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Zwei Schwestern. Ein Erbe. Und ein Sommer, der alles verändert.
Jella und Clara könnten unterschiedlicher nicht sein – doch nach dem Tod ihrer Mutter stehen sie plötzlich vor einer gemeinsamen Herausforderung auf Sylt: Die Strandperle, ein traditionsreiches Nobelrestaurant mit Meerblick, darf niemals in fremde Hände gelangen – das haben sie ihrer Mutter versprochen.
Nun müssen sie sich zusammenraufen. Allerdings haben sie sehr gegensätzliche Vorstellungen davon, was aus der Strandperle werden soll: Jella will einen Nachtclub eröffnen, Clara träumt von einer Buchhandlung am Meer mit kleinem Café.
Ob sich die Schwestern einig werden? Noch dazu in einer Saison, in der die Weltwirtschaftskrise ihren Höhepunkt erreicht? Und dann taucht auch noch ein Mann auf, der es beiden angetan hat …
Schicksalhafte Zeiten auf Sylt – der bewegende Auftakt der großen Schwestern-Saga von Sina Beerwald.
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Seitenzahl: 393
Veröffentlichungsjahr: 2025
Zwei Schwestern. Ein Erbe. Und ein Sommer, der alles verändert.
Exklusiver Lesegenuss: Ab dem 01.07.2025 bis zum 31.07.2025 vorab lesen! Jella und Clara könnten unterschiedlicher nicht sein – doch nach dem Tod ihrer Mutter stehen sie plötzlich vor einer gemeinsamen Herausforderung auf Sylt: Die Strandperle, ein traditionsreiches Nobelrestaurant mit Meerblick, darf niemals in fremde Hände gelangen – das haben sie ihrer Mutter versprochen.
Nun müssen sie sich zusammenraufen. Allerdings haben sie sehr gegensätzliche Vorstellungen davon, was aus der Strandperle werden soll: Jella will einen Nachtclub eröffnen, Clara träumt von einer Buchhandlung am Meer mit kleinem Café.
Ob sich die Schwestern einig werden? Noch dazu in einer Saison, in der die Weltwirtschaftskrise ihren Höhepunkt erreicht? Und dann taucht auch noch ein Mann auf, der es beiden angetan hat …
Schicksalhafte Zeiten auf Sylt – der bewegende Auftakt der großen Schwestern-Saga von Sina Beerwald.
Sina Beerwald, 1977 in Stuttgart geboren, hat sich bislang mit über zwanzig erfolgreichen Büchern, darunter historische Romane und Sylt-Erlebnisführer, einen Namen gemacht. Sie ist Preisträgerin des NordMordAward und des Samiel Award, zudem standen einige ihrer Titel auf der Shortlist Shortlist des größten deutschsprachigen Leserpreises. 2008 wanderte sie mit zwei Koffern und vielen Ideen im Gepäck auf die Insel Sylt aus.
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Sina Beerwald
Die Sylt-Schwestern - Schicksalhafte Stunden
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Westerland auf Sylt
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Für Lauris
14. Juli 1931
In der Ferne kündigten Rußschwaden den Zug aus Berlin an. Dunkle, schwere Dampfwolken. Ob ihre Schwester wirklich wie per Telegramm angekündigt in diesem Zug saß? Glauben konnte Clara es noch nicht.
War Jella tatsächlich dem dringenden Ruf der Mutter gefolgt? Gab sie nach zehn Jahren das Leben in der pulsierenden Metropole Berlin auf und kam zurück nach Sylt, obwohl sie geschworen hatte, keinen Fuß mehr auf die Insel zu setzen?
Gut möglich, dass Jella ihre Rückkehr nur angekündigt hatte, um die drängenden Bitten der Mutter verstummen zu lassen. Denkbar auch, dass sie lediglich am Sterbebett Abschied nehmen wollte. Aber in Zukunft auf der Insel bleiben? Das passte nicht zu Jellas Lebensplan.
Zwei Schwestern, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten, und ein gemeinsames Erbe. Was hatte sich ihre Mutter nur dabei gedacht?
Ob sie sich überhaupt erkennen würden? Beim Abschied war sie, Clara, neunzehn Jahre alt gewesen, nun war sie knapp dreißig. Natürlich war sie reifer geworden, doch nach ihrem Dafürhalten hatte sie sich kaum verändert. Clara blickte an sich hinunter. Sie trug sogar ihr Lieblingskleid, das sie schon damals besessen hatte: ein flottes, bis zu den Knien reichendes Kleid aus grauem Stoff mit blauen, weißen und roten Blüten und ein dazu passender roter Gürtel, der die Taille betonte. Ein paar Pfunde mochten hinzugekommen sein, doch die störten sie nicht. Im Gegenteil, sie betonten nur ihre Weiblichkeit. Mit ihrer Oberweite konnte sie ohnehin zufrieden sein, da war sie deutlich besser ausgestattet als ihre mittlerweile sechsunddreißigjährige Schwester, die bis zu ihrer Abreise immer das Modell Bohnenstange gewesen war.
»Friesenkekse für unterwegs! Ein Souvenir von der Insel. Friesenkekse für unterwegs!« Die Ausrufe stammten von zwei jungen Frauen, die für Wiedermanns Wiener Café in der Strandstraße arbeiteten, wie an der Werbeaufschrift auf ihren Bauchläden zu erkennen war. Daraus verkauften sie noch bis zur letzten Minute Proviant an die Abreisenden, der sehr beliebt war.
Mit einem durchdringenden Pfeifen kündigte die mächtige schwarze Lok die Einfahrt in den Westerländer Bahnhof an. Die wartenden Menschen gerieten in Bewegung, erfasst von einer gespannten Unruhe, die sich auch auf Clara übertrug.
Erst seit vier Jahren rollten Züge über den Hindenburgdamm, zuvor war die Anreise nur per Schiff möglich gewesen, und die Einfahrt des Mittagszugs aus Berlin lockte neben wartenden Hoteldienern und Anverwandten immer noch zahlreiche Schaulustige ans Gleis.
Die Bremsen des Zuges quietschten, sodass Clara sich die Ohren zuhalten musste. Diese Haltung, den Blick zu Boden, die Finger in den Ohren und das Gesicht verzerrt, erinnerte sie daran, wie sie ihrer sieben Jahre älteren Schwester oft im Streit gegenübergestanden hatte, wenn Jella sie angebrüllt und sich oft wie ihre zweite Mutter aufgeführt hatte.
Der Zug hielt, und Clara straffte ihre Haltung. Es galten nicht mehr die alten Regeln, sie war nicht mehr das kleine Schwesterchen, die Untergebene, auf die man herabschauen konnte. Natürlich, die Jüngere würde sie immer bleiben, aber mittlerweile war sie im Gegensatz zu Jella sogar verheiratet.
Schnell richtete sie ihre Frisur, die der böige Wind in Unordnung gebracht hatte. Eigens für die Ankunft ihrer Schwester hatte sie sich beim Friseur Wasserwellen machen lassen. Im Alltag gab sie nichts auf solche Eitelkeiten. In der Sonne hatte ihr dunkelblondes Haar einen deutlichen Rotstich, was ihr als Kind einige Hänseleien eingebracht hatte.
»Kitzi!«
Dieser Ausruf konnte nur von ihrer Schwester stammen. Wo war sie? In der Menschenmenge winkten einige Frauen, doch ihre Schwester war unter ihnen nicht auszumachen – oder nicht wiederzuerkennen.
Kitzi. Wie sie diesen Spitznamen hasste, den Jella aus dem ursprünglichen »Rehlein« gemacht hatte. Ihre Mutter hatte den Kosenamen wegen der großen rehbraunen Augen ihrer Jüngsten aus der Taufe gehoben, und weil sie so ein schüchternes und scheues Kind gewesen war – und Jella hatte diese Bezeichnung irgendwann frech abgeändert und beibehalten.
Eine Frau mit schwarz gefärbtem Bubikopf und Hosenanzug nahm die Finger zwischen die Lippen und machte mit einem Pfiff nicht nur Clara, sondern in erster Linie einen Kofferträger auf sich aufmerksam, mit dem sie ein paar Worte wechselte.
Jella.
Ihre Schwester war zurück. Dennoch wirkte diese Frau seltsam fremd auf sie, was an den kurzen, jetzt nicht mehr blonden Haaren lag und der Tatsache, dass sie stark geschminkt war. Die hohen, ohnehin schon hervorstehenden Wangenknochen hatte sie mit dunklem Rouge betont, ihr Kussmund war knallrot geschminkt und die Haut sehr blass gepudert. Ihre raue, recht tiefe Stimme war hingegen unverkennbar.
Jella drückte dem Bediensteten eine Münze und ihren Lederkoffer in die Hand. Danach lief sie mit ausgebreiteten Armen lachend auf sie zu und umarmte sie so stürmisch, dass Clara einen Schritt rückwärts machen musste, um das Gleichgewicht wiederzufinden.
Ein herbes Parfum stieg Clara in die Nase, vermischt mit dem Geruch von kaltem Rauch.
Clara befreite sich aus der Umarmung. Ihre Schwester führte sich auf, als ob sie beste Freundinnen wären, die nach zehn Jahren das Wiedersehen herbeigesehnt hatten. Aber solche überbordenden Gefühlsausbrüche hatte Jella schon immer an den Tag gelegt. Manchmal war sie wie ein Sturm, der aus dem Nichts aufzog und alles mit sich riss, und man hatte keine Chance, wenn man nicht rechtzeitig in Deckung ging. Dasselbe galt für ihre aufbrausende Art, durch die man leicht mit ihr in Streit geriet. Doch so schnell die Wolken kamen, verzogen sie sich auch wieder, und Jella zeigte ihr sonniges Gemüt, als ob nichts gewesen wäre.
Eigentlich hatte Clara sich fest vorgenommen, die Vergangenheit ruhen zu lassen und ihre Schwester nach so langer Zeit ganz unvoreingenommen zu betrachten, ihr eine Chance zu geben, aber das war nicht so leicht, wie sie sich das vorgestellt hatte.
Clara streckte die Hand zur Begrüßung aus. Das Lächeln spannte auf ihren Lippen.
»Hallo, Jella, herzlich willkommen auf Sylt.«
***
Konsterniert ergriff Jella die Hand ihrer Schwester und erwiderte die steife Begrüßung. »Vielen Dank.«
Das Wiedersehen hatte sie sich einfacher vorgestellt. Klar, sie war lange in Berlin gewesen, hatte nie mehr zurück auf die Insel gewollt, aber nun hatte das Leben, oder vielmehr ihre Mutter, andere Pläne mit ihr, und da wollte sie mit ihrer unvoreingenommenen stürmischen Begrüßung ausloten, wie so die Stimmung bei ihrer kleinen Schwester war.
Einen ersten Eindruck davon hatte sie gerade erhalten. Aber so war Clara eben. Scheu und zurückhaltend wie ein Reh, unnahbar und wohl immer noch ständig auf der Hut vor möglichen Gefahren, die kein anderer Mensch witterte.
Ja, Clara hatte ihr damals großes Unglück prophezeit, anstatt ihr beim Abschied alles Gute für Berlin zu wünschen. Es sei der größte Fehler, die Insel zu verlassen, so hatte Clara behauptet. Dort würde sie, Jella, untergehen und in der Gosse landen. Tja, da hatte sich ihre kleine Schwester geirrt – und zwar gewaltig.
Am liebsten hätte sie ihr das direkt auf die Nase gebunden, aber Clara würde noch früh genug erfahren, was für ein verrücktes, berauschendes, aber auch finanziell lukratives Leben sie dort als Tänzerin in einem Nachtclub geführt hatte. Wohlgemerkt weder als Nackttänzerin noch als Prostituierte. Doch da gab es Dinge, von deren Existenz ihre kleine Schwester in ihrer noch kleineren Inselwelt bestimmt nichts wusste, und wenn sie davon erfahren würde, triebe es ihr die Schamesröte ins Gesicht.
Alles zu seiner Zeit. Außerdem hatte sie sich eigentlich fest vorgenommen, die Vergangenheit ruhen zu lassen und einen Neuanfang mit ihrer Schwester zu wagen. Angesichts der ernsten Lage bitter notwendig.
»Wie geht’s unserer Mutter?«, fragte sie, als sie sich Richtung Bahnhofsgebäude in Bewegung setzten. Eigentlich eine überflüssige Frage, denn sie war aufgrund der Briefe, die ihr ihre Mutter unentwegt nach Berlin geschickt hatte, über deren schlechten Gesundheitszustand informiert. Aber sie wollte das Gespräch in Gang bringen.
»Den Umständen entsprechend«, antwortete Clara. »Ich pflege sie seit geraumer Zeit. Sie kann das Bett nur noch für ihre Notdurft verlassen. Der Wasserbauch bereitet ihr Schmerzen.«
»Ich kenne so einen Wasserbauch bloß von Hunger leidenden Menschen …«
»Ihr Herz ist sehr schwach geworden. Dadurch sammelt sich das Wasser in ihrem Körper an und steigt immer höher.«
»Hm«, machte Jella. »Dann ist es wohl wirklich bald so weit … Ob wir Mutters letzten Willen erfüllen können?«
»Hm«, machte nun auch Clara, dann zog sie die Tür zur Bahnhofshalle auf und ging voraus.
Im Grunde wusste sie die Antwort ohnehin schon, dachte Jella, denn sie kannte ihre kleine Schwester, die Bedenkenträgerin. Doch in einer Hinsicht musste sie Clara tatsächlich recht geben: Dieses Erbe, ein traditionsreiches Nobel-Restaurant auf Sylt, in erster Reihe mit Meerblick, war einige Hausnummern zu groß für sie beide, die sie nie eine Leidenschaft für die Gastronomie empfunden hatten. Mit der Leitung des Restaurants würden sie beide überfordert sein, so viel stand fest. Doch ebenso klar war, dass sie den letzten Willen ihrer Mutter nicht einfach missachten konnten.
Sie holte ihre kleine Schwester ein. »Wir werden einen Weg finden«, sagte sie zuversichtlich.
»Das werden wir«, gab Clara zurück. Doch so richtig sicher klang sie dabei nicht, zudem vermied sie jeglichen Augenkontakt.
Ihre kleine Schwester war erwachsener geworden, dachte Jella, das sah man ihr an. Die Frage blieb, ob sie sich auch charakterlich verändert hatte oder ob sie immer noch dieses kleine Mädchen war, das Angst vor der großen weiten Welt und überhaupt vor Veränderungen hatte, das den immergleichen Tagesablauf brauchte, um sich sicher zu fühlen?
»Sag mal, Clara, du bist tatsächlich mit dem Bürgermeister Zapp verheiratet? Mutter hat mir das mal voller Stolz geschrieben. Da hast du ja eine gute Partie gemacht.«
»Hättest du mir gar nicht zugetraut, was?« Herausfordernd blickte Clara sie von der Seite an, doch Jella beschloss, nicht weiter darauf einzugehen. Auch weil sie als schwarzes Schaf der Familie der Hochzeit ihrer kleinen Schwester ferngeblieben war.
»Wow!«, entfuhr es ihr, als sie sich in dem großen, feudalen Bahnhofs-Gebäude umsah, das wahrhaft einen königlichen Empfang bot und im Land sicher seinesgleichen suchte.
Goldfarbene Fliesen, die bis zur Hälfte des hohen Raumes reichten, als Abschluss eine breite Stuckleiste aus dunklem Holz und darüber die hell gestrichene Wand. Besonders bemerkenswert waren die großen Fenster mit Schmuckverglasung, und dann war da auch noch die aufwendig getäfelte Decke, von der zwei moderne Kronleuchter hingen. Sechs längliche, goldverzierte Glaskästen mit elektrischem Licht, die als Abschluss jeweils ein kronenartiges Gebilde trugen.
Jella kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Nicht dass es so etwas in Berlin nicht auch gäbe, aber auf Sylt hätte sie so viel zur Schau getragene Dekadenz und Moderne nicht erwartet, wo doch bislang über allem der Staub der Provinz gelegen hatte und ein Provisorium für die Ewigkeit halten musste.
Ihre kleine Schwester konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Gar nicht so übel, nicht wahr? Hättest du wohl nicht erwartet?«
»Allerdings nicht«, gab sie zu, während sie sich auf dem Parkettfußboden einmal um die eigene Achse drehte. Als sie vor zehn Jahren die Insel verlassen hatte, war das bloß mit dem großen Passagierdampfer Cobra möglich gewesen, der von Hörnum im Inselsüden nach Hamburg fuhr, und von dort ging es dann weiter mit der Bahn. Und nun gab es den Hindenburgdamm und diesen Bahnhof – eine beeindruckende Entwicklung.
Über den Türen wiesen große, aus Kupfer kunstvoll geschmiedete Buchstaben den Weg zu verschiedenen Bereichen: zum Wartesaal, Gepäckraum, Friseursalon, Speisesaal und zu den Aborten, die, vom Ausgang abgesehen, das bevorzugte Ziel der Ankommenden waren.
Jella verspürte lediglich das dringende Bedürfnis nach einer Zigarette und bat ihre Schwester, kurz zu warten, während sie ihre schmale Handtasche öffnete.
»Möchtest du Schokolade?«, fragte Clara in ihre Gedanken hinein.
Fragend hob Jella die Augenbrauen, weil sie nicht verstand, wie ihre Schwester auf diese Idee kam, außerdem war hier weit und breit kein Süßwarenstand. Da erst bemerkte sie, dass sie neben einem hölzern eingefassten Automaten stehen geblieben war, wo es von der Chokoladen-Fabrik Gartmann aus Altona gegen den Einwurf von 10 Pfennigen die Sorten Vanille oder Crême zu kaufen gab.
»Nein, danke, ein Missverständnis. Ich wollte mir eine Zigarette anstecken.« Sie hatte sich den Glimmstängel gerade in den Mundwinkel geklemmt, als ein attraktiver Mann in Hoteluniform, etwa in ihrem Alter, wie aus dem Nichts auftauchte und ihr mit einem Streichholz Feuer anbot.
»Ich nehme an, Sie sind noch auf Zimmersuche?«, sprach er sie ohne Umschweife an, und trotz seiner Zielstrebigkeit strahlte er eine angenehme Zurückhaltung aus. »Darf ich Ihnen ein Quartier im schönen Hotel Miramar empfehlen, erste Reihe, bester Komfort, eigenes Bad, Warmwasser auf allen Zimmern, elektrisches Licht und selbstverständlich mit Meerblick. Nun, wie klingt das?«
»Sehr gut.« Jella lächelte breit, was den livrierten Gesandten des Hotels dazu veranlasste, eine Visitenkarte zu zücken. Er war einer von vielen, die ein Zimmer anpriesen und im Konkurrenzkampf um die Gäste die Ankommenden abfingen, doch seine äußere Erscheinung und die Art seines Auftretens weckten ihr Interesse. Er war fast einen Kopf größer als die meisten Männer um sie herum, was ihm eine natürliche Präsenz verlieh. Seine Gesichtszüge waren markant, und die hohe Stirn war von dunkelblonden Locken eingerahmt, die ein wenig unordentlich fielen, so als hätte der Wind damit gespielt. »Ich lasse Ihr Gepäck gern an die genannte Adresse bringen.« Er blickte sich um. Das seltene Graublau seiner Augen war faszinierend und erinnerte sie an einen stürmischen, undurchdringlichen Nordseehimmel. »Wo haben Sie denn Ihre Koffer?«
»Der ist bereits unterwegs in mein altes Zuhause. Ich wohne vis-à-vis des Miramars im Gebäude des Restaurants Strandperle.«
Er hob die dicht gewachsenen Augenbrauen. »Ach, mir ist nicht bekannt, dass dort Fremdenzimmer vermietet werden.«
Über sein Erstaunen musste sie grinsen. »Ich bin die Tochter des Hauses. Jella Jansen.«
»Angenehm«, brachte er bloß hervor, ohne sich selbst vorzustellen. Mit einem Mal schien er reichlich verwirrt zu sein.
»Und Ihr werter Name?«, fragte sie. Durch das Kräuseln ihrer Mundwinkel verriet sie eine gewisse Belustigung. Dabei wollte sie sich keineswegs über ihn lustig machen, doch sie amüsierte sich darüber, wie schnell sie Männer im Allgemeinen und ihn im Speziellen aus der Fassung bringen konnte.
Er räusperte sich und täuschte einen Hustenanfall vor, als habe dieser ihn daran gehindert, sich vorzustellen. »Magnus von Beerenkamp, ich bin ein Großneffe des Hotelgründers Busse. Ich bin erst kürzlich aus Berlin gekommen, um hier zu arbeiten.«
»Ach!«, entfuhr es ihr. »Ich habe die letzten zehn Jahre in Berlin gelebt.«
»Was für ein Zufall! Und nun kehren Sie auf die Insel zurück?«
Seine tiefe, melodische Stimme machte das Gespräch angenehm. Sie konnte sich durchaus vorstellen, sich bei anderer Gelegenheit noch viel länger mit ihm zu unterhalten.
»Das wird sich noch herausstellen. Ein paar Wochen werde ich auf jeden Fall bleiben.«
»Das freut mich zu hören«, entgegnete Magnus sichtlich aufgeregt. Mit fahrigen Bewegungen nahm er sein Zigarettenetui aus der Innentasche, ohne den Blick von ihr abzuwenden.
Der Höflichkeit halber wollte sie nun auch ihre kleine Schwester vorstellen, doch die hatte sich einige Schritte entfernt und hielt den Kopf abgewandt, als wollte sie nicht dazugehören und würde bloß auf jemanden warten. Merkwürdig. Aber Clara hatte sich schon in so manchen Situationen befremdlich verhalten. Überhaupt gehörten viele Menschen auf einem Haufen nicht zu ihren Vorlieben, vielleicht war es ihr einfach zu viel geworden.
Magnus von Beerenkamp. Es erschien ihr, als ob sie seinen Namen schon einmal in einem anderen Zusammenhang gehört hätte, aber sie konnte sich auch täuschen.
»Weshalb freut Sie das?«, fragte sie herausfordernd.
Er gab sich lässig, während er eine Zigarette entnahm, das Etui mit einer Hand wieder zuklappte und wegsteckte. »Weil sich mir die Gelegenheit böte, Sie zum Essen auszuführen, damit wir uns ein wenig austauschen und über Berlin unterhalten könnten.«
»Ach?« Mit einem gekonnten Augenaufschlag warf sie ihm einen aufreizenden Blick zu. Sie liebte es, mit Männern zu spielen und ihre Wirkung zu testen. »Mir steht der Sinn mehr nach einer langen Nacht …« Ihren Worten gab sie mit sonorer Stimme eine vielversprechende Bedeutung.
Er blickte sie an, erkennbar unsicher, ob er das für einen Scherz halten oder ernst nehmen sollte, und machte ein paar ungelenke Bewegungen, um sich die Zigarette anzuzünden. Doch ein Streichholz nach dem anderen brach ihm ab, was ihn noch nervöser machte.
Sie klemmte sich ihre Zigarette in den Mundwinkel, nahm ihm kurzerhand die kleine Schachtel ab, entzündete das Streichholz mit einem energischen Abrieb und gab ihm Feuer. Dabei hielt sie seinen Blick gefangen, sodass er vergaß, an der Zigarette zu ziehen. Als er das eilends nachholte, musste er kräftig husten.
So langsam tat ihr der arme Kerl leid. Immer noch standen sie vor dem Chokoladen-Automaten, um sie herum herrschte ein Kommen und Gehen. Aus dem Augenwinkel sah Jella, dass Clara sich unverändert abseits hielt und sie mit verärgerter Miene beobachtete.
Nun gut, es wurde Zeit, diese kleine Tändelei zu einem Ergebnis zu führen.
»Ich meine natürlich eine Nacht an der Bar in der Baumannshöhle, ein paar nette Drinks, meinetwegen auch im Trocadero, wenn es etwas gediegener sein soll.«
Magnus nahm einen langen Zug von seiner Zigarette, legte den Kopf in den Nacken und blies den Rauch mit einem kräftigen Atemstoß aus. »Dann haben wir hiermit für morgen eine Verabredung. Um 18 Uhr im Trocadero. Ich hole Sie ab.«
»Ich finde den Weg allein, vielen Dank!«
Magnus war über ihre forsche Art verblüfft, in Sekundenschnelle zog er die Augenbrauen zu einem konsternierten Ausdruck zusammen, doch dann entspannte sich seine Miene wieder, und er lachte. »Aber was ist, wenn ich mich verlaufe?«
Humor hatte der Mann, das war schon mal ein Pluspunkt – jedoch nur, was den Verlauf des Abends betraf, denn sie war keinesfalls auf der Suche nach einer Beziehung. Schon gar nicht mit einem Mann. So eine Bettgeschichte zwischendurch war ja ganz nett, aber grundsätzlich fühlte sie sich mehr zum weiblichen Geschlecht hingezogen, und wenn überhaupt, könnte sie sich das Zusammenleben nur mit einer Frau vorstellen. »Bis morgen dann!«, entgegnete sie fröhlich, warf ihm eine Kusshand zu und ging zu ihrer Schwester.
Doch Clara setzte sich ebenfalls in Bewegung und ging einfach an ihr vorbei, hin zum Chokoladen-Automaten, wo sie eben noch mit Magnus gestanden hatte. Der sprach in der anderen Ecke der Bahnhofshalle gerade die nächste Dame an, um ihr das Hotel Miramar zu empfehlen – und womöglich die nächste Verabredung auszumachen. Wer sollte ihm das verübeln? Sie jedenfalls nicht.
Clara hingegen war sauer, keine Frage. Aber was konnte sie dafür, dass ihre Schwester sich abgeseilt hatte? Ansonsten hätte sie sie ja in das Gespräch mit einbezogen. Sie musste mit einem Augenzwinkern schnell wieder für bessere Laune bei Clara sorgen, darum sagte sie munter: »Das ist ja ein Ding! Kaum setze ich einen Fuß auf die Insel, schon habe ich eine Verabredung. Nicht schlecht, was?«
***
»Solche Tändeleien gehören sich nicht in der Öffentlichkeit!«, fuhr Clara ihre Schwester an. Eigentlich hatte sie die Sache übergehen wollen, doch die Bemerkung von Jella hatte wie eine Nadel in einem Luftballon gewirkt.
»Huch? Nicht in der Öffentlichkeit? In welchem Jahrhundert bist du denn stehen geblieben?«
Clara beschloss, sich nicht von Jella provozieren zu lassen. »Ich lebe im Jahr 1931 und weiß, was sich gehört«, entgegnete sie mit unaufgeregter Bestimmtheit. Darauf wandte sie sich ab, nahm eine Münze aus ihrer Rocktasche und warf sie energisch in den goldumrandeten Schlitz des Automaten. Es klapperte, und einen Augenblick später kullerte eine eingepackte Schokoladenrolle von der Größe einer Zigarre ins Ausgabefach, die sie an sich nahm.
»Schokolade macht dick«, bemerkte Jella von der Seite.
»Die ist für unsere Mutter, ich sammle nur die Bildchen«, sagte sie, ohne weiter auf den Seitenhieb ihrer Schwester einzugehen. Noch einmal wollte sie sich nicht provozieren lassen. Ein frommer Wunsch, denn Jella war für ihre spitzen Bemerkungen bekannt und hielt mit ihrer Meinung selten hinterm Berg. Damit Jella also gar nicht erst zu Wort kam, fuhr sie fort: »Das Essen schmeckt unserer Mutter nicht mehr, sie nimmt ohnehin nur noch Suppe und pürierte Speisen zu sich und isst davon nur wenig. Aber Schokolade liebt sie immer noch über alles.«
»Mist, an diese Vorliebe hätte ich auch denken können!« Jella stand der Ärger über sich selbst ins Gesicht geschrieben. »Im Gepäck habe ich ein paar Köstlichkeiten aus Berlin, aber keine Schokolade.«
Jella kramte in ihrer Tasche, warf zwei Münzen ein und nahm beiden Rollen in Empfang, die sie von allen Seiten betrachtete.
Zwei Rollen, nicht eine, dachte Clara verbittert. Das war so typisch für Jella, schon seit Kindertagen. Immer noch eins draufsetzen, immer zeigen, dass sie die Bessere war.
»Was meinst du überhaupt mit diesen Bildchen?«, fragte Jella in ihre Gedanken hinein. »Ich sehe keine.«
»Die sind innen drin. Kennst du diese Sammelbilder nicht? Davon gibt es fünftausend verschiedene, aufwendig gezeichnete und hübsch kolorierte Motive, die man als Gratis-Zugabe bekommt. Landschaften, Alltagsszenen, aber auch ausgefallene Darstellungen wie zum Beispiel ein Löwendompteur oder ein Schlangenbändiger. Die Bildchen sind so groß wie ein Geldschein, und es gibt Sammelalben und regelmäßige Tauschtreffen dafür.«
Jella hob die schmalen, akkurat gezupften, geschminkten Augenbrauen. »Hört sich irgendwie ein bisschen kindisch an.«
»Wie du meinst …«, gab sie leichthin zurück, fest entschlossen, sich nicht auf die Palme bringen zu lassen. »Natürlich finden auch Kinder Gefallen an diesen Sammelbildchen«, fügte sie hinzu, »aber sie würden die thematisch passenden, auf der Rückseite abgedruckten kleinen Geschichten und Gedichte gar nicht verstehen.« Und weil sie keine Lust mehr hatte, sich noch länger zu rechtfertigen, setzte sie ein wenig barsch hinzu: »Und du musst mich auch nicht verstehen.« Sie ging voran Richtung Ausgang, um zu betonen, dass sie dieses Thema wirklich nicht fortsetzen wollte.
»Das werde ich auch nie!«, rief Jella lachend und kam ihr hinterher. »Genauso wenig wie du mich.«
»Wohl wahr«, entgegnete Clara seufzend und betrat den Vorplatz, wo sich auf der Zufahrt Automobile und Kutschen aneinanderreihten, bereit, Fahrgäste aufzunehmen.
Jella machte einen Droschkenführer der Sylter Auto Centrale auf sich aufmerksam.
Clara hielt ihre Schwester zurück. »Das ist doch nicht notwendig.« War Jella so bequem geworden, oder hatte sie vergessen, dass man den Weg bequem zu Fuß gehen konnte? Zehn Minuten, ganz gleich, ob sie durch die belebte Friedrichstraße gehen oder die parallel verlaufende, ruhige Strandstraße wählen würden, denn beide führten zum Meer, und dort lag die Strandperle, ihr ehemaliges Zuhause, in dem Jella zumindest für eine gewisse Zeit wohnen sollte.
Jella ließ sich nicht beirren, und so sprang der Droschkenführer aus seinem schwarzen Adler 6 Cabriolet, lief um das polierte Automobil mit den sauberen Weißwandreifen herum und riss den Schlag auf der anderen Seite auf, damit sie einsteigen konnten.
Clara unternahm noch einen Versuch, ihre Schwester zur Vernunft zu bringen. »Lass uns zu Fuß gehen, das ist doch nicht weit.«
Jella schüttelte den Kopf. »Ich möchte nicht laufen.«
»Die Fahrt kostet dreißig Pfennige, soweit ich von Gästen gehört habe«, raunte Clara ihrer Schwester zu. Ein Argument, das Jella hoffentlich zur Einsicht brachte.
»Das ist doch günstig!«, posaunte Jella heraus. »So viel wie ein Liter Milch. Wo gibt’s denn so was noch?«
Jella stieg ein, da sie sich die Fahrt in den Kopf gesetzt hatte. Das war so typisch für sie. Natürlich ging es nicht um das Geld, sondern ums Prinzip. Wobei, Kleinvieh machte auch Mist, und die dreißig Pfennige hätten sie sich wirklich sparen können. Als Krönung der Situation betrachtete Jella sich wohl auch noch als Gast und erwartete, dass für sie bezahlt wurde.
»Frau Bürgermeisterin?« Der Droschkenführer blickte sie fragend an und lud sie mit einer Verbeugung erneut zum Einsteigen ein.
Sehr unangenehm. Nun konnte sie nicht mehr zurück.
Widerwillig setzte sich Clara neben ihre Schwester auf die mit schwarzem Leder bezogene Rücksitzbank. Ihr Blick fiel auf das Schild, das an der Rücklehne des Beifahrersitzes angebracht war: »Während der Fahrt Ausspucken verboten«.
Jella war ihrem Blick gefolgt und schaute amüsiert drein. »In Berlin würde sich da niemand dran halten. Da gäb’s die Regel erst gar nicht. Aber so kenne ich die Insel. Einerseits mit Freikörperkultur werben, und dann doch wieder einen Stock im Hintern haben und jeden Furz reglementieren.«
»Jella, sei nicht so vulgär!«
Der Droschkenführer drehte sich mit einem dezenten Grinsen zu ihnen um. »Wo soll’s denn hingehen? Zur Frau Bürgermeisterin in die Elisabethstraße oder zur Strandperle?«
»Zur Strand…«
»Aber nehmen Sie nicht den direkten Weg«, warf Jella ein. »Fahren Sie ein bisschen durch die Stadt, ich will sehen, was sich in den letzten zehn Jahren alles verändert hat.«
»Oh, da wird Ihnen so einiges auffallen. Die goldenen Zwanziger sind vorbei. Einige Läden mussten schließen, nur die großen Fische harren noch im Teich aus, in dem der Sauerstoff immer knapper wird. Die Kurgäste genießen vergnügt die Sommerfrische, beschränken ihre Ausgaben allerdings auf das Allernotwendigste. Die Betriebe leiden darunter, Zwangsversteigerungen sind an der Tagesordnung. Aber machen Sie sich selbst ein Bild.«
***
Der Droschkenführer ließ den Motor an, indem er zunächst den Zündschlüssel drehte und dann den Startknopf am Armaturenbrett betätigte.
Jella wollte noch ihren Wunsch loswerden, wo der erste Zwischenstopp sein sollte. Um den Motor zu übertönen, musste sie sich weit zum Droschkenführer vorbeugen und fast schreien. »Fahren Sie bitte als Erstes zur Baumannshöhle!« Der Wirtschaftskrise zum Trotz lebte und bebte dieses Lokal, das sprach sich sogar bis nach Berlin herum.
»Sehr wohl!«
Der Blick ihrer Schwester sprach Bände, und Jella wusste genau, was Clara sich fragte: weshalb sie ausgerechnet diese verruchte Lokalität als Station auswählen musste. Tja, dachte Jella, das würde Clara gleich erfahren. Voller Vorfreude lehnte sie sich zurück.
Das Inselwetter zeigte sich an diesem vierzehnten Juli von seiner schönsten Seite. Der Wind war fast eingeschlafen, was auf diesem sturmumtosten Sandknust eine Seltenheit war. In Berlin hatte sie den stürmischen Wind tatsächlich manchmal vermisst.
Die Sonne schien vom dunkelblauen Himmel, an dem bloß ein paar Schäfchenwolken hingen, und bescherte ihr nach der langen Fahrt gute Laune.
»Bestes Wetter für einen Strandtag!«, rief sie impulsiv aus. Wie sehr hatte sie das Meer und den Strand vermisst! Das spürte sie nun deutlich. In Berlin hatte sie diese Sehnsucht immer beiseitegeschoben, schließlich hatte es genug andere Ablenkung gegeben, vor allem, weil sie die Nacht stets zum Tag gemacht hatte.
»Strand?«, fragte Clara, als ob das ein Fremdwort für sie wäre.
»Na klar, ich möchte wieder Sand zwischen den Zehen spüren. Wir machen es uns nett heute Nachmittag, nehmen einen Picknickkorb mit, eine Flasche Sekt, und feiern unser Wiedersehen! Das ist doch eine tolle Idee!«, bekräftigte sie ihren eigenen Vorschlag, weil ihre Schwester keine Begeisterung zeigte.
Clara kniff den Mund zusammen, wirkte sogar verärgert und schüttelte den Kopf. »Was dir so einfällt! Dafür habe ich keine Zeit! Die Pflege unserer Mutter, das Restaurant, meine Repräsentationspflichten als Gattin des Bürgermeisters, mein Haushalt – im Moment lastet viel zu viel auf meinen Schultern, und ehrlich gesagt erhoffe ich mir Unterstützung von dir.«
»Mhm«, machte Jella und war froh, dass Clara diese Lautäußerung als Zustimmung betrachtete. Alles andere würde bloß zu Diskussionen führen, die nicht sein mussten. Noch nicht. Den Gedanken an den traurigen Grund ihrer Rückkehr schob sie beiseite, wie schon die ganze Reise über. Aber nicht mehr lange, dann musste sie sich damit auseinandersetzen.
Vom Bahnhof aus bogen sie nach links, wo sie an der Kreuzung von Maybach- und Friedrichstraße an dem repräsentativen Hotel zum Deutschen Kaiser vorbeifuhren, dessen schmucke Fassade schon seit Jahrzehnten ein Aushängeschild für den Ort war.
»Wow, ist das groß geworden!«, rief sie aus. »Da war früher doch bloß ein einzelnes Gebäude …«
»Ja, seither sind noch drei Logierhäuser rund um einen Innenhof angebaut worden. Wie eine kaiserliche Residenz. Es gibt jetzt über einhundertdreißig Zimmer, hat mir Frau Hast erzählt. Sie sind mit Abstand das größte und teuerste Hotel der Insel geworden. Nur leider sind die Buchungen stark zurückgegangen. Die Zeiten sind vorbei, als Frau Hast fast täglich bei mir wegen Tischreservierungen für ihre noblen Hotelgäste angerufen hat. Die müssen jetzt auch sparen.«
»Was zahlt man denn da so für eine Übernachtung?«, fragte Jella leichthin, aber durchaus mit dem Hintergedanken, dass dies eine feine Unterkunft wäre, falls sie es mit ihrer Schwester in einem Haus nicht aushalten würde.
»Jetzt in der Hauptsaison fünf Reichsmark pro Nacht, mit Vollpension vierzehn.«
»Oha«, entfuhr es ihr. »Das ist doch eine ganz ordentliche Hausnummer, obwohl die nicht mal Meerblick haben, so wie das Miramar.«
»Apropos Miramar«, hob Clara an, doch dann verstummte sie wieder.
»Ja?«, fragte Jella gedehnt, um ihre Schwester zum Reden zu bewegen. Gab es da womöglich etwas, das sie wissen sollte? Nun wurde sie doch misstrauisch. »Kennst du Magnus von Beerenkamp?« Das würde erklären, weshalb Clara sich im Bahnhof abgewandt, ja regelrecht vor ihm versteckt hatte.
»Kennen ist zu viel gesagt«, murmelte Clara, und man sah, wie es in ihr arbeitete. »Früher galt das mal. Aber da waren wir noch Kinder.«
Jetzt ging ihr ein Licht auf. »Daher kenne ich seinen Namen! War das nicht der Junge, dessen Familie in den Ferien immer sechs Wochen im Miramar zu Gast war und mit dem du jeden Tag gespielt hast? Jeden Sommer?« Sie gab sich die Antwort selbst. »Natürlich, jetzt kann ich seinen Namen wieder einordnen. Beerenkamp! Er ist der Sohn von ehemaligen Stammgästen unserer Strandperle. Ich hab ihn überhaupt nicht wiedererkannt. Heiliges Kanonenrohr, aus dem ist ja was geworden! Ein richtiger Leckerbissen! Damals fand ich ihn total kindisch, er ist ja etwa so alt wie du, und ich hatte kaum was mit ihm zu tun. Aber du hast richtig für ihn geschwärmt, stimmt’s? Jetzt kannst du’s ja zugeben …« Sie grinste ihre kleine Schwester an.
»Wenn du meinst …«, entgegnete Clara leicht genervt. »Es waren jedenfalls schöne Nachmittage, die ich mit der Familie am Strand verbringen durfte, das stimmt, und Mutter war froh, dass ich unter Aufsicht war. Sie haben mich behandelt wie ihr eigenes Kind. Seine Eltern sind inzwischen verstorben. Zuletzt seine Mutter vor einem Jahr.«
»Woher weißt du das? Hast du dich mit ihm unterhalten?«
»Nur einmal ganz kurz. Wir sind uns zufällig auf der Friedrichstraße begegnet, als er noch nicht lange zurück auf Sylt war.«
»Und das ist ein Grund, ihm jetzt aus dem Weg zu gehen?«, hakte sie erstaunt nach.
»Nein«, entgegnete Clara barsch. »Aber auch kein Grund, mich mit ihm zu verabreden und ihn an der Nase herumzuführen.«
Mit einem amüsierten Lächeln wiegelte Jella den Ärger ihrer Schwester ab. »Nun denk dir doch nichts dabei. Ich werde ihn ganz bestimmt nett behandeln.«
»Warum hast du dich überhaupt mit Magnus verabredet, obwohl du ihn gar nicht kennst?«
Diese Frage konnte Clara nicht ernst meinen, dachte Jella, doch sie wusste es besser. »Ach Kitzi, manchmal bist du schon ein bisschen seltsam.« Lächelnd schüttelte sie den Kopf. »Man muss sich doch treffen, um sich kennenzulernen. Aber davon abgesehen ist noch überhaupt nicht gesagt, dass ich mich mit ihm treffe.«
»Aber ihr seid doch verabredet«, rief Clara voller Erstaunen.
Belustigt schüttelte Jella den Kopf und machte eine Handbewegung, als ob sie eine Fliege verscheuchen wollte. »Na und? Das besagt doch nichts. Ich muss schließlich nicht hingehen.«
»Dann musst du ihm aber absagen«, erwiderte Clara überzeugt.
»Warum muss ich das? Er wird sich dort auch ohne mich einen netten Abend machen.«
»Jella …« Mahnend hob Clara ihre Stimme. »Das Miramar beschert uns viele zahlungskräftige Gäste im Restaurant, auf die wir in diesen Zeiten nicht verzichten können. Und wenn du Magnus als Anverwandten des Hauses vor den Kopf stößt, könnte das …«
»Nun mach dich mal locker, Schwesterchen, und nicht aus allem immer gleich ein großes Drama. Es ist doch noch gar nichts passiert. Und überhaupt, es ist auch denkbar, dass er nicht auftaucht, weil er seine vielen Verabredungen nicht auf die Reihe kriegt. Ich bilde mir nicht ein, die Einzige zu sein.«
Ihre Schwester seufzte. »Ich möchte nur keine Schwierigkeiten haben. Ich habe so schon genug um die Ohren, und mir schwirrt der Kopf vor lauter Aufgaben.«
Jella legte ihr in einer mütterlichen Geste die Hand auf den Oberschenkel. »Du solltest dir auch mal einen netten Abend machen, auf andere Gedanken kommen. Das hilft, dann siehst du wieder klarer. Gibt’s das Conversationshaus eigentlich noch?« Sie deutete in Fahrtrichtung, wo ein Park die Sicht auf das Kurhaus verdeckte. »Finden da noch diese Tanzabende statt? Das dürfte doch nach deinem Geschmack sein.«
»Ich habe keine Zeit«, betonte Clara. »Und ja, das Gebäude steht noch, die Tanzabende gibt’s auch noch, aber die sind wohl bald passé. Es gibt Pläne, dass das Rathaus aus seiner Behelfsunterkunft im Hotel Royal endlich auszieht und repräsentativere Räumlichkeiten und mehr Platz für die Verwaltung erhält.«
Bass erstaunt machte Jella große Augen. »Moment mal, die Stadtvertreter sitzen immer noch im Hotel Royal?«
Clara nickte und wirkte dabei müde, so als ob sie sich schon viel zu oft über dieses Thema unterhalten hätte. »So ist es. Mittlerweile seit neunzehn Jahren, seitdem Westerland die Stadtrechte verliehen bekam und schnell ein Rathaus hermusste.«
»Nichts hält länger als ein Provisorium.« Sie lachte. »Und sag mal, der Bürgermeister, dein Ehemann, ist er nicht deutlich älter als du? Sein Name sagt mir noch was von früher.«
»Geringfügig älter«, antwortete ihre kleine Schwester.
»Das heißt?«, hakte sie nach.
»Arnulf ist dreiundfünfzig. Vierundzwanzig Jahre Altersunterschied, wenn du es genau wissen willst.«
Sie pfiff durch die Zähne. »Das ist mal eine Ansage.«
»Na und?«, gab Clara betont ungerührt zurück. »Weißt du, als wir vor fünf Jahren geheiratet haben, haben sich die Leute das Maul über uns zerrissen. Aber wir lieben uns, das ist die Hauptsache.«
Jella glaubte sich verhört zu haben. »Lieben?« Ihre Stimme schnellte in die Höhe. »Die Liebe ist doch völlig aus der Mode gekommen. Ich bitte dich! Außerdem brauchen wir Frauen gar keine Männer mehr in unserem Leben! Wir dürfen den Führerschein machen, wissen, wie wir uns selbst Befriedigung verschaffen können, und verdienen unser eigenes Geld. Also mir würde es im Traum nicht einfallen, zu heiraten – und schon gar nicht aus Liebe.«
»Jella, sprich nicht so!«
Sie machte ein erstauntes Gesicht. »Was denn? Ist doch alles wahr. Liebe, in der heutigen Zeit? Wer liebt denn heutzutage überhaupt noch?«
Clara seufzte. »Ich. Zum Beispiel.«
»Weißt du denn überhaupt, was Liebe ist? Hast du sie wirklich jemals gefühlt? Mit jeder Faser deines Körpers?«
»Ja«, gab ihre Schwester im Brustton der Überzeugung zurück. »Ich liebe Arnulf. Er ist freundlich zu mir, bietet mir ein geräumiges Zuhause und finanzielle Sicherheit – und er hat mir die Treue bis in den Tod geschworen.«
»Ja dann …«, murmelte Jella, weil ihr auf Anhieb nicht mehr dazu einfiel. Dann fragte sie: »Und wie ist er sonst so?«
»Nett«, gab Clara zurück. »Das habe ich dir doch gerade erklärt. Wir verstehen uns gut.«
Sie lachte auf, verschluckte sich dabei, musste husten und danach noch mehr lachen. »Schwesterchen, ich wollte wissen, wie er im Bett ist.«
Clara blieb der Mund offen stehen, und ihr entsetzter Blick verriet alles darüber, wie sie die Frage auffasste. »Das geht dich überhaupt nichts an!«
»Darüber kann man doch offen sprechen«, gab sie verwundert zurück. »Zumindest kenne ich das so. Ist doch spannend, sich über Bettgeschichten auszutauschen. Das gehört schließlich zum Leben dazu, und man kann immer noch was lernen … auch über Verhütung.«
»Danke, darüber weiß ich Bescheid«, gab Clara ungewohnt scharf zurück.
»Also bin ich noch nicht Tante?«, fragte sie leichthin.
»Nein, wir haben noch keine Kinder«, gab Clara eisig zurück. Ganz offenkundig wollte sie weg von diesem Thema oder sich überhaupt nicht mehr unterhalten, denn sie wandte den Kopf abrupt ab.
Dann eben nicht, dachte Jella und blickte in die andere Richtung.
Der Fahrer bog in die Paulstraße ein, die das Wort »Straße« im Namen allerdings nicht verdient hatte. Vor zehn Jahren schon nicht, aber inzwischen wies der schmale, ausgewaschene Kiesweg etliche Schlaglöcher und tiefe Fahrrinnen auf und wirkte im Vergleich zu den anderen Straßen, die sie bislang zu Gesicht bekommen hatte, wie das Stiefkind des Ortes. Zum Glück mussten sie in der Paulstraße nicht weit fahren, denn das Ziel war bereits das zweite Haus auf der linken Seite.
Ein unscheinbares, weiß gestrichenes Wohnhaus mit drei Stockwerken und einem Kellerzugang von außen. Dieser benötigte kein Schild über dem Eingang, weil jeder wusste, was dahinter lag: die Baumannshöhle.
So manch Eingeweihter empfahl den Neulingen unter den Sommerfrischlern diese Höhle als die größte Sehenswürdigkeit der Insel und verkniff sich dabei das Lachen.
»Wie Sie bemerken, gnädige Frau«, sagte der Droschkenführer und drehte sich dabei nach hinten um, »hat sich an dieser Sehenswürdigkeit nichts verändert. Und wo soll es jetzt langgehen?«
Jella hob die Hand. »Moment bitte, ich möchte aussteigen«, sagte sie hastig.
»Warum denn das?«, protestierte Clara.
Der Fahrer gab natürlich keine Widerworte und stieg aus, um ihr den Schlag zu öffnen.
»Weil ich meine Ankunft unverzüglich in der Baumannshöhle melden muss«, erklärte sie ihrer Schwester. »So verlangen es die Statuten des Vereins der Matratzenschoner.« Kaum ausgesprochen, war sie auch schon ausgestiegen.
»Bitte was für ein Verein?«, fragte Clara irritiert.
»Erkläre ich dir später!«, rief Jella ihr über die Schulter zu, lief die Stufen hinunter und verschwand im Eingang.
***
Kopfschüttelnd schaute Clara ihrer Schwester nach.
Verein der Matratzenschoner. Hatte sie das richtig verstanden? Davon hatte sie noch nie gehört – doch wenn Jella davon wusste, dann hatte der sich offenkundig bis in gewisse Berliner Kreise herumgesprochen. Eine Welt, die ihr fremd war – was sie jedoch keineswegs bedauerte. Das Nachtleben war nichts für sie, erst recht könnte sie sich nicht vorstellen, wie Jella als Ausdruckstänzerin in diesem offenbar legendären Nachtclub Eldorado ihr Geld zu verdienen. Wenn das mit der kostümierten Tänzerin überhaupt stimmte. Die Mutter glaubte, dass Jella als Nackttänzerin arbeitete. Diesen Floh hatte ihr ein Gast ins Ohr gesetzt, der ihr erzählt hatte, dass das Eldorado zwar eine berühmte Adresse sei, denn dort ließen sich auch Prominente wie Marlene Dietrich und Charlie Chaplin sehen, der sich während seines Berlinbesuchs im März eine Nacht dort nicht entgehen ließ. Das Publikum erschien in Smoking und eleganter Abendrobe. Allerdings gehe es dort aufgrund der bezahlten Akteure sehr lasterhaft zu, denn es handle sich um einen für die weltstädtische Schaulust inszenierten Transvestitenbetrieb, und überhaupt gäbe es dort sogar Tanzlustbarkeiten homosexueller Art – und wusste der Himmel, was sonst noch alles. Man munkelte sogar, dass es geheime Bordellzimmer gäbe, die den Stammgästen bekannt seien.
Zu einem passenden Zeitpunkt, dachte Clara, musste sie Jella danach fragen. Ob sie dann die Wahrheit zu hören bekommen würde, war eine andere Sache.
Auch in der Baumannshöhle gab es angeblich gewisse Hinterzimmer, in denen nicht bloß Glücksspiele hinter verschlossenen Türen stattfanden. Und selbst wenn das nur Gerüchte waren, so trugen sie doch dazu bei, dass Clara einen Bogen um diese Lokalität machte.
Eine Gruppe Gäste näherte sich lachend und schwatzend und kehrte gegenüber in das gleichnamige Gartenlokal »Baumannshöhle« ein, das eigens für sonnenhungriges Publikum eröffnet worden war, das sich nicht vor Sonnenuntergang in einer Höhle verkriechen wollte.
Zwischen die fröhlichen Stimmen mischte sich unvermittelt ein klägliches Miauen.
Clara horchte auf. War das ein Kätzchen? Die Laute kamen ganz aus der Nähe.
»Hören Sie das auch?«, fragte sie den Droschkenführer, der sich in der Wartezeit eine Zigarette angezündet hatte.
Er nickte, blies den Rauch aus und schaute sich in alle Richtungen um. »Keine Ahnung, wo das Tierchen ist.«
»Ich möchte aussteigen«, sagte sie, und der Fahrer öffnete ihr die Tür, wie es sich gehörte.
Vielleicht hatte sich das Kätzchen in der Hecke versteckt, die das Lokal umsäumte?
Das Miauen ertönte erneut. Das kam doch ganz aus der Nähe? Clara bückte sich und spähte unter das Automobil.
Tatsächlich! Da war das Kätzchen! Was machte es denn da? Hatte es Schatten gesucht? Nicht auszudenken, wenn das Kleine unter die Räder gekommen wäre.
»Komm mal her, komm!«, sagte sie mit warmer Stimme und machte Lockgeräusche.
Das Kätzchen zögerte erst, doch dann kam es langsam näher und schnupperte an ihrer Hand. Die Kleine war abgemagert, aber so hübsch! Dreifarbig, was für eine Seltenheit! Schwarz und braunrot wechselten sich ab, dazwischen kleine weiße Flecken, an der Brust ein größerer. Ein Ohr war schwarz, das andere rötlich-braun, die Pfötchen waren weiß.
Jetzt ließ sich das Kätzchen streicheln, kam aus seinem ungünstigen Versteck hervor und rieb den Kopf an ihrem Bein.
»Du hast bestimmt Hunger und Durst«, murmelte sie dem Kätzchen zu und überlegte, was sie tun sollte.
Ob das Tier wohl jemandem gehörte? Das Fell war gepflegt, von Flöhen keine Spur, sie könnte sogar eine Hauskatze sein. Wahrscheinlich war sie ausgebüxt und tat sich schwer damit, Beute zu machen, weil sie es nicht gewohnt war. Aber warum fand das Kätzchen nicht den Weg zurück? Oder hatte es kein Zuhause mehr? Bis das geklärt war, würde sie dieses süße Fellknäuel keinesfalls seinem Schicksal überlassen.
»Wissen Sie vielleicht, wem das Kätzchen gehört?«, fragte sie den Droschkenführer, der sie die ganze Zeit über beobachtet hatte.
Er schüttelte den Kopf. »Bedaure, Frau Bürgermeisterin.«
Sie mochte es nicht, so angesprochen zu werden, in dieser Rolle fühlte sie sich auch nach Jahren noch nicht zu Hause, aber sie konnte es ihm ja schlecht verwehren.
Sie nahm das Kätzchen hoch. »Dann nehme ich die Kleine zum Aufpäppeln erst mal mit nach Hause und werde Fundplakate aufhängen. Vielleicht meldet sich jemand. Darf das Tierchen denn mitfahren? Falls nicht, ist das auch nicht schlimm«, schob sie sofort nach, »dann gehe ich die restliche Strecke zu Fuß, das ist ja nicht weit.«
»Steigen Sie ein! Eine Glückskatze als Fahrgast ist mir immer willkommen.«
»Glückskatze?«, fragte sie lächelnd, während sie erneut im Automobil Platz nahm. Das Kätzchen machte es sich sofort auf ihrem Schoß bequem und rollte sich ein.
»So nennt man dreifarbige Katzen. Noch nie gehört?«
Sie schüttelte den Kopf. »Aber mir ist auch noch nie eine begegnet.«
»Eben weil sie so selten sind. Das ist ja auch keine Rasse an sich, sondern einfach eine Laune der Natur. Als Schiffskatzen sind sie unter Seefahrern sehr begehrt, der Volksmund sagt auch, dass sie den Menschen vor Fieber und das Haus vor Feuer schützen. Ein echter Talisman also.«
Nachdenklich kraulte sie das Kätzchen unterm Kinn, was dieses zum Schnurren brachte. Die Samtpfote schien mit der Entscheidung, sie von der Straße geholt zu haben, sehr einverstanden zu sein.
Jella müsste eigentlich jeden Moment zurück sein, überlegte sie, warum dauerte das denn so lange? Kaum zu Ende gedacht, näherten sich Schritte dem Wagen, doch als sie aufblickte, sah sie sich wider Erwarten ihrem Ehemann gegenüber.
»Arnulf!«, rief sie erstaunt. »Was machst du denn hier?«
Er schob seine Brille mit den runden Gläsern, die auf dem leichten Schweißfilm nach unten gerutscht war, zurück in Position. Das Grau in seinen schwarzen Haaren schimmerte in der Sonne. Der tiefe Seitenscheitel wirkte wie mit dem Lineal gezogen, er machte das Haar mit Pomade gefügig, formte es zu einer Föhnwelle oberhalb der Stirn, und sein Gesicht war stets glatt rasiert. Eine perfekte Fassade, auf die er viel Wert legte, doch sein wohlwollender Blick aus graublauen Augen und die zahlreichen Lachfältchen verrieten den warmherzigen Gentleman, in den sie sich verliebt hatte, und dazu eine tief verborgene Verletzlichkeit, die ihn so menschlich machte. »Ich komme von der Begehung des Conversationshauses, gemeinsam mit einem Architekten. Wir haben dort Vermessungen für die künftigen Büroräume vorgenommen, um den Umbau zu planen, der ja bald beginnen soll.«
Kein Wunder, dass er schwitzte, dachte Clara. Trotz des warmen Wetters trug er, wie es seine Angewohnheit war, einen schwarzen Mantel über dem stets anthrazitfarbenen Anzug mit weißem Einstecktuch. Dieses Ensemble hatte er fünfmal im Schrank, für jeden Werktag. Dann einen blauen Anzug für Samstag, den schwarzen für sonntags und Beerdigungen sowie Smoking und Frack für Galas und Empfänge.
»Und was machst du hier?«, fragte er mit Blick auf den Eingang der Baumannshöhle.
»Jella wollte dort nur kurz … guten Tag sagen.«
»Aha«, gab er zurück und machte eine missbilligende Miene. Diese verstärkte sich durch steile Falten zwischen seinen Augenbrauen, als er das Kätzchen auf ihrem Schoß entdeckte.
»Gehört die deiner Schwester?«
»Nein, die habe ich gerade von der Straße aufgelesen. Ich muss sie aufpäppeln, sie ist ganz mager.«
Arnulf seufzte. »Liebes, hast du nicht schon genug zu tun? Willst du dich jetzt auch noch um Streuner kümmern? So ein Flohträger kommt mir aber nicht ins Haus.«
»Natürlich nicht«, erwiderte sie schnell, weil sie wusste, dass Arnulf keine Tiere in seiner Nähe duldete. »Ich nehme sie erst mal mit zu meiner Mutter. Dann hat sie Gesellschaft. Das Kätzchen hat bestimmt ein Zuhause. Und bis das geklärt ist, kümmere ich mich um sie.«
»Na, meinetwegen, Liebes.« Arnulf seufzte erneut. »Du musst dich wirklich immer um alles und jeden sorgen. Aber das ist ja auch ein feiner Zug, den ich sehr an dir mag.«
Sie lächelte. »Und du musst gleich weiter ins Rathaus? Sonst warte noch kurz, dann kannst du meiner Schwester gleich guten Tag sagen.« Nach allem, was ihm über Jellas Lebenswandel zu Ohren gekommen war, hatte er leider einige Vorbehalte gegen sie. Eine erste Begegnung könnte von Vorteil sein, zumindest hoffte sie das, denn sie wollte in Zukunft nicht immer zwischen den Stühlen sitzen müssen, wenn es um ihre Schwester ging.
Arnulf warf einen Blick auf seine sündhaft teure Schweizer Armbanduhr – den einzigen Luxus, den er sich je gegönnt hatte. Und das auch nur, um stets auf die Sekunde pünktlich sein zu können. »Leider keine Zeit, Liebes. Ich muss in den Seestern, mein Mittagessen einnehmen. Du hattest ja angekündigt, dass es bei uns heute nur kalte Küche mit Durchzug gibt.« Er sagte es mit einem verschmitzten Grinsen, das seine Lachfältchen zur Geltung brachte, in die sie sich auch verliebt hatte. Und überhaupt, seine dunkelblauen Augen. Er musste sie nur ansehen, und schon fühlte sie sich wie in einem sicheren Hafen.
In seinen Worten lauerte jedoch auch eine gewisse Kritik, dafür kannte sie ihn gut genug, denn er war es gewohnt, dass sein Essen normalerweise um Punkt zwölf Uhr auf dem Tisch stand. Wenn nicht, konnte ihm das schon mal die Laune verderben, denn er kam dafür extra aus dem Rathaus. Stets drei Minuten vor zwölf, das genügte ihm, um Schuhe und Mantel auszuziehen, ihr einen Kuss zu geben und in den Topf zu spicken, der bereits auf dem gedeckten Tisch stehen musste, ehe er sich setzte. Ausnahmen wie heute bedurften einer frühzeitigen Absprache und wurden von ihm nur grummelnd akzeptiert.
»Warum isst du nicht in der Strandperle?«, fragte sie begütigend. »Dort musst du schließlich nicht bezahlen.«