Die Tage vor der Hochzeit - Alexandra Borowitz - E-Book

Die Tage vor der Hochzeit E-Book

Alexandra Borowitz

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Beschreibung

Für alle, die ihre Familie lieben, obwohl die alles tut, um das zu verhindern.

Emily Glass weiß, dass sie ein paar Macken hat. Aber ist das ein Wunder? Schon als Kind wurde sie von ihrer Mutter, einer Psychologin, ständig analysiert. Ihr Vater, ein Unidozent, behandelte sie wie seine Schülerin. Und ihre Geschwister sind auch keine Hilfe. Emilys Schwester ist eine militante Gender-Aktivistin, ihr Bruder ein hoffnungsloser Schürzenjäger. Zum Glück hat Emily den wundervollen David gefunden, der sie liebt, so wie sie ist. Mit ihm wird sie in wenigen Tagen vor den Altar treten. Dummerweise findet das Hochzeitsfest bei Emilys Eltern statt, wo nun die ganze verrückte Familie zusammenkommt. Emilys großer Tag ist da schon bald Nebensache ...

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Seitenzahl: 427

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Buch

»Die perfekte Verbindung von Herz und Humor! Jeder, der seine Familie liebt, obwohl diese alles tut, um genau das zu verhindern, wird diesen Roman verschlingen.« Kirkus Reviews

Emily Glass, 28, ist das jüngste von drei Geschwistern. Schon als Kind wurde sie unablässig von ihrer Mutter, einer Psychologin, mit ungebetenen Diagnosen überschüttet. Ihr Vater, ein Unidozent, wusste stets alles besser. Als Erwachsene leidet Emily unter diversen Zwangsneurosen und eingebildeten Krankheiten. Trotz dieser Hürden hat Emily einen wunderbaren Mann gefunden, und schon bald wird David sie zum Altar führen. Sofern Emily die Tage zuvor übersteht. Die Hochzeit soll nämlich bei Emilys Eltern stattfinden, und so kehrt das Brautpaar in den Schoß von Emilys Familie zurück. Dort warten auch schon ihre ältere Schwester Lauren und ihr Bruder Jason. Es ist also alles bereit, um alte Streitigkeiten aufzuwärmen und sie in Familien-Therapiesitzungen aufzuarbeiten. Im Lauf von sechs höchst turbulenten Tagen, während denen auch Freunde und Trauzeugen eintreffen, werden Beziehungen geknüpft und beendet, Geheimnisse enthüllt und Tränen vergossen. Aber vielleicht findet Emily dabei auch heraus, was im Leben wirklich zählt …

Autorin

Alexandra Borowitz verfasst Liebeskomödien und schreibt, seit sie sechs Jahre alt ist. Am liebsten befasst sie sich in ihren Büchern mit den Dramen, Geheimnissen und Verrücktheiten, die das Familienleben mit sich bringt.

Alexandra Borowitz

Die Tage vor der Hochzeit

Roman

Aus dem Englischen

von Thomas Stegers

Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel

»Family and Other Catastrophes« bei MIRA Books, Toronto.

All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form. This edition is published by arrangement with Harlequin Books S.A.

This is a work of fiction. Names, characters, places and incidents are either the product of the author’s imagination or are used fictitiously, and any resemblance to actual persons, living or dead, business establishments, events or locales is entirely coincidental.

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Deutsche Erstveröffentlichung August 2019

Copyright © der Originalausgabe 2018 by Alexandra Borowitz

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagfoto: Krönchen, Herzen, Hochzeitspaar: FinePic®, München;

Frau mit Torte: plainpicture/Lubitz + Dorner

Redaktion: Regina Carstensen

AB · Herstellung: kw

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-23789-9V001

www.goldmann-verlag.de

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Der Abend davor

David

»Sieht meine Nase in dem Kleid zu groß aus?«

Emily Glass stand vor dem Spiegel und kämmte sich die Haare. Das rosa Sommerkleid schmiegte sich eng an ihren Oberkörper und weitete sich hüftabwärts.

»Wie kann ein Kleid deine Nase größer machen?«

»Du würdest dich wundern«, sagte sie. »Bei meiner Nase muss ich aufpassen. Auf PopSugar habe ich gelesen, dass mir zum Beispiel Schwarz nicht steht. Der Kontrast zu meiner Haut ist zu krass, und Schwarz betont meine Nase.«

Emilys Nase war nicht klein, aber auch nicht riesig; sie war lang, markant, dennoch nicht besonders auffällig, es sei denn, Emily machte ihr Gegenüber darauf aufmerksam. Bei einem ihrer ersten Dates hatte sie das Thema angesprochen und sich leise beklagt, sie könne es nicht mehr hören, wenn Freunde ihren Eltern sagten, sie sähe aus wie die junge Barbra Streisand. David hatte leider nicht angemessen reagiert, mit ungläubigem Staunen und einem empörten: »Wie kann man nur so etwas behaupten? Du siehst zehnmal besser aus!« Stattdessen hatte er nur genickt, was sie ihm seitdem ständig vorhielt.

Als sie den Kopf zur Seite drehte, fielen ihre Haare über die Schultern, und die zuckerrosa Träger des Sommerkleids lagen frei. David wusste nicht, wie solche Kleider hießen. Erst kürzlich hatte er irgendwo den Ausdruck Bodycon gelesen, aber bislang nicht verstanden, was genau damit gemeint war oder ob er auf dieses Kleid passte. Er streckte die Hand nach Emily aus, um ihr zum Spaß in den Po zu kneifen, bekam aber nur aufgeplusterten Stoff zu fassen. Lachend wandte sie sich ihm zu.

»Ich liebe dich wahnsinnig, Sweetie.« Sie schlang die Arme um seinen Hals und küsste ihn auf die Wange.

»Eigentlich brauchst du kein Kleid für die Fahrt zum Flughafen zu tragen. Es wird der gleiche Ablauf wie in Las Vegas. Und diesmal kaufen wir unterwegs keine Leggings, weil du mal wieder nur Miniröcke dabeihast.«

»Du bist doch deswegen nicht mehr wütend, oder?«

»Ich war schon damals nicht wütend. Du sollst es bequem haben während des Flugs und nicht jammern.«

»Das will ich auch. Aber in dieser Woche kommt es auf jedes Outfit an.« Zur Betonung riss sie die Augen weit auf.

»Zieh dich auf dem Junggesellinnenabschied bloß nicht zu sexy an, okay? Vertrau mir, ich kenne mich mit Männern aus. Denen ist es egal, ob du deinen Junggesellinnenabschied feierst oder nicht, die baggern trotzdem.«

»Ich würde in Laurens Gegenwart sowieso kein sexy Outfit tragen. Um ihrer üblichen Kritik zu entgehen, bräuchte ich androgyne Kleidung, ein Cape oder so.« Emily löste die Umarmung und tat mit weit ausholender Geste so, als würde sie sich einen riesigen Kapuzenumhang umwerfen.

David lachte. »Ich verstehe nicht, warum du sie für zickig hältst. Zu mir ist sie immer nett.«

»Du bist ja auch nicht ihre Schwester. Du solltest mal hören, was sie hinter deinem Rücken über dich sagt.«

»Was denn?«

Sie hielt inne. »Sie denkt, du seist langweilig und würdest versuchen, deine Einfältigkeit durch hegemoniale Männlichkeit auszugleichen. Natürlich teile ich ihre Meinung nicht. Aber als sie herausfand, dass du auf der Highschool Basketball gespielt hast, schickte sie mir lauter Artikel über sexuelle Gewalt im Schulsport.«

»Was um Himmels willen bedeutet hegemoniale Männlichkeit?«

»Ich hatte ganz vergessen, dass du ja kein nutzloses Fach studiert hast, im Gegensatz zu mir. Ich will es mal so ausdrücken: Sie ist seit zehn Jahren mit einem arbeitslosen Holzfällertyp verheiratet, der ein Tattoo am Hals hat. Wenn sie dich also nicht mag, ist das wahrscheinlich ein gutes Zeichen.«

»Aber ich möchte doch, dass deine Familie mich mag.«

»Der Rest mag dich doch auch!«

»Ja, stimmt.« Er bückte sich, um den Reißverschluss an dem klaffenden Kofferdeckel zu schließen, wobei ihm der Gedanke kam, Emily könnte es ihm so auslegen, als würde er ihr den Rücken zukehren.

»Bist du jetzt eingeschnappt? Ich hätte nichts sagen sollen. Ich wusste, dass diese Woche noch irgendwas Schlimmes passiert. Warum mache ich das bloß? Jetzt sind wir die ganze Zeit wütend aufeinander.«

»Ich bin nicht im Geringsten … Ich komme mir nur irgendwie komisch vor, wenn ich ihr jetzt begegne.«

»Es ist immer irgendwie komisch, wenn man sie sieht. Ich kann mich nicht erinnern, dass es jemals anders war. Sie ist eine riesige Nervensäge.«

»Riesig, allerdings.«

»Wie gemein!« Sie lachte. »Vergiss es lieber gleich. Wenn Lauren dich vorher schon nicht gemocht hat, dann fällst du mit jedem Kommentar zu ihrem Gewicht in die gleiche Kategorie wie der Kerl, der sie vor vier Jahren im Panera zufällig mit Sir angesprochen hat.«

»Wer war das?«

»Weiß keiner. Aber sie hat sechs Blogposts dazu geschrieben.«

Emily

Kaum am Flughafen angekommen, bereute sie bereits, dass sie sich für das Sommerkleid entschieden hatte. So viele Frauen auf Flughäfen waren schick angezogen, warum konnte sie nicht auch zu denen gehören? Sie sah eine eins achtzig große Latina in Lederleggings und schlichtem schwarzem Blazer, deren mit Colorsträhnen durchzogenen Korkenzieherlocken bis weit über die Schultern reichten. Sie stand am Ticketschalter, hatte an Gepäck nur einen schmalen schwarzen Rollkoffer, ohne die übliche schwere Laptoptasche, die große, überteuerte Wasserflasche oder irgendeine der anderen sperrigen Sachen, die Emily immer auf Flughäfen mit sich herumschleppte. Ein paar Meter weiter, am Ende der Schlange vor der Sicherheitskontrolle, entdeckte sie ein Mädchen im College-Alter in einem schlabbrigen bauchfreien Top, hoch taillierten Jeansshorts und Chunky Sneakers, das Selfies machte. Auch sie sah perfekt aus. Warum fiel Emily das so schwer? Stunden konnte sie damit zubringen, sich zurechtzumachen, und trotzdem fühlte sie sich minderwertig gegenüber anderen Frauen. Sie fror jetzt schon, ihre Beine waren mit einer Gänsehaut überzogen, und als sie an sich heruntersah, stellte sie fest, dass sie besser einen BH angezogen hätte; ihre Brustwarzen drückten gegen den dünnen Baumwollstoff ihres Kleids.

»Mit der Flasche NaturBuzz lassen sie dich nicht durch die Sicherheitskontrolle«, sagte David.

»Stimmt. Dann sollten wir sie jetzt gleich leeren. Ist es schädlich, alles auf einmal zu trinken, wenn man vorher keinen Sport gemacht hat?«

»Glaube ich nicht. Besser trinken als wegschütten.«

»Sir.« Eine Angestellte der Transportsicherheitsbehörde kam auf sie zu; klein, untersetzt, die blonden Haare zu einem prallen Knoten hochgesteckt, als wäre sie im Einsatz im Irak und nicht an der Abfertigung am San Francisco International Airport. »Entfernen Sie Ihre Flasche umgehend aus diesem Bereich.«

»Kann ich sie vorher noch austrinken? Wir haben uns ja noch gar nicht in die Schlange eingereiht.«

»Wenn ich Sie sehe, stehen Sie an.«

»Hm … Okay.« Er reichte Emily die Flasche. Sie las das Etikett: »Weißer Granatapfel und Kaffirlimette«. Lieber hätte sie das Getränk in kleinen Schlucken genossen, statt es neben der Schlange für die Sicherheitskontrolle hastig in sich hineinzuschütten. Neun Dollar kostbarer NaturBuzz für die Tonne, und nicht ein Gramm trug zum Muskelaufbau bei, alles plätscherte am Ende als Urin in die Flugzeugtoilette.

»Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit, Ma’am«, sagte die Angestellte.

»Bitte, nein! Nennen Sie mich nicht Ma’am«, sagte Emily halb im Scherz. »Da komme ich mir so alt vor. Ich trinke die Flasche jetzt aus, okay?« Sie rechnete schon mit einem frechen »Alles klar, Sister!« von der Sicherheitslady, erntete aber nur einen stahlharten Blick und trotzig vor der Brust verschränkte Arme. Emily schraubte den Deckel ab und trank die halbe Flasche in einem Zug, übergab sie dann David, der sie leer machte.

»Na endlich. Danke«, sagte die Lady.

Als sie sich vor dem Sicherheitscheck anstellten, packte Emily erneut Angst, und sie musterte die anderen Leute in der Schlange. Sie spürte ein vertrautes Flattern in der Brust und ein Rumoren im Magen. Ein rothaariger Mann im Anzug entledigte sich für die Kontrolle seiner Wingtip-Schuhe. Emily drehte sich zu David.

»Er könnte uns jetzt alle auf der Stelle töten. Es wäre zu spät, niemand könnte ihn mehr aufhalten. Boah! Deswegen hasse ich Flughäfen. Jeder ist verdächtig.« Vielleicht gab es hier deswegen so viele hübsche Frauen, um die Aufmerksamkeit von den Terroristen in der Schlange abzulenken. Genial.

»In deinen Augen ist jeder Mensch verdächtig«, sagte David. »Du rufst ja sogar die Polizei, nur weil der Handwerker ›draußen rumsitzt‹.«

»Erstens bin ich immer noch nicht davon überzeugt, dass Chan nichts Böses vorhatte. Und zweitens könnte es durchaus sein, dass uns der Typ in der Schlange töten will, und bis jemand in der Lage wäre, ihn aufzuhalten, hätte es längst Opfer gegeben. Vorausgesetzt, er hat nur eine Waffe dabei und keine Bombe. David, ich kann nicht mehr.«

»Der Mann hat überhaupt nichts dabei.«

»Ach, wirklich? Hast du seine Kleidung untersucht?

Woher willst du wissen, dass er keine Waffe trägt? Man darf auf Flughäfen nicht blind jedem Menschen vertrauen.«

»Emily! Er ist ja nicht mal …«

»Wenn du meinst, er sei nicht einmal aus dem Nahen Osten, dann sage ich dir: Das ist es ja gerade! Sie schleusen völlig unverdächtige Leute bei uns ein. Und wie du weißt, rufe ich auch bei Weißen die Polizei. Da mache ich keinen Unterschied. Erinnerst du dich an den Mann, der an der St.-Patrick’s-Parade teilgenommen hat? Ich verdächtige jeden gleichermaßen. Und dieser Mann hier sieht exakt aus wie ein Terrorist, der nicht wie ein Terrorist aussehen will. Er hat nicht mal Handgepäck dabei, nur einen Rucksack. Auf in den Dschihad.«

»Wahrscheinlich fliegt er geschäftlich nach New York.«

»Du gehst davon aus, dass jeder Mensch friedfertige Absichten hat, oder? Dass in dieser Schlange nicht wenigstens zwei Terroristen für einen Anschlag trainieren? 9/11 war für dich dann wohl auch nur eine Erfindung von Photoshop. Jetzt sag mir nicht, dass du zu den Leuten gehörst, die entsprechende Kommentare auf YouTube schreiben.«

»Das machst du doch schon zur Genüge. Glaubst du wirklich, dass es in dieser Schlange Terroristen gibt?«

Offenbar fand er das auch noch witzig. Ihr Therapeut nannte das »mit seiner Pathologie protzen«. Manchmal waren ihre Angsttiraden absichtlich komödiantisch, und wenn sie nur dazu dienten, Spannung abzubauen. Verhielt sie sich glaubhaft verrückt, war das ein Problem; trug sie dagegen so dick auf, dass sie später sagen konnte, sie habe nur Spaß gemacht, war das ein Ausweg für sie. Sie wusste, dass David ihre Ängste stressig fand, doch das war ihr im Moment egal. Mit den peinlichen Folgen, sobald sich nach der Landung ihre Ängste als unbegründet erwiesen, würde sie schon klarkommen. Lieber sich irren und am Ende wie ein Idiot dastehen als recht behalten und durch einen Terroranschlag getötet werden. Das Leben musste jeden Tag aufs Neue erobert werden. Der Tod gewann nur einmal.

»Ich will damit nur sagen, dass sich in dieser Schlange ein Terrorist befinden könnte«, erklärte sie. »Es wäre so einfach. Sieh dir nur den Mann da vorn an.« Sie zeigte auf einen jungen weißen Hipster mit einem zotteligen braunen Bart und Melone, der einen Geigenkasten trug.

»Also gut«, sagte David mit gedämpfter Stimme. »Ich lasse mich zur Abwechslung auf dein Spiel ein. Wenn du einen Anschlag planen wolltest, wie würdest du vorgehen?«

»Das weiß ich nicht. Ich müsste ein paar Terroristen anrufen und sie fragen, was es für Möglichkeiten gibt. Aber es ist bestimmt nicht kompliziert. Das letzte Mal hatte ich eine große Flasche Haarspülung eingepackt, und die Security hat mich nicht herausgeholt.«

Er massierte ihr die Schultern, während sie langsam zum Körperscanner vorrückten. »Du bist ziemlich nervös wegen der bevorstehenden Woche, ja?«, flüsterte er ihr ins Ohr. Sein Zweitagebart kitzelte sie am Hals, und sie lachte. Die Schultermassage tat gut. Sie wünschte, sie könnte diesen Moment für die Ewigkeit festhalten, sein Gesicht an ihrem Hals vergraben, seine Hände auf ihren Schultern. Sie würde sich immer geborgen fühlen – außer bei einem Aneurysma.

»Ja. Meine Mutter ist der reinste Albtraum, aber das ist nicht der Grund. Ich habe Angst, die Maschine könnte in der Luft explodieren. Das sind zwei verschiedene Dinge, Liebling.«

»Deine Mutter wird ganz brav sein. Und sprich auf einem Flughafen nicht von explodierenden Maschinen. Sonst flippst du noch aus wegen deiner Angst vor Terroristen, und du bist die Erste, die verhaftet wird. Es sähe dir ähnlich, vor deiner Hochzeit wegen terroristischer Bedrohung inhaftiert zu werden statt vorher von einem Terroristen getötet.«

»Wenn ich danach gehe, wie lasch sie den Mann da drüben gerade kontrollieren, werden sie mich schon nicht herauswinken. Obwohl sie das sollten. Woher wollen sie wissen, dass ich keine Terroristin bin? Woran wollen sie einen echten Terroristen erkennen, wenn ihnen nicht mal so eine ganz normale Verrückte wie ich auffällt?« Sie zwang sich zu einem Lachen. Danach fühlte sie sich meistens besser. Ihre Lehrerin in der vierten Klasse hatte ihr beigebracht, sich einfach einzureden, sie sei glücklich, dann würde eine chemische Reaktion im Gehirn sie dazu verleiten, tatsächlich Glück zu empfinden. Emily hatte daran geglaubt und immer, auch bei der leisesten Angst, wie eine Debile gelacht. Die Lehrerin hatte ihr das geraten, damit sie etwas geselliger wurde, im Endeffekt war sie wie ein grinsender Freak durch die Gegend gelaufen. In der weiterführenden Schule hatte sie das Dauerlächeln etwas abgemildert, nachdem ihr jemand einen Zettel mit dem Bild eines Jokers ins Schließfach gesteckt hatte. Aber noch als Erwachsene behielt sie diese Gewohnheit bei, in leicht veränderter Version. David begrüßte ihre sporadischen Versuche, sich normal zu verhalten, und nicht selten hätte sie ihm gerne vorgehalten, er könne froh sein, dass sich die Ängste seiner zukünftigen Frau nicht grundsätzlich um eheliche Belange drehten, von wegen Bedenken und kalte Füße, sondern um Bomben und Ebola, ach was, um Ebolabomben! Wenn es die nicht schon längst gab!

»Auf unserer Hochzeitsreise wirst du dich nicht so verrückt aufführen, oder?«, sagte er mit einem leichten Zögern bei dem Wort verrückt, da er es liebevoll-ironisch meinte. Ihm war aber auch klar, dass es gemein klang.

»Ich war schon immer verrückt. Das weiß ich, seit ich vier bin. Kannst dich bei meiner Mutter bedanken.«

»Deine Mutter hat dich bestimmt nicht für verrückt erklärt.«

»Nein, das nicht. Sie hat gesagt, ich sei geisteskrank. Allen Leuten hat sie es bei jeder sich bietenden Gelegenheit mitgeteilt, weil es sie zu einer Heiligen machte, da sie es ja mit mir aushielt. So ist das heute immer noch. Und ich kann ihr nicht mal widersprechen, weil ich dann nicht besser dastehe. Es wäre alles viel einfacher, wenn ich in Ruhe basteln könnte. Das bringt mich immer runter.«

Sie gehörte zu den ersten Pinterest-Nutzern und war eine eifrige Bastlerin in ihrer Freizeit. Das reichte von Kissenbezügen ohne Naht über bestickte Taschentücher bis zu ominösen und sinnlosen Glitzerkugeln, die sie unbedingt verwenden würde, sollte sie jemals eine Weihnachtsparty schmeißen. Stundenlang studierte sie die Pinterest-Seiten ihrer Lieblingsbloggerinnen. Die Frauen mit ihren Erdbeerlippen und geschwungenen Lidstrichen sahen stets makellos und perfekt aus, so wie ihre weißen, von natürlichem Sonnenlicht durchfluteten Küchen mit den unbenutzten, von der Decke hängenden blanken Kupfertöpfen. Beim Backen verirrte sich niemals ein Stäubchen Mehl auf dem Küchentresen, und beim Basteln machten sie sich nie die manikürten Finger mit Klebstoff schmutzig. Was waren das für Frauen? Emilys Basteleien gerieten jedes Mal chaotisch, und selbst wenn sie gelungen schienen, waren sie nutzlos, so wie die Glitzerkugeln. David sprach sie liebenswürdigerweise nie darauf an, aber sie spürte, dass er sich darüber amüsierte, jedes Mal, wenn er mit den Fingern über die Kugeln strich, die noch immer auf dem Küchentresen lagen.

Manchmal befürchtete sie, unerträglich zu sein – unorganisiert, unkonzentriert, nervös, eine Glitzerspur hinterlassend, die niemand aufzuwischen verstand. Andererseits kannte sie viele Frauen, die noch schlimmer waren. Kathleen, ihre frühere Freundin vom College, hatte ihren Verlobten während ihrer Junggesellinnenparty mit einem studiogebräunten Club-Promoter namens TJ betrogen und sich nicht mal geschämt, weil das, wie sie meinte, zum Selbstfindungsprozess dazugehöre. Eine ihrer Cousinen hatte einen typischen Long-Island-Akzent und sprach von ihrem Mann wiederholt nur als »der Idiot«, als wäre der Spitzname besonders witzig und frech und nicht einfach nur beleidigend. Emily hätte faul, materialistisch, fordernd, ein Männerschreck, altjüngferlich, abweisend oder kalt sein können – sie war es nicht. Bei all ihren Defiziten war sie kontaktfreudig, eine Liebende, die sich David sexuell niemals verweigerte, selbst das eine Mal nicht, als sie eine Darmgrippe hatte. Das zeichnete sie aus, und sie hätte es gerne mit anderen geteilt.

Nicht im Traum würde sie sich bei endlosen Mimosa-Cocktails und Chips mit »den Mädels« über David lustig machen oder sich im Spaß darüber auslassen, dass sie sich schlafend stellen würde, um Sex mit ihm zu vermeiden. Im Gegensatz zu anderen Frauen, deren Sicht auf ihre Männer sie kannte, liebte sie David wegen, nicht trotz seiner Mängel. An seinem Gesicht liebte sie besonders die etwas groß geratenen Ohren. Sollte er über Nacht reich werden – was mit jedem Monat, den er bei Zoogli arbeitete, wahrscheinlicher wurde –, würde sie auch weiter die kleinen Dinge an ihm lieben, die albernen, komischen Dinge. Andere Frauen würden versuchen, ihn zu verführen, hätte er Geld, davon konnte sie ausgehen. Aber nie würden sie ihn wegen seiner lustigen Lauscher lieben, nie würde ihnen bei seinem inbrünstig schief gesungenen »Smells Like Teen Spirit« unter der Dusche das Herz aufgehen. Das war ihm hoffentlich klar. Männer behaupteten immer, sie würden Frauen um ihrer selbst lieben wollen, nicht wegen ihres Geldes, dabei bekamen reiche Männer scheinbar doch stets die Frauen ab, die hinter ihrem Geld her waren. Sie wollte gerne an Davids Treue glauben, aber warum sollte er auch nur ein bisschen vertrauenswürdiger sein als die anderen zukünftigen Silicon-Valley-Milliardäre, die ihre treuen Ehefrauen wegen russischer Mannequins verließen?

Und falls David doch nicht reich werden sollte, gab es etwas anderes, was ihr Sorgen machte: das Alter. Sie war achtundzwanzig, ging mit Riesenschritten auf das vierte Lebensjahrzehnt zu, das für sie lange Zeit den Anfang des Niedergangs einer Frau in ihre neue Identität als sexloser Saugroboter markierte. David dagegen sah mit seinen achtundzwanzig Jahren besser aus als je zuvor. Knapp eins achtzig groß, volles kastanienbraunes Haar und das Gesicht eines amerikanischen Lacrossespielers, ohne die typische Überheblichkeit. Er war der Mann, von dem sie als kleines Mädchen immer geträumt hatte – nur hatte sie ihn sich damals, in den Neunzigerjahren, mit Wuschelkopf, Mittelscheitel und Muschelhalskette vorgestellt. Sie fand, dass David besser aussah als jeder andere Mann, was nach den ungläubigen Blicken ihrer Freundinnen zu urteilen offensichtlich auch stimmte. Zumindest dann, wenn sie von ihm als »außerhalb meiner Liga« sprach. Mochten die Freundinnen ihr auch noch so sehr versichern, sie und David seien beide gleichermaßen attraktiv – abkaufen tat sie es ihnen nicht. David war groß und fit, was sich bei Männern ein Leben lang halten konnte. Bei Frauen hielt sich dieser Zustand nur wenige Jahre, bis die Östrogenproduktion nachließ und sie zu Madonna-Lookalikes mutierten, mit Krampfadern, schlaffer Haut auf konservierten Bauchmuskeln und Brüsten wie zwei halb volle, in zerknitterte fleischfarbene Papierservietten eingewickelte Wasserballons. Sie konnte aber auch zunehmen, konnte das ausgemergelte Gesicht der mittleren Lebensjahre verhindern, sähe womöglich am Ende aus wie die pausbäckige, kuchenbackende Frau von Santa Claus und trüge Push-up-BHs und Formwäsche. Es wäre nicht gerade sexy, aber wenigstens hätte sie dann nicht den angestrengten Brathähnchenlook all der Frauen aus den Real-Housewives-Serien. Ihr Therapeut meinte, diese Befürchtung entspringe ihrer Dysmorphophobie, aber sie wusste, dass er das nur aus Freundlichkeit sagte.

Eines Tages – vielleicht nicht heute, vielleicht nicht einmal in zehn Jahren – würde David sie anschauen, dann würde er sich anschauen, und er würde zu dem Schluss gelangen, dass er was Besseres verdient hatte. Heute war er noch viel zu verliebt, um sich das einzugestehen, doch früher oder später, wenn er die mittleren Jahre erreicht hatte, würde es unweigerlich passieren. Deshalb musste sie wachsam sein. Plastische Chirurgie kam nicht in Frage, wegen ihrer Angst vor wirkungsloser Narkose, die zu Lähmung führen konnte – einer Frau in Kentucky war das widerfahren, die Geschichte kursierte im Netz –, aber es gab andere Mittel. Ihr Fitnessprogramm war intensiv. Auf dem College hatte sie nur hin und wieder nach einem Tanzvideo ein Workout absolviert, sich seitdem aber stetig weiterentwickelt. Darius, ihr Fitnesslehrer bei LifeSpin, hatte sie bei ihrem StrenghtFlex-Test auf Level 4 eingestuft. Ihr neues LifeSpin-Programm umfasste jetzt leichtes Gewichtheben, Yoga, Pilates und NaturBuzz-Hydrierung. Unter der Dusche, während sie die Haarspülung einwirken ließ, machte sie Kniebeugen, ihr Ziel war der perfekte Photoshop-Po.

Im Flugzeug zog sie sich schwarze Kompressionsstrümpfe an. Sie sahen affig aus zu ihrem Kleid, aber ihre Maxime »Gesundheit geht vor Schönheit« verlangte Opfer. Wenn es etwas gab, um das sie sich mehr Sorgen machte als um ihr nachlassendes Äußeres, dann war es ihre Gesundheit. Erst neulich hatte sie einen Artikel von Dr. Oz über den heimtückischen Killer tiefe Venenthrombose gelesen. Anscheinend gab es viel zu viele heimtückische Killer, und nicht alle hatten diesen Namen verdient, doch tiefe Venenthrombose und ihre aggressive Schwester, die Lungenembolie, beherrschten ihr Metier verdammt gut. Sie konnten jeden Menschen treffen, jederzeit, und eines der Symptome war: das Ausbleiben von Symptomen. Allein bei dem Gedanken schauderte ihr.

»Willst du Musik hören?«, fragte David und gab ihr ein Paar weiße Kopfhörer, deren Stöpsel vom Ohrenschmalz orange verfärbt waren. Bei jedem anderen hätte sie sich davor geekelt, bei David nicht. Vielleicht war das etwas, das sie in ihr Eheversprechen integrieren konnte.

»Ich habe eine Benadryl geschluckt, kurz bevor wir das Flugzeug bestiegen haben. Wahrscheinlich schlafe ich gleich.«

»Ich würde gerne im Flugzeug schlafen können. Ich bekomme immer einen steifen Nacken, und sobald es Turbulenzen gibt, wache ich auf. Ich verstehe nicht, wie du so ängstlich sein und gleichzeitig ohne Weiteres in der Öffentlichkeit schlafen kannst.«

Sie lachte. »Das war ein Kompliment, oder? Du solltest dennoch versuchen, ein wenig zu schlafen. Nach unserer Ankunft brauchen wir Energie. Man wird uns mit Fragen bombardieren, über alles Mögliche, die Arbeit und andere Dinge. Und Lust, sie zu beantworten, werden wir auch nicht haben. Das kann sehr ermüdend sein.«

»Ich spreche aber nicht gerne über meine Arbeit.«

»Sag ich ja. Ich auch nicht. Ich will mich nur über Sachen unterhalten, die mir Spaß machen.«

»Zum Beispiel Parasiten?«

Sie sah ihn empört an. »Die machen aber keinen Spaß.«

»Du bist süß.«

»Willst du Sex auf der Toilette?«, fragte sie plötzlich ungeniert. Manchmal schleuderte sie unvermittelt solche Angebote heraus. David war viel zu prüde, um darauf einzugehen, aber sie gaben ihr einen gewissen perversen Zug, sodass sie gleichzeitig in die Rolle der Geliebten und der treusorgenden Ehefrau schlüpfen konnte. Wenn sie ihm viel Sex bot, hätte er nicht mehr genug Ausdauer für die zahlreichen Geliebten übrig, die ihn in ihrer Fantasie umschwirrten und nur darauf warteten zuzuschlagen, sobald sie dreißig wurde. Manchmal konnte sie schwören, das Platzen ihrer Kaugummiblasen und das Knistern ihrer Haare im Lockenstab zu hören, wenn sie neben ihm eine Straße entlangging.

»Sex auf der Toilette ist sicher verboten, aber du kannst mir unter meiner Decke einen runterholen.« Bestimmt war das nur ein Scherz, aber er hatte tatsächlich eine von den Fleecedecken auf dem Schoß, die die Flugbegleiter ausgegeben hatten. Vielleicht meinte er es doch ernst.

»Und ich? Soll ich leer ausgehen … unter meiner Decke?« Sex mit einem Mann auf der Flugzeugtoilette war sexy, Pan Am, Mad Men-Zeug. Seinem Sitznachbar unter der Fleecedecke eine Handentspannung zukommen zu lassen, während sich alle How I Met Your Mother ansahen, war einfach nur öde. Aber falls David unbedingt wollte und sie nein sagen würde, würde er denken, sie sei kalt und berechnend.

»Fingerficken erfordert mehr Geschick«, sagte er. »Aber du musst mir keinen runterholen. Ich dachte nur …« Er lächelte verführerisch.

»War nur ein Joke. Ich hole dir einen runter.«

»Wie jetzt? Im Ernst? Ich habe auch nur Spaß gemacht.«

»Wieso nur Spaß? Verstehe ich nicht. Solche Dinge tun die Leute ständig.«

»Du auch?«

»Nein. Aber viele Leute haben Sex im Flugzeug.« Er wollte nichts weiter davon hören, ihre früheren sexuellen Erfahrungen konnte sie für sich behalten, obwohl sie bei ihrem ersten Date mit David fünfundzwanzig gewesen war und schon vor ihm Beziehungen gehabt hatte. Allerdings keine One-Night-Stands, dafür hatte sie viel zu viel Angst vor antibiotikaresistenten Chlamydien. Die Zahl seiner eigenen Kontakte hatte er nie preisgegeben, woraus sie schloss, dass sie entweder beschämend niedrig oder beschämend hoch war.

»Okay, ein Handjob ist akzeptiert, aber erst nach den Sicherheitshinweisen.«

»Wie gnädig. Ich habe nicht darum gebettelt. Es war nur ein Angebot.«

»Hey, kann ich nun nach den Sicherheitshinweisen eine Handentspannung bekommen?«

Eine stramme blonde Flugbegleiterin schaute sich ihre Sitzreihe an und legte einen Arm um Davids Schoß, um zu prüfen, ob sein Gurt auch richtig gespannt war. Dabei spitzte sie ihre Lippen, die in einem Malventon angemalt waren.

»Sir, legen Sie in Zukunft bitte keine Decke auf den Schoß, bevor wir die Gurte überprüft haben«, sagte sie auf eine Art, die sowohl unnötig freundlich als auch unnötig grob war.

»Oh Entschuldigung.«

»Ma’am?« Die Flugbegleiterin wandte sich jetzt an Emily, und Emily sah, dass ihre Decke ebenfalls den Sicherheitsgurt verdeckte. Sie hob sie an und zeigte der Stewardess, dass sie angeschnallt war. Nicht dass es irgendetwas geändert hätte, wenn Terroristen an Bord waren. Warum wurden die Sicherheitsgurte überhaupt überprüft? Lieber sollten die Flugbegleiter die Gänge abgehen und Augenkontakt zu allen Passagieren herstellen, nach versteckten Anzeichen von Nervosität Ausschau halten, so wie es in Israel gemacht wird, wie sie mal gehört hatte. Warum lebte sie nicht in Israel? Ihre Cousine Rebecca war 2007 mit der Organisation Birthright nach Israel geflogen und hatte sich später darüber ausgelassen, dass die ständige Polizeipräsenz »die Erfahrung ruiniert« habe. Rebecca war ein schlichter Geist, denn es war die Polizei, die solche Erfahrung überhaupt erst möglich machte. Wenn Emily in Israel lebte, würde sie sich vielleicht sicherer fühlen, aber natürlich gäbe es ganz allgemein viel mehr bedrohliche Situationen, und sie konnte nicht abschätzen, ob die Polizei dem Anstieg der Bedrohungen gewachsen war.

»Danke«, sagte die Stewardess.

»Ich habe noch eine Frage«, sagte Emily.

»Ja, Ma’am?«

»Haben Sie Ma’am zu mir gesagt, weil Sie glauben, ich sei alt, oder sagen Sie das zu allen Frauen über achtzehn?«

Sie legte den Kopf schief. »Das verwirrt mich jetzt etwas. Möchten Sie lieber anders angesprochen werden?«

»Das ist mir in diesem Fall eigentlich egal, denn ich werde nach dem Flug nicht weiter mit Ihnen zu tun haben. Ich will nur wissen, welche Überlegung Sie angestellt haben, als Sie mich ansahen. Eventuell haben Sie gedacht: Sie ist eine Ma’am.« Aus den Augenwinkeln nahm sie wahr, wie David förmlich im Sitzpolster versank.

»Sie sind eine erwachsene Frau, deshalb sagen wir Ma’am, aus Höflichkeit.«

»Es ist nicht wirklich höflich. Sicher, Sie wollten nicht bewusst grob zu mir sein, aber wenn ich Ma’am höre, höre ich da wenig Respekt heraus. Ich denke, ich habe Krähenfüße, graue Haare und die vierzig überschritten.«

»Wie alt sind Sie denn?«

»Die Frage muss lauten: Für wie alt haben Sie mich geschätzt?«

»Ich weiß nicht. Zweiunddreißig?«

»Sehen Sie: Sie runden ab, um mich nicht zu kränken. Wahrscheinlich meinten Sie fünfunddreißig oder noch älter. Vielen Dank auch. Ich bin achtundzwanzig.«

Die Flugbegleiterin schien noch etwas erwidern zu wollen, besann sich dann aber eines Besseren und widmete sich anderen Passagieren.

»Was ist bloß los mit dir?«, fragte David. »Die Frau muss dich doch für eine Durchgeknallte halten. Warum machst du das? Hör auf, ständig gleich auszurasten. Hiermit bestätige ich dir zum allerletzten Mal: Du siehst keinen Tag älter aus, als du bist.«

»Das sagst du nur, um mir zu schmeicheln, was ich durchaus zu schätzen weiß, glaub mir. Alle Welt findet, dass ich älter aussehe, als ich bin. Aber hierbei geht es nicht nur um meine Angst. Du kannst vieles meiner Angst zuschreiben, das jedoch nicht. Alle sind mit mir einer Meinung. Nur du nicht.«

Emily sehnte sich zurück nach der Zeit, als »Ich dachte, du bist viel älter« noch als Kompliment galt. Es war toll, als sie mit neun unbedingt erwachsen aussehen wollte, ganz nützlich mit achtzehn, als sie versuchte, Alkohol zu kaufen, etwas lästig mit dreiundzwanzig, und jetzt, mit achtundzwanzig, war es die reine Katastrophe. Das Schlimmste war, dass es anscheinend keiner nachempfinden konnte. Selbst Leute, die in ihren Augen grauenvoll für ihr Alter aussahen, tischten ihr mit Vorliebe Geschichten auf, wie sie an der Kinokasse für Kleinkinder gehalten wurden, obwohl der Film erst ab achtzehn freigegeben war.

David schüttelte den Kopf. »Das darfst du nicht persönlich nehmen. Viele Leute können schlecht einschätzen, wie alt jemand ist. Erst neulich hat mich ein Trainer bei LifeSpin gefragt, ob ich in Begleitung eines Elternteils da sei, man müsse nämlich achtzehn sein, um Mitglied zu werden.«

»Siehst du. Genau das meine ich. Jeder andere wird jünger geschätzt. Mir passiert das nie. Mir wurde sogar schon mal ein Jazzercise-Kurs angeboten. Gratis.«

»Meinst du vielleicht JazzSweat? Das ist nämlich nichts für ältere Menschen. Es ist sogar verdammt intensiv. Wenn man die ersten sechs Kurse ohne Schwächeanfall überstanden hat, bekommt man eine Portion Cashewmehl geschenkt.«

»Schön. Aber die Flugbegleiterin war trotzdem der Meinung, dass ich älter aussehe.«

»Nein. Und selbst wenn sie dich für zweiunddreißig gehalten hat – das ist doch praktisch kein Unterschied zu achtundzwanzig. Du regst dich wegen einer Winzigkeit auf. Selbst für deine Verhältnisse.«

»Okay. Ehrlich: Ich habe sie gefragt, weil mich ihr Ma’am zutiefst beleidigt hat. Aber das Gute ist: Jetzt denkt sie, ich sei nicht ganz richtig im Kopf, und so brauchen wir uns keine Sorgen zu machen, dass sie uns stören könnte, wenn ich gerade mitten bei der Handentspannung bin.«

»Willst du das wirklich tun?«

»Nach den Sicherheitshinweisen.«

Erster Tag

Emily

Irgendwann in ihrem Benadryl-Dusel war Emily kalt geworden, und sie hatte sich Davids hellgraue Sweatpants aus seinem Handgepäck geklaut und sie unter ihr Kleid angezogen. Als sie um sieben am nächsten Morgen auf dem FlughafenJFK landeten, war sie müde, es war ihr immer noch kalt, und sie hatte die Hose nicht ausgezogen.

»Hast du nicht gesagt, du müsstest diese Woche jeden Tag wie aus dem Ei gepellt aussehen, sonst wäre es peinlich?«, stichelte David.

»Jetzt nicht. Ich friere. Warum ist es in Flugzeugen auch immer so kalt? Und obendrein klimatisiert. Warum bieten sie statt Klimaanlagen keine individuellen Heizregler an? Ich weiß, warum: Weil sie Sadisten sind.«

»Wir fahren jetzt erst mal nach Hause zu deiner Mom. Wenn wir Lauren sehen, meinen größten Fan, wird es uns gleich wärmer ums Herz.«

»Bist du mir deswegen noch böse? Ich hätte nichts sagen sollen.«

»Nein, es war gut. Wenigstens muss ich jetzt nicht mehr so tun, als würde ich sie sympathisch finden.«

»Also hast du sie vorher nicht sympathisch gefunden?«

»Ich hatte nicht genug Umgang mit ihr gehabt, um mir eine Meinung zu bilden. Ich habe sie – wie oft? – einmal gesehen, damals in Brooklyn. Wir waren zum Mittagessen in einem Dim-Sum-Restaurant verabredet, wo es diese gegrillten Käse-Jiaozis gab.«

Emily wandte sich David zu. »Sag die Wahrheit: Gibt es noch jemanden in meiner Familie, den du nicht magst? Vielleicht treffen wir uns ja irgendwo.«

»Die Frage könnte ich dir auch stellen.«

»Ich mag deine Familie.«

»Okay, Gleiches gilt für mich.«

»Außer dass du sie nicht wirklich magst. Deine Familie ist tausendmal netter als meine.«

»Ja, meine Familie ist toll – auf den ersten Blick. Aber glaube mir, sie kann auch ganz schön nerven. Was ist mit meinem Bruder?«

»Na ja, ich meine hauptsächlich deinen Vater.«

»Glaub mir, der ist auch nicht perfekt.«

»Emily!«

Sie drehte sich um und sah eine junge Frau mit langen braunen Locken, einem breiten freundlichen Lachen und einem elastischen Gang, ähnlich wie bei einer Muppet-Figur, auf sich zukommen. Zuerst konnte Emily sie nicht zuordnen, dann kniff sie die Augen zusammen, um besser zu sehen. Schließlich erkannte sie sie an der ausgefransten, ausgebeulten Umhängetasche mit der Pseudoethnostickerei, Stephanie Morris, eine alte Freundin aus der Highschool. Sie hatte sie vor etlichen Jahren zuletzt gesehen, als sie zu Beginn des Studiums, während der Semesterferien, nach Hause gefahren war. Sie hatten sich in Chelsea auf einen Kaffee getroffen, hatten sich aber eigentlich nicht viel zu sagen gehabt. Stephanie erzählte von ihrem Faible für Stummfilme und ihrem Hass auf Designerklamotten. Früher hatten sie mehr miteinander geteilt, sie waren beide künstlerisch veranlagt, extrovertiert und lebhaft, doch seitdem sie auf dem Vassar College war, hatte Stephanie sich sehr verändert. Emily wusste es nicht aus erster Hand, dafür hatten sie zu wenig Zeit miteinander verbracht, sie konnte es nur anhand ihrer Posts in den sozialen Netzwerken vermuten. Wenn sie nicht über die Gefahr durch Impfungen postete, dann über die Heilungschancen von Krebs durch Meditation, oder sie meinte mitteilen zu müssen, eine Reise nach Bolivien, ohne große Vorbereitung oder Recherche, um dort für ein Jahr zu leben, sei für einen jungen Menschen heute das einzig Richtige. Nach ihrem Bachelor in Psychologie war sie als Backpackerin durch Europa getrampt und soll sich angeblich mit einer Horde reicher Hippies, die Travis oder Jared hießen, anderthalb Jahre in Hostelbetten herumgetrieben haben. Seit ihrer Rückkehr in die USA hatte sie es versäumt, sich nach einem Job umzuschauen. Das war sechs Jahre her. Solche wichtigen Erfahrungen, die ein Leben verändern konnten, waren natürlich leichter zu haben, wenn die Eltern die Miete zahlten und die Leidenschaft für Rauschpilze sponserten.

»Emily! Bist du es wirklich?«, kreischte sie. »Wie geht es dir? Warum hast du mir nicht gesagt, dass du wieder da bist?«

Emily sagte ihr nie Bescheid, wenn sie zu Hause bei den Eltern war – weil sie sich eben kaum noch kannten, geschweige denn sahen. Doch sobald Stephanie in den sozialen Netzwerken Wind davon bekam, dass Emily sich in New York aufhielt, rief sie an und wollte sich auf einen Kaffee in Brooklyn verabreden. Keine Sekunde dachte sie daran, dass Emilys Eltern in Westchester wohnten.

»Ach, ich war viel zu beschäftigt mit den Hochzeitsvorbereitungen.«

»Wann ist denn der große Tag?«, fragte sie, und ihre limettengrün geschminkten Augen weiteten sich. Außerdem hatte sie ein Nasenpiercing, das war neu.

»Ach … in einer Woche«, krächzte Emily.

»In einer Woche? Also wird es eine kleine Feier, nur ihr und eure Eltern?«

»Äh … nein, eigentlich nicht. Es kommen schon noch ein paar andere Leute.«

Emily konnte förmlich zuschauen, wie es Stephanie allmählich dämmerte, dass sie nicht eingeladen war. Vor acht Jahren, bei ihrem Treffen in Chelsea, hatte Stephanie ihr versprochen, auf ihrer Hochzeit eine supergeile Rede zu halten. Emily erschien das seltsam und leicht übergriffig, zumal sie damals noch Single war. Sie zerbrach sich den Kopf, was sie Stephanie Tröstliches sagen konnte – zum Beispiel, dass ihre Eltern die Anzahl ihrer einzuladenden Freunde auf fünf begrenzt haben. Natürlich war der eigentliche Grund, warum sie so wenige Freunde eingeladen hatte, die Tatsache, dass sie nur wenige Freunde hatte. Ihre Mutter hatte sie sogar dazu gedrängt, mehr Leute einzuladen, weil sie befürchtete, Emily könnte sich selbst schaden, indem sie »Leute verstieß«; es sei unglaubwürdig, dass eine Frau ihres Alters nur zwei enge Freundinnen besitze. Ganz bestimmt, so vermutete ihre Mutter, habe sie noch andere Freunde, die sie auf diese Weise absichtlich verprelle.

»Mir war nicht klar, dass du dabei sein wolltest«, sagte sie zu Stephanie. »Wir haben auch keine veganen Rohkostgerichte eingeplant. Du bist doch noch Rohkostveganer, oder?«

»Ja, aber es könnte trotzdem klappen! Im Moment faste ich sowieso. Nur auf Alkohol verzichte ich nicht. Ihr müsstet also gar nichts extra für mich vorbereiten. Ich würde auch meinen eigenen selbst gebrannten Whiskey mitbringen. Kann ich nicht trotzdem kommen?«

Emily suchte verzweifelt Davids Blick, doch sie wusste, dass sie sich dann nur ungläubig in die Augen schauen und zu lachen anfangen würden. So wie damals im 47er Bus nach Downtown San Francisco, als ein Mann mittleren Alters einstieg, der nur mit einer Clownsperücke und einem Ledergeschirr bekleidet war und dessen schlaffer, ledriger Penis wie eine sehr große Fleischwarze hin und her baumelte. Alle Fahrgäste gaben sich ungerührt, denn das war die angesagte San-Francisco-Reaktion auf Durchgeknallte wie ihn. Emily dagegen hatte den Fehler begangen, David einen zweideutigen Blick zuzuwerfen. David fing an zu lachen, dann lachte sie, und ehe sie sich’s versahen, brachte ihnen der nackte Clown ein Ständchen, eine überraschend gekonnte Darbietung von »Every Breath You Take«.

Emily lächelte gequält. »Äh … ich kann meine Eltern fragen, ob sie einverstanden sind, aber sie sind wirklich streng in der Sache. Schließlich bezahlen sie alles, das Budget ist knapp, ich muss mich nach ihnen richten.«

»Ich esse auch nichts, ich würde so gut wie gar nicht auffallen. Wann ist deine Hochzeit noch mal?«

»Kommenden Samstag.«

»Oh.« Stephanie senkte den Blick und betrachtete ihre Hände, als sähe sie sie zum ersten Mal. Sie zuckte mit den Achseln. »Samstag ist ein ungünstiger Tag für mich. Da will ich zu einem druidischen Freudenfeuer. Mist! Total blöde. Geht es nicht an einem anderen Tag?«

»Soll ich jetzt wegen dir meine Hochzeit verschieben?«

»Nein, natürlich nicht! Wo habe ich bloß meinen Kopf? Du hast sicher schon Auslagen für den schicken Catering-Service und so. Können wir uns nicht an einem anderen Tag treffen?«

»Wir plaudern das nächste Mal, wenn ich wieder in der Stadt bin. Definitiv«, sagte Emily, mit der festen Absicht, nicht vor Ablauf eines Jahres nach New York zurückzukehren. Für die Weihnachtszeit plante sie ohnehin, nicht nach Hause zu fahren, sondern mit David allein zu verreisen, dahin, wo es warm und friedlich war, wo sie einen Bikini und einen luftigen Baumwollkimono tragen konnte. Beide Elternpaare vor den Kopf zu stoßen schien einfacher als nur ein Elternpaar – so konnte man ihnen wenigstens keine Bevorzugung unterstellen. Letztes Jahr hatten sie das Fest mit Davids Eltern verbracht, weil sie im Jahr davor bei ihren gewesen waren. Ihre Eltern lebten in Westchester, seine in Fairfield, Connecticut, das ließ sich bequem in einer Tour miteinander verbinden. Aber welche Familie auch immer für die Fahrtkosten aufkam, schien tödlich beleidigt, wenn sie nur eine Sekunde bei der anderen Familie verbrachten. Das erfuhr Emily am eigenen Leib, als sie zu Weihnachten ihre Familie in Westchester besuchte und den Fehler beging, an einem der Feiertage zum Mittagessen zu Davids Familie zu fahren, worauf ihre Mutter die ganze übrige Woche lamentierte, Davids Eltern würden sie ihr wegnehmen und gezielt versuchen, die Restfamilie, die Emilys Eltern noch geblieben sei, zu zerstören. Diese Klage gipfelte in dem Vorwurf, Davids katholischer Vater würde darauf einwirken, sie zum Katholizismus zu bekehren, weil »es ihnen nicht reicht, dass wir Juden nur zwei Prozent der Bevölkerung ausmachen, sie wollen uns bei null Prozent«. Weihnachten, wie sehr hatte es sich für sie verändert – hatte sie früher, als Kind, die Zeit genossen, auf eine irgendwie knetfilmmäßig gemütliche, säkulare Art, so graute ihr heute davor.

»Wie wäre es mit Freitag?«, fragte Stephanie. »Hast du Lust, bei mir abzuhängen?«

»In deiner Wohnung in Brooklyn?«

»Ja, ganz entspannt. Nur eine Stunde chillen oder so.«

»Ich bin in Westchester, bei meinen Eltern. Außerdem ist Freitag das Probedinner. Das wird ein ziemlich stressiger Tag.«

»Ein Stündchen wirst du doch wohl Zeit für mich haben. Komm mich besuchen! Wir sehen uns kaum noch!« Schmollend schob sie die Unterlippe vor, wie ein Kind, das um ein Regenbogen-Eis bettelte.

»Ein Stündchen? Für mich sind das drei, vier Stunden, wenn man die Fahrten bedenkt.«

»Hab dich nicht so. Sei keine Spaßbremse. Wir rauchen ein bisschen Gras, trinken das selbst gebraute Bier meines Nachbarn und gucken uns Nosferatu an. Das fände ich toll.«

»Na gut. Mal sehen.« Sie drückte Davids Hand, als wollte sie ein Notsignal absenden, aber er hatte nicht die Absicht dazwischenzufunken.

»So machen wir es. Definitiv. Lieb von dir!« Sie versuchte, Emily loszuwerden. »Verdammt, mein Uber-Taxi ist da. Ich muss gehen.«

»Keine Sorge. Wir sehen uns noch.«

Emily wartete, bis Stephanie fort war, dann wandte sie sich David zu.

»Warum mag sie mich überhaupt? Was erscheint einem Menschen wie sie an mir liebenswert?«

»Versteh mich nicht falsch, aber ihr Interesse an dir ist für mich genauso rätselhaft wie für dich.«

»Sie verwendet ihr letztes Geld, um damit zum Burning-Man-Festival zu fahren. So eine ist sie. Was will sie von mir? Meine Organe?«

»Durchaus möglich«, sagte David grinsend. »Seitdem du auf Getreide verzichtest, ist dein Verdauungssystem wahrscheinlich top.«

Emily wurde ganz kribbelig, als sie ihren Vater Steven hinter dem Steuer des grauen Volvos sah, mit dem er sie vom Flughafen abholte. Der Anblick rief Erinnerungen an die Zeit wach, als ihr Vater versuchte, ihr das Fahren beizubringen, und jedes Mal, wenn das Auto schneller als fünf oder zehn Stundenkilometer fuhr, gleich »Aah!« und »Ooh!« schrie. Noch immer befürchtete sie, gleich die Fahrprüfung bei ihm ablegen zu müssen. In San Francisco benutzte jeder Mensch zum Glück ein Uber-Taxi.

Steven sah gealtert aus, obwohl er und Emilys Mutter, Marla, sie erst letztes Jahr in San Francisco besucht hatten. Er hatte an Gewicht zugelegt, was sich in der unteren Gesichtshälfte niederschlug, hatte weniger Haare, und der Bart war länger geworden, mit mehr Grautönen. Er war erst dreiundsechzig, also nicht wirklich alt, doch sie fühlte sich oft betrogen, wenn sie daran dachte, dass ihre älteren Geschwister am Ende mehr Jahre mit den Eltern verbracht haben würden als sie. Andererseits war er auch erst fünfunddreißig gewesen, als sie auf die Welt kam. Nach heutigem Standard galt fünfunddreißig nicht mehr als zu alt, um noch ein Kind zu kriegen. Verglichen mit dem, was manche Leute in San Francisco ausprobierten, erschien fünfunddreißig sogar blutjung. Emily träumte davon, ihr erstes Kind mit dreißig auf die Welt zu bringen, jetzt, mit Ende zwanzig, wäre ihr das wahnsinnig unreif vorgekommen. Leute, die vor ihrem dreißigsten Lebensjahr Eltern wurden, gehörten zu den Scharen von Menschen, die das Land zwischen New York und Kalifornien bevölkerten, die Gameshows guckten, die sich am Black Friday bei Walmart auf die Füße traten und in seliger Unwissenheit über die Gefahren von Gluten lebten. Ihr war klar, dass diese Sicht überheblich war, aber sie konnte nicht anders. Linda war schuld.

Emilys Chefin war eine überambitionierte blonde Amazone und der festen Überzeugung, dass sich zwei Menschen erst dann binden sollten, wenn sie vierzig waren und über ein Nettoeinkommen von je einer Million Dollar verfügten. Mindestens. Voller Stolz berichtete sie, dass sie mit siebenunddreißig in weiser Voraussicht ihre Eizellen habe einfrieren lassen, um sie im Alter von achtundvierzig, als sie ihren sechzigjährigen Ehemann kennenlernte, befruchten zu lassen. »Bei all dem technologischen Fortschritt in der heutigen Zeit«, sagte sie in ihrem aufgekratzten und harschen Ton, »brauchen Frauen nicht mehr zu heiraten. Meine kleine Harper heiratet nicht, bevor ich nicht tot bin. Das ist die Regel.« Dann lachte sie und fügte hinzu: »Nicht wörtlich zu nehmen, natürlich. Aber unter vierzig sollte sie nicht sein, sonst zahle ich nicht für die Hochzeit! Es sei denn, sie ist bereits eine Führungskraft auf C-Level. Sie ist talentiert, das wäre also nicht ganz abwegig.«

Immer wenn Emily daran dachte, wie schwierig ihre eigene Mutter war, fiel ihr die dreijährige Harper ein, die nur nicht kommerzielle Fernsehsender sehen und nicht mit Puppen oder anderen Dingen spielen durfte, die sie von einer beruflichen Laufbahn als Wissenschaftlerin oder Ingenieurin abbringen würden, in Lindas Verständnis die einzig akzeptablen Betätigungsfelder für eine Frau – dabei arbeitete sie selbst in der PR-Branche. Linda wollte auch nicht, dass Harper Make-up oder Rüschenkleidchen in Rosa trug, aber sie selbst ließ sich alle paar Wochen die Haarwurzeln färben, trug eng anliegende Etuikleider, die erstaunlich sexy an ihr aussahen, und ging nie ohne fuchsiafarbenen Lippenstift und mehrschichtig aufgetragene Wimperntusche aus dem Haus. Harper würde irgendwann anfangen, Fragen zu stellen, vor allem, wenn sie wirklich intelligent war, und das Ergebnis wäre nicht sehr schön. Emily erinnerte sich noch gut an Lindas kühle, schmallippige Reaktion, als sie ihr erzählte, am Union Square werde möglicherweise bald ein American Girl Store aufmachen, Harper würde sicher gerne dort hingehen. Die arme Harper war vom ersten Tag an ein wissenschaftliches Experiment, als spielte Linda das Computerspiel Die Sims nach und plante die Erschaffung der perfekten Sim-Figur – mit den richtigen Genen, den richtigen Fähigkeiten, den richtigen Interessen. Aber egal! Wer war schon Harper! Harper sah ihre Mutter nur zwei Stunden täglich, doch Emily musste mit Linda zusammenarbeiten und ihre ungebetenen pseudomütterlichen Ratschläge neun Stunden am Tag ertragen. Jedes Mal, wenn Linda den Mund aufmachte, um irgendeinen ihrer sinnlosen Sprüche abzulassen, meistens nach dem Motto: »Schick deinen Verlobten in die Wüste und konzentrier dich auf deine Karriere; und natürlich kannst du beides haben, nur nicht in deinen Zwanzigern«, verkrampfte sich alles in ihr, weil ihr klar wurde, dass sie buchstäblich mit jeder Sekunde, die sie mit ihr verbrachte, älter wurde. Emily verdiente weit mehr Mitgefühl als die blöde Harper. Harpers Haare waren sowieso von Natur aus blond, ihr würde die Welt zu Füßen liegen.

»Emily!«, rief ihr Vater, und sie lief zu ihm. Im feuchtheißen Juli von New York waren die Sweatpants viel zu warm, mal abgesehen davon, dass sie auch noch die Kompressionsstrümpfe trug. Manchmal dachte sie, dass sie für das Leben mit der Angst und die vielen Unannehmlichkeiten, die ihr Dasein als Hypochonderin mit sich brachte, entschädigt werden müsste. Konnte sie nicht an einer medizinischen Studie teilnehmen? Das wäre auf jeden Fall spannender, als Lindas Terminplanung zu machen.

»Schön, Sie wiederzusehen, Professor Glass«, sagte David und kletterte auf den Rücksitz.

»Haha, ab jetzt bitte Steven. Was macht die Arbeit? Geht ihr bald an die Börse?«

»Wir starten gerade eine zweite Runde, um Geldgeber aufzutreiben. Wenn die abgeschlossen ist, beginnt der Countdown für den Börsengang. Also, Daumen drücken und beten.«

»Ich bin Atheist, ich bete nicht«, sagte Steven und legte einen Kavalierstart hin, schnitt ein herannahendes Taxi und trat dann so nervös auf die Bremse, dass ihm das Taxi beinahe hinten reingefahren wäre. »Aber es ist faszinierend, dass die Menschen im Lauf ihrer Geschichte immer wieder auf das Gebet zurückgreifen, als eine Möglichkeit, Kontrolle über ein absolut chaotisches Universum zu erlangen.«

»Ach … eigentlich meinte ich es nur als …«

»Entschuldigung. Ich wollte dich nicht langweilen. Ich habe nur kürzlich ein Buch über den Jainismus geschrieben, aber das interessiert dich bestimmt nicht. Und, wer sind eure Geldgeber? Google? Die kaufen doch heute alles auf.«

»Nein, wir …«

»Apple?«

»Auch nicht, es ist ein kleines Venture-Capital-Unternehmen, BluCapital.«

»Ist das so was wie Blu-ray? Von Blu-ray habe ich schon mal gehört.«

»Nein, das ist etwas anderes, aber ich möchte es nicht in die Welt hinausposaunen.« Emily spürte, dass David das Thema beenden wollte. Immer wenn sie an die Ostküste fuhren, interessierten sich Leute in Stevens Alter brennend für seine Arbeit bei einem Start-up. Unter den Freunden und Bekannten von Davids Stiefmutter glaubte die Hälfte, er arbeite für Amazon, und der einzige Grund, warum er den Irrtum nicht aufklärte, war, dass er keine Lust hatte zu erzählen, was er wirklich machte.

»Und was passiert, wenn ihr den Börsengang schafft?«

David spielte mit dem Reißverschluss seines Rucksacks. »Dann fangen wir hoffentlich an, etwas Geld zu verdienen.«

»Entschuldige, wenn ich nachfrage. Wie heißt deine Firma?«

»Zoogli.«

»Ach ja, genau. Und was macht Zoolie noch mal?«

»Zoogli. Wir sind das Bindeglied zwischen den mobilen Tracking-SDKs und den mobilen App-Entwicklern. Wir helfen dabei, die Ausgaben zu bündeln, sodass es für den Entwickler erschwinglicher wird. Unser Slogan lautet: ›So leicht, dass auch die Vermarkter es verstehen‹.«

»Ach so. Ihr entwickelt also Apps. Ich habe so eine Taschenlampen-App auf meinem Handy, die ist super.«

»Nein, wir entwickeln keine Apps.«

»Dann … wie soll ich sagen … promotet ihr die Apps?«

»Das trifft es auch nicht.« David räusperte sich. »Wir sind das Bindeglied zwischen denen, die die Apps entwerfen, und denen, die tracken, wie oft die Apps installiert werden, wenn sie promotet werden.«

»Aber ihr selber promotet die Apps nicht?«

»Genau.«

»Gut. Dann … trackt ihr also, wie oft die App installiert wurde, wenn sie promotet wurde?«

»Nicht wirklich, wir sind das Bindeglied zwischen denen und den App-Entwicklern.«

»Okay. Dann wollen wir hoffen, dass ihr es bald an die Börse schafft.« Er sah Emily im Rückspiegel an. »Was trägst du da?«

»Oh, das sind Kompressionsstrümpfe. Um beim Fliegen eine Thrombose zu verhindern.« Sie zog die Sweatpants und auch die Strümpfe aus. An den Knien zeigten sich wenig vorteilhafte rote Abdrücke. »Sind Lauren und Jason schon da?«

»Ja. Weißt du, Schatz, es wäre wirklich nett von deiner Chefin, wenn sie etwas mehr Verständnis hätte. Man braucht viel Zeit, um eine Hochzeit zu planen. Das Meiste hat deine Mutter allein geregelt, und sie hat sich völlig verausgabt. Wieso haben sich Lauren und Jason ohne Weiteres eine Woche Urlaub für deine Hochzeit nehmen können, und du musstest praktisch auf Knien darum bitten?«

Emily atmete ein paarmal tief ein und aus, ein Tipp, den ihr irgendein Therapeut einmal gegeben hatte, wenn sie spürte, dass Wut in ihr hochkam. »Es ist so, Dad: Jason ist der Möchtegern-CEO eines Unternehmens, das nicht existiert, und Lauren ist Autorin für eine Zeitschrift, die eine Randexistenz führt. Du wärst überrascht, wie großzügig Chefs Urlaubstage genehmigen, wenn dein Job fiktiv ist.«

»Jason und Lauren riskieren ja auch was. Du bist mit deinem Job nicht zufrieden. Warum stellst du nicht was Eigenes auf die Beine? Deine Mutter sagt immer, du würdest deine Kreativität an TearDrop verschwenden.«