit sanfter Stimme tun.

Charles mochte Leah nicht. Es gab eine Menge Leute in der Welt, die er nicht mochte – die meisten sogar. Doch Leah hatte es ihm sehr leicht gemacht, sie nicht zu mögen.

Als sein Vater sie mit sich nach Hause gebracht hatte, war Charles noch ein wildes Kind gewesen, fühlte sich einsam und verloren. Sein Dad hatte seinen viel älteren Bruder, Samuel, mitgenommen und war immer wieder monatelang am Stück verschwunden. Halb verrückt vor Trauer über den Tod von Charles’ Mutter, wäre Bran wahrscheinlich sogar, wenn er zu Hause war, kaum geeignet gewesen, um ein Kind aufzuziehen.

Charles’ Onkel und sein Großvater hatten ihr Bestes gegeben, aber Bruder Wolf war nicht immer bereit gewesen, sich so sehr nach Menschenstandards zu richten, wie er es heute tat. Als Werwolfkind, geboren statt erschaffen, war Charles soweit er wusste einzigartig; niemand – und sicherlich nicht das Volk seiner Mutter – hatte irgendwelche Erfahrung im Umgang mit so jemandem.

Wann immer Bran verschwunden war, hatte Charles die meiste Zeit damit verbracht, auf vier Pfoten durch die Wälder zu streifen, wobei er mühelos den menschlichen Erwachsenen auswich, die damit beauftragt waren, ihn großzuziehen. Er war wild und undiszipliniert gewesen, sodass es Charles nicht schwerfiel zuzugeben, dass er als Zehnjähriger kaum ein Stiefsohn gewesen war, den die meisten Frauen sich gewünscht hätten.

Trotzdem: Er hatte sich nach Aufmerksamkeit gesehnt, und Leahs Existenz hatte die regelmäßige Gegenwart seines Vaters bedeutet. Hätte Leah sich nur ein kleines bisschen bemüht, hätte sein jüngeres Selbst sie verehrt. Aber eines musste man Leah lassen: Sie war absolut ehrlich. Die meisten Werwölfe waren das aus reiner Gewohnheit – was für einen Sinn hat es schließlich zu lügen, wenn die Leute das sofort erkennen? Doch Leah war grundehrlich.

Das war wahrscheinlich die Eigenschaft, die es Brans Wolf erlaubt hatte, sie zur Gefährtin zu erwählen. Charles konnte durchaus sehen, was er an ihr anziehend fand – aber bei einem eigentlich kleinlichen, fiesen Charakter wäre es vielleicht trotzdem besser, zu schweigen und das zu verbergen, Ehrlichkeit hin oder her. Auf jeden Fall besser, als es offen auszuleben, sodass jeder es sehen konnte. Das Ergebnis von Leahs Verhalten war eine gegenseitige Abneigung, die sich überwiegend innerhalb höflicher Grenzen hielt.

Charles achtete sie als die Ehefrau seines Dads und die Gefährtin seines Alphas. Ihre Höflichkeit ihm gegenüber war spröde und resultierte aus ihrer Angst vor Bruder Wolf, die sie manchmal aber auch schnippisch und dumm machte, da sie eine dominante Wölfin war.

Bruder Wolf zügelte sein Temperament schneller als Charles. Er erklärte Charles, dass Leahs Unhöflichkeit daher rührte, dass sie aufgewühlt und ein wenig verängstigt war. Bruder Wolf mochte Leah ebenfalls nicht, aber er respektierte sie mehr, als Charles es tat.

Bis auf sein Knurren reagierte er nicht sofort auf ihre Forderungen (er weigerte sich, sie als Befehle zu sehen, sonst hätte er etwas unternehmen müssen, was ihr sicherlich nicht gefallen hätte). Stattdessen hob er eine Hand, um Schweigen einzufordern.

Als sie ihm den Gefallen tat, schrieb er ein paar Stichpunkte über den verdächtigen Ingenieur nieder, denen er später auf den Grund gehen wollte, und markierte noch ein paar andere Spuren, denen er gefolgt war. Er schloss ein paar Dinge ab, dann zog er sich so schnell und gründlich wie möglich aus dem Cyberspace zurück. Leah wartete mit wachsender, aber stiller Empörung.

Sobald Charles alles organisiert hatte, sah er vom Bildschirm auf, verschränkte die Arme vor der Brust und fragte, seiner Meinung nach mit ruhiger Stimme: »Was denkst du soll ich in Bezug auf meine Ehefrau unternehmen?«

Anscheinend war seine Reaktion nicht das, was Leah sich gewünscht hatte, weil ihre Lippen noch dünner wurden und sie knurrend hervorstieß: »Sie scheint zu glauben, dass sie hier das Sagen hat. Dass du hier vorübergehend das Kommando übernommen hast, gibt ihr aber noch lange nicht das Recht, mir Befehle zu erteilen.«

Was eigentlich gar nicht zum Charakter seiner Frau passte.

Oh, Annas Missachtung jeder Rudel-Hierarchie, ob nun im herkömmlichen Sinn oder in anderer Hinsicht, war typisch für seine Gefährtin. Anna, dachte Charles voller Zuneigung, würde Traditionen nicht erkennen, wenn sie sie ins Ohr bissen. Seine Anna hatte sich ihren eigenen, undefinierbaren Platz in der Rudel-Hierarchie geschaffen – überwiegend, indem sie jegliche Traditionen einfach komplett ignorierte. Das allerdings machte sie noch nicht unhöflich.

Es war noch nie etwas Gutes dabei herausgekommen, wenn er seine Nase in Angelegenheiten steckte, die nichts mit ihm zu tun hatten.

»Anna ist eine Omega. Sie muss dem Marrok nicht gehorchen«, erklärte er Leah. »Ich verstehe nicht, wieso du davon ausgehst, dass sie mir gehorchen würde.«

Leah öffnete den Mund. Schloss ihn wieder. Knurrte genervt und stampfte davon.

Für ein Gespräch mit seiner Stiefmutter war das im Großen und Ganzen ganz gut gelaufen. Besonders gefallen hatte ihm, dass sie sich nur kurz begegnet waren.

Einer der Gründe, warum er sich gegen die Vorstellung gewehrt hatte, in Brans Heim einzuziehen, während der Marrok unterwegs war, war, dass Leah sich darin aufhielt und ihn ständig belästigen würde. Charles hielt kurz inne, um darüber nachzudenken. Denn eigentlich hatte sie das gerade eben zum ersten Mal getan. Sie hatte ihn vorher noch nicht bei der Arbeit unterbrochen. Noch während er wieder anfing, sich mit den Zahlen auf dem Bildschirm vor ihm zu beschäftigen, fragte er sich, was sein Dad wohl zu Leah gesagt hatte, um sie von ihm fernzuhalten.

Doch bevor er wieder in die Welt der Hochfinanz eintauchen konnte, klingelte Brans Telefon.

»Charles hier«, sagte er geistesabwesend – solange er nicht mit Leah sprach, konnte er gleichzeitig arbeiten und reden.

Es folgte ein langes Schweigen, auch wenn er jemanden angestrengt atmen hören konnte. Das war ungewöhnlich genug, dass Charles den Artikel über die aufsteigende Technikfirma ignorierte und sich ganz auf den Anruf konzentrierte.

»Hier ist Charles«, wiederholte er. »Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Okay«, sagte die Stimme eines Mannes schließlich. »Okay. Brans Sohn. Ich erinnere mich. Ist Bran da? Ich muss mit dem Marrok sprechen.«

»Bran ist unterwegs«, erklärte ihm Charles. »Solange er nicht in der Stadt ist, habe ich das Sagen. Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Bran ist unterwegs«, wiederholte die männliche Stimme. Charles kannte sie nicht, doch der Akzent war keltisch. »Charles.« Er hielt inne. »Ich … Wir brauchen dich hier oben. Es gab einen Vorfall.« Und dann legte der Anrufer auf, ohne seinen Namen zu nennen oder genau zu erklären, wo »hier oben« genau sein sollte. Als Charles versuchte zurückzurufen, hob niemand ab. Charles schrieb die Nummer auf und verließ das Büro, auf der Suche nach seiner Stiefmutter.

Er hatte die Stimme nicht erkannt. Und wäre es eines der Rudelmitglieder gewesen, das in Schwierigkeiten steckte, hätte er es gefühlt. Aber es lebte noch eine andere Gruppe von Wölfen in Aspen Creek, Montana, die nicht Teil des Rudels des Marrok waren: die Wölfe, die Bran für zu beschädigt oder zu gefährlich hielt, um als Teil des Rudels zu funktionieren – selbst im Aspen-Creek-Rudel, das voll war von beschädigten und gefährlichen Wölfen.

Diese Wölfe gehörten überwiegend allein zum Marrok. Nicht als separates Rudel – nicht wirklich –, sondern durch Fleisch und Blut gebunden an den Willen und die Magie des Marrok. »Wildlinge«, nannte Bran sie. Einige im Rudel bezeichneten sie mit sehr viel weniger schmeichelhaften – und wahrscheinlich treffenderen – Begriffen, doch niemand nannte sie je in Hörweite von Charles’ Vater die Wandelnden Toten.

Die Wildlinge lebten in den Bergen, entfernt von allen anderen. Ihre Häuser und ihr Gebiet wurden vom Rudel beschützt, weil es im Interesse aller war, ihnen nicht das bisschen Frieden zu rauben, das sie finden konnten.

Bran hatte ihm die übliche Liste von Namen und eine Lagekarte gegeben. Charles hatte die meisten der Wildlinge schon getroffen, aber es gab zwei Wölfe, die er nur vom Hörensagen kannte. Die Wildlinge waren – überwiegend – gleichzeitig gefährlich und zerbrechlich. Bran erlaubte niemandem leichtfertig, mit ihnen zu interagieren.

Auf der Liste standen keine Telefonnummern.

Er fand Leah zusammen mit Anna in der Küche aus Kirschholz und Edelstahl vor. Anna stand mit dem Rücken zu Leah, deren Gesicht gerötet war. Seine Anna rührte einen Teig – er roch Schokolade und Orange – und beachtete die Gefährtin des Marrok nicht im Geringsten. Er erkannte sofort Annas Taktik, mit Leuten umzugehen, die sie für zu unvernünftig hielt, um mit ihnen zu diskutieren. Schließlich war es oft genug er selbst, der so behandelt wurde.

Leah war groß, selbst für die heutige Zeit, in der Frauen häufiger über einen Meter fünfundsiebzig waren. Sie war mehrere Jahrzehnte älter als Charles. Im achtzehnten Jahrhundert – der Zeit, in der sie geboren war – hätte sie gewirkt wie eine riesige nordische Göttin. Ihr natürlicher Körperbau war athletisch, was noch verstärkt wurde von einem Leben, in dem sie viel Zeit damit verbrachte, durch den Wald zu laufen. Ihre Gesichtszüge waren gleichmäßig, mit großen blauen Augen von der Farbe eines Bergsees zur Mittagszeit.

Seine Anna war, wie sie selbst so gerne sagte, der Durchschnitt vom Durchschnitt. Durchschnittlich groß, durchschnittlich gebaut, durchschnittlich attraktiv. Ihr lockiges Haar war ein wenig dunkler und einen Hauch röter als Leahs dunkles Blond. Anna betrachtete ihr Haar als das Schönste an sich. Charles liebte ihre Sommersprossen und die warmen braunen Augen, die in Blau umschlugen, wenn ihre Wölfin an die Oberfläche drängte.

Objektiv gesehen war Leah schöner. Aber seine Anna war auf eine Weise real, die nur für wenige Leute galt. Er hatte einmal versucht, diese Eigenschaft seinem Dad zu erklären, doch der hatte irgendwann den Kopf geschüttelt und gesagt: »Sohn, ich glaube, das ist eines dieser Dinge, das deine Mutter mühelos verstanden hätte, sich mir aber niemals erschließen wird.«

Anna agierte zu jeder Zeit, als hätte sie instinktiv dieselbe Sicht auf die Welt wie sein Großvater mütterlicherseits: dass alles in der Welt Teil eines großen Ganzen war; dass einem Ding Schaden zuzufügen bedeutete, die Gesamtheit zu schädigen. Sie spürte eine tiefe Verbindung zu der Welt um sich herum, während die meisten Leute versuchten, um der Sicherheit willen so wenig Kontakt wie möglich aufzunehmen. In seinen Augen war Anna die mutigste Person, die er kannte.

Er wusste, dass viele Leah als die schönere der beiden Frauen bezeichnen würden. Er verstand sogar, warum. Aber für ihn war Anna …

Unser, sagte Bruder Wolf. Sie ist perfekt, unsere Seelenverwandte, unser Anker, der Grund unserer Existenz. Wir sind geschaffen worden, um ihr zu gehören. Aber wir müssen uns jetzt um andere Dinge kümmern.

Er wusste nicht, wie lange die zwei Frauen sich bereits anschwiegen – es war nicht allzu lange her, dass Leah aus seinem Büro gestürmt war. Dem Büro seines Vaters.

»Leah«, sagte er, weil ihm die Zeit fehlte, in den Sumpf der Probleme zwischen den zwei Frauen zu waten, selbst wenn er dumm genug gewesen wäre, das zu tun, »ich habe gerade einen verzweifelten Anruf von einem der Wildlinge erhalten, glaube ich. Kennst du diese Telefonnummer?«

Er hielt ihr den Zettel hin.

Jetzt präsentierte Leah eine ihrer besten Eigenschaften. Sie schob den Streit, der zwischen Anna und ihr schwelte, mühelos beiseite und ergriff das Papier, das er ihr reichte. Sie stellte ihre persönlichen Probleme, ohne zu zögern, hintenan, wenn die Pflicht rief.

»Hester und Jonesy«, sagte sie sofort. »Sie leben oben bei Arsonist Creek, ungefähr dreißig Kilometer entfernt. Was haben sie gesagt?«

Und deswegen hatte er die Stimme nicht erkannt. Jonesy sprach nur sehr selten, wenn seine Gefährtin anwesend war, um das zu übernehmen. Hester … Hester war alt. Sie fiel in die Kategorie von alt, in der weder sie selbst noch jemand anders wirklich wusste, wie alt genau.

»Jonesy hat mich angerufen«, erklärte Charles. »Er hat gesagt, es hat einen Vorfall gegeben. Er will, dass ich zu ihnen komme.«

»Es hat einen Vorfall gegeben?« Leah runzelte die Stirn. Sie sah kurz über die Schulter zu Charles’ Gefährtin, dann vertieften sich die Falten auf ihrer Stirn noch einmal. »Selbst für Bran ist es nicht einfach, mit Hester umzugehen. Als er sie das letzte Mal besucht hat – letzten Herbst –, war sie bei Sinnen und schien es zu genießen, mit ihm zu singen. Aber später hat sie ihn ein gutes Stück Richtung Straße verfolgt und er musste Jonesy anrufen, um sie wieder nach Hause zu locken. Wenn es einen Vorfall gegeben hat, wäre eine Omega-Wölfin vielleicht in jeder Hinsicht eine gute Idee.«

Auch Charles runzelte die Stirn. »Eine Omega-Wölfin ist nicht immer eine gute Idee, wenn es um die Wildlinge geht.«

Ursprünglich hatte Bran gehofft, dass Anna vielleicht etwas für seine Wildlinge tun könnte. Und einigen von ihnen hatte sie auch geholfen. Doch eine ausgesprochene Katastrophe – die damit geendet hatte, dass ein Wildling starb und drei aus dem Rudel geschädigt wurden – hatte sie Vorsicht gelehrt. Dass bereits ein Todesurteil über diesen speziellen Wildling ausgesprochen worden war, bevor Anna versucht hatte, ihm zu helfen, hatte nicht verhindert, dass sie sich schrecklich fühlte.

Charles verspürte keinerlei Wunsch, Anna noch einmal einem solchen Trauma auszusetzen. Sein Dad und er hatten deswegen in letzter Zeit einige hitzige Debatten geführt – Diskussionen, die sie beide sorgfältig vor Anna geheim gehalten hatten.

»Verfolgt?«, fragte Anna, als sie nach einem Löffel griff und ihn in ihrer Schüssel versenkte.

Leah nickte. Solange es um ein wichtiges Thema ging, blieb ihre Stimme ruhig und professionell. »Sie hat Wolfsgestalt angenommen und Bran verfolgt, als wäre er Beute. Er meinte, er wäre sich nicht sicher, ob er nicht hätte zulassen sollen, dass sie ihn einholt.« Leahs knappe Erklärung ging nicht darauf ein, was das bedeutet hätte: Hesters Tod. »Dabei war sie vorher zwei Tage lang bei sich – und auch Jonesy wirkte stabil. Bran ging davon aus, dass es vielleicht die Anwesenheit eines dominanten Wolfes in ihrem Revier war, die sie aufgewühlt hat … also hat er es durchgehen lassen.«

Leah schürzte die Lippen, dann sagte sie: »Du bist nicht dein Vater. Hester könnte nicht bereit sein, dich allein in ihre Nähe zu lassen. Wenn du Hester nicht ausschalten willst, solltest du Anna mitnehmen.« Sie erkannte, dass Charles zögerte. »Anders als der Wildling, der so schlecht auf Anna reagiert hat, besitzt Hester eine starke Persönlichkeit. Das Problem ist ihre Wölfin – nicht ihre menschliche Hälfte.« Als sie seine Miene sah, lachte sie bissig. »Du kannst deinen Dad fragen. Das war seine Einschätzung.«

»Ich kann das hier in den Kühlschrank stellen«, sagte Anna knapp und verhinderte damit, dass Leah einen Streit vom Zaun brach. »Oder jemand anders kann das tun. Wie eilig haben wir es?«

Das Problem mit dem Wildling, bei dem Annas Hilfeversuch solch katastrophale Folgen gehabt hatte, war, dass der Wolf des Wildlings der geistig Gesündere gewesen war. Als Anna ihn beruhigt hatte, war nur ein wahnsinniger Mensch zurückgeblieben – der immer noch die Reißzähne und die Stärke eines Werwolfs besaß.

»Ich will nicht bummeln«, sagte Charles und gab damit nach. »Aber jeder Notfall wird vorbei sein, bevor wir dort ankommen. Wie Leah schon sagte: Hesters Hütte liegt ungefähr dreißig Kilometer entfernt – und der Weg führt zum Großteil über Waldwege.«

»Okay«, sagte Anna, nahm den Löffel, mit dem sie ihren Teig rührte, und befüllte ihn mit einem Klecks, um ihn Charles zum Kosten zu reichen. Mit der anderen Hand griff sie bereits nach der Klarsichtfolie.

»Das ist Mercys Rezept.« Die Bewegungen, mit denen Anna die Schüssel abdeckte, straften ihren entspannten Tonfall Lügen. »Ich habe auch ein wenig Orangenschale mit hineingetan. Was denkst du?«

Vielschichtiger bitterer Schokogeschmack dominierte in der Mischung aus Zucker, Butter und Orangen – ein Brownie-Teig, nahm er an, aber es konnte auch sein, dass sie Cookies daraus machte. Seine Ziehschwester Mercy hatte immer ein besonderes Talent dafür gehabt, köstliche Dinge mit Schokolade zu backen. Ebenso wie die Gabe, Leah vollkommen in den Wahnsinn zu treiben.

Seine Anna musste wirklich sauer auf Leah sein, wenn sie so weit ging, Mercy zu erwähnen. Charles brummte nur und steckte den Löffel, jetzt ohne Teig daran, in die Spülmaschine.

Anna konnte sein Brummen mühelos deuten. »Gut.« Sie stellte die Schüssel in den Kühlschrank und schaltete den Ofen aus. »Ich bin bereit, wenn du es bist.«

Leah hatte Annas Vorstellung mit zusammengekniffenen Augen beobachtet, doch als sie sprach, sagte sie bloß: »Hester ist alt genug, dass ein Geschenk sie dazu bringen sollte, euch wie Gäste statt wie Eindringlinge zu behandeln. Bran hat gewöhnlich Obst mit dabei … weil das die eine Sache ist, die sie nicht selbst anbauen oder jagen können. Gib mir eine Minute, dann stelle ich einen Korb zusammen.«

Mit schnellen Schritten verließ sie den Raum, wahrscheinlich, um einen Korb zu holen, nachdem in der Küche genug Obst herumlag.

Charles kannte Leah gut genug, um zu wissen, dass die Sache mit Anna noch nicht zu Ende war – was auch immer Anna getan haben mochte, um ihren Zorn zu erregen. Leah gab keinen Kampf auf – aber sie würde ihn verschieben, bis die Situation mit Hester geklärt war.

Charles musterte seine Gefährtin. Für den ungeschulten Blick wirkte sie entspannt und ruhig.

Aber seiner war nicht ungeschult. Er murmelte: »Ärger?«

Seine Gefährtin lehnte sich gegen die Granit-Arbeitsfläche und seufzte theatralisch, wenn auch nur halb gespielt. Dann richtete sie sich wieder auf und schüttelte den Kopf. »Es ist schwer für sie, uns hierzuhaben. Sie hat keine Ahnung, wie sie damit umgehen soll, dass ich in ihr Heim eingedrungen bin. Sie findet das unglaublich frustrierend. Und du bist auch keine große Hilfe.«

Charles zog die Augenbrauen hoch.

Trotz ihrer Anspannung lachte sie. »Es ist nicht deine Schuld. Du machst nichts falsch, außer Charlesheit auszustrahlen, aber das reicht schon, um sie nerven.«

Er wusste nicht, was Anna mit »Charlesheit« meinte – er war, wer er eben war. Dagegen konnte er nichts machen. Doch es stand außer Zweifel, dass seine Gegenwart Auswirkungen auf Leah hatte.

»Das hier scheint mir ein spezielleres Problem zu sein«, meinte er.

»Ja«, stimmte Anna ihm zu. »Tag hat vorbeigeschaut, während du in Brans Büro mit Nashörnern gerungen hast.«

»Ich habe Bücherregale verschoben«, sagte er. »Es waren keinerlei afrikanische Tiere beteiligt.«

Sie grinste ihn kurz an. »Für mich klang es nach Nashorn-Ringkampf – komplett mit animalischem Grunzen und Brüllen. Auf jeden Fall hat er vorbeigeschaut – anscheinend, um uns mitzuteilen, dass er sich langweilt.« Sie zögerte. »Er kam, als Leah und ich gerade eine Diskussion führten. Ich glaube, er hatte eigentlich etwas anderes zu sagen, aber wir haben ihn abgelenkt.«

Anna war eine Omega-Wölfin. Das bedeutete, dass jeder dominante Wolf den Drang verspürte, für ihre Sicherheit zu sorgen – was auch der Grund war, wieso Leah der Meinung war, sie könnte bei Hester helfen. Wenn Tag den Raum betreten hatte, als Anna und Leah gerade eine hitzige Diskussion geführt hatten … ja, der große keltische Werwolf hätte sein Möglichstes getan, um dieses Streitgespräch zu unterbrechen.

»Tag hat vorgeschlagen, wir sollten die Musikabende des Marrok wieder aufleben lassen«, erklärte ihm Anna. »Anscheinend waren sie fester Teil des Gemeinschaftslebens, bevor der Marrok vor ein paar Jahren zugelassen hat, dass sie auslaufen.«

»Vor fast zwanzig Jahren«, sagte Charles, mehr als nur ein wenig vor den Kopf gestoßen. Was hatte diesen Gedanken in Tags Kopf gesetzt? Es gab doch sicherlich Dinge, die einem eher einfielen, wenn man in einen Streit zwischen zwei Frauen geriet, als Geschehnisse, die unter zwei Jahrzehnten Staub lagen. »Das sind mehr als bloß ein paar Jahre.«

»Zwanzig?« Anna runzelte die Stirn. »Bei Tag klang das anders.«

»Ich würde mich nicht allzu sehr auf Tags Zeitgefühl verlassen«, erklärte Charles ihr trocken. »Frag ihn mal nach Waterloo. Er redet darüber, als wäre es keine Woche her.«

Sie grinste. »Nur, wenn du diesmal derjenige bist, der ihm mitteilt, dass die Franzosen die Schlacht verloren haben. Ich werde mit Popcorn vom Rand aus zuschauen.«

Tags richtiger Name lautete Colin Taggart. Er bezeichnete sich je nach Datum und dem Akzent, in dem er gerade sprach, als Iren, Waliser oder Schotte. Er hatte in den napoleonischen Kriegen für den kleinen General gekämpft und hegte immer noch einen ziemlichen Groll gegen »die Engländer«.

»Auf jeden Fall«, sagte Anna mit einem Blick zur Tür, durch die Leah verschwunden war. »Ich fand, es wäre vielleicht keine gute Idee, große Veränderungen anzustoßen, solange Bran nicht da ist. Leah ist da allerdings anderer Meinung.«

Charles blinzelte. Es sah seiner Anna gar nicht ähnlich, so unvorsichtig zu sein. Und Leah besaß keinen Funken musikalisches Talent. Nachdem sie sich für nichts interessierte, bei dem sie nicht im Mittelpunkt stand, hatte sie das Ende der Musikabende mehr begrüßt als alle anderen.

»Leah findet, es würde dem Rudel guttun, wenn es abgesehen von der Vollmond-Jagd noch eine Art gesellschaftliche Zusammenkunft gäbe«, sagte Leah mit einer gewissen Schärfe in der Stimme, als sie wieder aus den Tiefen des Hauses auftauchte. Sie hatte einen Korb in der Hand.

»Und Anna findet, das Rudel wird nicht in Verzweiflung und Langeweile verfallen, wenn wir warten, bis Bran zurückkehrt«, sagte Anna in dem gleichen Tonfall, den Charles’ Dad gerne bei seinen aufsässigen Söhnen einsetzte. »Sie findet außerdem, dass es absurd ist, über sich selbst in der dritten Person zu sprechen.«

Charles unterdrückte ein Grinsen. Aus irgendeinem Grund ging er nicht davon aus, dass ein Lächeln die Situation verbessern würde, besonders, weil er an Leahs verkniffener Miene ablesen konnte, dass auch sie den Tonfall erkannte.

Leah zog eine Grimasse, verkniff sich aber jeden weiteren Kommentar. Dann füllte sie den Korb mit Äpfeln, Pfirsichen und Bananen. Unter ihren geschickten Händen bekam der Haufen ein fast kunstvolles Aussehen.

»Hier«, sagte sie zu Charles und reichte ihm den Korb. »Ich hoffe, das hilft.« Trotz ihres scharfen Tons log sie nicht.

Charles nickte ernst. »Vielen Dank.«

»Ich verstehe diese Frau einfach nicht«, sagte Anna, als sie auf den Fahrersitz seines alten Trucks kletterte. Sie hatte es endlich aufgegeben, Charles zu fragen, ob er selbst fahren wollte – außer es gab gute Gründe, warum sie nicht fahren wollte oder er fahren sollte. »Wieso ist für sie immer alles ein Kampf?«

Charles brummte. Anscheinend hatte sie vor, jetzt bei ihm Dampf abzulassen. Das war okay. Er hatte breite Schultern. Es gefiel ihm, dass sie ihm ihre Geheimnisse anvertraute – selbst wenn es dabei nur darum ging, wie frustrierend sie Leah fand. Eigentlich kein großes Geheimnis, aber ihn hatte sie eingeweiht.

Anna sah ihn stirnrunzelnd an, bevor sie den Truck vorsichtig rückwärts aus der Einfahrt manövrierte. Sie fuhr wie eine alte Großmutter. Charles fand das entzückend. Genau wie ihr Stirnrunzeln.

»Haben wir es nicht eilig?«, fragte sie. »Solltest nicht besser du fahren?«

»Was auch immer geschehen ist, es ist bereits geschehen«, sagte Charles. »Wir sollten keine Zeit verschwenden, aber ich denke nicht, dass zehn Minuten hin oder her einen großen Unterschied machen werden.«

»In Ordnung«, entgegnete sie. »Fahre ich in die richtige Richtung? Ich habe mich so über Leah aufgeregt, dass ich nicht nachgefragt habe. Ich weiß nicht, wo der Arsonist Creek liegt. Wieso weiß ich das eigentlich nicht?«

»Das ist der richtige Weg«, sagte er. »Und das Gebiet des Rudels ist durchzogen von kleinen Flüssen, Bächen und Pfützen. Du musst nicht alle kennen – besonders, nachdem der Arsonist Creek in dem Teil unseres Reviers liegt, das wir den Wildlingen überlassen haben.«

»Okay«, sagte sie, um dann zu verstummen. Er vermutete, dass sie versuchte, ihren Ärger wegen Leah zurückzuhalten. Anna kochte noch ein wenig vor sich hin, ehe sie ihren ganzen Frust schließlich abreagierte.

»Es ist eine gute Idee«, erklärte sie ihm. »Tag sollte sagen können: ›Hey, lasst uns das machen.‹ Und Leah sollte sagen: ›Hey, das ist eine erstaunlich gute Idee, lass es uns so machen, wie du es vorgeschlagen hast.‹ Und dann wäre alles wunderbar. Stattdessen habe ich den Fehler gemacht anzumerken, dass das lustig klingt, und schon kam von ihr nur noch: ›Wir sollten warten, bis Bran nach Hause kommt‹.«

Also hatte seine kluge Wölfin die Seite gewechselt, dachte er. Er hatte das schon öfter beobachtet. Manchmal sogar bei ihm. Anna hatte wahrscheinlich alle von Leahs Gegenargumenten angeführt, bis seiner Stiefmutter keine andere Wahl blieb, als genau dorthin zu springen, wo Anna sie haben wollte. Wäre Leah klüger gewesen … doch das war sie nicht. Wie sein Dad ihm einmal erklärt hatte, war es nicht fair, ihr vorzuwerfen, dass sie genau das war, was Bran als Gefährtin brauchte. Jemand, den Brans Wolf akzeptierte – den der Mann aber nicht lieben konnte.

»Ich kann mir keine Welt vorstellen, in der Leah das Wort ›Hey‹ verwendet«, sagte er. »Außer vielleicht das ähnlich klingende Wort ›Hai‹. Und dann nur, wenn es um Knorpelfische geht.«

Anna ließ das Lenkrad los und wedelte mit den Händen. »Es geht um ein Barbecue, nicht um einen Initiationsritus oder ein Volksfest oder sonst etwas, was viel Organisation erfordert. Eine einfache Sache von ›Bringt etwas zu essen mit, und auch gerne Instrumente, wenn ihr wollt, heute Abend werden wir Spaß haben‹. Wir sind eine ziemlich musikalische Truppe hier oben. Sich daran zu erfreuen sollte kein solcher Akt sein.« Anna legte die Hände wieder ans Lenkrad, ungefähr eine Hundertstelsekunde, bevor er sich genötigt sah, ihr ins Lenkrad zu greifen.

»Bieg hier ab«, sagte er. »Dann fahr weiter, als wärst du unterwegs zum Wilson Gap.«

Für einen Moment breitete sich Schweigen aus. Bruder Wolf hielt Anna für absolut fähig, mit Leah zurechtzukommen, wenn sie das wollte. Üblicherweise war es auch so. Leah reagierte wie andere auch auf den Effekt des Omega-Wolfes, genauso wie auf Annas aufrichtige Freundlichkeit. Wenn Tag einen Streit unterbrochen hatte, dann nur, weil Anna den Streit zugelassen hatte.

Bruder Wolf wusste nicht, wieso sie das getan haben sollte, aber Charles zählte für sie beide eins und eins zusammen. Vielleicht war es nicht Ermahnungen seines Dads zu verdanken, dass Leah ihn kaum belästigt hatte, seitdem Bran weg war.

»Hast du Streit mit Leah vom Zaun gebrochen, damit sie nicht auf die Idee kommt, sich mit mir anzulegen?«, fragte er.

Anna schob das Kinn vor.

»Danke.«

»Mein Job«, sagte sie – und ihre Stimme klang ein wenig verärgert –, »besteht darin, dir deinen leichter zu machen.«

Er dachte über den grimmigen Ton nach und darüber, wie sie die Worte »mein Job« betont hatte. Bruder Wolf fühlte sich unbehaglich. In Angelegenheiten, die mit dem Glück seiner Gefährtin zusammenhingen, hatte Bruder Wolf manchmal tiefere Einsichten, weil Charles, abgelenkt von menschlichen Problemen, etwas übersah.

Seine Anna, deren musikalisches Talent so herausragend war, dass es ihr ein Vollstipendium an der Northwestern University eingebracht hatte, sollte ihr Cello auf einer Bühne im Scheinwerferlicht spielen. Stattdessen war sie in Aspen Creek, Montana, gefangen – wo das, was Bühnenscheinwerfern wahrscheinlich noch am nächsten kam, oben auf seinem Truck befestigt war.

»Du wolltest recherchieren, ob du doch noch deinen Abschluss machen kannst«, sagte er. Er hatte sie schon eine Weile danach fragen wollen. Aber in manchen Punkten konnte Anna sehr reserviert sein, und er bemühte sich, ihr Luft zum Atmen zu lassen. Es war ein schwieriges Abwägen zwischen Bruders Wolfs manchmal allumfassenden Drang, sie zu beschützen/lieben/verteidigen, und Annas Wunsch, sie selbst zu sein und ihre eigenen Entscheidungen zu treffen.

Eine Weile sagte sie nichts.

»Ich kann einen Bachelor in Musiktheorie machen«, erklärte sie schließlich. »Aber langsam drängt sich mir das Gefühl auf, dass ich vielleicht eher in Richtung Therapeutin oder Coach gehen sollte.«

»Willst du das denn?«

Sie seufzte leise und schüttelte den Kopf.

»Wieso reden wir dann überhaupt darüber?«

Sie suchte nach einer Aufgabe in ihrem Leben.

Wir, sagte Bruder Wolf. Wir sollten ihre Aufgabe sein, so wie sie unsere ist. Dann, als Charles seinen Egoismus missbilligte, bot er an: Aber wenn sie mehr will, müssen wir ihr das bieten.

Dem konnte Charles nur von Herzen zustimmen.

Er hatte mit seinem Dad Recherchen darüber angestellt, wie Anna und er ein Kind adoptieren konnten. Es war kompliziert, nachdem Bran sich bemühte, Aspen Creek und das Rudel nicht auf dem Radar der Behörden auftauchen zu lassen.

Doch Annas Unzufriedenheit war nicht durch ein Kind zu heilen. Sie war nicht die Art von Person, die durch andere lebte.

»Was hältst du von Tags Vorschlag?«, fragte Anna, um das Thema zu wechseln. »Glaubst du, es wäre eine gute Idee, ein Treffen zu organisieren, bei dem nicht bloß das Rudel anwesend ist, sondern die ganze Gemeinde?«

»Ich will mich nicht auf Leahs Seite stellen …«, setzte er an, nur um über den bösen Blick zu lachen, den sie ihm sofort zuwarf. »Hör mir einfach zu, Anna-Liebes. Die Musikabende standen im Zentrum des Kampfes zwischen meinem Dad und Mercy – und du weißt, wie empfindlich Leah in Bezug auf alles reagiert, was mit Mercy zu tun hat.«

»Das weiß ich«, sagte sie. »Und ich verstehe es sogar, auch wenn es mich schmerzt, das zuzugeben. Bran verhält sich seltsam, wenn es um Mercy geht. Ich würde an Leahs Stelle genauso empfinden – egal, wie nett ich Mercy auch finden mag.«

»Bran verhält sich nicht seltsam, wenn es um Mercy geht«, sagte Charles unangenehm berührt. »Er sieht sie als seine Tochter. Und er hat keine anderen lebenden Töchter mehr. Daran ist nichts seltsam.«

»Zumindest reden sich das alle gerne ein«, stimmte Anna ihm mit ausdrucksloser Stimme zu. »Inklusive Bran. Lassen wir es dabei. Also waren die Musikabende ein Konfliktherd zwischen Bran und Mercy?«

»Nein, das nicht«, sagte Charles. Er fühlte sich unwohl, weil Anna ihren Finger in eine Wunde gelegt hatte, die er seit langer Zeit ignorierte. Dann atmete er tief durch. »Okay. Okay. Es könnte sein, dass du mit Dad und Mercy nicht ganz unrecht hast.«

Sie lächelte leise.

Er riss die Hände in die Luft. »Okay. Ja. Ich habe es bemerkt. Natürlich habe ich das. Genauso wie Leah. Aber mein Dad hätte sich nie an Mercy herangemacht. Du kannst über ihn sagen, was du willst – aber sein Wolf hat Leah als seine Gefährtin akzeptiert, und er wird sie nicht betrügen. Und für Mercy war er nie etwas anderes als eine Vaterfigur und ihr Alpha. Das brauchte sie, und das hat er ihr gegeben. Ich glaube nicht, dass Mercy je erkannt hat, dass da hätte mehr sein können.«

»Ja«, stimmte Anna ihm zu seiner großen Erleichterung zu. »Genau so habe ich die Beziehung auch gedeutet.« Sie hielt inne, dann sagte sie leise, ohne die Augen von der Straße vor ihnen abzuwenden. »Glaubst du, es geht ihr gut?«

»Mercy?« Mercy war entführt worden. Aus diesem Grund hatte Bran das Rudel unter Charles’ Aufsicht zurückgelassen. Glücklicherweise hatte sich die Sache schnell geklärt – oder zumindest Mercys Teil daran. Er hatte so ein Gefühl, dass die Nachbeben noch eine Weile anhalten würden.

»Ja, Mercy.«

Charles presste sich eine Faust aufs Herz. »Falls dem nicht so wäre, hätte mein Dad die Monster der Geschichte heraufbeschworen, um Rache zu nehmen. Stattdessen hat er beschlossen, meinen Bruder in Afrika zu besuchen – ausgerechnet – und ›sich einen Urlaub zu gönnen‹. Also gehe ich davon aus, dass bei Mercy alles in Ordnung ist. Du könntest sie anrufen.«

Anna stieß den Atem aus. »Okay. Ich habe heute versucht, sie anzurufen, aber ihr Handy funktioniert nicht. Und im Haus ist ein Junge ans Telefon gegangen, der gesagt hat, sie wäre draußen und versuche herauszufinden, wie sie Christys Auto zum Laufen kriegt – Zitat: ›zumindest so weit, damit Christy wieder verschwindet‹, Ende des Zitats. Er hat mir geraten, sie einen oder zwei Tage in Ruhe zu lassen, bevor ich es noch mal versuche.«

Charles lächelte trocken. »Hast du Christy je kennengelernt?«

Anna schüttelte den Kopf. »Wer ist sie?«

»Adams Exfrau. Schön, zerbrechlich, ein wenig hilflos – genau die Art von Frau, zu der sich die meisten Alphas hingezogen fühlen.« Sein Lächeln wurde breiter, als Anna leidenschaftlich schnaubte.

»Ich bin nicht hilflos«, sagte sie. »Und auch nicht zerbrechlich.«

»Nein, das bist du nicht«, stimmte er ihr zu. »Und Christy ist es eigentlich auch nicht. Ich danke dem Schicksal jeden Tag dafür, dass mein Dad Leah als Gefährtin gefunden hat und nicht jemanden wie Christy. Leah ist um einiges direkter.«

»Und ich bin auch nicht schön«, fuhr Anna unbeirrt fort.

»In diesem Punkt«, sagte er friedfertig, »müssen wir uns darauf einigen, dass wir unterschiedlicher Meinung sind.«

»Erzählst du mir von den Musikabenden?«, fragte Anna nach einer Weile, und er bemerkte erfreut, dass ihre Wangen leicht gerötet waren, weil sie wusste, dass sein Kompliment ernst gemeint war.

»Mercy und Bran haben eine Fehde über diese Musikabende geführt«, sagte Charles. »Du kennst Mercy. ›Stur‹ ist als Wort noch viel zu schwach, um sie zu beschreiben.«

Anna runzelte die Stirn. »Aber sie braucht immer erst einen Grund.«

Er nickte. »Mercy steht nicht gerne im Mittelpunkt. Sie ist durchaus musikalisch. Wenn sie singt, trifft sie die Töne, hat allerdings keine besondere Stimme. Und das wusste sie. Aber am Klavier war sie gar nicht schlecht.«

»Sie hat mir erzählt, dass sie Klavierspielen hasst«, meinte Anna.

»Ich glaube, das ist im Zuge dieser chaotischen Fehde mit Leah passiert«, erklärte er. »Leah hat Mercy gnadenlos gefoltert. Sie wurde nur von zwei Punkten zurückgehalten.«

Er hob einen Finger.

»Mein Dad hat absolut klargestellt, dass jeder ihm persönlich Rede und Antwort stehen muss, der Mercy körperlichen Schaden zufügt. Und Mercys Pflegevater, Bryan, war ein beängstigender Bastard, wenn er wütend wurde. Allerdings brauchte es viel, um ihn so weit zu bringen, und Leah hat immer sorgfältig darauf geachtet, diese Grenze nicht zu überschreiten. Für Leah wurde es einfacher, weil Mercy immer zurückgeschlagen hat – und das hat die Sache komplizierter gemacht, wo Leah sonst klar im Unrecht gewesen wäre.«

Anna verzog mitfühlend das Gesicht, also fügte er hinzu: »Und da wäre noch ein Punkt: Gewöhnlich hatten am Ende alle mehr Mitleid mit der Person, die Mercys Zorn auf sich gezogen hatte, als mit Mercy selbst.«

Anna lachte. »Die Schuhdiebin.« Dann senkte sie verschwörerisch die Stimme: »Der Osterhasen-Vorfall.«

»Genau«, sagte Charles. »Um fair zu sein, mein Dad glaubt an: Was mich nicht umbringt, macht mich stärker. Es wird niemals wieder jemandem gelingen, Mercy etwas anzuhängen, woran sie keine Schuld trägt. Leah hat Mercy beigebracht, dass man mit seiner Rache auf den richtigen Moment warten muss und Gerechtigkeit möglich ist, ohne dafür zu sterben.«

»Das soll fair sein?«, fragte Anna.

Charles nickte. »Mercy wollte glauben, dass die Welt ein gerechter Ort ist – und sie kann sich in einen Kojoten verwandeln, in einer Welt, in der Werwölfe und Vampire leben. Sie gibt einfach niemals auf. Sie musste lernen, wie man überlebt – und Dad hat zugelassen, dass Leah ihr das beibringt. Was aber nicht heißen soll, dass sich Leah bewusst ist, dass sie Mercy damit geholfen hat.« Er war sich nicht einmal vollkommen sicher, ob sein Dad gewusst hatte, dass er Mercy half.

»Was hast du getan?«, fragte Anna.

Bruder Wolf wollte sich in dem Vertrauen suhlen, dass sie ihnen entgegenbrachte – weil er ihrer Überzeugung nach bestimmt nicht zugelassen hatte, dass seine kleine Kojotenschwester sich allein gegen Leah wehren musste.

»Ich konnte nicht gegen die Entscheidung meines Vaters vorgehen«, sagte er. »Die da lautete, dass wir uns nicht in den Streit zwischen Leah und Mercy einmischen sollten. Leah, so hat er mir erklärt, war seine Gefährtin – und damit von höherem Rang als ich.«

»Also, was hast du getan?«, fragte sie wieder.

»Ich war anwesend, wann auch immer die Gefahr bestand, dass Leah allein auf Mercy traf, ohne andere Zeugen.« Das hatte ihn viel Mühe gekostet – und wenn sein Dad je herausfinden sollte, wie viele im Rudel sich bemüht hatten, ihm bei dieser selbst gestellten Aufgabe zu helfen, würde er zur Rechenschaft gezogen werden. Er hatte Leahs Autorität im Rudel untergraben – etwas, was sein Vater, hätte er davon gewusst, niemals zugelassen hätte. Doch Charles hatte auch etwas von Mercy gelernt: Solange man nicht erwischt wird, ist alles gut.

»Und wie hängt das alles mit den Musikabenden zusammen?«, fragte Anna.

»Mercy hat irgendwann herausgefunden, dass Bran von Leahs Verhalten wusste und nicht vorhatte, sich einzumischen. Bryan …«

»Ihr Pflegevater.«

»Genau der«, bestätigte er. »Bryan hat mir erzählt, dass er sich Sorgen machte, was Mercy tun könnte. Wir wussten beide, dass sie das nicht einfach akzeptieren würde.«

»Natürlich nicht.«

Charles lächelte. »Die Musikabende begannen irgendwann Mitte der Sechzigerjahre. Mein Vater wurde zum Opfer eines Selbsthilfebuchs, das irgendein Idiot ihm zu Weihnachten geschenkt hatte. Er hat beschlossen, dass das Rudel … die Stadt … eine Art Bindungserfahrung brauchte. Er ist Musiker – also hat er sich für Musik entschieden. Alle Kinder über fünf sollten abwechselnd etwas vorführen – ob sie nun zum Rudel gehörten oder nicht.« Aspen Creek war winzig, aber trotzdem hatten bei jeder Aufführung fünf oder sechs Kinder gespielt. »Dann folgten ein paar Freiwillige – oder manchmal auch Zwangsverpflichtete – aus dem Rudel. Und zu guter Letzt schloss Dad den Abend mit einer eigenen Vorführung ab: gewöhnlich mit Musik, aber manchmal auch mit einer Geschichte. Das sorgte dafür, dass auch diejenigen, die nicht mit den Kindern verwandt waren, die Sache halbwegs geduldig durchstanden. Als Mercy als Welpe ins Rudel kam, waren die Abende bereits eine feste Tradition.« Er warf einen kurzen Blick zu seiner Gefährtin. »Auch wenn einige von uns vielleicht der Meinung waren, dass sie eher eine lästige Pflicht waren.«

Anna dachte darüber nach. »In dieser Stadt gibt es viel Talent, keine Frage. Aber ich war schon bei Aufführungen mit Kindern. Zum Teufel, ich war ein Kind in Aufführungen. Ich wette, manche dieser Abende zogen sich länger dahin als andere, besonders wenn keines der Kinder das eigene war.«

Charles grinste. »Mercy fand das auch. Sobald sie acht oder neun wurde, hat sie die Kleinen zusammengetrommelt – die Jüngsten, diejenigen, die keinen Ton treffen konnten, selbst wenn ihr Leben davon abhing, und die Kinder, die den Fehler gemacht hatten, sie zu lange anzusehen – und hat sie dazu gebracht, ›besondere Aufführungen‹ abzuliefern.«

Er schüttelte den Kopf. »Manche davon waren wirklich eindrucksvoll. Nicht immer musikalisch, aber eindrucksvoll. Der erste Vorteil daran war, dass die Abende um einiges kürzer wurden, weil wir alle Kinder – und auf jeden Fall alle, die richtig schlecht waren – auf einen Schlag hinter uns bringen konnten. Doch nach einer Weile wurden die Vorführungen richtig gut. Ich glaube, Samuel hat ihr geholfen, weil ich ein paar der Lieder als seine erkannt habe. Auf jeden Fall fing Mercy an, mit Bran um die beste Aufführung zu konkurrieren – hat das Publikum eingeladen, selbst zu entscheiden. Er fand das toll.«

»Bran?«

»Mein Dad hat, trotz seiner vielen Fehler, kein allzu großes Ego. Er ist dominant, aber nicht allzu ehrgeizig.« Anna stieß ein Brummen aus, also musste er sich korrigieren. »Okay. Du hast recht. Er ist durchaus ehrgeizig. Dann lass es mich so ausdrücken: Er verspürt nicht den Drang, den Boden mit einer Gruppe Kinder zu wischen, um sich wie ein Alpha zu fühlen. Er war stolz auf die Anstrengungen der Kleinen und hat Mercy ermuntert – wie er es eben tut. Blinzele im falschen Moment, und du hast es verpasst – hier bitte links. Hier.«

Anna bog ab. Dann fuhr sie langsamer, denn auch wenn man die Straße als gepflastert bezeichnen konnte, war sie doch sehr schlecht.

»Dann hat Mercy herausgefunden, dass Bran von Leahs Angriffen wusste«, meinte Anna nachdenklich.

»Stimmt. Lass mich einfach sagen, dass Mercy sich verdammt harte Strafen ausdenken kann. Mach dich nie unbeliebt bei dir. Sie wird genau den Punkt finden, der dich am meisten trifft.«

»Was hat sie getan?«

»Sie hat den ersten Satz von Beethovens Sonate Pathétique gespielt.«

»Nummer acht«, sagte Anna. »Opus Dreizehn?«

Er nickte. »Fast zwei Jahre lang hat sie das Stück an jedem Musikabend gespielt.«

»Was ist falsch daran?«, fragte Anna. »Es ist ein wunderschönes Werk.«

Charles grinste. »Sollte man meinen. Und eigentlich stimmt es. Aber ich höre das Stück in meinen Albträumen und gehe davon aus, dass es Dad genauso geht. Man kann auf einem gestimmten Klavier keine schiefen Töne spielen, aber das ist so ungefähr das Einzige, was Mercy diesem armen Stück nicht angetan hat. Bei jeder Vorführung war es etwas Neues. Einmal hat sie mit verbundenen Augen gespielt. Einmal hat sie ein Metronom aufgestellt und nicht ein einziges Mal in dem Tempo gespielt, das vorgegeben wurde. Einmal hat sie es in einem Viertel der Geschwindigkeit gespielt und die anderen zwei Sätze dazugenommen.« Die Erinnerung brachte ihn zum Lachen. »Die Leute dachten, sie wäre fertig, fingen an zu klatschen, und genau in diesem Moment spielte sie noch eine Note. Sehr langsam. Es hat eine gefühlte Ewigkeit gedauert. Aber sie hat meinen Vater nie weiter getrieben als zu wütend zusammengepressten Lippen.« Er schloss die Augen, versunken in Erinnerungen. Sein Lächeln verblasste. »Dad tut nicht oft das Falsche – und wenn er in den letzten dreißig Jahren das Falsche getan hat, hatte es meistens mit Mercy zu tun.«

»Er verhält sich in ihrer Gegenwart seltsam«, sagte Anna ausdruckslos.

Charles öffnete die Augen, um sie gespielt böse anzustarren, doch sie achtete zu intensiv auf die Straße, um etwas zu bemerken.

»Ja«, meinte er, »seltsam. Auf jeden Fall waren das echte Vorführungen. Die Jungs trugen weiße Hemden und Krawatten, die Mädchen Kleider. Zu der Vorstellung, die ihre letzte werden sollte, kam Mercy in abgeschnittenen Jeans und einem T-Shirt mit Farbflecken. Auf dem T-Shirt prangte Micky Maus, der der Welt den Stinkefinger zeigte.« Er seufzte.

»Was hat Bran getan?«

»Mein Dad kann im Kampf auch unfair sein, Anna, obwohl er das gewöhnlich nicht ist. Er hat Mercys Pflegemutter – eine scheue, furchtbar liebe Frau, bei der gerade irgendeine schreckliche menschliche Krankheit diagnostiziert worden war – vor versammelter Mannschaft fertiggemacht, weil sie nicht dafür gesorgt hatte, dass Mercy anständige Kleidung trug. Die Frau hat geweint. Bryan war nicht da – ich bilde mir gerne ein, dass Dad vergessen hatte, dass er ihn an diesem Abend mit irgendeiner Aufgabe betraut hatte. Aber vielleicht hatte er seine Handlungen auch so weit im Voraus geplant. Mercy hat nichts gesagt. Sie ist von der Klavierbank aufgestanden, hat Evelyn an der Hand genommen und sie aus dem Raum geführt.«

Anna dachte einen Moment darüber nach. »Bran hat vor dem gesamten Rudel eine kranke Frau angegriffen, die sich nicht verteidigen konnte? Wow.«

»Lass dich von meinem Dad nicht hinters Licht führen, Anna«, sagte er. »Wenn es hart auf hart kommt, ist er ein verdammter Mistkerl.«

»Was hat Mercy getan?«, fragte Anna. »Die Mercy, die ich kenne, hätte ihm das nicht durchgehen lassen.«

»Nein«, sagte er. »Natürlich nicht. Sie hat in Dads neuem Mercedes den Sitz mit Erdnussbutter eingerieben und ihn dazu gebracht, sich hineinzusetzen.«

»Ha!« Anna klang tief befriedigt. »Gut gemacht. Ich hätte sogar Eintritt gezahlt, um das zu sehen.«

Charles fragte sich, wieso bei dieser Erinnerung Melancholie in ihm aufstieg. Wahrscheinlich, weil er Evelyn gemocht hatte – und es hatte ihm fast das Herz zerrissen, zusehen zu müssen, wie sein Vater sie behandelt hatte. Aber er hatte, genau wie der Rest des Rudels, einfach bloß dagestanden und alles beobachtet. Nur Mercy hatte sich dem Marrok widersetzt.

Bruder Wolf und er waren schon vor langer Zeit übereingekommen, dass es falsch gewesen war, nicht ebenfalls einzugreifen.

»Die Erdnussbutter«, sagte Charles, »hat meinen Vater daran erinnert, dass er einen Kampf gegen ein Kind führte. Gegen jemandem, den zu beschützen er geschworen hatte. Und weil er das Gefühl hatte, den Krieg zu verlieren, hat er jemanden angegriffen, der sich nicht verteidigen konnte. Mein Dad wird nicht oft gedemütigt, aber dieses Mal hatte Mercy es geschafft. Er hat Evelyn Blumen gebracht und sich erst persönlich entschuldigt, dann öffentlich. Bei ihr, bei Bryan – sogar bei Mercy. Danach kam Mercy jedes Mal in derselben Kleidung zu den Musikabenden. Sie setzte sich ans Klavier und blieb fünf Minuten lang mit verschränkten Händen sitzen. Im Anschluss dankte mein Vater ihr ernst für ihre Vorführung, sie neigte den Kopf wie ein Samurai-Krieger, und das war’s. Das ging so weiter, bis Evelyn starb – ich glaube, ungefähr zwei Jahre lang –, dann setzte sich Mercy ins Publikum, und mein Dad hat es aufgegeben, sie auf die Bühne zu bitten.«

»Haben die Musikabende deswegen ein Ende gefunden?«, fragte Anna.

Er schüttelte den Kopf. »Das passierte erst, als er Mercy weggeschickt hat.«

Anna kannte die Geschichte, also erzählte er sie nicht noch mal. Sein Bruder hatte beschlossen, dass die sechzehnjährige, sich in einen Kojoten verwandelnde Mercy vielleicht einen Weg bot, Kinder zu bekommen, die überleben konnten, und hatte sich darangemacht, sie zu umwerben. Bran hatte eingegriffen, bevor Samuel Mercy nicht wiedergutzumachenden Schaden zugefügt hatte – oder sich selbst. Aber trotzdem hatten sie alle einen Preis dafür gezahlt.

»Es gab noch zwei Musikabende, nachdem sie zu ihrer leiblichen Mutter gezogen war. Den zweiten hat Bran mit den Worten geschlossen, dass sie ihren Zweck erfüllt hatten und es Zeit wurde, damit aufzuhören.«

»Ohne Mercy machte es ihm keinen Spaß mehr«, meinte Anna.

»Das glaube ich auch. Aber niemand hat je den Mut aufgebracht, ihn danach zu fragen.«

»Kein Wunder, dass Leah dachte, es wäre eine schlechte Idee, diese Tradition wiederzubeleben«, meinte Anna nachdenklich. »Vielleicht sollten wir dieses Barbecue zu einer einmaligen Sache erklären.«

»Dieses Barbecue, von dem Leah denkt, du willst es nicht«, sagte Charles, unfähig, seine Erheiterung zu verbergen. »Im Moment hat sie wahrscheinlich vor, alle täglich einzuladen.«

»Ich kann es nicht ganz abblasen«, sagte Anna nach einem Augenblick. »Wenn ich schon wieder die Seiten wechsele, wird sogar Leah bemerken, dass ich sie manipuliere. Aber ich glaube, ich kann sie dazu bringen, mir die ganze Arbeit aufzuhalsen. So kann ich dafür sorgen, dass es nicht im Geringsten an diese früheren Musikabende erinnert. Vielleicht machen wir es ohne Kinder.« Sie hielt inne. »Oder, wenn wir wirklich wollen, dass es nie wieder stattfindet, dann laden wir nur Kinder ein.«

Anna war ziemlich geschickt darin, die Leute dazu zu bringen, das zu tun, was sie wollte. Hin und wieder trat sie dem einen oder anderen dabei auf die Zehen, weil ihr einfach die instinktive Hochachtung gegenüber Ranghöheren fehlte. Doch sie war viel besser darin geworden, diese Dominanzfragen zu umschiffen.

Leah war nicht klug, doch sie war alt. Und wenn Mercy bei ihr in die Lehre gegangen war – nun, dann verhielt es sich wohl umgekehrt genauso. Vielleicht würde sie deswegen bemerken, was Anna vorhatte. Aber wenn Leah Ärger machte, würde er das unterbinden. Bruder Wolf gefiel diese Idee.

»Hör auf damit«, sagte Anna bestimmt. »Ich kann mich selbst darum kümmern.«

»Natürlich kannst du das«, sagte er überrascht. »Das bedeutet aber nicht, dass ich dir nicht helfen kann.«

Sie schüttelte nur den Kopf, doch er wusste, dass sie innerlich lachte, weil Bruder Wolf ihm das mitteilte.

»Und du erzählst allen immer, du würdest Leute nicht verstehen«, meinte sie.

»Tue ich auch nicht«, sagte er zufrieden. »Ich verstehe nur dich.«

2

Für die Fahrt von dreißig Kilometern brauchte Anna fast eine Stunde.

Seit sie Charles’ Gefährtin geworden war, fühlte sie sich die meiste Zeit, als gehöre sie hierher, in die Wildnis von Montana. Dann machte sie mit Charles eine Fahrt in die Berge und wurde nachdrücklich daran erinnert, dass sie in der Stadt aufgewachsen war.

Sicher, Teile von Chicago waren auf ihre Art auch eine Wildnis, aber selbst in den schlimmen Vierteln gab es gepflasterte Straßen, breit genug, um zumindest mit einem Auto zu passieren. Und sie hatte darauf vertrauen können, dass nicht plötzlich ein verdammter Baum mitten auf der Straße wuchs, direkt hinter einer scharfen Kurve.