Rabenzauber - Patricia Briggs - E-Book

Rabenzauber E-Book

Patricia Briggs

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Beschreibung

Raben – geheimnisvoll und dunkel, Wesen voller Magie und Zauber. Überbringer mysteriöser Botschaften, gefürchtete Begleiter von Hexen und Magiern. In Patricia Briggs’ phantastischem Epos werden diese Geschöpfe auf atemberaubende Weise lebendig und zum Schlüssel in einem uralten Rätsel.
Am Fuße des Schattengebirges wohnt die junge Seraph, eine jener geheimnisvollen Zauberinnen des Raben, die einst von Dorf zu Dorf und von Kontinent zu Kontinent zogen, um die Welt mit ihrer Magie vor bösen Kräften zu bewahren. Als eine Verschwörung das Geheimnis des Rabenordens bedroht, muss Seraph endlich dem Ruf ihrer Ahnen folgen…

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Seitenzahl: 1324

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Titel der amerikanischen Originalausgaben RAVEN’S SHADOW / RAVEN’S STRIKE Deutsche Übersetzung von Regina Winter
Redaktion: Angela Kuepper Copyright © 2004 und 2005 by Patricia Briggs Copyright © 2008 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Inhaltsverzeichnis
 
Das Buch
Die Autorin
 
ERSTES BUCH
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
 
ZWEITES BUCH
PROLOG
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
 
Danksagung
Copyright
Das Buch
Einst entfesselten die Zauberer der legendären Stadt Colossae die Kraft des Pirschgängers, der nichts anderes kann, als zu töten und zu zerstören. In einem Akt der Verzweiflung belegten sie ihn mit einem Bann – und opferten ihre Stadt und ihr Wissen. Doch noch immer sendet er seinen Schatten aus und sät Vernichtung.
Einzig die Clans der Reisenden tragen das Erbe der Magie in sich, um die Welt vor der Macht des Schattens zu beschützen. Doch die Menschen fürchten die Abkömmlinge der Zauberer und rotten die Reisenden aus. Auch Seraph, eine junge Raben-Magierin, gerät in die Fänge des Pöbels, der ihren Bruder auf dem Scheiterhaufen verbrannt hat. Tieragan, ein Soldat, der sich nach Jahren des Krieges auf dem Heimweg befindet, flieht mit ihr in sein Heimatdorf, wo er sie allen Anfeindungen zum Trotz heiratet. Seraph flüchtet sich in die Arbeit als Bäuerin, um sich ihrer Berufung und den qualvollen Erinnerungen zu entziehen. Eines Tages aber kehrt Tieragan nicht vom Fallenstellen zurück. Voller Trauer entfesselt sie ihre Kraft und folgt mit ihren Kindern seiner Spur. Doch Tieragan unterliegt längst der Macht eines gefährlichen Geheimbundes, der nach der magischen Kraft seiner Familie trachtet. In den Kerkern des Kaiserpalasts schmiedet er einen verzweifelten Plan zu ihrer Rettung, nicht wissend, dass ein weit mächtigerer Feind im Verborgenen lauert …
 
»Patricia Briggs ist eine begnadete Erzählerin!«
Midwest Book Review
Die Autorin
Patricia Briggs, Jahrgang 1965, wuchs in Montana auf und interessiert sich seit ihrer Kindheit für Phantastisches. So studierte sie neben Geschichte auch Deutsch, denn ihre große Liebe gilt Burgen und Märchen. Neben erfolgreichen und preisgekrönten Fantasy-Romanen wie »Drachenzauber« widmet sie sich ihrer Mystery-Saga um Mercy Thompson (bisher sind bei Heyne »Ruf des Mondes« und »Bann des Blutes« erschienen). Nach mehreren Umzügen lebt die Autorin mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Washington State.
ERSTES BUCH
1
»Es ist jetzt nicht mehr weit, Junge«, sagte Tier. »Das da vorn ist Rauch und nicht bloß Nebel – wir werden ein gemütliches Dorfgasthaus finden, wo wir uns aufwärmen können.«
Sein Pferd schnaubte zur Antwort – oder war es nur wegen eines lästigen Regentropfens? – und trabte weiter.
Tiers Pferd war ebenso wie sein Schwert von erheblich besserer Qualität als seine Kleidung. Er hatte beides von Männern erbeutet, die er getötet hatte; das Schwert in seinem ersten Kriegsjahr, das Pferd in diesem Jahr, als sein eigenes Reittier unter ihm niedergestreckt worden war. Scheck war ein Schlachtross, gezüchtet und ausgebildet für einen adligen Offizier, aber er hatte Tier, den Sohn eines Bäckers, jetzt schon durch zwei Schlachten, sechs Scharmützel und grob gerechnet über tausend Wegmeilen getragen.
Er war ein wertvolles Pferd, aber in den ersten paar Wochen von Tiers Reise, die ihn durch vom langen Krieg verwüstete Regionen führte, hatte der Neid in den Augen der Menschen ebenso viel mit Hunger wie mit Gold zu tun gehabt. Tier hatte gespannt darauf gewartet, dass sie ihn überfielen oder ihn in einen Hinterhalt lockten. Aber etwas an seiner Haltung, vielleicht die Kampfbereitschaft, die immer noch hinter der ruhigen Fassade lauerte, musste sie abgeschreckt haben.
In den wohlhabenderen Regionen weiter entfernt von den Reichsgrenzen ließ die Gefahr eines Angriffs dann leider beträchtlich nach. Dabei hätte ein Kampf Tier vielleicht ein wenig Ablenkung von der Furcht verschafft, die er beim Gedanken an seine baldige Heimkehr empfand.
So viele waren tot. Die beiden jungen Männer aus seinem Dorf, die sich zusammen mit ihm für einen Krieg gemeldet hatten, der einen halben Kontinent von zu Hause entfernt stattfand, waren gefallen, ebenso wie viele andere junge Männer, die sich Gold, Ruhm oder eine Fluchtmöglichkeit erhofft hatten. Tier hatte überlebt. Er war sich immer noch nicht ganz sicher, wie es dazu gekommen war – denn geplant hatte er es ganz bestimmt nicht. Zwar hatte er den Tod nie gesucht, aber ein Soldat wusste, dass es ihn jederzeit treffen konnte.
Wenn der Krieg ewig gedauert hätte, hätte Tier bis zum Tod gekämpft. Aber nun war er vorbei, und er hatte den Posten, den sein kommandierender Sept ihm angeboten hatte, abgelehnt. Er hatte wirklich kein Bedürfnis, noch mehr junge Männer für den Kampf auszubilden.
Also ritt er nun nach Hause. Der Junge, der sich vor beinahe einem Jahrzehnt aus dem Heim seiner Familie geschlichen hatte, hätte sich nie träumen lassen, dass die Rückkehr so viel schwieriger sein würde als der Aufbruch.
Tiers massiger Wallach schüttelte die schwarz-weiße Mähne und übersprühte seinen Reiter mit Wasser. Er tätschelte dem Pferd den Hals.
»Was habe ich dir gesagt, Scheck?«, meinte er. »Da unten gibt es ein Dach; du kannst es zwischen den Bäumen sehen.«
Er freute sich auf einen warmen Schankraum, durchflutet von Lärm und Bier – etwas, womit er seine innere Leere füllen konnte. Vielleicht würde ein bisschen von der guten Laune an ihm hängen bleiben, bis er sein Dorf erreichte.
Er kam seiner Heimat näher. Selbst ohne Landkarte wäre der bittere Geschmack der Alten Magie, der die Berge hier erfüllte, vielsagend genug gewesen. Der Kampf selbst mochte lange vorüber sein, aber die Magie eines Zauberers blieb manchmal noch länger erhalten als die Erinnerung an ihn, und der Schatten war ein großer Zauberer gewesen. In der Nähe des Schlachtfelds von Schattenfall konnte es gefährlich sein, durch den Wald zu reiten. In Tiers Heimatdorf Redern wussten alle, dass man Orte, an denen die Magie des Schattens verharrte, lieber mied.
Der braun-weiß gescheckte Wallach interessierte sich nicht für Magie jedweder Art und trabte weiter den schmalen Bergweg hinunter, und als der Hang sanfter wurde, bog er auf einen Feldweg ein, der sich seinerseits bald schon in eine kopfsteingepflasterte Straße verwandelte. Kurz darauf tauchte das kleine Dorf, das Tier von den Hügeln aus gesehen hatte, zwischen den Bäumen auf.
Die nassen Steinhäuser, so anders als die Holzhäuser, an denen er in den letzten neun Jahren vorbeigeritten war, erinnerten ihn an zu Hause, obwohl der Baustil hier weniger schroff wirkte als in seinem eigenen Dorf. Es war noch nicht daheim, aber es war ein richtiges Dorf. Es würde einen Marktplatz geben, und dort würde das Gasthaus stehen.
Er stellte sich einen kleinen, warmen Raum vor, in das goldene Licht von Feuerstelle und Fackeln getaucht – einen Ort, wo ein Soldat eine gute warme Mahlzeit bekommen und im Trockenen sitzen konnte.
Als er näher zum Markplatz kam, nahm er den Geruch nach Rauch und gebratenem Fleisch war. Rein instinktiv lockerte er das Schwert und brachte den Wallach dazu, sich anzuspannen und zu schnauben: zu viel Krieg, zu viele verbrannte Dörfer. Rasch murmelte er Scheck ein paar beruhigende Worte zu und erinnerte ihn daran, dass sie mit diesem Teil ihres Lebens fertig waren, obwohl er sich nicht dazu durchringen konnte, das Schwert wieder zu sichern.
Als sie auf den Marktplatz einbogen, sah er einen brennenden Scheiterhaufen.
Der Abend war ein seltsamer Zeitpunkt für eine Beisetzung. Tier runzelte die Stirn. So nahe seiner Heimat würden sie ihre Toten begraben und nicht verbrennen. Er sah sich die Menge genauer an und bemerkte, dass keine Frauen und Kinder anwesend waren.
Das da war keine Beisetzung, sondern eine Hinrichtung.
An den meisten Orten, wo die Erinnerung an den Schatten erhalten geblieben war, verbrannte man Hexer. Nicht die hochgeborenen Zauberer, die nur für die Adligen arbeiteten, welche sie bezahlten – die standen oberhalb der Dorfjustiz -, aber Heiler, umherziehende Hexer und Reisende, die die falsche Person beleidigten oder verängstigten, konnten ernsthaften Ärger bekommen. Wenn so jemand brannte, schauten die Dorffrauen nur aus dunklen Fenstern zu, um vor dem Zorn der Toten sicher zu sein.
Auch Fremde wie Tier wurden manchmal für Reisende oder Hexer gehalten. Doch er war bewaffnet und hatte gutes Geld dabei – und wenn man nach dem Geruch von Rauch und Fleisch ging, hatte das Dorf seine Blutlust bereits gestillt. Er ließ die Hand am Schwertgriff, kam dann aber zu dem Schluss, dass es einigermaßen sicher sein würde, hier die Nacht zu verbringen.
Er gönnte dem Scheiterhaufen nur einen Seitenblick, als er an ihm vorbeiritt, und selbst der sagte ihm, dass der Mann inmitten des brennenden Holzes schon tot gewesen war, als man das Feuer entzündet hatte. Einem Toten konnte man nicht mehr helfen.
Die mürrischen Männer des Dorfs, die am Scheiterhaufen standen, wurden noch leiser, als er an ihnen vorbeiritt, aber als er keine Notiz von ihnen nahm, wandten sie sich wieder ihrer finsteren Unterhaltung zu.
Wie Tier erwartet hatte, lag das Gasthaus am Rand des Dorfplatzes. Es hatte auch einen Stall, aber niemand arbeitete darin. Der Stalljunge war vermutlich bei den anderen auf dem Platz.
Tier sattelte Scheck ab, rieb ihn mit einem rauen Tuch trocken und führte ihn in eine leere Box. Dann sah er sich nach Heu um und bemerkte dabei den Handwagen eines Reisenden mit Lederfransen und traurig verblasster bunter Farbe. Der Mann, den sie verbrannt hatten, war also ein Reisender gewesen.
Tier ging an dem Wagen vorbei und brachte Scheck eine Gabel voll Heu, doch seit er ins Dorf geritten war, freute er sich nicht mehr besonders auf den Abend im Schankraum. Es machte ihn nervös, solcher Gewalttätigkeit so nahe zu sein, und der stille Stall beruhigte ihn. Er blieb, bis es wirklich dunkel wurde, dann siegte schließlich der Gedanke an eine warme Mahlzeit über seinen Unwillen, anderen Menschen zu begegnen.
Als er aus dem Stall kam, zeichneten sich draußen nur noch ein paar Gestalten vor dem Feuerlicht ab – vermutlich waren es Wachen, die dafür sorgen sollten, dass der Mann nicht wieder zum Leben erwachte und floh. Er selbst hatte noch nie gesehen, dass ein Mann mit durchschnittener Kehle wieder aufgewacht wäre und Magie gewirkt hätte. Oh, er kannte die Geschichten, er hatte sogar selbst ein paar davon weitererzählt. Aber er hatte auch viel Tod gesehen, und der war nach seiner Erfahrung immer endgültig.
Als er das Gasthaus betrat, war er verblüfft über den Lärm im Schankraum. Ein schneller Blick sagte ihm, dass ihn niemand bemerkt hatte; also suchte er sich einen Platz zwischen der Treppe und der hinteren Wand, wo er den Raum gut beobachten konnte.
Er hätte sich eigentlich schon denken können, dass die Menschenmenge sich nicht so schnell auflösen würde. Nach einer Hinrichtung verlangte es die meisten Männer nach Alkohol, und der Schankraum des Gasthauses war bis zum Bersten angefüllt mit Männern, von denen die meisten halb betrunken vom Bier und dem Wahnsinn von Menschenmengen waren. Tier dachte daran, lieber im Stall zu schlafen, aber er hatte Hunger. Er würde eine Weile warten und sehen, ob die Dinge sich wieder so weit beruhigten, dass es für einen Fremden wie ihn sicher sein würde, hier zu essen
Der Raum hallte wider von übertriebenem Lachen, was ihn an die Stimmung nach einer Schlacht erinnerte, wenn Männer verrückte Dinge taten, die sie dann den Rest ihres Lebens zu vergessen versuchten.
Er hatte immer noch Käse und Fladenbrot in der Satteltasche. Sicher, das war keine warme Mahlzeit, und der Käse hatte schon ein paar grüne Flecke, aber er würde in Ruhe essen können. Er machte einen Schritt auf die Tür zu.
Als wäre diese Bewegung ein Weckruf gewesen, wurde es plötzlich still. Tier erstarrte, aber er begriff sehr bald, dass niemand ihn beachtete.
In der Stille zog das Knarren von Holz seinen Blick zur nahen Treppe. Zuerst sah man schwere Stiefel, dann einen Stier von einem Mann, der in diesen Stiefeln steckte, und schließlich ein Mädchen, das er die Treppe hinunterzerrte. Der Mann trug eine fleckige Schürze und war wohl der Wirt, aber er hatte auch Schwielen an den Händen, die von einer Kampfaxt oder einem Breitschwert stammen mochten.
Der Wirt blieb vier oder fünf Stufen über dem Schankraum stehen, wo alle seine Gefangene sehen konnten. Tier, weiter hinten im Raum und ein Stück hinter der Treppe so gut wie unbemerkt, musste sich der wachsenden Gewissheit stellen, dass er an diesem Abend keine warme Mahlzeit und kein weiches Bett bekommen würde.
Das so vielsagende silbrig-aschfarbene Haar, das ihr in vom Schlaf zerzausten Zöpfen beinahe bis zur Taille hing, sagte ihm sofort, dass sie eine Reisende war, vermutlich eine Verwandte des toten jungen Mannes, der draußen briet.
Zunächst hielt er sie für ein Kind, aber ihr weites Nachthemd fing sich an einer gerundeten Hüfte, die ihn ein oder zwei Jahre zu ihrem Alter hinzuzählen ließ. Als sie zu der Menge aufblickte, konnte er sehen, dass ihre Augen von klarem Bernsteingrün waren und älter als ihr Gesicht.
Die Männer im Gasthaus waren überwiegend Bauern; einer oder zwei trugen ein langes Messer im Gürtel. Er hatte solche Leute im Heer gesehen und achtete sie. Es waren wahrscheinlich gute Männer, jedenfalls die meisten, mit Ehefrauen und Müttern, die zu Hause auf sie warteten, und sie fühlten sich unbehaglich angesichts der Gewalttätigkeit, zu der ihre Angst sie verleitet hatte.
Dem Mädchen würde nichts passieren, sagte sich Tier. Diese Männer würden ein Kind nicht so leicht verletzen, wie sie den Mann getötet hatten. Ein Mann, ein Reisender, stellte eine Gefahr für ihre Sicherheit dar. Ein Kind, ein Mädchen, war etwas, das diese Männer schützten. Tier blickte sich im Schankraum um und bemerkte, dass die Gesichter mehrerer Gäste weicher wurden, als sie den verwunderten Schrecken des Mädchens sahen.
Sein abschätzender Blick fiel auf einen bärtigen Mann, der gerade Eintopf aß. Gut geschneiderte Adligenkleidung unterschied ihn von den Dorfbewohnern. Solche Kleidung kam sicher aus Taela oder einer anderen größeren Stadt.
Etwas an den beiläufigen, präzisen Bewegungen, die der Mann beim Essen machte, warnte Tier, dass er in ihm vielleicht die gefährlichste Person im Raum vor sich hatte – dann schaute er wieder das Mädchen an und überlegte es sich noch einmal.
In den paar Augenblicken, in denen Tier sich umgesehen hatte, hatte sie ihren ersten Schrecken und die Furcht so eindeutig abgeworfen wie eine Schlange ihre Haut.
Die junge Reisende richtete sich auf wie eine Königin, ihre Miene ruhig und gefasst. Der Wirt war einen Fuß größer als sie, aber er machte nun plötzlich nicht mehr den Eindruck, als ob er sie wirklich festhalten könnte. Das Eis in den kalten Augen des Mädchens bewirkte, dass ein Schauder, aus Kindergeschichten erwachsen, über Tiers Rücken lief. In Jahren der Kämpfe geschliffene Instinkte sagten ihm, dass er nicht der Einzige war, den sie aus der Fassung brachte.
Dummes Mädchen, dachte er.
Ein kluges Mädchen hätte leise und entsetzt geschluchzt und wäre in sich zusammengesunken, um kleiner und noch jünger auszusehen und damit das Mitleid des Pöbels zu wecken. Das hier waren keine Söldner und keine erfahrenen Kämpfer, es waren Bauern und Kaufleute.
Wenn er in diesem Augenblick hätte gehen können, hätte er es getan – zumindest sagte er sich das, aber jede Bewegung seinerseits hätte jetzt die Aufmerksamkeit auf ihn gelenkt. Es war nicht gut, sich für die gleiche Behandlung anzubieten, die der tote Mann auf dem Platz erhalten hatte.
»Wo ist der Priester? Ich brauche ihn, um meine Aussage zu bezeugen«, sagte der Wirt, der selbstzufrieden und zugleich nervös klang. Wenn er das Mädchen angesehen hätte, das er immer noch festhielt, hätte er sich noch erheblich nervöser angehört.
Die Menge bewegte sich ein wenig und spuckte einen dünnen jungen Mann aus, der sich ein wenig überrascht umsah, als er plötzlich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand. Jemand brachte einen Hocker und einen wackligen Tisch von der Größe eines Tellers. Als ein grobes Stück Haut, ein Tintenfass und eine Feder aufgetrieben wurden, setzte sich der inzwischen ein wenig selbstsicherer gewordene Priester nieder.
»Also gut«, sagte der Wirt. »Drei Tage Unterkunft, vier Kupferstücke für jeden Tag. Drei Mahlzeiten am Tag für jeweils ein Kupferstück.«
Tier zog zynisch die Brauen hoch. Nichts wies darauf hin, dass das Gasthaus plötzlich nach Taela geflogen sein sollte, wo derartige Preise vielleicht gerechtfertigt waren. Für ein Gasthaus in diesem Dorf waren zwei Kupferstücke am Tag wahrscheinlicher, und das sollte die Mahlzeiten einschließen.
»Einundzwanzig Kupferstücke«, verkündete der Priester schließlich. Schweigen folgte.
»Ein Kupfer am Tag für die Unterbringung des Wagens«, warf der Adlige ein, und zwar, wie Tier bemerkte, ohne von seiner Mahlzeit aufzublicken. Seinem Akzent nach zu schließen kam er aus dem östlichen Teil des Landes, vielleicht sogar von der Küste. »Das sind noch drei weitere Kupferstücke, also insgesamt vierundzwanzig: ein Silberstück.«
Der Wirt lächelte selbstzufrieden. »Ah ja, danke, Lord Wresen. Das Gesetz sieht vor, wenn jemand eine Schuld von einem Silberstück verursacht und nicht ausgleicht« – so, wie der Mann das Wort betonte, war es für Tier offensichtlich, dass ausgleichen kein Wort war, das oft über seine Lippen kam -, »kann man diese Person verkaufen, um die Schuld zu begleichen. Wenn sich kein Käufer findet, dann soll der Schuldner auf dem Marktplatz fünfzig Peitschenhiebe erhalten.«
Auspeitschung war eine weit verbreitete Strafe. Tier wusste ebenso gut wie alle anderen im Raum, dass ein solches Kind wahrscheinlich keine fünfzig Hiebe überleben würde. Er ging weiter in den Raum hinein und setzte dazu an zu protestieren, hielt jedoch inne, als ihm klar wurde, was hier wirklich geschah.
Sein alter Kommandant hatte immer gesagt, dass Wissen mehr Schlachten gewann als Schwerter. Die Beweggründe des Wirts waren leicht zu verstehen. Das Mädchen zu verkaufen, würde ihm mehr einbringen, als er für gewöhnlich in einer ganzen Woche verdiente – immer vorausgesetzt, er konnte sie verkaufen. Kein Dorfbewohner würde ein ganzes Silberstück ausgeben, um eine Reisende zu kaufen. Tier hätte darauf gewettet, dass die juristischen Kenntnisse des Wirts von dem Adligen kamen – ›Lord Wresen‹ hatte er ihn genannt. Er bezweifelte, dass der Mann überhaupt ein Lord war; der Wirt wollte ihm wahrscheinlich wegen seines offensichtlichen Wohlstandes nur schmeicheln – so war es sicherer und profitabler.
Man brauchte nicht besonders intelligent zu sein, um zu erkennen, dass Wresen das Mädchen haben wollte und diese ganze Szene arrangiert hatte, damit er es auch bekam. Die Reisende würde als erwachsene Frau nicht schön sein, aber sie verfügte über den Liebreiz einer Jungfrau zwischen der Kindheit und dem Aufblühen des Frauseins. Wresen hatte nicht vor, sie totpeitschen zu lassen.
»Hast du ein Silberstück?«, fragte der Wirt das Mädchen und schüttelte es dabei grob.
Sie hätte sich fürchten sollen. Selbst jetzt ging Tier noch davon aus, dass ein wenig demonstrative Angst ihrer Sicherheit durchaus zuträglich gewesen wäre. Ein junges Mädchen in die Sklaverei zu verkaufen, gehörte nicht zum Alltag dieser Bauern und würde ihnen falsch vorkommen. Nicht einmal der Wirt schien sich bei dem Gedanken sonderlich wohlzufühlen. Wenn sie an sein Mitgefühl appellierte, würde ihn die Anwesenheit der anderen Männer zwingen, sie gehen zu lassen.
Stattdessen lächelte sie den Wirt verächtlich an und zeigte ihm, dass ihr und jedem anderen im Gasthaus klar war, wie er ihre Verwundbarkeit allein für seinen Profit auszubeuten gedachte. Das machte den Wirt aber nur wütender und brachte sein Gewissen vollkommen zum Schweigen – wusste dieses Mädchen denn überhaupt nichts über Menschen?
»Also, meine Herren«, sagte der Wirt mit einem Blick zu Wresen, der gerade die letzten Bissen aß. »Ein Toter kann seine Schulden nicht mehr zahlen, und sie fallen an seinen Erben. Die da schuldet mir ein Silberstück und kann nicht zahlen. Braucht einer von euch eine Sklavin, oder soll sie sich zu ihrem Bruder gesellen, der auf dem Marktplatz brennt?«
Ihre zornig roten Wangen wurden sofort blass. Offensichtlich hatte sie noch nicht gewusst, dass man den anderen Reisenden umgebracht hatte, ehe der Wirt es erwähnte, obwohl sie befürchtet haben musste, dass ihm etwas zugestoßen war. Sie atmete rascher und blinzelte angestrengt, aber dann riss sie sich zusammen, bis auf ihren Zügen nur noch Zorn und Verachtung zu sehen waren.
Dummes Mädchen, dachte er wieder – dann spürte er das Kribbeln sich sammelnder Magie.
Neun lange Jahre hatte er in der kaiserlichen Armee unter einem Sept gedient, dem sechs Zauberer unterstanden – das war zweifellos der Grund, wieso Tier tatsächlich in Betracht zog, der Reisenden zu helfen und nicht wie ein anständiger Rederni davonzurennen. Diese Jahre hatten ihn gelehrt, dass Magier Menschen waren wie alle anderen auch; dieses Mädchen würde sich kaum vor einem Mob verängstigter Männer retten können. Wenn die Dorfleute erst erlebt hatten, wie es Magie wirkte, würde das auch sonst niemand tun können.
Die Reisende bedeutete ihm nichts.
»Ein Silberstück«, sagte er.
Wresen zuckte zusammen und wurde plötzlich viel aufmerksamer. Seine Hand berührte das Schwert, und er starrte Tier an. Tier wusste, was der Adlige vor sich sah: einen Mann in von der Reise verschmutzten Kleidern, hochgewachsen und zu dünn, mit einem Schwert am Gürtel und Jahren in der Armee des Kaisers, die sich in den unzähligen kleinen Narben auf Gesicht und Händen abzeichneten.
Tier öffnete den Beutel, den er am Gürtel trug, und ging ein paar kleinere Münzen durch, bevor er ein Silberstück herauszog, das aussah, als wäre ein Dutzend Heere darüber hinweggetrampelt.
»Nimm die Kapuze ab«, sage der Wirt. »Ich will das Gesicht eines Mannes sehen und seinen Namen und seine Abstammung kennen, bevor ich sein Geld annehme.«
Tier warf den Kopf zurück und ließ zu, dass sie sein dunkles Haar und die dunklen Augen sahen, um daraus zu schließen, dass er kein Reisender war. »Tieragan aus Redern. In den letzten Jahren diente ich in der kaiserlichen Armee unter dem Sept von Gerant. Ich bin der Sohn eines Bäckers, aber ich habe dies gegen ein Schlachtfeld getauscht, als ich noch jung und dumm war. Der Kaiser hat den Krieg mit einem Dekret beendet, und jetzt bin ich auf dem Weg nach Hause.«
Die Magie des Mädchens erstarb zu einer trägen Kraft. Genau, dachte er, nimm dir die Zeit, die ich dir verschaffe, um zu verstehen, dass du mit einem einzigen Mann leichter zurechtkommen wirst als mit einem ganzen Raum voll. Du willst nicht wirklich Rache; du willst fliehen. Er wusste nicht einmal, ob er sie tatsächlich vor diesen Männern rettete oder eher die Männer vor ihr.
»Wenn du sie nimmst, wirst du nicht hierbleiben«, tönte der Wirt. »Ich will solche wie die da nicht in meinem Gasthaus.«
Tier zuckte die Achseln. »Ich habe mein Lager schon öfter im Freien aufgeschlagen, und mein Pferd wird mich noch ein paar Stunden tragen.«
»Zwei Silberstücke«, sagte Wresen plötzlich. Der Adlige schlug heftig genug mit den Händen auf den Tisch, dass sein Schwert hüpfte und der große Silberring an seiner linken Hand die Worte mit einem Knall unterstrich. Als alle sich zu ihm umdrehten, fuhr er fort: »Ich wollte immer schon einmal das Brot der Reisenden essen – und die da sieht jung genug aus, dass man sie noch erziehen kann.«
Tier konnte sich nicht leisten, viel mehr zu bieten als Wresens zwei Silberstücke. Nicht, weil er nicht mehr besaß – der größte Teil von neun Jahren Sold und Beute waren sicher in seinen Gürtel eingenäht -, sondern weil niemand glauben würde, dass er, ein Bäckerssohn und Soldat, so viel Geld für eine seltsame Kindfrau ausgeben würde, so exotisch sie auch sein mochte. Er glaubte es ja selbst kaum. Falls die Dorfleute zu dem Schluss kamen, dass er sich mit der Reisenden zusammengetan hatte, würde er sich auf dem Scheiterhaufen draußen wiederfinden. Ein gelangweilter Adliger andererseits konnte so viel ausgeben, wie er wollte, ohne dass sich jemand darüber Gedanken machte.
Tier warf Wresen einen verächtlichen Blick zu.
»Ihr wäret tot, bevor Eure Hose die Knie erreicht hätte, Adliger«, sagte er. »Ihr kommt nicht aus diesen Bergen, sonst wüsstet Ihr über Magie Bescheid. Mein Waffengefährte war wie Ihr an zahme Zauberer gewöhnt, die das Gold des Sept nahmen. Er rettete mir dreimal das Leben und überlebte fünf Jahre Krieg, nur um sich dann von einem Reisenden-Zauberer in einer dunklen Gasse umbringen zu lassen.«
Die Stimmung im Raum veränderte sich, als Tier die Dorfbewohner erinnerte, wieso sie den Mann, der draußen brannte, getötet hatten.
»Wir« – er schloss sich selbst und jeden anderen Mann im Raum ein – »wir kennen uns mit diesen Dingen aus. Man spielt nicht mit Feuer, Lord Wresen, man löscht es mit Wasser, bevor es das Haus niederbrennt.« Er sah den Wirt an. »Nachdem der Reisende meinen Kampfesbruder getötet hatte, verbrachte ich Jahre damit zu lernen, wie man mit solchen Leuten fertig wird – ich freue mich schon darauf, mein Wissen zu prüfen. Zwei Silberstücke und vier Kupfer.«
Der Wirt nickte schnell, wie Tier erwartet hatte. Ein Wirt kannte die Stimmungen seiner Gäste und begriff, dass er überhaupt nichts bekommen würde, wenn Tier noch mehr über diese Dinge sagte. Die Männer im Raum standen dicht davor, das Mädchen sofort nach draußen zu zerren und es zu seinem Bruder zu werfen. Es war viel besser, die Auktion vorzeitig zu beenden, solange er noch etwas für das Mädchen bekommen konnte.
Tier reichte dem Wirt die Silbermünze und begann in seinem Beutel zu suchen, wo er schließlich die achtundzwanzig Kupferstücke fand, die es zu einem weiteren Silberstück und vier Kupfern brauchte. Er achtete sorgfältig darauf, einige in seiner Nähe sehen zu lassen, dass ihm nur noch wenige Kupferstücke blieben. Von dem Geld in seinem Gürtel brauchten sie nichts zu erfahren.
Wresen lehnte sich zurück, als kümmere ihn nicht mehr, was aus der Reisenden wurde. Seine Reaktion machte Tier nur noch misstrauischer – nach seiner Erfahrung gaben gelangweilte Adlige selten so leicht auf. Aber zumindest im Augenblick musste er sich nur um das Mädchen kümmern.
Er ging zur Treppe und ignorierte die Männer, die vor ihm zurückwichen. Dann zerrte er das Mädchen am Handgelenk an dem Wirt vorbei.
»Wir nehmen mit, was ihr gehört«, sagte Tier. »Ich werde alles verbrennen, wenn wir im Wald sind – du solltest vielleicht das Gleiche mit dem Bett und der Bettwäsche in ihrem Zimmer tun. Ich habe schon erlebt, wie Zauberer solche Dinge mit einem Fluch belegt haben.«
Er ging in einer Geschwindigkeit die Treppe hinauf, mit der die Kleine so, wie er ihren Arm verdrehte, auf keinen Fall Schritt halten konnte. Als sie stolperte, riss er sie mit einer Gewaltsamkeit hoch, die mehr Theater war als echt. Denn er wollte alle davon überzeugen, dass er mit jeder Gefahr, für die sie stand, zurechtkommen konnte.
Oben an der Treppe befanden sich vier Türen, aber nur eine stand offen. Also zerrte er sie in den Raum dahinter und schloss schnell die Tür.
»Beeilt Euch, Mädchen«, sagte er und ließ sie los. »Nehmt Eure Sachen, bevor sie auf die Idee kommen, dass sie das Silber behalten und uns beide umbringen können.«
Als sie sich nicht rührte, versuchte er es noch einmal. »Was Ihr nicht gepackt habt, bis ich bis dreißig gezählt habe, überlasse ich dem Wirt, damit er es verbrennen kann.«
Sie mochte stolz und mutig sein, aber sie war auch jung. Mit raschen, ruckartigen Bewegungen zog sie zwei abgewetzte Rucksäcke unter dem Bett vor. Sie band den ersten zu und holte Kleidung aus dem anderen. Dann nutzte sie ihr Nachthemd, um sich zu verbergen, und zog darunter eine weite Hose und ein langes, dunkles Hemd an. Nachdem sie ihr Nachthemd in den zweiten Rucksack gepackt hatte, band sie auch den zu. Sie stand auf, sah sich um und erstarrte.
»Ushireh!«, sagte sie und fügte dringlicher hinzu: »Er lebt!«
Tier schaute nach draußen und bemerkte, dass das Zimmer auf den Marktplatz hinausging und einen klaren Blick auf den Scheiterhaufen bot, wo sich die Leiche des Mannes in der Hitze der Flammen deutlich sichtbar aufsetzte – was, wie es sich anhörte, auch die Männer zu Tode erschreckte, die zurückgeblieben waren, um den Scheiterhaufen zu bewachen.
Er hielt das Mädchen fest, bevor es nach draußen rennen konnte. »Bei meiner Ehre, Jungfer, er ist tot«, sagte er leise und eindringlich. »Ich sah ihn, als ich ins Dorf kam. Sie hatten ihm die Kehle durchgeschnitten, und er war tot, bevor sie ihn ins Feuer warfen.«
Sie kämpfte weiterhin gegen seinen Griff an, die Aufmerksamkeit auf das Feuer draußen gerichtet.
»Hätten sie nur so wenige Männer zurückgelassen, um einen Lebenden zu bewachen?«, fragte er. »Ihr habt doch sicher zuvor schon Scheiterhaufen gesehen, wenn jemand beigesetzt wurde. Wenn die Flammen die Leiche erhitzen, bewegt sie sich.«
In den östlichen Teilen des Reiches verbrannten sie ihre Toten. Die Priester behaupteten, wenn eine Leiche sich in den Flammen bewegte, spräche das vom Wunsch des Geistes, die Welt noch einmal zu sehen. Tiers alter Arbeitgeber, der Sept, der für Priester so viel übrig gehabt hatte wie ein Reisender – also nicht viel -, war davon ausgegangen, dass die Hitze das Gewebe schneller schrumpfen ließ als die Knochen, wenn die Leiche brannte. Was immer zutreffen mochte, die Toten blieben tot.
»Er ist tot«, sagte Tier noch einmal. »Das schwöre ich.«
Sie riss sich los, aber nur, um zum Fenster zurückzueilen. Sie atmete nun keuchend und zitterte davon am ganzen Körper. Wenn sie das unten auf der Treppe getan hätte, dachte er säuerlich, hätte er jetzt einen besseren Abend vor sich, als ohne Abendessen in den Regen hinausreiten zu müssen.
»Sie hatten Angst vor ihm und seiner Magie«, sagte sie mit tiefer Stimme, die vor Zorn und Kummer bebte. »Aber sie haben den Falschen umgebracht. Diese dummen Solsenti glauben, dass ein Reisender immer ein Magier ist und ich harmlos bin, weil ich jung bin und ein Mädchen.«
»Wir können es uns nicht leisten, noch länger hierzubleiben«, sagte er forsch, obwohl sein Herzschlag sich beschleunigt hatte. Er war vertraut mit Magie, aber das würde ihm nicht viel helfen, falls er in der Nähe sein sollte, wenn sie wütend wurde. »Seid Ihr fertig?«
Sie fuhr vom Fenster herum, und ihre Augen glühten noch ein wenig von der Magie, die sie gesammelt hatte, während sie beobachtete, wie die Leiche ihres Bruders brannte.
Wahrscheinlich hätte Tier noch mehr Angst vor ihr gehabt, wenn er genau gewusst hätte, wozu sie fähig war.
»Es sind zu viele Leute hier«, sagte er. »Nehmt, was Ihr braucht, und kommt mit.«
Das Glühen verschwand aus ihren Augen, und sie sah nur noch leer und verloren aus, bevor sie sich wieder aufrichtete, entschlossen nach beiden Rucksäcken griff und nickte.
Er legte ihr eine Hand auf die Schulter und folgte ihr nach draußen und die Treppe hinunter. Der Schankraum war erheblich leerer – zweifellos hatte man alle herausgerufen, damit sie sich die zuckende Leiche ansahen.
»Geht lieber, bevor sie zurückkommen«, sagte der Wirt säuerlich. Er machte sich wahrscheinlich Gedanken, was seinem Gasthaus geschehen würde, wenn die Männer nach ihrem neuesten Schrecken zurückkamen und feststellten, dass die Reisende immer noch da war.
»Verbrennt vorsichtshalber auch die Vorhänge«, erwiderte Tier. Der Inhalt des Raums war vollkommen in Ordnung, aber er fand, dass es dem Wirt nur recht geschähe, wenn er mehr von Tiers Geld ausgeben musste, um neuen Vorhangstoff zu kaufen.
Das Mädchen, gesegnet sollte es sein, war vernünftig genug, den Blick niederzuschlagen und zu schweigen.
Sobald sie das Gasthaus verlassen hatten, führte er das Mädchen zum Stall, wo der Stalljunge den Wallach bereits aus der Box geholt und gesattelt hatte. Auch der Wagen der Reisenden war da. Sie war leicht, also würde Scheck sie beide leicht bis zum nächsten Dorf tragen können, wo Tier vielleicht ein zweites Reittier kaufen würde – aber der Handwagen stellte ein Problem dar.
»Wir lassen den Wagen hier«, sagte er zu dem Jungen, nicht zu der Reisenden. »Ich will nicht nur so weit reiten, wie dieses Kind einen solchen Wagen ziehen kann.«
Der Junge hob das Kinn. »Mein Vater sagt, Ihr müsst alles mitnehmen. Er will nicht, dass noch irgendwelche Flüche übrig bleiben.«
»Er hat Angst, dass sie die Scheune anstecken werden«, sagte das Mädchen ins Nichts.
»Das geschähe ihm nur recht«, erwiderte Tier in einem östlichen Dialekt, den ein Stalljunge, der in diesem Dorf zur Welt gekommen und aufgewachsen war, nicht kennen würde. Das rasche Nach-Luft-Schnappen des Mädchens sagte ihm, dass es den Dialekt durchaus beherrschte.
»Gib mir eine Axt«, sagte Tier stirnrunzelnd. Sie hatten wirklich keine Zeit für diese Dinge. »Ich werde den Wagen verbrennen, bevor wir gehen.«
»Das Pferd kann ihn ziehen«, sagte das Mädchen. »Unter dem Boden sind Deichseln angebracht.«
Tier schnaubte, aber er schaute gehorsam unter den Wagen und sah, dass sie recht hatte. Ein Gabelkopfbolzen und ein Kipphebel erlaubten, den Hangriff unter den Wagen zu schieben. Und auf beiden Seiten gab es feste Deichseln, die man herausziehen und befestigen konnte.
Tier sprach noch einmal mit dem Jungen. Das Gasthaus hatte keine überzähligen Pferde und auch kein Geschirr.
Tier schüttelte den Kopf. Wie er es schon ein- oder zweimal getan hatte, wenn auch nicht mit Scheck, baute er aus seinem Kriegssattel ein Geschirr zusammen. Das Brustblatt funktionierte recht gut als Kummet, da es nur um ein leichtes Gewicht ging.
Er passte die Steigbügel an, um die Deichseln aufzunehmen, und nahm einen alten Zügel, den ihm der Junge brachte, als Zuggurt.
»Welch ein Abstieg für ein Schlachtross, mein Freund«, sagte Tier, als er Scheck ein paar Schritte führte.
Der Wallach schnaubte nur einmal über das Ding, das ihm folgte. Nein, er war kein Wagenpferd, aber man hatte ihn ausgebildet, selbst im Schlachtengetümmel ruhig zu bleiben, und so war Scheck auch vernünftig genug, den Wagen zu ziehen.
Während Tier das Pferd ein Stück durch den Stall führte, war das Mädchen zum Tor gegangen, den Blick auf den Scheiterhaufen gerichtet.
»Du wirst später Zeit haben, ihn zu betrauern«, versprach er. »Im Augenblick sollten wir lieber verschwinden, bevor sie ins Gasthaus zurückkehren. Du wirst Scheck leicht reiten können – halte nur die Füße von seinen Rippen fern.«
Sie kletterte irgendwie hinauf und mied dabei Tiers Berührung, so gut sie es vermochte. Das konnte er ihr nicht übel nehmen, sagte aber lieber nichts Tröstliches, damit der Stalljunge es nicht hörte.
Er behielt Schecks Zügel in der Hand und führte ihn aus dem Stall in die Gegenrichtung zu der, aus der er eingetroffen war. Das Mädchen drehte sich um und betrachtete den Scheiterhaufen, so lange es konnte.
Tier führte Scheck im Schritt durch das Dorf. Sobald sie das Kopfsteinpflaster hinter sich hatten und sich auf einem breiten Feldweg befanden, begann er mit einem schnellen Schritt, den er lange Zeit durchhalten konnte. Allerdings brauchte er dabei jedes bisschen Atem, und es war nicht angenehm zu reden – also sprach er nicht mit dem Mädchen.
Scheck trabte an seiner Seite wie ein gut erzogener Hund, die Nase an Tiers Schulter, so wie sie schon etliche Meilen hinter sich gebracht hatten. Der Regen, der eine Weile aufgehört hatte, begann erneut, und Tier wurde langsamer, um nach einer möglichen Zuflucht Ausschau zu halten.
Schließlich fand er eine Stelle, wo ein toter Baum sich gegen zwei andere lehnte und dadurch einen kleinen trockenen Bereich schuf, den er vergrößerte, indem er ein Stück Ölhaut darüberhängte.
»Ich würde es noch besser machen, wenn es nicht vollkommen dunkel wäre und regnen würde«, sagte er zu dem Mädchen, ohne es anzusehen. »Aber unter der Ölhaut wird es auf jeden Fall trockener sein als draußen.«
Er nahm Scheck Sattel und Geschirr ab und rieb ihn schnell trocken, bevor er ihn an einen Baum in der Nähe anpflockte. Scheck richtete das Hinterteil in den Wind und zog eine Hüfte hoch. Wie jeder Veteran wusste das Pferd, dass es sich ausruhen musste, wann immer Gelegenheit dazu bestand.
Tier wandte sich dem Mädchen zu, den schweren Kampfsattel in der Hand.
»Wenn Ihr mich anfasst«, sagte sie kühl, »werdet Ihr diesen Tag nicht überleben.«
Er betrachtete einen Augenblick ihre zierliche Gestalt. Nass und verfroren sah sie noch weniger beeindruckend aus als zuvor als Gefangene des Wirts.
Tier war tatsächlich noch nie einer Reisenden begegnet. Aber er hatte Erfahrung im Umgang mit verängstigten jungen Geschöpfen – in der Armee hatte es viele junge Männer gegeben. Selbst so nass und müde, wie er war, dachte er nicht im Traum daran, direkt auf diesen Satz einzugehen – warum sollte sie ihm auch nur ein einziges Wort glauben? Aber wenn er sie nicht in die Unterkunft brachte, wo sie seine Wärme teilen konnte, würde sie wahrscheinlich Lungenfieber bekommen. Dann hätte er sie umsonst gerettet.
»Guten Abend, meine Dame«, sagte er mit einer recht guten Imitation der Verbeugung eines Adligen, obwohl er immer noch den schweren Sattel trug. »Ich bin Tieragan aus Redern – die meisten Leute nennen mich Tier.« Dann wartete er.
Sie starrte ihn an; er spürte ein Schmetterlingsflattern von Magie – und dann riss sie ungläubig die Augen auf, als hätte sie mehr gehört, als er gesagt hatte. »Ich bin Seraph, Rabe des Clans von Isolda der Schweigsamen. Ich grüße Euch, Barde.«
»Seid ebenfalls gegrüßt, Seraph«, sagte er. Ihre Antwort hätte anderen Reisenden wahrscheinlich mehr gesagt. Vielleicht hätten sie sogar gewusst, wieso sie ihn als Barde angesprochen hatte – wahrscheinlich ein weiterer Bestandteil der Reisenden-Etikette. »Ich bin auf dem Rückweg nach Redern. Wenn meine Landkarte zutrifft – und bisher hat sie sich als bemerkenswert korrekt erwiesen -, liegt es etwa zwei Reisetage nordwestlich von hier.«
»Mein Clan, der nur aus Ushireh und mir bestand, war unterwegs zu dem Dorf, das wir gerade verlassen haben«, erwiderte sie und schauderte nun. »Ich weiß nicht, wohin Ushireh hinterher gehen wollte.«
Tier hatte damit gerechnet, sie zu ihren Leuten zurückbringen zu können. »Ihr wart nur zu zweit?«
Sie nickte und beobachtete ihn so misstrauisch wie eine Henne den Fuchs.
»Habt Ihr Verwandte in der Nähe? Jemanden, zu dem Ihr gehen könntet?«, fragte er.
»Die Clans der Reisenden meiden diese Region«, sagte sie. »Es ist bekannt, dass sich die Leute hier vor uns fürchten.«
»Warum ist Euer Bruder also hierhergekommen?« Er packte den Sattel ein wenig bequemer und ließ ihn an der Hüfte ruhen.
»Das Oberhaupt eines Clans spürt oft, wo sich Umschattete aufhalten«, erwiderte sie düster. »Mein Bruder folgte einem von ihnen.«
Tiers Erfahrung mit Magiern hatte dazu geführt, keine Fragen zu stellen, wenn sie über Magie sprachen – im Allgemeinen wusste man nach ihren Antworten weniger als zuvor. Was immer den jungen Mann hierhergeführt hatte, er hatte Seraph alleine zurückgelassen.
»Was ist dem Rest Eures Clans zugestoßen?«, fragte er.
»Die Pest«, sagte sie. »Eines Abends hießen wir einen fremden Reisenden an unseren Feuern willkommen. Am nächsten Abend hatte einer der Säuglinge Husten – und am Morgen darauf waren drei von uns tot. Der Clanführer versuchte, die Kranken zu isolieren, aber es war zu spät. Nur mein Bruder und ich überlebten.«
»Wie alt seid Ihr?«
»Sechzehn.«
Das war jünger, als er aus ihrer Haltung geschlossen hatte, aber dem Aussehen nach hätte sie ebenso gut dreizehn sein können. Er hob sich den Sattel auf die Schulter, um den Arm auszuruhen. Als er das tat, hörte er ein dumpfes Geräusch, und der Sattel ruckte in seinem Griff. Ein Pfeil bebte in dem dicken Leder des Seitenblatts, das über seine Brust hing.
Er warf sich nach vorn und drückte seine Begleiterin unter sich auf den schlammigen Boden. Obwohl sie verzweifelt versuchte, sich zu befreien, hielt er sie fest und sagte in einem tonlosen Flüstern: »Still jetzt, Liebes. Jemand da draußen schießt mit Pfeilen auf uns. Seht Euch meinen Sattel an.«
Als sie sich beruhigte, glitt er von ihr herunter. Das Gras war ziemlich hoch und hatte ihre Bewegungen hoffentlich verborgen. Sie rollte sich auf den Bauch, bewegte sich aber nicht weiter von ihm weg. Er legte die Hand auf ihren Rücken, damit sie blieb, wo sie war, bis er ihren Angreifer gefunden hatte. Ihre Rippen bebten im Gleichklang mit ihrem heftig klopfenden Herzen.
»Er ist zwei Dutzend Schritte hinter Eurem Pferd«, flüsterte sie. »Ein wenig nach rechts.«
Er fragte nicht, wieso sie ihren Angreifer in der Dunkelheit der Waldnacht sehen konnte, sondern schlich vorwärts, bis er vor Scheck hockte, wo er kurz verharrte und dabei hoffte, dass der Schlamm, der ihn am ganzen Körper bedeckte, verhindern würde, dass er zum Ziel für einen anderen Pfeil wurde.
Er warf einen Blick zurück, um sich zu überzeugen, dass Seraph sich immer noch versteckte, dann verbiss er sich einen Fluch.
Sie stand aufrecht und hatte den Blick auf eine Stelle hinter Scheck gerichtet. Er nahm an, sie beobachtete ihren Angreifer. Ihre Kleidung war dunkel genug, um kaum sichtbar zu sein, aber ihr helles Haar fing das schwache Mondlicht ein.
»Seraph«, sagte eine leise Stimme. Sie sprach in einer fließenden Sprache weiter, die Tier noch nie zuvor gehört hatte.
»Sprecht die Allgemeine Sprache«, antwortete Seraph mit kalter, klarer Stimme, die eher nach einer Kaiserin klang als nach einem zerschlagenen, schlammigen, halb erwachsenen Mädchen. »Die Sprache der Reisenden passt nicht zu Eurer Zunge. Ihr klingt wie eine Henne, die zu quaken versucht.«
Nun gut, dachte Tier. Wenn unser Verfolger Seraph töten wollte, hätte er das schon getan. Inzwischen hatte er eine recht gute Vorstellung, wer da versucht hatte, ihn mit einem Pfeil zu treffen. Er hatte nicht gesehen, dass Lord Wresen einen Bogen besaß, aber wahrscheinlich hatte er sich beim Gepäck des Mannes befunden.
»Ich habe den, der dir wehtun wollte, getötet«, fuhr die leise Stimme fort.
Wahrscheinlich sah es für den Mann wirklich so aus, als wäre Tier tot. Er hatte sich einen halben Atemzug nach dem Einschlagen des Pfeils zu Boden geworfen, und der Sattel und die Decke bildeten einen Schatten, der aus der Ferne durchaus eine Leiche hätte sein können.
»Komm mit mir, Kleines«, sagte Tiers Möchtegernmörder. »Ich habe in der Nähe Unterkunft und Essen. Du kannst hier draußen nicht allein bleiben. Bei mir wirst du sicher sein.«
Tier konnte genau hören, dass der Mann log, aber er glaubte nicht, dass Seraph ebenfalls dazu imstande war. Er wartete darauf, dass der andere nahe genug kam, um sichtbar zu werden, und hoffte, dass Seraph ihm nicht glaubte. Nachdem Tier zwei Silberstücke und vier Kupfer für sie ausgegeben und sein Abendessen verpasst hatte, hatte er ein gewisses Interesse an ihrem Wohlergehen.
»Ein Rabe ist nie allein«, sagte das Mädchen.
»Seraph«, tadelte der Mann. »Das weißt du doch besser. Komm, Kind, ich habe ein sicheres Lager, in dem du übernachten kannst. Und am Morgen bringe ich dich zu einem Clan, den ich kenne und der sich hier in der Nähe aufhält.«
Tier konnte ihn jetzt sehen – ein Schatten, dunkler als die Bäume, unter denen er hervorkam. Etwas an der Art, wie der Schatten sich bewegte, verriet zusammen mit der Stimme seine Identität: Es handelte sich tatsächlich um Wresen.
»Was ist das denn für ein Clan?«, fragte Seraph.
»Ich …« Sein Instinkt veranlasste Wresen, sich umzudrehen, bevor Tier zuschlug. Das Schwert traf auf Metall.
Tier warf sein ganzes Gewicht gegen den anderen Mann und schob Wresen von sich, um Distanz zwischen ihnen zu schaffen – so würde seine größere Reichweite ihm zupasskommen.
Sie kämpften ein paar Minuten, wobei sie einander überwiegend prüften und nach Schwächen suchten. Der ältere Mann erwies sich als schneller, als Tier erwartet hätte, aber er war es nicht, der seinen Gegner unterschätzte. Wenn man nach dem Grunzen ausging, das Wresen ausstieß, als er Tiers Schwert zum ersten Mal abfing, hatte er Tier nicht für so stark gehalten – etwas, das häufig geschah. Tier war hochgewachsen, und man hatte ihn oft geneckt, er sei so schlaksig wie ein Junge.
Als sie sich ein wenig voneinander zurückzogen, um sich wieder zu sammeln, hatte Tier einen nicht besonders tiefen Schnitt am Wangenknochen und einen anderen an der Unterseite des rechten Unterarms. Der andere Mann hatte einen festen Schlag von Tiers Schwertgriff am Handgelenk hinnehmen müssen, und Tier war ziemlich sicher, dass er ihm auch eine Kopfwunde verursacht hatte, die seinem Gegner ins Auge blutete.
»Was wollt Ihr mit dem Mädchen?«, fragte Tier. Das hier war ein wenig zu viel Anstrengung für eine Bettgefährtin, ganz gleich, ob sie nach Wresens Geschmack sein mochte.
»Nichts als ihre Sicherheit«, erklärte Wresen. Die Lüge hallte in Tiers Ohren wider. »Und das ist mehr, als ich für dich sagen kann.«
Er machte eine seltsame Geste mit den Fingern, und Tier ließ das Schwert mit einem Schrei fallen, als es so heiß wurde, dass er es nicht mehr halten konnte.
Ein Zauberer, dachte er, aber Schreck und Überraschung hielten ihn nicht zurück. Er ließ sein Schwert, wo es lag, und sprang seinen Feind an, rammte ihm die Schulter in den Bauch und ließ sie beide ins Unterholz taumeln.
Der überraschte Wresen stolperte und fiel. Tier schlug fest zu und zielte auf die Kehle seines Gegners, doch der Mann rollte sich zu schnell herum. Rasch wie ein Wiesel kam Wresen wieder auf die Beine. Zweimal musste Tier wegspringen, um der Klinge des anderen zu entkommen. Aber er war nicht dumm; unbewaffnet hatte er keine großen Aussichten.
»Lauft, Seraph«, sagte er. »Nehmt das Pferd und verschwindet.«
Mit ein wenig Glück sollte er ihren Verfolger lange genug aufhalten können, damit sie ihn im Wald abhängte. Wenn er Wresen gut beschäftigt hielt, würde er keine Zeit für seine Magie haben.
»Stellt Euch nicht dümmer an als nötig, Barde«, sagte sie kalt.
Der andere Mann fluchte, und Tier sah, dass Wresens Schwert angefangen hatte zu glühen, als befände es sich immer noch im Schmiedefeuer. Dampf stieg von der Schwerthand des Adligen auf, und er versuchte ungeschickt, es mit der freien Hand loszureißen. Er achtete nicht mehr auf Tier – und das war sein letzter Fehler.
Tier zog sein Stiefelmesser aus dem Hals des Mannes und säuberte es an dessen Umhang. Als er fertig war, sah er Seraph an.
Ihre helle Haut und ihr Gesicht waren im Dunkeln leicht zu finden. Sie erinnerte ihn an hundert Legenden: So musste Loriel dagestanden haben, als sie dem Schatten mit nichts als ihrem Lied entgegentrat, oder Terabet, bevor sie sich lieber von den Mauern von Anarogehn warf, als ihr Volk zu verraten. Sein Vater hatte sich immer beschwert, sein Großvater habe ihm zu viele Geschichten erzählt.
»Warum habt Ihr Euch für mich entschieden und nicht für ihn?«, fragte Tier.
»Ich habe ihn im Gasthaus gehört. Er war kein Freund von mir.«
Tier kniff die Augen zusammen. »Ihr habt mich im Gasthaus ebenfalls gehört. Er hat dem Wirt nur geholfen, ein paar Kupferstücke hinzuzufügen – ich dachte, Ihr wolltet Rache.«
Sie hob das Kinn. »Ich bin nicht dumm. Ich bin Rabe – und Ihr seid Barde. Ich habe gesehen, was Ihr getan habt.«
Sie benutzte die allgemeine Sprache, aber die Worte waren für ihn dennoch unverständlich.
Er sah sie stirnrunzelnd an. »Wie meint Ihr das? Jungfer, ich war Bäcker und dann Soldat, also Schwertkämpfer, Spurenleser und Spion, und sogar Schneider, Waffenschmied und hin und wieder Grobschmied und wahrscheinlich noch ein halbes Dutzend Berufe. Aber ich behaupte nicht von mir, ein Barde zu sein. Und selbst wenn ich einer wäre, wüsste ich nicht, was das mit Euch zu tun hätte. Oder was es bedeutet, ein Rabe zu sein.«
Sie starrte ihn an, als hätte er etwas ziemlich Unverständliches gesagt. »Ihr seid ein Barde«, sagte sie wieder, aber diesmal lag ein Beben in ihrer Stimme.
Er sah sie forschend an. Es war vielleicht Regen, der ihre Wangen benetzte, aber er hätte sein gutes Messer verwettet, dass sich in diesem Wasser auch Salz befand. Sie war kaum älter als ein Kind und hatte gerade ihren Bruder unter schrecklichen Umständen sterben sehen. Es war mitten in der Nacht, sie zitterte vor Kälte, und sie hielt sich besser als mancher erfahrene Soldat.
»Ich schaffe die Leiche weg«, sagte er. »Wir werden beide nicht schlafen können, wenn sie hier liegen bleibt und Aasfresser anlockt. Und Ihr seht zu, dass Ihr aus dem Regen kommt, und zieht trockene Sachen an. Wir reden morgen weiter. Ich verspreche, dass Euch zumindest bis zum Morgen niemand etwas tun wird.«
Während sie das Gepäck aus dem Wagen holte, führte er Scheck zu der Leiche, und es gelang ihm irgendwie, sie auf den Rücken des Wallachs zu schieben. Er hatte nicht vor, den Mann zu begraben, er wollte ihn nur weit genug wegbringen, dass die Raubtiere, die er womöglich anzog, sie nicht belästigen würden. Dann fiel ihm ein, dass Wresen vielleicht nicht allein gewesen war – es wäre tatsächlich seltsam für einen Adligen, ohne Diener unterwegs zu sein.
Aber er fand nur eine graue Stute, die etwa hundert Schritt den Weg entlang an einen Baum gebunden war, und es gab kein Anzeichen von einem zweiten Pferd in der Nähe.
Tier blieb neben Scheck stehen und ließ die Leiche vom Rücken des Pferdes in den Schlamm fallen, das Schwert immer noch fest in der Hand. Scheck, der alles zuvor ruhig ertragen hatte, sprang drei Schritte zur Seite, als die Leiche aufklatschte, und schnaubte unglücklich. Die Graue wich zurück und schüttelte den Kopf. Sie versuchte sich loszureißen, aber die Zügel hielten. Als nichts weiter geschah, beruhigte sie sich wieder und knabberte nervös an einem Büschel Blätter.
Tier durchsuchte die Satteltaschen des Mannes, aber es gab dort nichts außer den Zutaten für ein paar Mahlzeiten und einem Beutel mit Silber- und Kupfermünzen. Die steckte er mit der Sparsamkeit eines Soldaten in seinen eigenen Beutel und nahm auch den Proviant. An der Leiche fand er nichts außer einem klotzigen Silberring mit einem kleinen, dunklen Stein. Er ging davon aus, dass der Ring ebenso wie das Pferd und das Schwert des Mannes zu leicht zu identifizieren seien, und ließ sie, wo sie waren.
Am Ende fand Tier keinen Hinweis darauf, wer Wresen gewesen war oder warum er Seraph so unbedingt hatte haben wollen. Ein Magier hätte allerdings nicht diese unvernünftige Angst vor Reisenden wie die Dorfbewohner.
Er nahm sein Messer und schnitt die Zügel der Grauen nahe dem Gebiss zum größten Teil durch. Wenn sie genug Hunger hatte, würde sie sich losreißen, aber so schnell würde das noch nicht geschehen.
In sich zusammengesackt vor Müdigkeit, ritt Tier zum Lager zurück. Seraph hatte seinen Rat befolgt: Er fand sie unter dem Baum, wo sie sich zusammengekauert hatte.
Eine zweite Ölhautplane, größer und noch abgetragener als seine, vergrößerte ihre Zuflucht, sodass er vielleicht sogar trockene Füße haben würde. Sein Sattel befand sich ebenfalls in der behelfsmäßigen Unterkunft, und der größte Teil des Schlammes war abgewischt. Er holte andere Kleidung aus den Satteltaschen und zog sie an. Die Sachen waren nicht sauber, aber im Augenblick war es ihm wichtiger, trocken zu sein.
Seraph hatte sich abgewandt, als er sich umzog. Tier wusste, sie würde nicht schlafen können, weil sie so fror, sich aber auch ganz bestimmt nicht an einen Fremden schmiegen – besonders nicht unter den derzeitigen Umständen -, also sagte er nichts dazu. Er legte einfach den Arm um sie, ignorierte ihren bestürzten leisen Aufschrei und streckte sich zum Schlafen aus.
Sie versuchte, sich von ihm zu lösen, aber es gab nicht viel Platz. Dann schwieg sie sehr lange, und Tier döste schließlich ein. Irgendwann später weckte ihn ihr leises Weinen, und er zog sie dichter an sich und tätschelte ihr den Rücken, als wäre sie seine kleine Schwester, die mit einem aufgeschürften Knie zu ihm gekommen war und nicht mit dem Verlust ihrer Familie.
Als er erwachte, sah er zwei seltsam helle Augen, die ihn anstarrten und in dem Sonnenlicht, das durch die morgendlichen Wolken fiel, noch heller wirkten.
»Ich hätte das hier nehmen können«, sagte Seraph.
Er sah die Klinge, die sie in ihren schmutzigen Händen hielt – sein bestes Messer. Sie hatte offenbar seine Satteltaschen durchsucht.
»Ja«, stimmte er zu und nahm es ihr aus der Hand. Sie leistete keinen Widerstand. »Aber ich habe Euer Gesicht gesehen, als Ihr letzte Nacht unseren toten Freund vor Euch hattet. Ich war ziemlich sicher, dass Ihr es nicht so schnell mit einer weiteren Leiche zu tun haben wolltet.«
»Ich habe schon viele Tote gesehen«, sagte sie, und er erkannte an ihren Augen, dass sie nicht log.
»Aber keinen, den Ihr selbst umgebracht habt«, vermutete er.
»Wenn ich nicht geschlafen hätte, als sie meinen Bruder umbrachten, hätte ich sie alle getötet, Barde.«
»Das mag sein.« Tier streckte sich und kroch unter dem Baum hervor. »Aber dann hättet Ihr mich ebenfalls umgebracht. Und wie ich schon letzte Nacht sagte, ich bin kein Barde.«
»Nur ein Bäckerssohn«, sagte sie. »Aus Redern.«
»Wohin ich zurückkehre«, fügte er hinzu.
»Ihr seid kein Solsenti«, widersprach sie selbstzufrieden. »Es gibt keine Solsenti-Barden.«
»Solsenti?« So langsam bekam er das Gefühl, dass sie zwei vollkommen unterschiedliche Sprachen sprachen, die nur einige wenige Wörter gemeinsam hatten.
Ihre Selbstsicherheit ließ ein wenig nach, als hätte sie von ihm eine andere Reaktion erwartet. »Solsenti ist unser Wort für Leute, die keine Reisenden sind.«
»Dann bin ich leider ganz bestimmt Solsenti.« Er wischte sich die Kleidung ab, aber nichts konnte die Flecken zum Verschwinden bringen, die vom Reisen kamen. Zumindest waren seine Sachen nicht nass. »Ich kann die Laute spielen und auch die Harfe ein wenig, aber ich bin kein Barde – obwohl ich glaube, dass das für Euch ohnehin etwas ganz anderes bedeutet als für mich.«
Sie starrte ihn an. »Aber ich habe Euch gesehen«, sagte sie. »Ich spürte Eure Magie letzte Nacht im Gasthaus.«
Er starrte sie verblüfft an. »Ich bin auch kein Magier.«
»Nein«, stimmte sie zu. »Aber Ihr habt den Wirt in Euren Bann gezogen, damit er diesem Mann nicht erlaubte, meine Schuld aufzukaufen.«
»Ich bin Soldat, Jungfer«, sagte er. »Und ich war Offizier. Jeder gute Offizier lernt, wie er mit Menschen umgehen muss – oder er bleibt nicht lange in diesem Beruf. Der Wirt machte sich am Ende mehr Sorgen um sein Gasthaus als darum, noch ein oder zwei Silberstücke mehr machen zu können. Das hatte nichts mit Magie zu tun.«
»Das wisst Ihr nicht«, sagte sie schließlich und nicht unbedingt, wie er dachte, zu ihm. »Wie ist es möglich, dass Ihr nicht wisst, dass Ihr ein Barde seid?«
»Wie meint Ihr das?«
Sie verzog das Gesicht. »Ich bin Rabe – Ihr würdet mich als Magierin bezeichnen, ganz ähnlich wie ein Solsenti-Zauberer. Aber die Reisenden haben auch andere Möglichkeiten, Magie anzuwenden, Dinge, die Eure Solsenti-Zauberer nicht tun können. Ein paar von uns haben unterschiedliche Begabungen, entsprechend den Weisungen, die uns gegeben werden. Eine dieser Weisungen ist die der Barden – wie Ihr einer seid. Ein Barde ist, wie Ihr sagtet, in erster Linie Musiker. Eure Stimme ist wahr und klar. Ihr habt ein erstaunliches Gedächtnis, besonders für Worte. Niemand kann Euch anlügen, ohne dass Ihr es merkt.«
Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen – er wusste nicht genau, was es sein würde, aber er wollte freundlich sein -, aber dann sah er sie an und schloss den Mund wieder.
Sie war so jung, selbst wenn sie sich wie eine Kaiserin hielt. Ihre Haut war grau vor Erschöpfung, und ihre Augen sahen geschwollen und rot aus, weil sie wahrscheinlich geweint hatte, während er geschlafen hatte. Er beschloss, sich nicht mit ihr zu streiten – und selbstverständlich trotzdem nicht zu glauben, was sie sagte, obwohl es ihm eine Gänsehaut verursachte. Er konnte einfach nur gut mit Menschen umgehen, das war alles. Ja, er konnte singen, aber das traf auf die meisten Rederni zu. Er war kein Magier.
Er überließ sie ihren Spekulationen und begann, das Lager abzuschlagen. Falls Wresens Pferd zum Gasthaus zurücklief, würden die Leute vielleicht bald nach ihm suchen. Ohne ein weiteres Wort stand sie auf und half ihm.
»Ich werde Euch in Redern zu meinen Verwandten bringen«, sagte er, als das Lager abgeschlagen und Scheck wieder im Geschirr war. »Aber Ihr müsst mir versprechen, keine Magie zu wirken, solange Ihr dort seid. Meine Leute sind so misstrauisch, wie man es in der Nähe von Schattenfall erwarten würde. Redern ist ein Handelsort; wenn es irgendwo in der Nähe einen Reisendenclan gibt, werden wir davon hören.«
Aber sie schien nicht zuzuhören. Stattdessen sagte sie, nachdem sie auf Schecks Rücken geklettert war: »Ihr braucht keine Angst zu haben. Ich werde es niemandem sagen.«
»Was sagen?«, fragte er und führte das Pferd wieder zurück auf den Weg, den sie am Vorabend genommen hatten.
»Dass jemand in Eurer Familie, ganz gleich wie lange es zurückliegen mag, sich zu einem Reisenden gelegt hat. Nur jemand von Reisendenblut kann Barde sein«, sagte sie. »Es gibt keine Solsenti-Barden.«
Langsam fing er an, sich darüber zu ärgern, wie sie Solsenti sagte, was immer dieses Wort bedeuten mochte. Er hätte wetten können, dass es sich um eine tödliche Beleidigung handelte.
»Ich werde es niemandem sagen«, wiederholte sie. »Ein Reisender zu sein ist nicht gesund.«
Sie blickte auf zu den Bergen, die über dem schmalen Weg aufragten, und schauderte. In der Nähe von Schattenfall gab es nicht so viele Diebe wie im Osten, wo der Krieg die Menschen von ihrem Land vertrieben hatte. Aber Konex der Hausierer, der die Leiche neben dem Weg fand, war nicht gerade ehrlich. Er nahm alles von Wert, was er finden konnte: zwei gute Stiefel, einen Bogen, ein versengtes Schwert, an dem immer noch Hautreste hingen (das hätte er beinahe liegen lassen, aber am Ende siegte seine Gier über die Empfindlichkeit), einen Gürtel und einen Silberring mit einem kleinen Onyx darin.
Zwei Wochen später begegnete ihm auf der Straße ein Fremder, wie es manchmal geschieht, wenn zwei Personen das gleiche Ziel haben. Sie verbrachten den größten Teil des Tages damit, Neuigkeiten auszutauschen, und aßen an diesem Abend zusammen. Am nächsten Morgen ritt der Fremde allein weiter, einen Silberring in seinem Beutel.
Konex würde nie wieder hausieren gehen.
2
»Siehst du diese beiden Berge dort drüben?« Tier wies mit dem Kinn zu zwei felsigen Gipfeln, die aussahen, als wichen sie voneinander weg.
Seraph nickte. Nach mehreren Tagen unterwegs kannte sie Tier gut genug, um zu wissen, dass jetzt eine neue Geschichte kommen würde, und sie irrte sich nicht.
Tier war ein guter Reisebegleiter, dachte sie, als sie mit halbem Ohr seiner Geschichte lauschte. Besser, als ihr Bruder Ushireh einer gewesen war. Er hatte meistens gute Laune und erledigte viel mehr als seinen Anteil an der Arbeit im Lager. Er erwartete auch nicht, dass sie selbst viel sprach, was ihr ebenfalls gut passte, denn Seraph hatte nicht viel zu sagen – und seine Geschichten gefielen ihr.
Sie wusste, sie sollte sich überlegen, was sie tun würde, wenn sie erst Tiers Dorf erreichten. Wenn sie einen anderen Clan fand, würde der sie nicht nur deshalb aufnehmen, weil sie eine Reisende war, sondern vor allem, weil sie als Rabe eine wertvolle Ergänzung darstellte.
Wenn Ushireh nicht so stolz gewesen wäre, hätten sie sich längst einem anderen Clan angeschlossen, nachdem ihr eigener gestorben war. Aber Ushireh hatte keine magische Weisung, die ihm Einfluss verlieh, und er wäre nicht mehr der Sohn des Clanoberhaupts gewesen, sondern nur noch ein unbedeutendes Mitglied. Da Seraph selbst ebenfalls stolz war, hatte sie seinen Zwiespalt verstanden. Sie hatte zugestimmt, dass sie erst einmal weiterziehen und sehen sollten, wohin die Straße sie brachte.
Nur sehen, wohin die Straße uns bringt, Ushireh.
Jetzt gab es keinen Grund mehr, sich nicht einem anderen Clan anzuschließen. Keinen Grund, weiter mit diesem Solsenti-Barden zu seinem Solsenti-Dorf zu ziehen. An einem solchen Ort würde man sie nicht haben wollen. Nach dem, was Tier sagte, lag das Dorf sehr nahe an Schattenfall. Es würde in der Nähe keine Clans geben.
Aber statt anzukündigen, dass sie sich auf den Weg machen würde, blieb sie auf seinem Wallach mit dem seltsamen Fell sitzen, während Tier neben ihr herging und sie beide mit seinem erstaunlichen Schatz an Geschichten amüsierte, die mit allem außer seiner Heimat zu tun hatten … Geschichten, die sie von dem schaudernden Schmerz über Ushirehs Tod ablenkten, welchen sie an einem fest verschlossenen Ort vergrub, wie den Tod des Rests ihrer Familie.