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Zwei Schwestern. Ein Abschied. Und der Kampf um das, was zählt.
Jella und Clara sind entschlossen, das Erbe ihrer Mutter zu bewahren – koste es, was es wolle. Gemeinsam führen sie die Strandperle, das Haus ihrer Kindheit, doch alte Wunden, politische Spannungen und unerwartete Gefühle bringen die Schwestern an ihre Grenzen und stellen nicht zuletzt ihre Loyalität zueinander auf eine harte Probe.
Während Jella sich ihrer Vergangenheit stellt und das Schweigen über ein dunkles Familiengeheimnis bricht, ringt Clara mit einer Entscheidung: Soll sie ihrem Ehemann in ein neues Leben nach New York folgen, oder auf Sylt bleiben – und damit auch bei dem Mann, den sie wirklich liebt?
Als ein Unwetter über die Insel hereinbricht, ist nicht nur die Strandperle in Gefahr, sondern auch das fragile Band zwischen den Schwestern. Sie erkennen, wie hoch der Preis ist, wenn man sich selbst treu bleiben will ...
Stürmische Zeiten auf Sylt – der dramatische zweite Teil der großen Schwestern-Saga von Sina Beerwald.
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Seitenzahl: 449
Veröffentlichungsjahr: 2025
Zwei Schwestern. Ein Abschied. Und der Kampf um das, was zählt.
Jella und Clara sind entschlossen, das Erbe ihrer Mutter zu bewahren – koste es, was es wolle. Gemeinsam führen sie die Strandperle, das Haus ihrer Kindheit, doch alte Wunden, politische Spannungen und unerwartete Gefühle bringen die Schwestern an ihre Grenzen und stellen nicht zuletzt ihre Loyalität zueinander auf eine harte Probe.
Während Jella sich ihrer Vergangenheit stellt und das Schweigen über ein dunkles Familiengeheimnis bricht, ringt Clara mit einer Entscheidung: Soll sie ihrem Ehemann in ein neues Leben nach New York folgen, oder auf Sylt bleiben – und damit auch bei dem Mann, den sie wirklich liebt?
Als ein Unwetter über die Insel hereinbricht, ist nicht nur die Strandperle in Gefahr, sondern auch das fragile Band zwischen den Schwestern. Sie erkennen, wie hoch der Preis ist, wenn man sich selbst treu bleiben will ...
Stürmische Zeiten auf Sylt – der dramatische zweite Teil der großen Schwestern-Saga von Sina Beerwald.
Sina Beerwald, 1977 in Stuttgart geboren, hat sich bislang mit über zwanzig erfolgreichen Büchern, darunter historische Romane und Sylt-Erlebnisführer, einen Namen gemacht. Sie ist Preisträgerin des NordMordAward und des Samiel Award, zudem standen einige ihrer Titel auf der Shortlist Shortlist des größten deutschsprachigen Leserpreises. 2008 wanderte sie mit zwei Koffern und vielen Ideen im Gepäck auf die Insel Sylt aus.
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Sina Beerwald
Die Sylt-Schwestern - Stürmische Tage
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Für Lauris
Westerland auf Sylt
28. August 1931
Der Geruch von Lavendel, der so typisch für ihre Mutter gewesen war, hing noch in der Luft.
Das Bett war mit penibler Sorgfalt gemacht. Bereit für die Kranke, doch Clara wusste, dass ihre Mutter nie wieder darin schlafen würde. Es war unbegreiflich. Auch noch eine Woche nach ihrem Tod.
Immer war die Mutter da gewesen. Immer. Wobei das Verhältnis zu ihr nie einfach gewesen war. Doch den stetigen Konflikten hatte eine Verlässlichkeit innegewohnt, die Clara nun vermisste. Seltsam, aber wahr.
Bei jedem Aufwachen dachte Clara, dass sie einen schlechten Traum gehabt haben musste – doch mit dem ersten Lidschlag drang die Realität in ihr Bewusstsein. Jeden Morgen ein Stich in die Brust. Die schmerzhafte Erkenntnis, dass sich die Zeit nicht zurückdrehen ließ. Die Endgültigkeit, die Leere, die Stille. Diese drei waren ihre täglichen Begleiter geworden.
An diesem Nachmittag hatte Clara auf Zureden ihrer Schwester erstmals wieder das Büro betreten, das zum Krankenzimmer umfunktioniert worden war, weil die Mutter sich Meerblick gewünscht hatte.
Sie konnten das Aufräumen nicht ewig hinauszögern, da hatte Jella schon recht. Dennoch war es für Clara ein enormer Angang. Das Leben ihrer Mutter – sortieren, abheften, wegwerfen. Clara fühlte sich längst noch nicht bereit dazu.
Während sie gedankenverloren neben dem Bett stand, hatte sich Jella bereits den zweiten Stapel Briefe aus einer der Schubladen des großen Büroschranks genommen und sich zur Durchsicht im Schneidersitz auf den Teppichboden gesetzt.
Trotz ihrer scheinbar lässigen Haltung wirkte Jella wie eine angespannte Feder, jederzeit bereit, sich mit Nachdruck in eine Diskussion oder neue Taten zu stürzen.
Sie trug wie immer einen Hosenanzug, angemessen in Schwarz, doch schon zur Beerdigung hatte sie ein weißes Hemd gewählt, was für viele Trauergäste ein Affront gewesen war. Jella hatte jedoch ganz unbeeindruckt vom Getuschel der Leute ihre Überzeugung zur Schau getragen, dass die Farbe der Kleidung kein Gradmesser für Trauer war.
Die Bilder der Beerdigung ließen Clara nicht los. Die schweren, drückenden Wolken, die über der Westerländer Dorfkirche gehangen hatten. Der Pastor, wie er seine Rede gehalten und sie kein Wort davon mitbekommen hatte. Sie war zu beschäftigt gewesen, auf den Eichensarg ihrer Mutter zu starren und sich vorzustellen, wie es sich anfühlen musste, in dieser Dunkelheit zu liegen – obwohl sich diese Frage für ihre Mutter gar nicht stellte.
Und dennoch, obwohl das Ende abzusehen gewesen war, blieb ihr Tod unbegreiflich.
Es konnte nicht sein!
Es durfte nicht wahr sein!
Das Herz flüsterte ihr das unablässig ein, obschon ihr Verstand es natürlich besser wusste.
Das Prasseln der ersten Schaufel Erde auf den Sarg, ein Geräusch, das wie ein ferner Donner in ihrem Kopf widerhallte und die Endgültigkeit besiegelte.
Bitterlich hatte sie geweint, und wenn Jella sie nicht gehalten hätte, wäre sie wohl am Grab zusammengebrochen.
Arnulf war ihr keine Stütze gewesen. Voller Hilflosigkeit hatte er sie schon in der Kirche inständig gebeten, doch mit dem Weinen aufzuhören, denn das würde die Mutter doch auch nicht wieder lebendig machen. Stattdessen sollte sie Haltung vor den Trauergästen bewahren, die zahlreich zur Beerdigung gekommen waren.
Sie hatte die Hände fremder Leute geschüttelt und das Gefühl gehabt, die Schlange würde kein Ende nehmen. Als sie schon fast keine Kraft mehr gehabt hatte und bei jedem Händedruck bedrohlich schwankte, weil sie sich kaum mehr auf den Beinen halten konnte, kam der nächste Trauergast, von dem Clara bloß die Schuhe sah, weil sie nicht mehr in der Lage war, den Kopf zu heben. Sein »Mein herzliches Beileid, Clara« war leise, aber die vertraute Stimme traf sie wie ein Stromschlag.
Ruckartig hatte sie aufgeschaut.
Magnus.
Ihr Herz raste, als sich ihre Blicke begegneten. Da war nichts von der Distanz, die sie sich seit jenem Abend auferlegt hatten, nachdem dieser ungehörige Kuss geschehen war.
In seinen graublauen Augen lag ein Ausdruck, der ihr den Atem raubte – ein Echo ihrer eigenen Trauer, aber auch diese unbeschreibliche Nähe, die zwischen ihnen trotz aller Distanz geblieben war.
»Danke«, brachte sie schließlich hervor, doch ihre Stimme klang belegt, fremd. Sie wollte etwas hinzufügen, eine Erklärung, einen Schritt auf ihn zugehen, aber sie war zu keiner Handlung fähig gewesen.
Magnus’ Hand, die kurz auf ihre Schulter sank, fühlte sich schwer und warm an. Als er sie wegnahm, blieb nur die Kühle des Augenblicks zurück.
Plötzlich fühlte sie sich sehr allein, obwohl so viele Trauergäste um sie herum waren. Die Stelle, wo Magnus sie berührt hatte, fühlte sich warm an, als läge seine Hand noch dort. So hatte auch der verbotene Kuss noch lange auf ihren Lippen nachgewirkt.
Magnus könnte ihre Trauer lindern, dessen war sie sich sicher, doch sie hatten sich Abstand verordnet, bis sie sich wieder unbefangen als das begegnen könnten, was angemessen war: als Freunde. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
»Das kann alles weg«, sagte Jella und riss sie damit aus ihren Gedanken. Sie deutete auf zahlreiche Papiere, die sie schon neben sich angesammelt hatte. Mit einer energischen Bewegung strich sich Jella eine widerspenstige Strähne ihres Bubikopfs hinters Ohr. Im Stillen bewunderte sie Jella für ihr burschikoses Wesen, mit dem sie alles im Leben halb so schwer und dafür doppelt so leicht nahm.
Clara hob die Augenbrauen. »Alles weg? Bist du sicher?«
Jella seufzte verhalten und verzog den Mund. »Ach Kitzi …«
»Nenn mich nicht immer so!« Wie oft musste sie das ihrer Schwester eigentlich noch sagen? Dass ihre Mutter sie ›Rehlein‹ genannt hatte, war tatsächlich ihrem Charakter geschuldet, aber diese spöttische Verballhornung musste wirklich nicht sein.
»Entschuldige«, lenkte Jella ein.
»Das sagst du jedes Mal …«
»Kommt wirklich nicht wieder vor …«, murmelte Jella, während sie einen weiteren Brief aus dem Umschlag zog und auffaltete.
»Das sagst du auch jedes Mal …«
Jella sah auf. Dem forschenden Blick ihrer grünen Augen konnte man nicht ausweichen. »Ich habe mich entschuldigt, und wenn du einen Streit provozieren willst, bist du an der falschen Adresse. Wir haben uns etwas vorgenommen … Du lenkst ab, damit du dich nicht mit diesen Dingen hier beschäftigen musst.«
»Ich will keinen Streit …«, hob Clara an, doch weiter kam sie nicht, denn Jella fiel ihr ins Wort.
»Dann ist ja gut – denn wir haben uns ja nicht nur das hier vorgenommen.«
Wohl wahr, dachte Clara. Vor ihnen lag die große Aufgabe, die Strandperle, das Erbe der Mutter, zu bewahren und in die Zukunft zu führen – inmitten der Wirtschaftskrise.
Clara ließ ihren Blick über das Krankenbett schweifen.
Endgültigkeit. Leere. Stille.
Auf dem Nachttisch stand noch das Wasserglas, aus dem die Mutter zuletzt getrunken hatte. Clara brachte es nicht übers Herz, den Inhalt wegzuschütten.
Halb unter dem Glas lag der zerknitterte Zettel, dessen Anblick ihr einen Stich versetzte. Sie erinnerte sich an jedes Wort, das die Mutter mit krakeliger Handschrift darauf notiert hatte. »Jella. Clara. Bedenkt meinen Herzenswunsch. Meinen letzten Willen. Die Strandperle soll weiterleben.«
Bloß wie, dachte Clara verzweifelt. Ihr Blick wanderte zu der schweren Eichentür, die dem Holz des Sargs so verdammt ähnlich sah. Noch immer klammerte sie sich an die irreale, verzweifelte Hoffnung, dass die Mutter zurückkehren, frisch und lebendig hereinspazieren und ihnen sagen würde, wie es mit der Strandperle weitergehen sollte.
Durch diese Tür, dachte Clara, war Fortuna, die dreifarbige Glückskatze, am Todestag der Mutter hinausgegangen. Seitdem hatte niemand sie mehr gesehen.
Das Glück hat uns verlassen, dachte Clara.
»Und was ist, wenn wir uns zu viel vorgenommen haben?«, fragte sie mehr sich selbst als Jella. Zwei Schwestern, die unterschiedlicher nicht sein könnten, und ein gemeinsames Erbe. Was hatte die Mutter sich nur dabei gedacht?
Ein Satz der Mutter, kurz vor ihrem Tod, war ihr im Gedächtnis geblieben. »Und wenn ihr eines Tages zurückschaut, dann wünsche ich mir, dass ihr wisst, warum ich darauf bestanden habe, dass die Strandperle weiterlebt.« Noch wusste sie es nicht.
Jella seufzte und griff nach dem nächsten Brief. »Wenn wir uns zu viel vorgenommen haben, werden wir scheitern. So einfach ist das.«
Die Nüchternheit, mit der ihre Schwester das gesagt hatte, nahm Clara die Luft.
»Wir werden aber nicht scheitern«, hob Jella erneut an, und ihr Tonfall ließ daran keinen Zweifel.
Überzeugt war Clara dennoch nicht. Doch was blieb ihnen für eine Wahl? Aufgeben, bevor sie es überhaupt versucht hatten? Das wäre Wasser auf die Mühlen von Arnulf, denn ihr Ehemann hatte die Strandperle bereits per Handschlag verkauft. Aber da hatte er die Rechnung ohne Jella gemacht.
»Und im Übrigen kannst du dich darauf verlassen«, sagte Jella in ihre Gedanken hinein, »dass ich alles daransetzen werde, dass die Strandperle weiterlebt. Und nebenbei bemerkt prüfe ich natürlich alle privaten Unterlagen unserer Mutter sorgfältig auf ihre Wichtigkeit hin, keine Sorge. Hier zum Beispiel …« Sie hob ein Papier in die Höhe und wedelte damit herum. »Ein Uralt-Dankesschreiben irgendeiner Gräfin von und zu, die sich darüber auslässt, wie wundervoll die Hochzeit ihres Sohnes auf Sylt gewesen ist und dass die Feier in der Strandperle entscheidend dazu beigetragen hat.«
»Das ist Gräfin von und zu Zinneberg und Gysenholt«, rief Clara aus. »Von ihr hat unsere Mutter oft gesprochen, wenn es um den Erfolg der Strandperle ging. Weißt du nicht mehr?«
Jella hob die Schultern. »Scheine ich in den zehn Jahren meiner Abwesenheit verdrängt zu haben. Gab wohl Wichtigeres …«
»Das war die erste Hochzeit, die in der Strandperle stattgefunden hat«, setzte Clara zur Erklärung an, »und dank der Empfehlung der Gräfin wurden es immer mehr solcher Veranstaltungen.« Sie streckte die Hand nach dem Brief aus. »Eine sehr schöne Erinnerung, dieser Grundstein des Erfolgs, den man aufbewahren sollte.«
»Nicht dein Ernst?«, erwiderte Jella und zog das Papier zurück. Sie kniff ihre geschminkten schmalen Lippen zusammen, sodass ihr Mund bloß noch ein roter Strich war. »Wenn es danach ginge, dürfte ich hier gar nichts aussortieren.«
»Das wäre mir tatsächlich am liebsten«, murmelte Clara. »Ich bin dazu einfach noch nicht bereit …« Sie spürte die Tränen aufsteigen und blinzelte.
»Ach Clara, so kommen wir doch nicht weiter. Reicht nicht die Erinnerung?«
»Doch, eigentlich schon …« Das Aber ging in dem scharfen Geräusch unter, als Jella das Papier zerriss. Ein Riss, den Clara bis ins Herz spürte. Dabei war es doch wirklich nur ein Stück Papier. Und dennoch …
»Das geht so nicht«, hob Clara an, ihre Stimme leise und zittrig. Sie kniete sich zu Jella, um ihr die Briefe abzunehmen. »Ich mache das.«
Jella schnaubte leise und nahm den Stapel wieder an sich. »Clara, ich bitte dich. Du würdest nichts davon wegwerfen. Mutter ist tot, ja, aber daran können wir uns nicht aufhalten. Und überhaupt, wenn wir nicht handeln und uns nicht dem Neuen stellen, dann stirbt die Strandperle mit ihr. Wir müssen aktiv werden – und dieser Raum hier ist der Beginn – ein kleiner Anfang.«
»Ach Jella, mir graut davor. Die Strandperle ist so voller Geschichte und Geschichten, in jedem Winkel steckt unsere Mutter. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen und aufhören soll. Du hast recht, wir müssen aufräumen, aber mir fällt allein schon der Gedanke schwer, irgendetwas von ihr wegzuwerfen. Ich darf gar nicht an ihre Kleidung denken …«
»Die lasse ich von der Armenfürsorge abholen. Dann haben wir ein gutes Werk getan.«
Clara nickte. Ihre Schwester, schon immer die Pragmatische, hatte recht – so verdammt recht. Doch die Vorstellung, dass ihr eine Westerländerin in der Kleidung ihrer Mutter begegnen würde, war unerträglich. »Warte noch ein bisschen damit, bitte. Zudem, die Pelze und Seidenkleider sollten wir verkaufen. Geld können wir immer gebrauchen – und ich möchte das ein oder andere Kleid von Mutter behalten.«
»Behalten?«, echote Jella. Sie zog die Stirn kraus. »Diese steifen Klamotten aus der Kaiserzeit? Was willst du denn damit, um Himmels willen? Außerdem passen dir die Sachen doch gar nicht.«
»Aufbewahren möchte ich sie. Als Erinnerung.«
Jella schnalzte mit der Zunge und schüttelte dabei den Kopf. »Es bleibt dabei. Ich spreche die Armenfürsorge an.«
»Hör auf, mich zu bevormunden!«, brach es aus Clara heraus. Das war laut und deutlich gewesen, ein ungewohnter Ausbruch, unter dem Jella kurz zusammengezuckt war, doch nun hob sie wieder bloß die Schultern.
»Gut, dann melde du dich bei denen.«
»Jella, darum geht es nicht – und das weißt du.« Clara bemühte sich nach außen hin um Ruhe, doch innerlich bebte sie.
Erneut schüttelte Jella den Kopf. »So wird das nichts. Wie soll ich in diese Wohnung einziehen, wenn wir nicht ausräumen? In Berlin stehen meine Sachen zum Transport bereit, mein Mietvertrag ist gekündigt. Ich kann doch nicht auf Dauer in meinem Kinderzimmer hausen.«
»Du sprichst so abfällig davon, als ob das eine Höhle wäre. Dabei ist es doch hell und geräumig.«
»Wie ich mein Kinderzimmer empfinde, tut nichts zur Sache«, entgegnete Jella barsch. »Und überhaupt, du hast leicht reden, du hast dein Haus und deinen Ehemann. Ich möchte auch gern wieder ein Zuhause, in dem ich mich wohlfühle, weil ich es nach meinen Wünschen einrichten kann. Das ist ja wohl nicht zu viel verlangt.« Energisch zerriss ihre Schwester weitere Papiere und nahm sich dann den nächsten Brief vor.
»Nein, natürlich nicht«, sagte Clara beschwichtigend, obwohl sie eigentlich etwas ganz anderes entgegnen wollte. Konnte Jella nicht verstehen, dass ihr alles viel zu schnell ging?
Unvermittelt wurde Jella kreidebleich. Plötzlich war alle Farbe aus ihrem Gesicht gewichen, als hätte sie einer erschreckenden Nachricht ins Auge geblickt.
***
»Was ist los?«, fragte Clara alarmiert und trat näher. So hatte sie ihre Schwester noch nie gesehen. Selbst auf der Beerdigung war sie nicht so bleich gewesen.
»Ach, schon gut«, wiegelte Jella ab und zeigte ihr das Kuvert mit dem Absender. »Der Brief ist von Johann Josten, aus dem Jahr 1907, da war ich gerade mal zwölf.« Sie räusperte sich. »Der Seestern-Besitzer hat tatsächlich schon damals starkes Interesse an einem Kauf der Strandperle bekundet.«
»Das ist doch kein Grund, so auf die Nachricht zu reagieren«, hakte Clara skeptisch nach.
Jella hob die Schultern, suchte sichtlich nach einer Erklärung. »Mir ist bei dem Gedanken an diesen Schildkröten-Heini bloß kurzzeitig übel geworden. Nur über meine Leiche wird an ihn verkauft, das kann ich dir sagen.«
»Ganz meine Meinung«, murmelte Clara und beobachtete halbwegs beruhigt, dass die Wangen ihrer Schwester wieder Farbe annahmen.
Das erlebte man wirklich selten, dass Jella so aus der Fassung geriet – genau genommen konnte sich Clara an keine solche Situation erinnern.
Erinnerungen.
Nachdenklich griff Clara nach dem gerahmten Familienfoto, das Jella auf den Schreibtisch gelegt hatte. Mit zitternden Fingern strich sie über das Glas.
Das Bild, das die Mutter mit letzter Kraft von der Wand geholt und sich zum Sterben auf die Brust gelegt hatte, zeigte die vier Jansens vor der Strandperle: die Kinder zwischen den Eltern, Clara an der Hand ihrer Mutter, der Vater mit ernstem Blick an der Seite von Jella. Geschwister, die sich an den Händen hielten.
Erinnerungen.
Endgültigkeit. Leere. Stille.
Clara überkam das Gefühl, etwas sagen zu müssen, um den Raum mit Leben zu füllen. »Weißt du noch, wie Mutter uns gezwungen hat, für dieses Foto stillzustehen?«, fragte sie und lächelte schwach.
»Und ob. Das fiel dir als kleine Zappelmaus besonders schwer. Du konntest ja gerade mal an ihrer Hand gehen. Ich war da ja schon ein Schulkind«, entgegnete Jella trocken, doch ihre Stimme hatte einen weichen Unterton. »Da muss ich acht oder neun gewesen sein. Als ich zehn war, gab es Vater schon nicht mehr.« Sie blickte auf das Foto, das Clara immer noch in der Hand hielt. »Weißt du noch, Mutter hat immer gesagt, wir sollen lächeln, egal, wie schwer es ist.« Jella stockte und wandte den Blick ab.
»Ja, das war ihr Credo«, murmelte Clara.
»Ich erinnere mich«, fuhr Jella fort, »wie Mutter bei den Fotoaufnahmen so wütend auf uns war, weil wir nicht einfach stillstehen und lächeln konnten.«
»Ja, sie wollte, dass die Welt glaubt, wir seien eine perfekte Familie.«
Jella warf einen erneuten Blick auf das Foto. Ihre Augen wurden schmal. »Perfekt? Das hier? Es war eine Illusion, Clara. Mutter hat so getan, als könnte sie alles zusammenhalten, aber sie war überfordert. Zuletzt sogar damit, sich mit mir zu versöhnen. Aber sie war eben eine Frau, die stets in Projekten gedacht hat. Wir waren als Kinder eines davon, das der Fortpflanzung und dem Erhalt der Strandperle diente. Gefühle waren da fehl am Platz – und im Zweifelsfall wurde ein Projekt eben für gescheitert erklärt – dazu zähle ich.«
»Jella! So darfst du nicht reden. Schon gar nicht jetzt, wo Mutter unter der Erde ist. Du versündigst dich!«
»Du hast keine Ahnung, was alles zwischen uns vorgefallen ist und wie sie sich mir gegenüber verhalten hat«, entgegnete Jella scharf. »Ich habe gute Gründe, so über sie zu sprechen.«
»Was ist denn vorgefallen, wovon ich nichts weiß?«
»Das spielt jetzt keine Rolle mehr. Ich sage jedenfalls, was ich denke. Und wenn ich mich damit versündige, sei’s drum. In der Hölle bin ich in guter Gesellschaft, und da gibt’s bestimmt die besseren Partys.« Mit Schwung zerriss Jella weitere Unterlagen. »Und nun lass uns nicht mehr von der Vergangenheit reden. Weißt du was? Ich freue mich darauf, der Strandperle neues Leben einzuhauchen. Hier weht bald ein frischer Wind. Wir kriegen das schon gebacken.«
»Gebacken …« Clara kaute förmlich auf dem Wort herum. »Wie sich das anhört. Als ob wir bloß einen Kuchen in den Ofen schieben müssten. Aber das hier ist mehr – viel mehr.«
»Das kommt ganz auf den Blickwinkel an«, entgegnete Jella ruhig. »Wenn du den Berg von unten anschaust, ist er natürlich riesig. Von oben betrachtet sieht die Welt schon ganz anders aus.« Entschlossen zerriss Jella die nächsten Briefe.
Ein Geräusch, das Clara kaum mehr ertrug. Am liebsten hätte sie sich die Ohren zugehalten. Stattdessen machte sie ein paar Schritte rückwärts zum Bett hin.
»Du nimmst alles immer so leicht, Jella! Aber das hier ist unser Erbe und kein Spielplatz für deine verrückten Ideen.«
»Was haben wir denn davon, wenn ich alles mit Sorge betrachten würde, so wie du? Der Kuhstall ist genau das, was die Leute in diesen Zeiten wollen, vertrau mir. Alkohol geht immer. Die Leute wollen sich berauschen, betrinken, um zu vergessen. Das ist das Einzige, was jetzt noch funktioniert. Schon nächste Woche werden wir im Kuhstall die ersten Gäste bewirten, die auf Melkschemeln sitzen, Strohballen als Tische. Die Wände dürfen sie nach Herzenslust mit bunter Farbe bemalen.«
»Wenn das unsere Mutter wüsste!«, rief Clara, doch ihre Worte klangen schwach. Überhaupt fühlte sie sich so kraftlos und leer, als ob jemand den Stöpsel gezogen hätte. Und dennoch war da ein Funke in ihr, ein Gedanke, der wie ein Streichholz wirkte, das sie in diesem Moment entzündete: das Büchercafé.
Das zarte Flämmchen züngelte, suchte nach Sauerstoff, und Clara nährte es mit ihren Überlegungen. Die Wände des einstigen Restaurants in zarten Farben gestrichen, blau und beige, Regale voller Bücher, bequeme Sessel, eine große Auswahl an Zeitungen, eine ansprechende Theke mit unwiderstehlichen Kuchen und Torten, duftender Kaffee und leckere Teesorten, und für den Abend Wein, Bier und Sekt mit köstlichen Häppchen zu den Veranstaltungen mit hochkarätigen Autoren.
Magnus hatte die Idee auch gefallen, sogar so gut, dass er sie zum Start finanziell unterstützen wollte. Doch da war leider noch Jellas unsäglicher Kuhstall, den Magnus ebenfalls reizvoll fand.
Einigen sollten sie sich als Schwestern – so die Worte der Mutter.
Zeit, dachte Clara. Sie benötigte Zeit, um Kraft zurückzugewinnen. Damit sie wenigstens die Chance hatte, sich gegen ihre Schwester durchzusetzen.
»Jella, wir haben Ende August, die Saison ist praktisch schon vorbei. Über den Winter reichen die Ersparnisse, so war das jedes Jahr. Im Frühjahr starten wir dann durch.« Wie, das ließ sie bewusst unausgesprochen.
»Saisonende, das trifft sich doch gut«, erwiderte Jella locker. »Dann haben die Insulaner Zeit und wollen was trinken gehen. Wenn ich sie für meinen Kuhstall begeistern kann, werden sie im Sommer ihre Gäste dorthin schicken, und dann haben wir gewonnen. Lass mich einfach machen, und du wirst sehen, wir werden Erfolg haben.«
Machen lassen, dachte Clara, der Spruch kam ihr sehr bekannt vor. Davon war auch ihre Ehe geprägt. Sie hatte gelernt, sich Arnulfs Vorstellungen anzupassen und ihm die Führung zu überlassen.
Bloß wo blieb sie dabei? Sie hatte doch auch ihre Wünsche und Pläne, auch wenn es ihr schwerfiel, diese zu äußern, und noch mehr, sich damit durchzusetzen.
»Das hier ist unser Erbe, Jella«, hob sie zaghaft an und betonte die Gemeinsamkeit. »Und du weißt, ich würde gern ein Büchercafé eröffnen. Ein Ort der Ruhe und Inspiration, genau das, was die Leute in diesen aufwühlenden Zeiten brauchen. Kultur als Anker, Literatur als leuchtender Stern, und für die Seele Kaffee, Tee und Kuchen. Das brauchen wir. Bodenständigkeit. Nicht noch mehr Spektakel.«
Jellas Haltung war angespannt, sie zerriss weiter Papier. »Clara, das ist wirklich naiv. Keine von uns weiß, was morgen sein wird. Aber eines kann ich dir sagen: Die Leute wollen ihre Sorgen vergessen. So tun, als ob nichts wäre. Sie wollen Spaß! Wenn das Erbe unserer Mutter weiterleben soll, dann kann es das nicht mit sündhaft teuren Diners, für die keiner mehr Geld ausgeben will, da sind wir uns einig. Aber genauso wenig funktioniert das mit Büchern und Lesungen. Das ist doch langweilig.«
»Ist es nicht!«, rief Clara, und dann schrie sie: »Und nun hör endlich auf, das Papier zu zerreißen, du machst mich wahnsinnig!« Selten genug, dass sie so laut wurde, das hätte ihrer Schwester eigentlich zu denken geben müssen. Doch Jella schien sich nicht im Klaren darüber zu sein, dass sie ein Minenfeld betreten hatte.
»Meine Güte, Kitzi, nun hab dich doch bitte nicht so.«
»Ich heiße nicht Kitzi!«, schrie sie.
»Puh, was ist denn mit dir los?«
»Das hier ist los mit mir!« Mit einer ausladenden Handbewegung zeigte sie über das verlassene Bett und wollte mit einem Fingerzeig auf den Zettel, dem letzten Willen der Mutter, enden. Allerdings erwischte sie im Schwung das Wasserglas und fegte es vom Nachttisch.
Das Klirren zerriss die Stille. Scherben überall. Beide starrten sie auf den Boden, wo die Splitter im Licht glitzerten.
»Wenn Glas bricht, bedeutet das Freiheit und Erlösung …«, sagte Jella überzeugt und wiederholte damit, was sie schon damals erklärt hatte, als im Restaurant die Weingläser zu Bruch gegangen waren.
»Du hast recht«, sagte Clara. Doch ihre Worte klangen hohl, ohne Trost und Hoffnung. Sie bückte sich zu den Scherben und sammelte sie mit bloßen Händen auf. Ihre Bewegungen waren mechanisch, fast starr. »Nein, ich glaube selbst nicht, was ich da rede«, murmelte sie. »Zerbrochenes Glas bedeutet nahendes Unglück – und das ist nun schon das zweite Mal innerhalb kurzer Zeit, dass Glas zu Bruch geht. Also doppeltes Unglück. Wenn es doch bloß Porzellan gewesen wäre. Nur solche Scherben bringen Glück.«
»Ach ja?«, fragte Jella provozierend. »Ist das so?«
»Ja, das ist so«, gab sie zornig zurück.
»Na dann«, entgegnete Jella leichthin. Zielstrebig nahm sie die Waschschüssel und schmetterte sie mit voller Wucht zu Boden.
Clara blieb vor lauter Schreck die Luft weg, dann stieß sie einen spitzen Schrei aus. Mit offenem Mund starrte sie auf die Scherben.
Jella lachte. »Besser so? Jetzt ist uns nach deiner Theorie das Glück hold, nicht wahr, Schwesterherz?«
Clara nickte und schüttelte gleichzeitig den Kopf, so durcheinander war sie – und dann lachte auch sie. Unkontrolliert brach es aus ihr heraus. Sie lachte und lachte – bis ihr die Tränen kamen. Dann wusste sie nicht mehr, ob sie heulen oder lachen sollte.
Jella beobachtete sie amüsiert und reichte ihr ein frisches Taschentuch. »So ist’s gut. Lass einfach mal alles raus. Ich gebe zu, mir fällt die Situation auch nicht leicht, und mir ist bange, aber wir schaffen das. Wir müssen nur an uns und unser Glück glauben, Clara«, sagte sie, bestimmt auch zur eigenen Bestärkung.
Clara bemühte sich, die Fassung wiederzuerlangen. »Aber zu welchem Preis?«, murmelte sie, immer leiser werdend. Sie trocknete sich die Tränen mit dem Taschentuch. »Und wo bleibe ich dabei?« Aber das hörte ihre Schwester schon gar nicht mehr.
Jella hatte sich abgewandt und den Zettel aufgehoben, den es vom Nachtkasten zu Boden geweht hatte. Der letzte Wille der Mutter lag jetzt in Jellas Händen, wie die Skizze eines Plans, den sie ohne Zweifel umsetzen würde.
***
Tafelsilber, Kristallgläser, feinstes Porzellangeschirr mit Goldrand – aufgestellt in akkuraten Reihen auf den Tischen, flankiert von Serviettenstapeln, gefalteten Damasttischdecken und Küchengeräten, die in vielen Haushalten ihresgleichen suchten und nun für einen angemessenen Preis zu haben waren. Ein geordneter Abschied von Dingen, die einst zum Alltag der Strandperle gehört hatten.
Jella stellte noch einen silbernen Kerzenleuchter dazu, während Clara den Deckel einer Terrine anhob und das Innere mit einem weißen Tuch auf makellose Sauberkeit prüfte. Alles sollte glänzen wie neu, aber der Staub einer längst vergangenen Zeit ließ sich nicht abwischen – und wenn Clara jetzt noch einmal fragte, dachte Jella, ob sie dieses oder jenes Teil nicht doch behalten wollten, dann würde sie mit Tellern werfen. Scherben brachten schließlich Glück.
Clara hatte schon so viel beiseitegestellt, was nicht in den Verkauf gehen sollte, damit konnte man einen ganzen Haushalt neu bestücken – oder das Büchercafé. Noch hatte sie ihrer kleinen Schwester diese fixe Idee nicht ausreden können.
Doch Clara fragte nicht mehr. Sie steckte das Poliertuch in den schmalen Gürtel, der die Taille ihres blau-roten Blümchenkleids betonte, und ging in die Küche, um weitere Utensilien herbeizutragen.
Bis auf die älteste Köchin Martha, die ihr Leben lang in der Strandperle gearbeitet und hier Wurzeln geschlagen hatte, war niemand mehr vom Personal da, weil sie alle bereits neue Stellen gefunden hatten. Wer aus der Strandperle kam, den nahm man mit Kusshand.
Sie waren noch nicht fertig mit dem Aufbau, da hörte Jella Schritte im Foyer. Und dann Stimmen. Männliche, gedämpft. Hatte Martha die ersten Interessenten eingelassen?
Jella blickte zur Wanduhr. Eine halbe Stunde zu früh. Aber besser so, als wenn niemand käme. Alles, was weg war, war weg – und brachte zusätzliches Geld.
Die Stimmen kamen näher. Jella prüfte schnell den Sitz ihrer Kleidung, dann strich sie mit den Händen über die Hosenbeine und straffte die Schultern. Mit einem leichten Flattern in der Magengrube erwartete sie die ersten Käufer.
Die Schwingtür bewegte sich, und herein kam …
Jella gefror das Lächeln im Gesicht.
Arnulf.
In seinem Gefolge der Schildkröten-Heini und ein ihr unbekannter Herr mit Nickelbrille und Ledermappe unterm Arm.
Einen Moment lang stand Jella reglos da, als müsse ihr Verstand erst begreifen, was ihre Augen längst sahen. Dann warf sie einen Seitenblick auf Clara, die von dem Besuch ebenso überrascht war und zum Zeichen einer mangelnden Erklärung die Schultern hob.
Da kam Bewegung in Jella. Sie ging auf die Gruppe zu, allerdings nicht in der Absicht, ihnen zur Begrüßung die Hand zu reichen.
»Die Herren?« Ihre Stimme war scharf, fast schneidend.
Arnulf tat, als hätte er sie weder gesehen noch gehört. Mit einer ausladenden Geste wies er in den Raum. »Das Herzstück«, sagte er und dann breitete er voller Stolz die Arme aus, als sei er der Besitzer. »Die Strandperle in ihrer ganzen Pracht.«
Die Luft im Raum veränderte sich schlagartig. Jella hatte das Gefühl, nicht mehr richtig atmen zu können. Ihre Kehle war wie zugeschnürt, keine Spur mehr von ihrer Schlagfertigkeit, die ihr normalerweise in jeder Lebenslage die passenden Worte auf die Lippen legte.
Sie wusste, an wem das lag. Am Besitzer des Seesterns, den sie Schildkröten-Heini getauft hatte, weil sie einen Namen für ihn gebraucht hatte, der ihn lächerlich erscheinen ließ. Worüber man lachen konnte, machte einem keine Angst mehr. Nie hätte sie geglaubt, diesem Menschen noch einmal Auge in Auge gegenüberstehen zu müssen.
»Charmant«, murmelte der Herr mit der Ledermappe und schob seine Nickelbrille höher. Er legte den Kopf in den Nacken, begutachtete die Ornamente an der Decke, die umlaufende Stuckverzierung, und bewegte sich dann zu einem der Fenster hin, wo er mit den Fingern am Rahmen entlangfuhr. »Natürlich mit den Jahren etwas in Mitleidenschaft gezogen, aber die Grundsubstanz …« Er nickte anerkennend. »Stabil.«
»Da hören Sie das Urteil des Herrn Architekten«, sagte Arnulf voller Stolz und betrachtete den Seestern-Besitzer Johann Josten, als würde er dessen Beifall erwarten.
Johann Josten, ein mittelgroßer, breitschultriger Mann in hellem Anzug, ließ den Blick schweifen, musterte den Raum mit kühler Berechnung. Jella spürte förmlich, wie es in ihm arbeitete.
Josten ignorierte sie, wandte sich Arnulf zu. »Alles wunderbar. Nur die letzte Unterschrift fehlt noch.«
Jella richtete sich innerlich auf. Es kostete sie viel Kraft, sich dem Seestern-Besitzer entgegenzustellen, aber es musste sein. Ihre Schwester war wie erstarrt, von ihr würde keine Hilfe zu erwarten sein. Offenkundig hatte Clara keine Vorstellung davon gehabt, dass Arnulf so weit gehen würde. Dass er sich sogar erdreistet hatte, einen Architekten mitzubringen.
»Diese Unterschrift wird es nicht geben«, ließ sich Jella laut und deutlich hören.
Arnulf drehte sich langsam zu ihr um. »Wie bitte? Das ist beschlossen. Die Strandperle ist per Handschlag verkauft.«
»Nur über meine Leiche«, erwiderte sie scharf. »Niemals setze ich meine Unterschrift darunter.«
Da tat Clara etwas, womit Jella nicht rechnete. Ihre kleine, sonst so schüchterne Schwester räusperte sich und trat einen Schritt nach vorn. »Arnulf«, sagte sie mit entschlossener Stimme. »Warum bringst du die Herren hierher? Wir haben nicht darüber gesprochen.«
Arnulf wischte mit der Hand über den Ärmel, als ob er eine Fliege verscheuchen wolle, und verschaffte sich mit dieser Geste zudem einen Moment Zeit, um seinen sichtlichen Unmut verrauchen zu lassen. Dann hob er ratlos die Schultern, als hätte sie eine überflüssige Frage gestellt. »Weil die Strandperle per Handschlag verkauft ist, Liebes. Da ist eine solche Besichtigung doch obligatorisch. Du tust gerade so, als käme das überraschend. Ihr wisst doch selbst, dass ihr das Haus nicht halten könnt.«
»Das ist noch längst nicht gesagt«, entgegnete Clara, wobei ihre Stimme leicht ins Wanken geriet, ein feines Zittern, wenn man genau hinhörte.
Arnulfs Unmut über den Widerspruch seiner Frau ballte sich in den Wülsten zwischen seinen Augenbrauen. Doch dann glättete sich seine Miene unerwartet schnell, und er lächelte sogar. »Eure Anstrengungen in allen Ehren«, sagte Arnulf in gönnerhaftem Ton. »Aber ihr habt ja nicht mal einen Plan, wie es weitergehen soll. Stattdessen haben wir hier einen seriösen, vertrauenswürdigen und kompetenten Herrn mit jahrzehntelanger Erfahrung in der Gästebewirtung, der den Namen der Strandperle in Ehren halten wird …« Wieder blickte er Beifall heischend zu Johann Josten hin, doch dessen verkniffener Mund machte Arnulf deutlich, dass er ihm noch mehr Honig ums Maul schmieren musste. »Selbstverständlich werden Sie die Strandperle zu ganz eigenem Ruhm führen. Schildkröten-Spezialitäten mit Blick aufs Meer – man kann sich nichts Besseres vorstellen. Und wenn erst die großen Meeresbewohner an den Terrassenbalken zum Trocknen hängen, als sichtbares Werbeschild, werden die Gäste in Scharen strömen. So klingt ein erfolgreiches Konzept, nicht wahr, die Damen?«
Jella spürte, wie ihr die Farbe aus dem Gesicht wich und ihr übel wurde. Sie presste die Lippen aufeinander. Was sollte sie Arnulf entgegnen? Wobei, wenn sie ihm vor die Füße kotzte, wäre auch alles gesagt.
Es gab einen Plan, genau genommen sogar zwei – und das war gleichzeitig das Problem, das sie vor Arnulf sicherlich nicht ausbuchstabieren wollte.
Claras Plan – ihr Büchercafé. Ein Ort der Ruhe, Literatur, Kultur. Das klang schön, idealistisch, fast romantisch. Aber es war weltfremd. Typisch für ihre kleine Schwester, die das Dasein gern verklärte. Manchmal fragte sie sich, ob Clara verstand, in welcher Realität sie lebten. In dieser Zeit des Mangels wollte doch niemand Geld für Bücher oder feine Tees ausgeben.
Die Leute wollten vergessen. Sie wollten Alkohol trinken. Der Kuhstall war die einzige realistische Möglichkeit, die Strandperle weiterleben zu lassen. Aber es war wohl nicht der geeignete Zeitpunkt, ihren Plan in den Vordergrund zu rücken, denn damit würde sie Clara zu sehr vor den Kopf stoßen, die immer noch glaubte, dass sie sich mit ihrer Idee durchsetzen könnte.
Doch so wahr sie Jella hieß, würde sie hier nächste Woche den Kuhstall eröffnen – und das konnten die Herren dann auch erleben. Taten galten mehr als Worte.
Arnulf zeigte gar kein Interesse an einem Austausch mit ihr. Er spazierte, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, mit dem Seestern-Besitzer und dem Architekten durch den Saal, als ob es sein Reich wäre.
»Mir gefällt, was ich sehe«, sagte der Seestern-Besitzer, dann ging er auf Jella zu und suchte ihren Blick. Er sah sie mit einem Ausdruck an, den sie nicht deuten konnte – oder nicht deuten wollte. Ein flüchtiger Druck auf ihrer Brust, eine Enge, die ihr für einen Moment die Luft nahm. Das Gefühl von damals – tief vergraben und doch immer da. Ein Sommerabend, ein Griff, eine Warnung, die sie ihr Leben lang nicht mehr vergessen konnte.
»Das freut mich«, entgegnete sie beherrscht. »Alles auf den Tischen steht zum Verkauf. Auch über das Mobiliar kann verhandelt werden. Alles Weitere steht nicht zur Debatte.«
Der Seestern-Besitzer blieb ruhig. Zu ruhig. Er holte tief Luft, als hätte er einen Einwand auf den Lippen. Doch nichts kam. Kein Wort. Nur sein Blick. Fest, unbeirrbar. Er wollte die Strandperle. Lieber heute als morgen. Aber er war der Typ Mensch, der einen langen Atem bewies, wenn es um seine Ziele ging. Das wusste sie.
Jella spürte, wie ihr Herz schneller schlug. Die Strandperle war nicht allein das Thema. Das hier war persönlich. Er war persönlich.
»Wunderbar«, sagte Arnulf mit einem breiten Lächeln, nachdem sie nicht reagiert hatte. »Die Unterschrift ist ja dann bloß noch Formsache«, fügte er zufrieden hinzu.
Das brachte Jella zurück auf die Barrikaden. »Habe ich Chinesisch gesprochen? Das hier«, sagte sie in aller Deutlichkeit und machte eine ausladende Geste, »ist nicht verhandelbar. Die Strandperle gehört uns. Und niemand wird sie uns nehmen.«
Die dunklen, unergründlichen Augen des Seestern-Besitzers verengten sich. Ein feines Lächeln, kaum mehr als ein Zucken der Mundwinkel, legte sich auf seine Lippen. »Wie süß …«, sagte er. »Nun gut, wer nicht hören will, muss fühlen. Ich kann warten, bis die Damen gescheitert sind, lange wird das ja nicht dauern. Allerdings, wenn Sie jetzt auf mein Kaufangebot eingehen würden, das ich Ihnen gern unterbreiten möchte, so wird die Summe natürlich deutlich höher ausfallen, als wenn ich mitten in der Saison starten muss. So kann ich über den Winter alles renovieren und bin zum Frühjahr startklar.«
Jella ballte ihre Hände zu Fäusten. Dieses Lächeln. Sie hasste es. Es hatte sie damals erstarren lassen, aber diesmal nicht. Nicht hier. Nicht jetzt.
»Jella«, mischte sich Clara ein, ihre Stimme besorgt. »Vielleicht sollten wir uns das Angebot zumindest mal anhören.«
Jella glaubte sich verhört zu haben. Wie konnte ihre Schwester ihr nur derart in den Rücken fallen? Jella wirbelte herum. »Du willst mit diesem Mann verhandeln?« Ihre Stimme bebte vor unterdrückter Wut.
»Ich möchte bloß die Summe hören«, erwiderte Clara vorsichtig. »Und sichergehen, dass wir uns richtig entscheiden.«
Jella blieb die Luft weg. »Die Entscheidung ist getroffen«, stieß sie hervor.
Johann Josten trat einen Schritt vor, langsam, fast beiläufig. »Ich bin ein geduldiger Mann, Fräulein Jansen. Und am Ende bekomme ich immer, was ich will.«
Ein kalter Schauer lief Jella über den Rücken. Sie zwang sich, nicht zu blinzeln, sich keinen Zentimeter zurückzuziehen. Ja, dachte sie. Das hatte er in der Vergangenheit schon einmal unter Beweis gestellt.
»Wir werden sehen«, presste sie hervor.
Arnulf räusperte sich, als wollte er die Spannung auflösen. »Ich denke, wir haben für heute genug gesehen. Wir melden uns bald.«
Der Architekt nickte, steckte seine Notizen ein und wandte sich Richtung Schwingtür. Johann Josten blieb noch einen Moment stehen. Seine Augen ruhten auf Jella, forschend, kalkulierend.
Schließlich setzte er sich gemessenen Schritts in Bewegung – mit der Gewissheit eines Siegers, der das Feld nur räumte, um Anlauf zu nehmen.
***
Die Strandperle war leer. Fast. Clara ließ den Blick über die verbliebenen Tische schweifen, verloren standen dort ein paar Teller und wenige Gläser, zurückgeblieben wie Steine am Flutsaum, nachdem sich das Meer zurückgezogen hatte.
Ja, sie waren von einer Welle überspült worden, viele Kaufinteressenten hatten den Saal geflutet, doch es waren auch viele Neugierige da gewesen, die einfach bloß wissen wollten, warum dieser Ausverkauf stattfand und wie es mit der Strandperle weitergehen würde.
Clara schwirrte der Kopf. Eine Antwort hatte sie niemandem geben können. Wie auch? Es war so furchtbar anstrengend gewesen. Das Reden. Das Feilschen. Die gute Miene zum Geschehen. Ihre Wangenmuskeln schmerzten vom Lächeln, das sie sich ins Gesicht gemeißelt hatte.
Das schlechte Gewissen quälte sie, die Vorstellung, dass sich ihre Mutter im Grabe umdrehte, wenn sie das hier sehen würde. Der Ausverkauf ihres Lebenswerks.
Erschöpft ließ sich Clara auf den nächstbesten Polsterstuhl fallen.
Jella hingegen betrachtete das Ergebnis mit der Miene einer erfolgreichen Händlerin – für sie war die Aktion ein voller Erfolg.
Clara schloss die Augen und schüttelte den Kopf, als könne sie dadurch alles ungeschehen machen. Viel zu günstig war alles weggegangen, nahezu verschleudert worden. Fremde Hände hatten das Silberbesteck befühlt, Gläser prüfend gegen das Licht gehalten. Ein Wort, eine Münze, und weg war das kostbare Gut. Geschichte. Verschwunden in fremden Häusern. Zu Hause bei Menschen, die sich weit mehr über die günstige Gelegenheit als über den Gegenstand freuten.
»War das wirklich nötig?«, murmelte Clara mehr zu sich selbst als zu Jella, die sich gerade über einen Stapel Quittungen beugte.
Jella hob nicht einmal den Blick. »Natürlich war es das.« Sie blätterte um, zog den Bleistift hinter dem Ohr hervor und notierte eine Zahl am Rand der Seite. »Jeder Pfennig zählt, wenn wir das hier am Leben halten wollen. Außerdem, wozu hätten wir den ganzen Kram behalten sollen? Sieh doch mal, wie schön leer es jetzt hier ist. Platz für Neues. Das war alles überflüssiger Ballast.«
»Ballast? Merkst du eigentlich, wie abfällig du von unserem Erbe sprichst? Von dem, was unsere Mutter und nicht zuletzt unser Vater erschaffen haben? Davon ist fast nichts mehr übrig!« Mit einer schwachen Geste hob Clara die Hand und wies damit durch den kahlen Raum, der bloß noch Kälte ausstrahlte. »Das waren Erinnerungen. Unsere Geschichte.«
Jella winkte ab und steckte den Stift wieder hinters Ohr. »Erinnerungen haben wir immer noch genug. Vor allem im Herzen – das ist doch das Wichtigste, nicht wahr? Und jetzt geht’s ums Geschäft.« Sie verschränkte die Finger und ließ die Gelenke durch eine energische Dehnung knacken, als wollte sie sich sofort ans Werk machen. »Das Miramar hat übrigens Interesse an den Kronleuchtern. Da kommt gleich noch jemand vorbei.«
Claras Kopf ruckte hoch. »Die Kronleuchter bleiben.«
Jella zog die Stirn kraus. »Ach ja?«
»Ja! Man muss doch nicht alles auf Teufel komm raus verändern und verscherbeln. Zudem würden sich die Kronleuchter sehr gut in meinem Büchercafé machen.« Mit Absicht brachte Clara ihre Idee erneut ins Spiel. Ihrer Schwester musste klar sein, dass das letzte Wort noch nicht gesprochen war.
Jella musterte sie, als überlege sie, ob sich eine Diskussion lohnte. Doch bevor sie etwas erwidern konnte, bewegte sich die Schwingtür.
Magnus.
Sofort schlug Claras Herz höher. Sie kämpfte mit ruhigen Atemzügen dagegen an. Vergeblich. War er im Auftrag des Miramars hier? Warum hielt er sich nicht an die unausgesprochene Vereinbarung, dass sie einander aus dem Weg gehen wollten?
Schnell erhob sie sich vom Stuhl, weil sie nicht den Eindruck von Müßiggang erwecken wollte.
Das schien Magnus als Aufforderung zu verstehen. Er kam herein, ließ den Blick durch den fast leeren Raum gleiten und nickte leicht. »Na, das sieht so aus, als ob der Verkauf gut gelaufen ist.«
Jella breitete die Arme aus. »Großartig sogar! Die Leute haben uns die Sachen förmlich aus den Händen gerissen. Ein voller Erfolg!«
Clara hingegen gab sich keine Mühe, ihren Missmut zu verbergen, und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ein Ausverkauf war’s. Mehr nicht.«
Magnus sah zwischen ihnen hin und her. »Ich verstehe. Ihr seid euch mal wieder uneinig.« Nach kurzem Zögern fügte er hinzu: »Ich bin eigentlich hier, weil der Hotelbesitzer, Herr Busse, unbedingt die Kronleuchter für sein Miramar haben will. Er ist ganz begeistert von der Vorstellung.«
Clara schürzte die Lippen. »Die Kronleuchter bleiben.«
»Komm schon, Clara!«, warf ihre Schwester genervt ein. »Diese Dinger könnten uns eine gute Summe einbringen. Was willst du damit? Die passen doch nicht in den Kuhstall.«
Das war nicht zu fassen, dachte Clara. Mit welcher Selbstsicherheit ihre Schwester davon ausging, dass sie sich mit ihrer Idee durchsetzen würde – und das auch noch in Gegenwart von Magnus aufs Tapet brachte. Erwartete Jella, dass er sich doch auf ihre Seite schlug? Gut möglich, so viel Kontakt, wie die beiden miteinander hatten.
Nicht daran denken, mahnte sie sich selbst, erst recht nicht an die Nächte, die die beiden in der Baumannshöhle verbrachten. Bestimmt rechnete Jella mit Magnus’ Unterstützung, und vor allem erwartete sie von ihrer kleinen Schwester keinen Widerstand.
Denn Clara hatte nie gelernt, Jella gegenüber den Mund aufzumachen, erst recht nicht, wenn es um ihre Wünsche und Träume ging. Träume. Darin war ihr Büchercafé schon so lebendig, als ob es wirklich existieren würde, und es fühlte sich gut an, endlich mal die Hauptrolle zu spielen. Wenn jetzt noch Kinder dazukommen würden, wäre ihr Leben perfekt. Tatsache war jedoch, dass es in ihrer Ehe keinen Nachwuchs geben würde – da konnte sie doch den Traum von ihrem Büchercafé nicht auch noch begraben. Nein, so weit wollte sie es nicht kommen lassen – und die Anwesenheit von Magnus machte sie mutig genug, Jella die Meinung zu sagen.
»Ich möchte keine Kneipe, keine billige Spelunke mit Strohballen in der Strandperle! Hier soll ein Büchercafé entstehen. Hörst du, was ich sage?«
»Ich bin nicht taub. Aber du willst nicht hören, Clara, dass dein Café die Leute angesichts unserer Wirtschaftslage nicht interessieren wird. Sie haben keinen Kopf für Bücher! Sie haben Durst! Mein Kuhstall ist eine sichere Sache!«
»Du willst eine Kneipe für Besoffene, die nachts aus diesem ehrwürdigen Haus torkeln!«, fauchte Clara.
»Ich will eine Kneipe, die läuft!«, gab Jella scharf zurück. »Und was willst du? Dir in ein paar Monaten eingestehen, dass du dich verrannt hast? Du hast doch keine Ahnung, was es heißt, einen erfolgreichen Betrieb zu führen!«
»Ach? Und du hast die Weisheit mit Löffeln gefressen?« Kaum ausgesprochen, war Clara über sich selbst bass erstaunt.
Auch Jella war so irritiert, dass sie nicht reagierte.
Ein Grund für ihr ungewöhnliches Auftreten war sicherlich, dass Magnus das Streitgespräch mit Erstaunen verfolgte und ihr beeindruckt zuhörte. Das spülte Clara noch mehr Wasser unter den Kiel. Und erstmals seit dem Tod der Mutter spürte sie eine Art Befreiung, die es ihr möglich machte, ihrer Schwester entschieden entgegenzutreten.
»Jella, wer von uns beiden hat denn die Buchhaltung der Strandperle gemacht?«
»Du«, gab Jella kurz angebunden zurück, aber nun schien sie sich wieder zu fangen, denn in ihrer Miene, die ihr kurzzeitig entglitten war, zeigte sich an ihren schmalen Augen und dem stechenden Blick wieder der Durchsetzungswille. »Aber was nutzt es, Zahlenkolonnen addieren zu können, wenn am Ende doch ein fettes Minus steht? Man muss das richtige Näschen haben, um Gewinn zu machen. Glaub mir, nach meinen zehn Jahren in Berlin weiß ich, wie der Hase läuft.«
»Du hast keine Ahnung, was die Leute wollen!«, gab Clara zurück. Ihre Stimme bebte. »Nicht jeder will sich zur Ablenkung in Alkohol ertränken! Die Leute wollen ihre Hoffnung zurück. Einen Ort, an dem sie träumen können.«
»Du träumst, Clara!« Jella warf die Hände in einer theatralischen Geste in die Höhe, als wollte sie dort nach Verstand greifen. »Glaubst du wirklich, dass du mit Gedichten und heißem Tee irgendwen hinterm Ofen hervorlockst? Wir leben nicht mehr in der Kaiserzeit, in der man sich, umgeben von Kronleuchtern, bei leiser Salonmusik mit einem Fächer und einem Buch in einen samtbezogenen Lesesessel gesetzt hat und glücklich war.«
»Genau! Da waren die Leute glücklich! Nicht in einem schäbigen Kuhstall, wo sie sich auf Melkschemeln besaufen!«
»Du wirst es erleben!«, zischte Jella.
Ein Räuspern ließ sie innehalten. Magnus, der das Wortgefecht schweigend verfolgt hatte, trat einen Schritt näher.
»Warum eigentlich nicht beides?«, fragte er ruhig.
Jella fuhr zu ihm herum. »Was?«
»Wie bitte?«, fragte Clara etwas höflicher. Ihr Atem bebte. Sie musste sich erst beruhigen, um seinem Gedankengang folgen zu können.
Magnus machte eine weitläufige Geste. »Weshalb streitet ihr euch um diesen Saal? Jella, nachts brauchst du doch keinen Meerblick. Wie wäre es, wenn du deinen Kuhstall in der ehemaligen Küche eröffnest? Die hat ja gut fünfzig Quadratmeter. Wir bauen sie um. Ein kleiner Küchenbereich muss bleiben, eine Trennwand rein, damit Clara am Vormittag einen Platz hat, wo sie ihre Kuchen backen kann. Da kommt ihr euch dann auch nicht in die Queere. Groß genug ist der Kuhstall immer noch, aber nicht zu groß. Dann heizt sich auch die Stimmung besser auf. Und überhaupt könnten die Gäste den ehemaligen Lieferanteneingang nutzen. Schließlich wünschen sich viele Nachtschwärmer Diskretion.«
Jella schwieg. Ihr Blick flog zur Küche, als versuche sie sich das vorzustellen.
Nach einer Weile, als Clara schon dachte, ihre Schwester würde widersprechen, entgegnete Jella: »Wirklich keine schlechte Idee, Magnus. Und je länger ich darüber nachdenke, muss ich sagen, das ist sogar ein sehr guter Plan!« Sie wandte sich Clara zu. »Und du richtest deine Buchhandlung mit Meerblick im früheren Restaurantbereich ein, und auf der Terrasse betreiben wir ein kleines Café.«
Clara hob die Augenbrauen. »Wir?«
Jella zögerte. »Nicht wir?« Für einen Moment wirkte sie verunsichert. »Nun ja, ich kann’s dir nicht verübeln. Verstehe dich …«
Clara betrachtete ihre Schwester lange. Dann verzog sie die Lippen zu einem Lächeln. »Schon gut. Dieses ›Wir‹ ist nur so ungewohnt.«
»Ihr nehmt meinen Vorschlag also an?«, fragte Magnus.
Clara wechselte einen Blick mit ihrer Schwester, dann lächelte sie. »Wenn die Kronleuchter bleiben.«
Jella grinste. »Darauf sollten wir anstoßen. Ich glaube, in der Vorratskammer steht noch eine letzte Flasche von Mutters Johannisbeerlikör. Der ist doch passend für diesen denkwürdigen Tag.«
Clara holte Gläser vom Tisch, die übrig geblieben waren. Keine feinen, schmalstieligen Sektflöten, sondern das, was gerade greifbar war. Improvisierte Gefäße, jeder ein anderes. Sie schenkte ein, das tiefe Rot des Likörs funkelte im Licht der Kronleuchter.
Magnus hob sein Glas. »Also dann. Auf das neue Leben in der Strandperle. Auf euch. Und auf das, was ihr daraus machen werdet.«
Jella lachte. »Und auf das Chaos, das wir beherrschen werden.«
Clara betrachtete das Glas in ihrer Hand, in das sie nur einen kleinen Schluck eingeschenkt hatte, ließ den Likör ein wenig kreisen. Ihre Stimme war leise, aber fest: »Mal ganz im Ernst. Wenn unsere Mutter uns jetzt so sehen könnte, das würde ihr gefallen. Ich glaube, so hat sie sich das vorgestellt. Wir sind auf einem guten Weg.«
Die Gläser klangen aneinander. Ein Anfang.
***
Das Holz ächzte, als Jella die alte Theke mit der Axt bearbeitete. Die Planke riss mit einem dumpfen Knacken, und ein Teil der Verkleidung brach ab. Ihr Atem ging schwer, Schweiß glänzte auf ihrer Stirn, aber sie hielt nicht inne. Sie brauchte Platz. Einen ordentlichen Tresen, hinter dem sie stehen konnte, nicht diese altmodische Theke an der Wand, auf der jahrzehntelang die Speisen angerichtet worden waren. Wachteleier, Austern und Kaviar gehörten der Vergangenheit an.
Magnus stand wenige Meter entfernt und bearbeitete mit einem Vorschlaghammer die Zwischenwand, die den Spülbereich abgetrennt hatte. Bei jedem Hieb bebte der Raum, Putzbrocken prasselten zu Boden. Magnus hatte die Hemdsärmel hochgekrempelt, wischte sich mit dem Arm über die Stirn und trug den Staub in seine dunklen Locken, die am Haaransatz vom Schweiß glänzten.
Claras Hände steckten in groben Handschuhen, sie hockte neben einem Eimer und sammelte Schuttstücke ein. Ihr schwarzes Trauerkleid war mit weißem Baustaub beschmutzt und die ordentlichen Wasserwellen in ihrem Haar längst ruiniert. Immer wieder warf sie einen kritischen Blick auf das Chaos ringsum, das trotz ihrer Bemühungen nicht weniger wurde. Solange Clara auf ihre große Bücherlieferung vom Festland wartete, hatte sie netterweise ihre Hilfe angeboten, obwohl sie sich zwischen all dem Lärm und Dreck auf der Baustelle höchst unwohl fühlte. Das rechnete Jella ihrer kleinen Schwester hoch an.
Clara seufzte tief, was man bei dem Baulärm zwar nicht hören, aber an dem starken Heben und Senken ihres Brustkorbs erkennen konnte. Dann schüttelte sie den Kopf und ließ die Hände sinken.
»Mach doch mal eine Pause«, rief sie ihrer kleinen Schwester zu. »Wir kommen schon klar.«
Clara hatte sich wohl unbeobachtet gewähnt, denn sie hob ruckartig den Kopf und rief: »Nein, nein, schon gut.«
Jella zuckte mit den Schultern. Na schön, wenn Clara unbedingt helfen wollte. Aber warum eigentlich? Doch bestimmt nicht ihretwegen, dachte Jella, sondern wohl eher wegen Magnus. Damit Clara ein Alibi hatte, um in seiner Nähe sein zu können. Zudem wollte sie ihm vermutlich demonstrieren, dass ihr körperliche Arbeit ebenso wenig ausmachte wie ihrer Schwester. Wie süß, dachte Jella und beobachtete Clara weiter.
Sie würde ihren Hintern drauf verwetten, dass Clara verliebt war, wenn ihr der nicht zu schade gewesen wäre. Bei Gelegenheit musste sie Clara mal ins Gebet nehmen, damit sich ihre Schwester da in nichts verrannte.
Clara hustete und schüttelte erneut den Kopf.
»Trink etwas!«, rief sie ihr zu. Clara war doch sonst immer die Vernünftige.
»Schon gut. Nein, es ist nur – wenn Mutter das sehen könnte …«, murmelte Clara und schüttelte erneut den Kopf.
Jella warf ein abgebrochenes Holzstück achtlos hinter sich. »Clara, bitte. Fang nicht wieder damit an.«
Magnus ließ den Vorschlaghammer sinken und betrachtete sein bisheriges Werk, das zur Hälfte geschafft war.