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HINWEIS: Dies ist kein klassischer Roman, sondern der Versuch, den aktuellen Stand der Wissenschaft in erzählerischer Form zu vermitteln. Verpackt in eine tiefgründige, emotionale Geschichte werden existenzielle Fragen behandelt: Was ist Realität? Wie können wir unser Innerstes entdecken? Haben wir einen freien Willen? Gibt es eine höhere Intelligenz hinter dem Universum? Existiert ein Leben nach dem Tod? Für alle, die spirituelle Antworten suchen, aber keine trockene Fachliteratur lesen möchten – eine spannende Lektüre mit Fortbildungseffekt, ohne sprachliche Kunstgriffe und in leicht verständlicher Sprache. Innerhalb kurzer Zeit verliert Lucy ihren Hund, ihren Sohn und ihre berufliche Existenz als Influencerin. Dank ihrer ehemaligen Therapeutin Bella entdeckt sie jedoch ihre Lebensfreude neu. Auf ihrem Weg zu sich selbst lässt sie sich auf Liebesaffären mit führenden Naturwissenschaftlern ein, mit denen sie nächtelang über Quantenmechanik, Metaphysik und das Wesen der Wirklichkeit diskutiert – und darüber, wie all das mit Liebe und unserem Dasein zusammenhängt. Der Schlüssel, um seinen spirituellen Platz in dieser Welt zu finden, liegt manchmal dort, wo wir ihn am wenigsten vermuten – in der Wissenschaft. (Illustrierte und vollständig überarbeitete Neuauflage des Romans „Die Suche nach Gott“)
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Veröffentlichungsjahr: 2022
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Die Suche nach Sinn, Luca Rohleder
Überarbeitete und illustrierte Neuauflage des Romans „Die Suche nach Gott“
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Einbandgestaltung:
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Bildnachweise:
LUCA TAGEBUCH Lebensweisheiten,
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Buchsatz:
dielus edition
ISBN:
978-3-9823032-5-3
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Je mutiger wir unsere Ängste vor dem Nichtwissen überwinden, umso schneller werden wir wissen.
Luca Rohleder
LEVEL 1WELT
LEVEL 2LIEBE
LEVEL 3REALITÄT
LEVEL 4KOPF
LEVEL 5HERZ
LEVEL 6BAUCH
LEVEL 7GESUNDHEIT
LEVEL 8FREIHEIT
LEVEL 9BESTIMMUNG
LEVEL 10SINN
LEVEL1 – WELT
Lucys große blaue Augen, umrahmt von ihren langen blonden Haaren, waren schon immer ihr Markenzeichen gewesen. Sie waren bekannt für ihr Blitzen und Leuchten. Doch nun hatte sich das Funkeln zu einem glanzlosen Etwas verwandelt. Von dem strahlend hellen Blau war nur noch ein trübes Leichengrau übrig geblieben. Seit Tagen gab sich Lucy der Trauer und Frustration hin. Solche Lebensphasen kannte sie zur Genüge, aber diesmal schien es ernst zu sein.
Gedanken an ihren Vater tauchten auf. Der Lungenkrebs hatte ihn damals erwischt. Lucy konnte sich nie des Eindrucks erwehren, dass er erleichtert war, die Erde verlassen zu dürfen. Er kämpfte nicht gegen den Tod, Metastasen hatten schnell in seinem Körper gestreut. Zum Ende hin war sein Gehirn ebenfalls vom Krebs befallen, sodass auch sein Bewusstsein zunehmend schwand. Seine Ehefrau hatte rechtzeitig vorgesorgt. Sie nahm ihn mit nach Hause, wo er friedlich und ungestört seine letzten Stunden verbringen konnte. Zuerst hörte der Vater auf zu essen, und schließlich verweigerte er die Flüssigkeitsaufnahme, sodass alles seinen natürlichen Gang nehmen konnte. Lucy erinnerte sich noch ziemlich genau, wie sie als Teenager am Sterbebett gesessen hatte und darüber glücklich gewesen war, dass ihr Vater keine Schmerzen empfand. Erst viel später, als Lucy Biologie studierte, wurde ihr klar, dass die Mutter alles richtig gemacht hatte. Nahezu alle Lebewesen, deren Instinkte sagen, dass es Zeit sei, Abschied zu nehmen, verweigern die Nahrungsaufnahme. Sie fressen und trinken nicht mehr. Der Körper kann eigene schmerzstillende Substanzen produzieren, um so für erlösende und friedliche letzte Stunden zu sorgen.
Vor Lucys geistigem Auge tauchten weitere tragische Ereignisse aus ihrer Vergangenheit auf. Auch ihr Ehemann Miguel war früh verstorben. Er hatte vor einigen Jahren einen schweren Autounfall gehabt. Laut den Ärzten sei er sofort tot gewesen, nachdem er mit seinem Wagen ungebremst in das Ende eines Staus hineingerast war. So hatte auch Lucys glückliche Ehe wie so vieles in ihrem beschwerlichen Leben ein jähes Ende genommen.
Lucy lag regungslos auf ihrer Couch und ließ ihr Gehirn tun, was es beliebte. Das Zeitgefühl hatte sie längst verloren. Es schien, als würde sie sich schon seit Wochen in ihrer Wohnung verstecken. Mit ihren siebenundvierzig Jahren stellte sie mal wieder das Leben infrage. Vielleicht stellt der Tod die Erlösung dar und die Geburt die Strafe, und nicht umgekehrt, dachte sich Lucy. Sie war wieder in eine schwere Sinnkrise geschlittert und zur Gefangenen ihrer Selbstzweifel geworden. In solchen Momenten war sie froh, sich in ihre geschmackvoll eingerichtete Wohnung zurückziehen zu können, in der die Töne Weiß, Beige und Braun dominierten. Sie liebte nicht nur ihre Topfpflanzen, sondern auch Naturstoffe wie Holz, Leinen, Bast und Rattan.
Lucys riesengroße Couch, auf der sie gerade leblos wie ein Zombie dahinvegetierte, war ihr treuer Begleiter, wenn es darum ging, deprimierende Lebensphasen durchzumachen. Umringt von weichen und edel verzierten Leinenkissen, starrte sie jetzt mit stumpfem Blick auf die gegenüberliegende Wand. Sie schaute auf ein überdimensioniertes Gemälde, auf dem sie sich selbst sehen konnte. Ihre intimste Stelle war das künstlerische Zentrum des Bildes – zwei mal zwei Meter groß, schwarz-weiß, Öl auf Leinwand, ohne Rahmen.
»Vielleicht sollte ich mich doch aufraffen und zu Sam hochgehen«, murmelte Lucy vor sich hin. Sam wohnte nicht nur im selben Haus, sondern war gleichzeitig Lucys Vermieter. Ganz oben lebte er in einem Penthouse, in dem auf der ersten Ebene Wohnzimmer, Küche und Bad und einen Stock darüber seine Schlafstätte und das Atelier untergebracht waren. Bei der Vorstellung, zu Sam hochzugehen, stiegen einige wohltuende Gefühle in Lucy auf. Aber so schnell, wie dieses Indiz für eine bestimmte Sehnsucht in ihr aufgeblitzt war, so schnell verschwand es auch wieder.
Die Gedanken, die Lucys Geist eroberten, wurden immer dunkler. Dieses Drecksleben! Diese Welt ist doch verrückt geworden. Warum sind Menschen so? Dieser verblödete Mob, der sich gegenseitig zerfleischt, nur um ein kleines Stück Glück, Liebe und Erfolg abzukriegen. Worin liegt der Sinn von diesem Quatsch? Und was ist überhaupt mit diesem Gott? Gibt es den überhaupt, oder sind die ganzen Religionen nur eine riesengroße Volksverdummung? Lucy ließ ihre inneren Dämonen gewähren. Und jetzt hat mich auch noch Luna verlassen. Was hat das zu bedeuten? Warum musstest du ausgerechnet jetzt sterben? So viele und wunderschöne Jahre hätten mir mit dir noch zugestanden.
Lucys geliebte Hündin Luna war gerade einmal fünf Jahre alt geworden. Eine herzensgute Schäferhündin, ein heiliges Lebewesen, das Liebe, Kraft und Schutz im Überfluss spendete. Selbstloser, genügsamer und edler als irgendein Mensch es je hätte sein können, erinnerte sich Lucy wehmütig an ihre treue Wegbegleiterin.
Vor zwei Wochen hatte sie Luna einer Hundesitterin überlassen müssen, weil sie seit langer Zeit wieder einen Auftrag als Wissenschaftsjournalistin angenommen hatte. Dazu war sie drei Tage nach Barcelona gereist, um an einem Medizinerkongress teilnehmen zu können. Als sie zurückkam, war ihr erster Gedanke, ihre geliebte Hündin schnell abzuholen. Nachdem sie am Frankfurter Flughafen gelandet war, machte sie sich deshalb direkt auf den Weg.
Sie war gerade dabei gewesen, einzuparken, als sie bemerkte, dass die Hundesitterin auf der gegenüberliegenden Straßenseite mit Luna Gassi ging. Luna erkannte Lucys Auto sofort und jaulte vor Freude auf. Die kräftige Schäferhündin riss sich los und raste über die Straße, um Lucy zu begrüßen. Lucy musste mitansehen, wie Luna von einem Lkw erfasst und überrollt wurde. Luna – Lucys Liebe ihres Lebens – war sofort tot.
Ist das das Leben? Ist das die Natur? Ist das die viel gerühmte Gerechtigkeit? Ist das von Gott so gewollt?, fraßen sich die negativen Gedanken durch Lucys Gehirnwindungen. Seit sie denken konnte, musste Lucy mit anschauen, wie liebenswerteste Menschen Leid erfuhren, zu früh starben oder von einem Unglück in das andere schlitterten.
Warum sollten wir eine Natur schützen, die kein Erbarmen und Mitleid kennt? Warum sollten wir überhaupt etwas schützen?, steigerte sich Lucy weiter in ihre Frustration hinein.
Ihr mädchenhaftes und positives Naturell hatte sich nun endgültig in Luft aufgelöst. Der Tod von Luna hatte das seelische Fass zum Überlaufen gebracht. Lucy fühlte sich von ihrem Schicksal betrogen. Gleichzeitig dachte sie an einen weiteren harten Rückschlag. Erst gestern war ihr Computer von osteuropäischen Kriminellen gehackt worden. Lucy hatte jetzt nicht nur keinen Zugriff mehr auf ihre Daten, sondern auch alle ihre Webseiten sowie sämtliche Social-Media-Kanäle waren gewaltsam stillgelegt worden. Und vor ein paar Stunden tauchte auch noch die zu erwartende Nachricht auf ihrem Smartphone auf: Lucy habe einen fünfstelligen Geldbetrag in Bitcoins zu überweisen, wenn sie ihren Job als erfolgreiche Bloggerin und Influencerin weiterführen wolle.
Es hatte einige Jahre harter Arbeit gebraucht, um im Netz eine sechsstellige Fangemeinde aufzubauen. Mittlerweile konnte sich Lucy damit finanziell einigermaßen über Wasser halten. Sie leistete sich eine Stadtwohnung im Zentrum von Frankfurt, besaß einen klapprigen Jaguar aus den Siebzigerjahren, und für eine halbwegs gesunde Ernährung war meistens auch noch etwas übrig. Vor vielen Jahren hatte sie ihr Onlinebusiness eigentlich mit dem Ziel begonnen, irgendwann einmal ortsungebunden ihr Geld verdienen zu können. Vielleicht in einem tropischen Klima, mit Blick auf das Meer. Sie hatte sich von ihrem Business Freiheit und Millionen versprochen, bis sie allerdings einsehen musste, dass sie mit diesem Berufswunsch auf der Welt nicht alleine war. Ganz im Gegenteil: Millionen junger Leute, die alle das Gleiche taten wie sie, sorgten für einen harten Wettbewerb. So entwickelte sich Lucys Onlinegeschäft zäher als gedacht. Dennoch war sie sich sicher gewesen, dass es nur eine Frage der Zeit wäre, bis sich ihre beruflichen Träume erfüllen würden, schließlich gab es im Internet genug positive Beispiele.
Und jetzt? Vorbei mit dem Traum!, dachte sich Lucy. Solch derbe Rückschläge kannte sie aus ihrer Vergangenheit zur Genüge. Immer dann, wenn sie dachte, sie hätte ihren Weg gefunden, wurde sie von irgendeinem Unglück heimgesucht, das alles wieder zunichtemachte. Online war sie jetzt erst einmal schachmatt gesetzt. Zudem kam das Risiko hinzu, dass die Hacker ihre Social-Media-Kanäle oder ihre Kontaktdaten dazu missbrauchten, in ihrem Namen kriminelle Internetaktivitäten abzuwickeln, oder sich einen Spaß daraus machen könnten, ihre Fangemeinde im Netz zu vergraulen.
Business weg! Luna weg! Und was nun?, fragte sich Lucy. Zu allem Überfluss tauchten weitere tragische Vorfälle aus Lucys Vergangenheit auf und quälten ihren Geist. Nach und nach entstand ein gefährlicher Cocktail aus Wut, Trauer und Lebensmüdigkeit. Selbst Gedanken über die Sinnlosigkeit des globalen Wirtschaftssystems und die Umweltzerstörung gesellten sich plötzlich zu Lucys ohnehin schon schlechter seelischer Verfassung. Erschwerend kam hinzu, dass sich ein ganz bestimmter Todestag jährte: Lucys Sohn Michael hatte sich vor fünf Jahren das Leben genommen.
Jetzt schossen Lucy Tränen in die Augen. Sie dachte an den feinen Charakter ihres Sohnes, der gerade einmal zweiundzwanzig Jahre alt geworden war. Alle mochten ihn wegen seiner Feinfühligkeit, Zurückhaltung und Bescheidenheit. Seinem kubanischen Vater Miguel verdankte er seine drahtige Figur und sein kantiges und elegant geschnittenes Gesicht. Von Lucy hatte er die strahlend blauen Augen mitbekommen. Sein Aussehen stand im Widerspruch zu seiner Herkunft. Er hatte, wie Lucy auch, in Ostdeutschland das Licht der Welt erblickt. Michaels Zwillingsschwester Monika war hingegen eine völlig andere Persönlichkeit. Im Gegensatz zu ihrem sensiblen Bruder wurde aus ihr eine taffe, standhafte junge Frau, die schon früh wusste, was sie wollte. Sie entschied bereits in jungen Jahren, nach Neuseeland auszuwandern, um dort als Krankenschwester zu arbeiten. Sie fand in einer Klinik im Süden Neuseelands schnell eine Ausbildungsstelle und heiratete mit achtzehn Jahren einen einheimischen Farmer. Mittlerweile konnte sie eine wundervolle Familie mit drei Kindern ihr Eigen nennen und führte ein zufriedenes und glückliches Leben. Lucy konnte es manchmal nicht fassen, dass Monika ihre Tochter war. Sie selbst hatte es noch nie in ihrem Leben geschafft, ein vergleichbar problemloses, harmonisches und zielorientiertes Leben zu führen wie ihre Tochter.
Plötzlich fiel Lucy auf, wie sie geistesabwesend auf Sams Signatur auf dem Ölgemälde starrte. Ihr war bewusst, dass sie mit Sam, obwohl sie nicht zusammen waren, einen Menschen an ihrer Seite hatte, mit dem sie ihre tiefsten Sehnsüchte und Gedanken teilen konnte. Niemals zuvor hatte sie jemanden so nah an sich herangelassen. Mit keinem anderen Mann konnte sie derart verschmelzen wie mit Sam. Oft sagte sie zu sich selbst, dass sie im Leben nicht mehr bräuchte als Luna, Sam und ihren Computer.
Jetzt ist nur noch Sam da, dachte Lucy, bevor sie sich entschloss, ein rabenschwarzes Fazit zu ziehen: Mein Vater, mein Gatte, mein Sohn und Luna haben diese Scheißwelt nicht überlebt, und jetzt ist wahrscheinlich auch noch meine berufliche Existenz am Arsch. Wenn mir jetzt jemand über den Weg läuft, der mir erzählt, das Leben sei schön, bringe ich ihn auf der Stelle um!
Lucys ohnehin schon dunkle Stimmung mutierte noch weiter ins Negative. Nackter Hass machte sich in ihr breit. Zufällig wandte sie sich dem Fernseher zu. Lucy hatte das Gerät schon seit Wochen eingeschaltet gelassen, um zumindest ein Minimum an Bewegung und Farbe um sich zu haben. Als ihr Blick den Bildschirm erfasste, erkannte sie, dass eine Naturdoku lief. Schockiert folgte sie einer Jagdszene zwischen einem Löwenrudel und einer einzelnen jungen Gazelle. Die Raubkatzen zeigten kein Erbarmen mit dem verzweifelten Tier. Die Gazelle versuchte, zu entkommen, aber vergebens. Sie erlag schließlich dem erbarmungslosen Jagdinstinkt dreier Löwen. Das zarte und zu Tode verängstigte Lebewesen wurde von den scharfen Krallen einer der drei Katzen festgehalten und schließlich von den beiden anderen bei lebendigem Leibe auseinandergerissen. Lucy starrte entsetzt und fassungslos auf diese Szene. Sie konnte ihren Blick nicht abwenden. Alles war in Großaufnahme zu sehen. Die Augen des jungen Tieres waren weit aufgerissen, während es bei lebendigem Leibe zerfetzt und aufgefressen wurde. Selbst als die beiden hinteren Gliedmaßen vom Körper abgetrennt waren, erkannte Lucy ein Blinzeln in den Augen der wunderschönen Gazelle. Es schien, als würde die Natur dieses Lebewesen zwingen, seine grauenvolle Zerstückelung bei vollem Bewusstsein mitzuerleben.
Lucy war kurz davor, ihren Verstand zu verlieren. Schockiert von diesem schrecklichen Ausschnitt der Realität, sprang sie in ihrer Verzweiflung von der Couch auf und riss den Fernseher aus der Wand heraus. Sie donnerte das Gerät auf den Boden, wo es in tausend Stücke zersprang. Dann brach Lucy in Tränen aus, verlor den Halt und fiel auf ihre Knie. Zusammengekauert auf dem Boden, wurde sie von einem furchtbaren Weinkrampf heimgesucht. Schließlich entlud sich ein Schrei der Verzweiflung, der die Wohnung erzittern ließ: »Ich hasse dich, du verfluchter Drecksgott. Was musst du für ein Superarschloch sein, so etwas zuzulassen. Ich hasse dich aus tiefstem Herzen. Du bist kein Gott. Du bist eine Bestie. Ich verachte dich, du schreckliches Ungeheuer!«
Lucy brach zusammen und verlor ihr Bewusstsein.
Sie erwachte von den schmerzenden Druckstellen, die der harte Parkettboden ihrem Körper zugefügt hatte. Es war bereits früher Abend, und glücklicherweise übernahmen nun wieder klarere Gedanken die Führung in ihrem Kopf. Noch etwas benommen sagte sie zu sich selbst: »So, jetzt ist Schluss mit dem Gejammere. Du gehst jetzt zu Sam hoch und holst dir eine Portion Liebe ab. Punkt!«
Dieser Entschluss tat Lucy augenblicklich gut. Ihre Stimmung verbesserte sich zusehends, und sie griff nach ihrem Smartphone. Sie schrieb: »Kann ich zu dir hochkommen? Ich brauche dich!«
Ungewöhnlicherweise kam schnell die Antwort. Normalerweise antwortete Sam noch nicht einmal am selben Tag. »Klar, mein Schatz, ich habe noch ein paar Minuten zu tun, aber dann können wir uns gern einen schönen Abend machen. Bis dann …«
Lucy rappelte sich erleichtert auf, sammelte die Bruchstücke ihres Fernsehers ein und ging ins Bad. Der Gedanke, gleich Sam umarmen zu können, spendete ihrem Körper neue Lebensenergie. Sie duschte in einem atemberaubenden Tempo, verzichtete auf Kleidung und Schminke, schwang sich in ihren flauschigen Bademantel und tippelte barfuß die Treppen des Hausflurs hinauf. Drei Stockwerke weiter oben erreichte sie Sams Wohnungstür. Sie klopfte, und als sich die Tür öffnete, fiel Lucy Sam in die Arme und fragte kleinlaut: »Mein geliebter Sam, kannst du machen, dass es mir wieder gut geht?«
Sam befreite Lucy von ihrem Bademantel und zog sie näher zu sich. Lucy stand auf ihren Zehenspitzen und genoss Sams Nähe. Es fühlte sich an, als würde sie in ein geschütztes Energiefeld eintauchen.
Während Lucy sich an der wohltuenden Berührung erfreute, spürte Sam ihren miserablen emotionalen Zustand. Mit sanfter Stimme fragte er: »Oje, Lucy, was ist mit dir los? Was hat dir dein Kopf nur angetan? Lass uns ihn schnell ausschalten.«
Lucy nickte stumm und blickte Sam hilflos an. Sam hingegen wusste, was zu tun war. Er nahm Lucys Kopf die Last der Kontrolle ab und trug sie hoch in die obere Etage seines Penthouse. Dann machte er, dass es Lucy wieder gut ging.
Etwas erschöpft, aber entspannt und eng umschlungen lagen sie auf dem Bett. Nachdem Lucys Tränen getrocknet waren – Lucy musste grundsätzlich nach dem Orgasmus weinen –, waren ihre ersten Worte: »Ich habe Hunger!«
Sam war sehr erleichtert, das zu hören. Dass Lucy nach Nahrung verlangte, war ein typisches Zeichen dafür, dass es ihr gut ging. Er erwiderte scherzhaft: »Ich kann mich aber nicht bewegen, sonst müsste ich von diesem Traumkörper ablassen. Das bringe ich jetzt nicht übers Herz. Hab bitte Erbarmen mit mir.«
Lucy lachte und tastete, ohne im Geringsten den innigen Körperkontakt zu unterbrechen, mit ihren Fingern die Bettkante ab. Sie fand Sams Telefon, wählte die Nummer ihres Lieblingsjapaners und bestellte eine große Familienplatte Sushi-Variationen. Danach erkundigte sie sich bei Sam: »Haben wir noch rotes Wasser mit Gefühlen da?«
Sam erwiderte: »Ja, ein paar Flaschen italienische Gefühle müssten unten in der Küche noch zu finden sein.«
Lucy und Sam genossen noch eine Weile die wohltuende seelische und körperliche Nähe, bis das Klingeln des Lieferservices dem Ganzen ein Ende setzte. Sam zwang sich, von Lucy abzulassen, ging die Wendeltreppe hinunter und kam kurz darauf mit japanischen Köstlichkeiten und einer Flasche Rotwein zurück. Lucy machte sich ohne Umschweife über die Leckereien her, und nachdem ihr erster Heißhunger gestillt war, fragte sie unvermittelt: »Glaubst du an Gott?«
Oje, dachte Sam. Er war sich nicht sicher, ob dieses Gesprächsthema nicht eine erneute Verzweiflungsattacke in Lucy auslösen würde. Er entschloss sich zu einer Vorsichtsmaßnahme: »Bevor ich dir antworte, möchte ich, dass du dich auf diesen Moment konzentrierst und mir sagst, wie du dich hier und jetzt gerade fühlst.«
Lucy verstand sofort, wozu Sam sie motivieren wollte. Es war nicht das erste Mal, dass er sie ermahnte, mit ihrem Geist in der Gegenwart zu bleiben. Er hatte ihr beigebracht, wie sie sich besser zentrieren und konzentrieren konnte. So war sie jetzt auch in der Lage, innezuhalten, um ein bisschen Detektiv in eigener Sache zu spielen: »Ich fühle mich angstfrei. Ich spüre eine große Freiheit. Ich empfinde tiefe Liebe für dich, und ich bin unendlich dankbar, hier sein zu dürfen. Ich spüre sogar eine gewisse Euphorie, garniert mit einem kleinen Schuss Traurigkeit darüber, dass das Leben nicht immer so leicht und schön sein kann wie jetzt gerade.«
Lucy ließ kurz von einem Stück Sushi ab, beugte sich zu dem neben ihr liegenden nackten Mann hinüber und gab ihm einen Kuss.
Während Sam zusah, wie Lucy sich wieder über das Essen hermachte, fragte er listig: »Magst du dich gerade?«
»Mmh, ja … irgendwie schon«, antwortete Lucy spontan. Und je länger sie über Sams Frage nachdachte, umso klarer wurde es ihr: »Jetzt, da du es ansprichst: Stimmt! Tatsächlich! Das ist ja erstaunlich! Ich mag mich gerade sogar sehr.«
»Hat sich denn das Weltgeschehen in den letzten zwei Stunden verbessert?«, bohrte Sam weiter.
»Nö«, antwortete Lucy trocken.
»Und hat sich an deiner Vergangenheit oder an dem, was du vorhin in deiner Wohnung erlitten hast, etwas verändert?«
»Nö«, kam wieder die gleiche Antwort.
Sam philosophierte weiter: »Empfindest du also die Zustände in dieser Welt jetzt nicht mehr als unerträglich?«
»Na ja, jetzt gerade – in diesem Augenblick – natürlich nicht, mein Schatz«, erklärte Lucy gelassen.
»Warum? Es hat sich doch nichts geändert?«, hakte Sam nach. »Dann wird doch dein eigentliches Wohlbefinden nicht von dem, was in der Welt passiert, bestimmt, sondern von deiner augenblicklichen seelischen Verfassung. Oder liege ich da falsch?«
Lucy stimmte etwas widerwillig zu, schließlich waren noch keine zwei Stunden vergangen, seit sie sich selbst, das Leben und vor allem Gott aus tiefstem Herzen gehasst hatte. Selbst der Freitod war ihr in greifbarer Nähe erschienen. Aber jetzt ging es ihr gut, obwohl alles beim Alten war. Noch immer waren Luna, ihr Ehemann, ihr Sohn und ihr Vater tot. Aber auch der Fakt, dass sie beruflich kaltgestellt worden war, blieb unverändert. Sachlich gesehen, empfand sie alles weiterhin als schlimm, aber ihre Stimmung wurde davon nicht negativ beeinflusst. Sie sagte zu Sam: »Im Prinzip verhält es sich genauso, wie du es immer predigst. Halte ich meine Konzentration für den Moment aufrecht, geht es meinem Kopf gut. Lasse ich ihn machen, was er will, führt er mich zielsicher hinters Licht – im wortwörtlichen Sinne.«
Sam machte Lucy ein Angebot: »Wenn du mir versprichst, diesen jetzigen wunderbaren Moment in deinem Gehirn festzuhalten und mit deinem Kopf in der Gegenwart zu bleiben, können wir uns darüber unterhalten, was dir widerfahren ist.«
Lucy konzentrierte sich auf ihre aktuelle positive Gefühlslage und legte los. Sie erzählte zunächst von Lunas Unfall und dass sie gerade von Internethackern erpresst wurde.
Sam hörte wie üblich aufmerksam zu, um schließlich zu fragen: »Warst du bei der Polizei?«
»Ja, gestern«, erklärte Lucy. »Sie empfahlen mir, zu bezahlen, wenn ich mein Business weiterführen wolle. Sie machten mir wahrlich keine Hoffnung. Die sind anscheinend völlig machtlos.«
»Ich kenne das«, nickte Sam, »wir sind mit dem Internet in eine grauenvolle Zeit gerasselt, in der wir gerade unsere Freiheit verlieren und den Kriminellen oder Großkonzernen zum Fraß vorgeworfen werden. Aber das Schlimmste daran ist, dass unsere Politiker das Ganze überhaupt nicht fassen können, weil sie von modernen Medien keinen blassen Schimmer haben. Was willst du denn jetzt machen?«
»Ich habe das Geld einfach nicht«, antwortete Lucy.
Sam erwiderte: »Ich habe eine so große Summe leider auch nicht zur Verfügung, weil ich gerade mit zahlreichen Mietausfällen zu kämpfen habe. Kannst du dir etwas leihen?«
»Vielleicht stellt sich diese Frage nicht. Ich bin mir derzeit nicht sicher, ob ich das überhaupt möchte. Ich hatte schon das ganze Jahr ein mulmiges Gefühl. Ursprünglich habe ich geplant, mit meinen Social-Media-Kanälen etwas in der Welt zu bewirken. Aber aus reiner Existenznot bin ich zu einer gewöhnlichen Influencertante verkommen, die Kosmetika oder anderen Blödsinn in die Kamera hält. Zudem wird es jedes Jahr härter. Es ist ein einziges Hauen und Stechen um Abonnenten, Likes und Klickzahlen geworden. Ich müsste im Prinzip immer abgebrühter werden, um mithalten zu können.«
»Könntest du dir eine kreative Pause leisten?«
»Eigentlich nicht. Ich könnte nur mein altes Business als Wissenschaftsjournalistin reaktivieren. Damit habe ich ja schon vor zwei Wochen begonnen, schließlich zahlen Lobbyisten in der Regel ein sehr gutes Honorar. Es hätte zumindest den Vorteil, dass ich keine Privatpersonen, sondern nur noch Gewerbetreibende als Zielgruppe hätte. Die betrügen sich untereinander eh jeden Tag, und wenn ich nur Betrüger betrügen müsste, würde das mein Gewissen deutlich erleichtern.«
Lucy hielt inne. Je länger sie überlegte, umso attraktiver erschien ihr die Idee, wieder zu hundert Prozent auf ihr altes Business der PR-Arbeit zu setzen. »Vielleicht ist dein Vorschlag, tatsächlich eine Onlinepause einzulegen, gar nicht so übel. Dann können mir diese ukrainischen Vollidioten einfach mal den Buckel runterrutschen. Aber was ist jetzt eigentlich mit meiner Frage? Was ist mit Gott? Glaubst du an ihn?«
Sam zog die Augenbrauen hoch und sagte völlig überzeugt: »Natürlich glaube ich an Gott, schließlich habe ich Physik studiert, und meine Affinität zur Wissenschaft habe ich auch nie verloren.«
»Wie bitte? Was hat denn Wissenschaft mit Religion zu tun?«
»Ich habe nicht von Religionslehren gesprochen, sondern von Gott. Diese Unterscheidung ist sehr wichtig. Aber unabhängig davon: Jeder, der sich ernsthaft mit der Grundlagenphysik beschäftigt, wird früher oder später mit Gott konfrontiert werden. Als ich noch als Physiklehrer meine Brötchen verdiente, leuchtete es mir schnell ein, dass eine höhere Intelligenz vorhanden sein muss. Werner Heisenberg, einem unserer großen Physiker und Vater der Quantenphysik, wird das Zitat zugeschrieben: Der erste Trunk aus dem Becher der Naturwissenschaft macht atheistisch, aber auf dem Grund des Bechers wartet Gott.«
Lucy spürte, dass dieser Satz etwas in ihrem Inneren berührte. Plötzlich stieg ihr Interesse, mehr zu erfahren, fast ins Unermessliche. Sie wiederholte das Zitat: »Der erste Trunk aus dem Becher der Naturwissenschaft macht atheistisch, aber auf dem Grund des Bechers wartet Gott. Wow, Sam. Das ist unglaublich faszinierend.«
Sam setzte sich an das Fußende des Bettes, damit er Lucy besser in ihre schönen blauen Augen sehen konnte. Sie hatten wieder ihr altes Strahlen zurückgewonnen und blitzten vor Neugierde förmlich auf. Sam wusste es zu schätzen, in Lucy als promovierter Naturwissenschaftlerin eine ebenbürtige Gesprächspartnerin zu haben. Er beschloss, etwas auszuholen. Er beugte sich zu Lucy vor und legte seine Hand auf ihre blanke Brust. »Spürst du meine Berührung?«
Lucy sagte lässig: »Sehr deutlich sogar – bitte so bleiben.«
Sam fuhr fort: »Aus physikalischer Sicht berühre ich dich aber nicht. Niemand auf der Erde kann irgendetwas berühren. Wir alle bestehen aus Atomen. Und Atome bestehen in der Hauptsache aus Nichts.«
»Aus Nichts? Ich dachte immer, Atome hätten feste Kerne, um die wiederum Elektronen herumsausen.«
»Der Hund liegt in dem Größenverhältnis begraben. Stell dir vor, du würdest den Durchmesser eines Atomkerns auf die Ausmaße eines Stecknadelkopfes vergrößern, dann wäre der Umfang der Atomhülle so groß wie ein Fußballfeld. Der Raum zwischen Kern und Außenhülle wäre aber leer. Oder um ein zweites Beispiel zu nennen: Wäre der Durchmesser eines Atomkerns einen Zentimeter groß, dann würden sich die Elektronen in einem Abstand von circa einem Kilometer um ihn herumbewegen. Man kann also mit ruhigem Gewissen behaupten, dass wir nur aus leerem Raum bestehen. Den minimalen Prozentsatz des Materieanteils an einem Atom kannst du praktisch vernachlässigen. Ein einzelnes Atom besteht im Prinzip aus Nichts.«
Um fortzufahren, wechselte Sam seine Hand von Lucys rechter zur linken Brust und sagte: »Wenn wir jedoch annehmen, dass Atome in der Hauptsache aus leerem Raum bestehen, drängt sich natürlich die Frage auf, warum ich deine wunderschönen Brüste überhaupt anfassen kann und nicht durch diesen leeren Raum hindurchgreife. Warum spüre ich deine Brust und du meine Hand? Warum kann ich mich auf diesem Bett zu dir lehnen, ohne hindurchzufallen? Warum stürze ich nicht durch das ganze Haus, um schließlich in Richtung Erdkern zu fallen?«
Lucy sagte: »Na, da gibt es abstoßende Ladungen zu beachten, nicht wahr?«
»Exakt, das ist der Punkt. Es sind die elektromagnetischen Kräfte, die zwischen den einzelnen Atomen wirken. Das kannst du dir vorstellen wie zwei Magnete, die sich aufgrund der gleichen Polarität gegenseitig abstoßen und niemals berühren. Was wir bemerken, sind elektromagnetische Kräfte, die uns lediglich Festigkeit vorgaukeln. In Wahrheit besteht alles nur aus leerem Raum.«
Lucy strahlte Sam an, weil sie solche Unterhaltungen nach dem Sex unendlich liebte. »Diese Kräfte müssen aber enorm stark sein, schließlich wiegst du fast hundert Kilo und wirst von der Matratze dennoch ausreichend abgestoßen, damit du nicht durch sie hindurchfällst.«
»Durchaus, die elektromagnetische Kraft ist eine der stärksten Grundkräfte in der Physik.«
»Das spüre ich deutlich, denn wenn du jetzt nicht langsam deine Hände wieder zu dir nimmst, dann springe ich dich gleich an«, grinste Lucy Sam an.
Sam lachte, nahm schweren Herzens seine Hände beiseite und fuhr fort: »Neben den elektromagnetischen Kräften existieren natürlich noch einige andere physikalische Grundkräfte. Sie alle zusammen ermöglichen es, dass wir nicht ins Leere greifen müssen. Aber damit solche Kräfte überhaupt entstehen können, müssen Atome schwingen. Das tun sie auch. Eine Schwingung ist jedoch eine Bewegung, und eine Bewegung ist immer eine Strecke pro Zeit. Atome können daher nur deshalb schwingen und infolgedessen Kräfte entwickeln, weil es Zeit gibt. Gäbe es keine Zeit, gäbe es keine Schwingung und damit auch keine Kräfte. Das heißt, das Vorhandensein von Zeit ist die alleinige Ursache, warum ich dich sehen und berühren kann. Verschwindet die Zeit, verschwinden auch deine Brüste. Du, ich und die gesamte Welt würden sich augenblicklich in Nichts auflösen.«
Lucy hörte sehr interessiert zu, wurde jedoch langsam ungeduldig: »Sam! Mach hin! Was haben meine Brüste mit Gott zu tun?«
Sam war Lucys Ungeduld wohlbekannt, und er versuchte deshalb, zum Punkt zu kommen: »Sehr viel sogar, denn in letzter Konsequenz war er es, der deine zwei Hübschen zumindest indirekt erschaffen hat. Niemand in der Grundlagenphysik bestreitet mehr, dass es einen Urknall gab. In diesem sogenannten Big Bang entstand unser gesamtes Universum. Und jetzt kommt das Interessante dabei: In erster Linie war der Urknall nicht der Beginn unseres Universums, sondern vor allem die Geburt von Zeit. Der Urknall hat die Zeit erschaffen. Und nur aus diesem Grunde kann eine splitternackte Blondine auf meinem Bett liegen und sich gewaltige Mengen von Sushi in den Rachen schieben.«
Lucy bekam eine Gänsehaut: »Dann wäre ja jegliche Überlegung über den Urknall völlig absurd, denn unser Gehirn kann nur in den Dimensionen von Raum und Zeit denken. Ich kann mir keine Frage über etwas stellen, das die Möglichkeit, zu fragen, erst erschaffen hat.«
»Das hast du präzise ausgedrückt, mein Schatz. Wenn Physiker vom Urknall sprechen, dann meinen sie eigentlich immer nur die Zeit wenige Millisekunden danach. Alle wissenschaftlichen Untersuchungen, Messungen und mathematischen Berechnungen können nur Zeiträume nach dem Urknall beschreiben. Der Fortschritt liegt lediglich darin, mit den Berechnungen zeitlich immer näher an den eigentlichen Urknall heranzukommen. Die Untersuchung des Urknalls selbst bleibt für unsere Neugierde auf immer und ewig tabu.«
Lucy runzelte die Stirn: »Warum sagt uns das keiner?«
»Erstens würde das niemand verstehen, und zweitens würden die Grenzen zwischen Wissenschaft und Religion schwammiger werden. Es könnte die Menschheit ziemlich verunsichern, wenn Astrophysiker öffentlich formulieren würden, dass unsere Welt nicht entstanden sei, sondern vielmehr eingeschaltet wurde.«
Lucy reagierte mit einer gesunden Portion Misstrauen: »Aber alle Sterne, Galaxien, Planeten und vor allem das Leben selbst haben doch Milliarden von Jahren benötigt, um entstehen zu können.«
»Aber der dafür notwendige atomare Baukasten entstand praktisch sofort. Bereits eine Sekunde nach dem Urknall entwickelten sich die ersten Elektronen. Während der folgenden drei Minuten stieg die Temperatur auf circa eine Milliarde Grad Celsius, und die ersten Atome entstanden – überwiegend Wasserstoff, rund fünfundzwanzig Prozent Helium und wenig Lithium, Beryllium sowie Bor. Bereits nach fünfzehn Minuten waren tatsächlich alle Bausteine des atomaren Universums fix und fertig erschaffen.«
»Wow, nach fünfzehn Minuten? Das war mir so nicht bewusst.«
Sam ergänzte noch: »Danach bildeten sich zwar in den Sternen durch Kernfusion alle diejenigen Atome, die wir aus unserem heutigen Periodensystem der Elemente her kennen, aber im Prinzip war dies lediglich die Verschmelzung derjenigen Bausteine, die bereits nach den ersten fünfzehn Minuten vorhanden waren.«
Sam berührte Lucy nun mit beiden Händen und sagte: »Diese zwei Hübschen wurden tatsächlich durch den oder das erschaffen, was die Zeit eingeschaltet hat. Deine Brüste bestehen schlussendlich also aus etwas, was bereits fünfzehn Minuten nach dem Urknall vorhanden war.«
»Wow, ich bestehe zumindest indirekt aus etwas, was 13,8 Milliarden Jahre alt ist?«
Sam nickte.
»Kenne ich den Typen, der die Zeit eingeschaltet hat, dann kenne ich doch Gott, oder nicht?«
»Man könnte es umgangssprachlich durchaus so formulieren.«
In Lucys Kopf tauchten plötzlich Bilder von der jungen Gazelle auf. »Es existiert also etwas, das dieses irrsinnige Spiel der Evolution eingeschaltet und vielleicht sogar erfunden hat. Wenn sich nur die Stärksten, Schönsten und Schnellsten fortpflanzen können und dabei alle Schwachen, Kranken und Langsamen auf der Strecke bleiben, wie es im Laufe der letzten Milliarden Jahre der Fall war, dann sehe ich darin nichts Gutes. Ist dieser Gott vielleicht völlig talentfrei in Sachen Empathie? Soll es denn wirklich sein, dass der Sinn des Lebens darin besteht, dass sich Lebewesen gegenseitig bei lebendigem Leibe zerfetzen, zerreißen und auffressen? Müssen wir Menschen nicht heilfroh darüber sein, dass Apfelbäume kein Antlitz mit süßen Augen besitzen, in die wir hineinschauen müssten, wenn wir ihnen ihre Babys aus dem Leibe reißen? Könnten wir uns noch wohlfühlen, wenn Getreidekörner quälende Laute von sich geben würden, wenn wir sie zerquetschen und zermahlen, um sie anschließend in unsere Münder zu stopfen? Spielt Gott ein böses Spiel mit uns? Haben wir deshalb diesen niedlichen Begriff Natur erfunden, damit wir verdrängen können, dass Gott ein mitleidloses und brutales Dasein erschaffen hat?«
Sam zog die Notbremse. Ihm war klar, wenn die Unterhaltung weiter in diese Richtung verlaufen würde, dann wäre Lucys Gefühlslage wieder in Gefahr, zu kippen. Er schlug daher vor: »Was hältst du davon, wenn wir langsam das Licht ausmachen und das Thema wechseln, meine Liebe?«
Lucy kapierte sofort. Obwohl sie Sam für sein Einfühlungsvermögen liebte, konnte sie sich dennoch eine kleine Spitze nicht verkneifen: »Keine Sorge, schöner Mann, ich halte meine Konzentration für diesen wunderbaren Moment aufrecht. Du musst nicht ständig für mich mitdenken. Ich habe längst beschlossen, dass ich das, was vorhin mit mir in meiner Wohnung passiert ist, nie wieder zulassen werde. Dennoch habe ich gerade das große Bedürfnis, diesem Typen im Himmel auf die Schliche zu kommen. Aber vielleicht hast du recht, es ist schon ziemlich spät geworden. Lass uns schlafen.«
Lucy und Sam räumten die Hinterlassenschaften ihrer Nahrungsaufnahme vom Bett, löschten alle Kerzen aus, und Lucy schob ihren Rücken zu Sam hinüber. Während sie es sich in seinen Armen gemütlich machte, sagte sie: »Sam, ich bekomme diesen Gott nicht mehr aus dem Kopf. Außerdem habe ich ein bisschen Angst, dass ich enttäuscht sein könnte, wenn ich ihn kennenlerne.«
Sam antwortete, während er sich noch etwas enger an Lucys Körper schmiegte: »Ich kann das gut verstehen, aber ich kann dir nur einen Rat geben: Wenn du annimmst, dass der Erfinder von Raum und Zeit gleichbedeutend ist mit einem Gott, musst du gleichzeitig im Hinterkopf behalten, dass für ihn selbst Raum und Zeit nicht existieren können. Damit ist er, zumindest aus menschlicher Perspektive, zu jeder Zeit an jedem Ort. Er ist nirgendwo und überall. In seiner Welt kann es also keine Vergangenheit, keine Gegenwart und keine Zukunft geben. Ebenso wenig einen bestimmten Aufenthaltsort. Kannst du dir das vorstellen?«
Lucy murmelte: »Schwierig – das liegt außerhalb meiner Vorstellungskraft. Du willst mir also sagen, dass ich mir von einem Gott selbst kein Bild machen darf, weil es ein sinnloses Unterfangen wäre? Aber wenn es nicht möglich ist, einen Gott zu verstehen, weil wir gezwungen sind, in Raum und Zeit zu denken – er hingegen nicht –, dann können wir doch auch nicht verstehen, was er erschaffen hat, oder?«
»Genau«, antwortete Sam mit müder Stimme.
Lucy drehte sich um, gab Sam einen Gutenachtkuss und sagte: »Ich wünsche dir süße Träume.«
Anstelle einer Antwort hörte Lucy nur noch ein regelmäßiges Atmen. Sie lag noch eine Weile wach und ließ den schönen Abend vor ihrem geistigen Auge vorbeiziehen. Der letzte Gedanke, bevor Lucy in den Schlaf fiel, war:
VERSUCHE NICHT, DIE WELT ZU VERSTEHEN!
LEVEL2 – LIEBE
Als Lucy barfuß zu ihrer Wohnung hinunterlief, war es schon fast Mittag. Sie war gerade dabei, ihre Eingangstür aufzuschließen, als ihr die Ehefrau von Sam entgegenkam. »Hey, Lucy, das ging ja letzte Nacht ziemlich hoch her bei euch«, begrüßte sie Lucy.
»Oje, Bella, war ich denn sehr laut?«, fragte Lucy kleinlaut zurück – sich ihres gewaltigen Stimmvolumens sowie der Tatsache bewusst, dass Bella in diesem hellhörigen Haus direkt eine Etage unter Sam wohnte.
»Du weißt doch, ich höre dich gerne«, strahlte Bella Lucy an. »Und super siehst du aus. Das hat dir gutgetan. Ich hatte mir die letzten Wochen schon einige Sorgen gemacht. Es schien, als würde deine Stimmung von Tag zu Tag schlechter werden.«
»Magst du noch auf einen Kaffee reinkommen?«, fragte Lucy in der Hoffnung, dass Bella ihr ein bisschen Gesellschaft leisten könnte. Sie hatte Angst, allein in ihrer Wohnung wieder die Fassung zu verlieren.
Bella schüttelte den Kopf: »Schade, Lucy, gerne hätte ich mit dir noch einen Kaffee getrunken, allerdings muss ich dringend hoch, da ich gleich mit Clara zum Telefonieren verabredet bin.«
Lucys Enttäuschung über Bellas Antwort war augenscheinlich, deshalb reagierte Bella sofort: »Heute Abend ginge es aber, meine Liebe. Wäre das okay für dich?«
Lucy schaute Bella dankbar an und umarmte sie spontan: »Das wäre wirklich schön. Das würde mich freuen.«
»Ich komme gegen 20 Uhr zu dir runter.«
»Fein, dann koche ich was für uns«, erwiderte Lucy freudestrahlend. Schließlich befreite sich Bella sanft aus Lucys Umklammerung und verschwand im Treppenaufgang in Richtung vierte Etage.
Lucy betrat ihre Wohnung und ließ die Tür hinter sich zufallen. Etwas verloren stand sie in ihrem Flur, und sie wusste sofort, was nicht stimmte: Schon gestern hatte sie das Fehlen von Lunas freudiger Begrüßung kaum ertragen können. Diese selbstlose Liebe, die nie weniger wurde, die nie durch irgendwelche Launen beeinträchtigt war, die immer authentisch wirkte, wird nie mehr auf dich warten.
Lucy wollte gerade zur Ladestation ihres Smartphones laufen, als sie plötzlich stoppte und sich dachte: Mensch, Lucy, auch das ist völliger Nonsens. Du bist online auf ganzer Linie lahmgelegt. Kapier das jetzt endlich mal und finde dich damit ab – keine Luna, keine Likes, keine freudigen Kommentare – nichts. Du bist allein!
Einsamkeit dominierte jetzt wieder Lucys Gefühlslage. Gott sei Dank besucht mich Bella nachher, tröstete sie sich.
Während sie überlegte, was sie für Bella kochen könnte, stiegen wieder Erinnerungen hoch. Lucy dachte daran, wie sie damals Bella kennengelernt hatte. Bella war eine anerkannte Psychologin mit eigener Praxis, und kurz nach dem Selbstmord ihres Sohnes hatte Lucy eine Therapie bei ihr gemacht. Lucy hatte eine professionelle Trauerbegleitung gebraucht, um nicht wegen des Verlustes ihres Kindes den Verstand zu verlieren. Mithilfe von Bella schaffte sie es schließlich, zumindest den Tod ihres geliebten Sohnes zu ertragen, und das, ohne von Selbstmordgedanken gequält zu werden. Nachdem die Therapie bei Bella vorbei war, brach der Kontakt zu ihr jedoch nie ab. Nach und nach entstand eine tiefe Verbindung zwischen ihnen. Bella wurde zu einer wahren Freundin. Lucy schätzte Bellas authentische Art. Alles, was von Bella zu hören und zu sehen war, kam grundsätzlich von Herzen und war echt. Die Freundschaft zu Bella wurde zunehmend intensiver, bis kam, was kommen musste.
Lucy landete regelmäßig an dem Ort, an dem sie gerade letzte Nacht atemberaubende Stunden erlebt hatte. Sie erinnerte sich noch ziemlich genau daran, wie sie gerade mit Bella im Ehebett zugange gewesen war, als plötzlich ein groß gewachsener Mann sichtlich amüsiert im Türrahmen des Schlafzimmers gelehnt hatte. Er trug seine schneeweißen Haare zu einem Zopf gebunden, was sein markantes Gesicht zum Hotspot seiner Erscheinung machte. Es war Sam, Bellas Ehemann. Damals wohnten sie noch zusammen, obwohl sie als Ehepaar schon längst getrennte Wege gegangen waren. Nachdem Lucy damals den grinsenden Herrn entdeckt hatte, tippte sie Bella an, die daraufhin unter der Bettdecke zum Vorschein kam. Bella drehte sich gelassen um, begrüßte ihren Noch-Ehemann freundlich und stellte ihm Lucy vor. Dann fragte sie Lucy, ob sie Sam etwas näher kennenlernen wolle. Lucy wollte, und so verbrachten sie einen wunderschönen Sonntagnachmittag zu dritt.
Kurze Zeit darauf lernte Bella ein zwanzig Jahre jüngeres ehemaliges Model kennen und zog mit ihr im selben Haus ein Stockwerk tiefer ein. Lucy wurde Bellas Nachfolgerin. Als eine weitere Wohnung in dem Zehn-Parteien-Haus frei wurde, zog auch Lucy dort ein, und es entstand eine ungewöhnliche, aber harmonische Hausgemeinschaft.
Während Lucy in ihren Erinnerungen schwelgte, lief sie ziellos in ihrer Wohnung umher. Dabei wurde sie wieder von einer seltsamen Stimmung erfasst. Sie dachte an den gestrigen Abend. Erst war sie zu Tode betrübt gewesen, und nur wenig später wurde sie von purer Lebensfreude geküsst. Als emanzipierte und unabhängige Frau wollte sie auf keinen Fall den Gedanken zulassen, dass sie nur ordentlich hergenommen werden müsste, um sich gut fühlen zu können. »So einfach kann das nicht sein«, sprach Lucy zu sich selbst.
Sie überlegte, wie sie ihre Zeit totschlagen könnte.
»Ich muss mich jetzt ablenken, sonst endet der Tag wieder in einer Katastrophe«, versuchte sie sich selbst zu therapieren. Sie nahm eine Visitenkarte in die Hand, die sie gestern erhalten hatte, als sie bei der Polizei Strafanzeige gegen unbekannt erstattet hatte. Schnell hatte sie den richtigen Beamten am Telefon und erkundigte sich bei ihm, ob es etwas Neues gebe. Das Gespräch war kurz und endete mit den Worten: »Wenn wir mehr wissen, dann melden wir uns bei Ihnen, Frau Doktor Schmitt.«
Lucy wusste sofort, was das für sie bedeutete. Kein Mensch würde ihr unter die Arme greifen, um ihr gewaltsam blockiertes Onlinebusiness zu retten.
Sollte sie die Idee mit der PR-Arbeit vielleicht doch vergessen und sich stattdessen einen neuen Onlineauftritt zulegen? Neue Social-Media-Kanäle könnte sie schnell und problemlos anlegen. Dazu wäre sie technisch ohne Weiteres in der Lage. Auch die derzeit blockierten Homepages durch nagelneue zu ersetzen, wäre für Lucy ebenso problemlos in wenigen Tagen machbar.
Nur wie bekomme ich in kurzer Zeit meine Fangemeinschaft zurück?, schoss es durch Lucys Kopf.
Sie erinnerte sich nur zu gut daran, wie sie über Jahre hinweg täglich am Rechner gesessen hatte und stundenlang Storys, neue Abonnenten, Klicks, Follower und Likes generierte. Dazu gehörte natürlich auch das Ertragen von Dickpics, Verrückten und Psychopathen. Nicht zu vergessen die Unmenge von naiven und weltfremden Männern, die glaubten, die Liebe ihres Lebens online finden zu können. Das alles kostete Lucy viel Kraft, Anstrengung und diplomatische Fähigkeiten. Machte man sich Feinde, drohte ein Shitstorm, der ohnehin täglich wie ein Damoklesschwert über dem Business hing.
Lucy setzte sich an ihren Küchentisch und fragte sich: Habe ich noch genug Kraft, einen Neubeginn zu schaffen? Kann ich dieses Schauspiel noch abliefern?
Ihre Gedanken machten sich wieder selbstständig. Sie hüpften wie von selbst von einem Thema zum anderen. Oder sollte ich vielleicht Monika in Neuseeland anrufen? Nein, lieber doch nicht, entschied sie sich gleich wieder um, bei ihr wäre es mitten in der Nacht, und sie hat sicher Besseres zu tun, als sich meine lächerlichen Alltagssorgen anzuhören. Vielleicht sollte ich mir eher meine Verehrerliste zu Gemüte führen. Ein amüsanter Spofi würde mir jetzt sicher guttun.
Als Spofi bezeichnete Lucy einen ganz bestimmten Typ Mann. Es war ihre Abkürzung für Sportficker. So titulierte Lucy auf Leistung getrimmte Wichtigtuer, die mit ihrer wettbewerbsorientierten männlichen Lebensphilosophie die Welt nur zweidimensional erfassen konnten. Spofis sahen Lucys Meinung nach alles unter dem Aspekt Gewinnen oder Verlieren. Es ging ihnen nie um das weibliche Wesen selbst, sondern einzig und allein um den Akt der Eroberung. Lucy sprach ihre Gedanken laut aus: »Ihr Spofis reißt euch beim Sex wenigstens den Arsch auf, und ihr seid bereit, über eure natürliche Leistungsgrenze hinauszugehen. Wenn ich euch das Gefühl gebe, ein toller Hirsch zu sein, dann verwöhnt ihr mich rundum. Ich muss lediglich darauf achten, dass ich aus eurer Sicht als eroberungswürdige Trophäe gelte, dann kann ich mir erlauben, was ich will.«
Lucy begann, die Liste ihrer Verehrer gedanklich durchzugehen. Ein bisschen Prinzessin zu spielen, wäre wahrlich nicht schlecht. Und bezahlen tun die eh immer. So ein Trottel wäre für die nächsten Tage ideal, um mich abzulenken. Das wären dann zwar oberflächliche Stunden, aber Spofis sind schließlich auch Entertainer. Was durchaus amüsant sein kann, schließlich tun sie alles, um einen rumzukriegen, dachte sich Lucy gerade, als sich plötzlich eine andere Seite ihrer Persönlichkeit zu Wort meldete: Halt! Hör mit diesem asozialen Quatsch auf.
Lucy versuchte, ihr Gehirn zu bändigen. Es gelang ihr jedoch nicht. Schnell tauchte wieder ein Bild ihrer Hündin auf. Wie sehr wünsche ich mir, dass Luna jetzt bei mir wäre, jammerte Lucy in Gedanken. Dazu gesellten sich weitere Bilder und Sehnsüchte und begannen, Lucys Geist zu quälen, und zu guter Letzt verlor sie erneut die Kontrolle über ihren Kopf. Er verselbstständigte sich und durfte wieder machen, was er wollte.
»Stopp!«, hallte es plötzlich laut durch Lucys Wohnung. Lucy erschrak, erkannte aber sogleich die rauchige und markante Stimme von Bella. Sie hob ihren Kopf und sah Bella direkt vor sich stehen. Bella musterte Lucy mit strengem Blick. Dieser Gesichtsausdruck erinnerte Lucy an die Zeit, als sie noch bei ihr in Therapie gewesen war.
»Aufwachen, meine Liebe!«, rief Bella. »Was ist los? Warst du mit deinem Kopf gerade in den unendlichen Weiten des Weltraums? Da deine Tür offen stand, war ich so frei, ungefragt einzutreten.«
»Wie? Es ist schon 20 Uhr?« Lucy war erschrocken. Noch immer saß sie in ihrem Bademantel herum. »Wie ist das möglich, eben war es doch noch Mittag. Offenbar bin ich in ein Zeitloch gefallen«, lächelte sie etwas verlegen. »Wir wollten kochen, nicht wahr?«
»Ich habe mir schon gedacht, dass das nicht klappt«, sagte Bella gelassen und hob einen mit Stickereien reich verzierten Leinenbeutel hoch. »Ich habe köstliche Nüsse, französischen Käse, eingelegte Oliven, getrocknete Tomaten, Weißbrot und einen leckeren Bordeaux Grand Cru dabei. Lass uns doch mal wieder einen schönen französischen Abend machen.« Bellas musternder Blick verwandelte sich in einen fragenden und etwas verliebten Gesichtsausdruck.
Lucy wusste sofort, was dieser Blick zu bedeuten hatte. Sie war sich darüber klar, dass Bella noch immer an ihr hing. Obwohl Lucy die Zeit ihrer Bisexualität inzwischen hinter sich gelassen hatte, fand sie den Vorschlag dennoch nicht uninteressant. »Das würde mich vielleicht etwas entspannen«, gab Lucy zu. »Aber ich habe Sam noch in mir«, sagte sie, wohl wissend, was sich gehörte.
»Das hat meine Nase bereits herausgefunden, aber mach dir keine Sorgen, ich habe Sam auch heute noch gern.« Bella öffnete sanft Lucys Bademantel. Lucy lehnte sich entspannt in ihre Stuhllehne zurück und ließ Bella gewähren. Nach wenigen Minuten war das Ziel erreicht.
Bella kam wieder zum Vorschein und nahm Lucy in ihre Arme. Lucy genoss diese körperliche Nähe und hauchte Bella ins Ohr: »Ich danke dir für deine Großzügigkeit.« Lucy sah in die schönen, großen schwarzen Augen einer lebenserfahrenen und selbstsicheren Frau. Ihr kam es manchmal so vor, als würde dieser fast sechzigjährige Engel mit seinen langen, hennaroten Haaren im Alter immer schöner werden.
Bella löste sanft die Umarmung und kam auf den Punkt: »Magst du mir erzählen, was los ist? Ich spüre deutlich tiefes Leid in dir.«
Lucy stand auf, und während sie zahlreiche Kerzen im Raum verteilte und liebevoll Bellas mitgebrachte Leckereien auf ihrem Couchtisch drapierte, erzählte sie alles.
Bella unterbrach sie nicht und lauschte aufmerksam. Am Ende fasste sie zusammen: »Könnte es sein, dass du ohne deine Hündin und ohne dein verdammtes Internet nicht mehr leben kannst?«
Lucy war sofort klar, dass Bella einen Volltreffer gelandet hatte.
Bella fuhr unbeeindruckt fort: »Natürlich ist es furchtbar, ein geliebtes Lebewesen zu verlieren – keine Frage –, und dann noch auf diese tragische Art. Es ist jedoch in keiner Weise normal, dass dich das derart aus der Bahn wirft. Vielleicht leidest du aber auch eher an Existenz- und Zukunftsängsten? Welche Einnahmen fallen denn weg, wenn dein Onlinebusiness blockiert ist?«
»Na ja«, antwortete Lucy kleinlaut, »es ging zuletzt etwas zurück.«
»Um wie viel? Spuck es aus, Lucy!«, forderte Bella, und Lucy nannte ihre Zahlen aus den letzten Monaten.
»Nach allen Abzügen?«, fragte Bella verwundert nach.
»Nein, natürlich nicht. Davon gehen noch alle Kosten, die Sozialversicherung und die Steuern ab.«
Bella war schockiert. »Und was ist mit deiner Altersvorsorge, der Reserve für Krankheit, Wirtschaftskrisen, Pandemien, Urlaub oder für solche Fälle wie jetzt gerade?«
»Habe ich nicht«, antwortete Lucy, immer kleinlauter werdend.
Bella, die als Bestsellerautorin und Inhaberin einer Praxis sehr gut Bescheid wusste, was Selbstständige zu beachten hatten, betrachtete Lucy mit hochgezogenen Augenbrauen. »Du hättest doch das Dreifache, wenn du deinem eigentlichen Beruf nachgehen würdest.«
»Ich habe dir doch erzählt, woher ich kam, bevor Luna ihr Leben verlor. Da habe ich seit langer Zeit mal wieder einen Auftrag angenommen, und schon geht das Ganze schief. Außerdem erschien mir die Perspektive für mein Onlinebusiness bedeutend lukrativer. Mein Ziel war immer, durch die Welt zu reisen und irgendwo am Strand in der Sonne und unter blauem Himmel mein Geld zu verdienen.«
»Und? War dieses Ziel jemals in greifbarer Nähe?«, provozierte Bella sie.
»Ich weiß«, gab Lucy zu, »natürlich nicht.«
Bella ließ nicht locker: »Ich kenne deine zahlreichen Accounts ziemlich gut. Da habe ich bisher stets eine Lucy gesehen, die eigentlich nur ihren sexy Körper ins rechte Licht rückte und irgendwelche Kosmetika in die Kamera hielt.«
»Jaaa, schooon«, fühlte Lucy sich ertappt, »das gehört halt zum Geschäft. Ich war aber immer darauf bedacht, dass intime Körperstellen tunlichst bedeckt waren! Aber im Prinzip hast du recht. Es ist natürlich unbestritten, dass, wenn man zumindest subtil zeigt, was man zu bieten hat, die Fangemeinde schneller anwächst. So ist das eben – Sex sells.«
Bellas Mimik verriet Lucy, dass sie ihr nichts vormachen konnte. »Okay Bella, ist ja schon gut. Ich gebe es zu. Wenn ich täglich höre, wie toll ich aussehe, dann ist das schon etwas, was ich durchaus genieße. Das hebt meine Stimmung, schließlich bin ich nicht mehr die Jüngste. Kannst du dich nicht mehr daran erinnern, unter welch großen Selbstzweifeln und Minderwertigkeitskomplexen ich gelitten habe? Seit ich mein Onlinebusiness habe, ist das viel, viel besser geworden.«
»Mit wie vielen Männern warst du denn seit unserer Therapie im Bett?«, schien Bella das Thema zu wechseln.
»Was soll denn diese Frage jetzt?«, zeigte sich Lucy etwas verlegen. Sie entschloss sich aber, ehrlich zu sein: »Ich weiß nicht mehr so genau. Ich denke, ungefähr zwanzig.«
»Wie bitte? In vier Jahren zwanzig verschiedene Männer? Also im Schnitt jeden zweiten Monat ein nagelneuer Mann? Und niemals ist daraus eine Beziehung entstanden?«
»Na ja, ich hatte es immer nur mit Spofis zu tun«, verteidigte sich Lucy halbherzig. »Der einzige Mann, zu dem ich mich in den letzten Jahren richtig hingezogen fühlte, war und ist dein Sam.«
»Und den hast du durch mich kennengelernt! Was sind eigentlich Spofis?«
»Ich bezeichne so Männer, die mich einseitig verwöhnen, alles für mich tun und sich ausreichend anstrengen. Spofi ist die Abkürzung für Sportficker«, entgegnete Lucy trotzig.
»Also, meine Liebe, berichtige mich bitte, wenn ich etwas falsch verstanden habe«, versuchte Bella, ein Resümee zu ziehen. »Du hast seit unseren Sitzungen deinen Alltag damit verbracht, eine Liebesbeziehung mit einem Hund zu führen, am Computer Herzchen und Blümchen einzusammeln, und abends hast du dich regelmäßig zum Essen einladen und dich danach durchficken lassen. Findest du nicht, dass du damit hundert Jahre Feminismus mit Füßen trittst?«
»Ich habe halt nur solche Typen angezogen«, klagte Lucy, während sie versuchte, ihre Tränen zu unterdrücken.
»Was heißt denn angezogen?«, fragte Bella sichtlich genervt.
»Na ja, ich bin nur von solchen Männern angesprochen worden«, antwortete Lucy.
»Und wie viele hast du angesprochen?«
»Ich glaube, keinen«, gab Lucy zögernd zu.
Bella verdrehte die Augen. Dennoch beschloss sie, jetzt keine feministische Standpauke zu halten. Stattdessen sagte sie: »Und nun ist dein Hund als Liebeslieferant ausgefallen, du bekommst keine Aufmerksamkeit mehr im Netz, und es müssten eigentlich deine Sportficker wieder einspringen, was aber nicht klappt, weil in deinem Kopf nur Sam herumspukt, der aber an einem konservativen Partnerschaftsmodell nicht interessiert ist. Könnte man das Ganze so auf den Punkt bringen?«
Lucy sank in sich zusammen und fing an zu weinen. Bella rutschte zu Lucy hinüber, nahm sie bedächtig in ihre Arme und strich über ihr blondes Haar. »Entschuldige bitte, vielleicht war es ein bisschen zu hart formuliert.« Bella beschloss, erst einmal nichts mehr zu sagen, stattdessen streichelte sie Lucys Rücken.
Lucy verlor aber nicht ihre Fassung, schließlich konnte sie sich noch an die vorherige Nacht erinnern, in der ihr bei Sam ein kleines Licht aufgegangen war. Nach wenigen Minuten hob sie ihren Kopf, schaute direkt in Bellas mitfühlende Augen und sagte: »Ach, Bella, ich wollte das alles nie wahrhaben. Ich habe mich schon länger gefragt, warum ich täglich viele Stunden meiner Zeit vor der Kiste verbringe. Aber verstehe bitte meine Situation: Das erste Mal in meinem Leben hatte ich das Gefühl, ein wenig prominent zu sein. So viele Menschen haben sich auf einmal für mich interessiert, und irgendwann werden diese positiven Onlinefeedbacks wichtiger und wichtiger. Dabei habe ich meine Sorgen um meine finanzielle Existenz vergessen können. Nur hat das jetzt alles ein jähes Ende genommen. Und die Scheißpolizei schert sich einen Dreck darum.«
Bella ließ nicht locker: »Ich weiß aber auch, dass du mit deiner PR-Arbeit nicht unerfolgreich gewesen bist.«
»Das stimmt, da hatte ich zumindest bessere Einnahmen. Aber es konnte mich nie zufriedenstellen. Ich wollte mich mehr verwirklichen.«
»Und davor? Da warst du doch beim ZOD beschäftigt und auf dem besten Weg, eine Beamtenkarriere hinzulegen. Das wäre doch eine super Perspektive gewesen. Sam hat sich mit seiner Beamtenlaufbahn sogar dieses Haus leisten können. Als Pensionärin wirst du heute mit Geld förmlich überschwemmt.«
»Der Job beim ZOD berührte mein Herz nicht. Ich empfand ihn als unerträglich. Diese perfide mediale Volkserziehung hat mich einfach zu sehr an unser Staatsfernsehen erinnert, als es noch die DDR gab. Wenn du als Journalistin nichts von dem bringen kannst, was wichtig ist, oder wenn du alles in Halbwahrheiten verpacken musst, dann macht dich das früher oder später kaputt.«
»Damals hattest du mir deine Situation aber etwas anders dargestellt. War nicht der Hauptgrund deiner Unzufriedenheit, dass du nicht genug Wertschätzung von deinen Vorgesetzten erhalten hattest?«
Lucy erinnerte sich. »Das habe ich dir während unserer Sitzungen erzählt, nicht wahr? Dieser Müller und dieser Meier waren einfach nur lächerliche Figuren. Ich konnte nicht ertragen, dass solche schmierigen Affen mir jeden Tag vorschreiben konnten, was ich zu tun oder zu lassen habe.«
Bella widersprach: »Ich denke, dass es dir damals besser ging als heute.«
»Da gab es ja auch noch meinen geliebten Miguel. Bis zu seinem schweren Autounfall hatten wir eine so schöne Zeit, das kannst du dir überhaupt nicht vorstellen«, sagte Lucy wehmütig.
»Und du hattest mit ihm deine Zwillinge«, ergänzte Bella, obwohl sie sich des Risikos bewusst war, Lucy damit an ihren toten Sohn zu erinnern.
»Ja, meine Kinder waren noch da«, sagte Lucy leise.
»Das heißt, du hattest es beim schlimmen ZOD ganz gut aushalten können, weil du ein wunderschönes Privatleben führen konntest? Was war denn aus heutiger Sicht das Schönste für dich?«, fragte Bella, die bereits in ihrem Therapeutenmodus angelangt war.
In Lucy tauchten plötzlich bestimmte Einsichten auf. Sie richtete sich auf und sagte: »Miguel hat mich unendlich geliebt, und mit meinem Sohn Michael hatte ich ein überaus vertrautes und liebevolles Verhältnis. Selbst als er schon ein junger Mann war, riss diese enge und wundervolle Verbindung nie ab.«
Bella sagte daraufhin: »Und mit seiner Schwester hattest du darüber hinaus noch eine gute Freundin.«
Lucy wurde jetzt immer konzentrierter. »Ich weiß, ich war nie eine typische Mutter. Insbesondere nach Monikas Pubertät sind wir oft zusammen, wie zwei Freundinnen, einkaufen gegangen. Und später, als Monika etwas älter war, haben wir sogar das Nachtleben zusammen aufgemischt. Diese Zeit war so schön. Aber jetzt, liebe Bella, dämmert es mir langsam.«
»Und?«, fragte Bella, gespannt auf die Antwort.
»Miguel, Michael und Monika waren damals nur meine Liebeslieferanten!«
»Und was fällt dir noch auf, wenn du deine letzten fünfundzwanzig Jahre Revue passieren lässt?«
Lucy senkte den Kopf und sagte zögerlich: »Ich renne schon mein halbes Leben lang herum, um Wertschätzung, Beachtung und Aufmerksamkeit zu bekommen. Zuerst von Miguel, dann von meinen Zwillingen. Und als sie nicht mehr zur Verfügung standen, habe ich mir einen Hund gekauft, mir im Internet ein applaudierendes Publikum zugelegt und mir von einer Horde von Männern täglich bestätigen lassen, was für eine tolle Frau ich bin.«
»Super, ich habe nichts hinzuzufügen«, freute sich Bella über Lucys einsichtige Worte.
Lucy war dankbar, dass sie mal wieder an ihr eigentliches Lebensproblem erinnert wurde, und sagte: »Ich bin darauf angewiesen, geliebt zu werden, weil es mir an Selbstliebe mangelt. Ich brauche für das eigene Überleben die Liebe anderer. Wie konnte ich so bescheuert sein, wieder in dieses alte Fahrwasser zu geraten?«
»Das allerdings frage ich mich auch gerade. Wir sind schon damals zu diesem Schluss gekommen. Deine tiefen Selbstzweifel sind das Problem, obwohl du, objektiv betrachtet, ein nahezu perfekter Mensch bist. Ich habe in meiner langen Laufbahn selten jemanden kennengelernt, der mehr emotionale, intellektuelle und körperliche Fähigkeiten vorweisen kann als du, aber dennoch unfähig ist, sich selbst dahingehend zu reflektieren.«
Lucy strahlte wie ein Honigkuchenpferd. Sie war gerührt, ein solches Kompliment zu hören, und das aus dem Munde einer Frau, die sie von Anfang an bewundert und verehrt hatte. Sie fiel Bella um den Hals. »Oooh, du wunderbarer Mensch, ich danke dir von Herzen für diese magischen Worte. Das tut so unendlich gut. So sehr wünsche ich mir, mich selbst endlich positiver einschätzen zu können.«
Lucy gestand sich ein, einmal mehr ihr Hauptproblem verdrängt zu haben. »Bella, wie du weißt, habe ich nach dir noch andere Therapeuten und Coaches konsultiert. Ich habe damals auch zig einschlägige Bücher gelesen und nächtelang in Onlinechats diskutiert, aber niemand konnte mir den Schlüssel zu mehr Selbstliebe geben. Ich befürchte zudem, dass sich Michael nur deshalb umgebracht hat, weil er das gleiche Problem hatte wie ich selbst. Obwohl ich alles – und glaube mir bitte –, wirklich alles getan habe, um aus unseren Zwillingen starke, authentische und empathische Persönlichkeiten zu machen, hat dies zwar bei Monika zu hundert Prozent funktioniert, aber bei Michael habe ich versagt.«
»Okay, Lucy«, sagte Bella ernst, »wenn du mir versprichst, dass das, was ich dir gleich offenbaren werde, niemals in die Öffentlichkeit gelangt, erkläre ich dir meine ureigene Sicht auf die Dinge.« Bella holte tief Luft, nahm einen großen Schluck Rotwein und begann ihre Rede: »Ich möchte jetzt der aktuellen akademischen Lehrmeinung widersprechen. Wenn sich das herumspricht, verliere ich für meine Praxis die Kassenzulassung. Also muss das, was ich jetzt von mir gebe, wirklich unter uns bleiben.«
Lucy nickte und sagte: »Selbstverständlich, Bella. Du kannst dich auf mich verlassen.«
»Als du bei mir in Therapie warst, bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass du bei der Erziehung deiner Zwillinge alles richtig gemacht hast, schließlich bist du eine Perfektionistin. Wenn du etwas machst, dann machst du es nicht nur gut, sondern in der Regel perfekt. Es gibt jedoch einen kleinen Haken: Deine Erziehung baute auf eine ganz bestimmte Idee der Entwicklungspsychologie auf, an der du dich offenbar orientiert hast. Sie besagt, dass bereits in den ersten Lebensjahren die Weichen dafür gestellt werden, ob wir Urvertrauen entwickeln oder nicht. Dieses Konzept stammt übrigens aus den Fünfzigerjahren. Der Freudschüler und Kinderpsychologe Erik H. Erikson entwickelte damals das Konzept Basic Trust und schrieb darüber ein Buch. 1957 kam die deutsche Übersetzung heraus, und dort tauchte der Begriff Urvertrauen als Übersetzung von Basic Trust das erste Mal auf. Demnach entwickelt der Säugling im ersten Lebensjahr – nach Freud die orale Phase – ein Grundgefühl dafür, welchen Situationen und Menschen er vertrauen kann. Das Baby entwickelt eine bestimmte Gefühlsqualität im selbstvertrauenden Umgang mit der Welt. Weiterhin behauptete Erikson in seinem Stufenmodell, dass auch die weiteren Jahre maßgeblich dafür seien, ob das Kind ein solides Urvertrauen aufbauen kann oder nicht. Eine zu geringe Ausbildung des Urvertrauens würde später zu spezifischen Verhaltensauffälligkeiten führen, wie zum Beispiel mangelnder Selbstliebe.«
