Die Tagebücher der Margaret Stonborough-Wittgenstein - Mathias Iven - E-Book

Die Tagebücher der Margaret Stonborough-Wittgenstein E-Book

Mathias Iven

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Beschreibung

Margaret Stonborough, die 1882 geborene Schwester von Ludwig Wittgenstein, emigrierte gemeinsam mit ihrem Mann, dem Amerikaner Jerome Stonborough, und den beiden Söhnen am 14. April 1917 in die Schweiz. Gut ein halbes Jahr später begann sie mit Tagebuchaufzeichnungen, die bis zum Dezember 1919 reichen. In drei umfangreichen Heften hielt sie private Erlebnisse des Alltags und aufschlussreiche Reflexionen über ihre Lektüre namhafter Dichter und Denker betreffend fest. Zudem wird ihr Engagement für die notleidende Bevölkerung Österreichs nach dem Ende des Ersten Weltkriegs dokumentiert. Wie schon in den bereits veröffentlichten Aufzeichnungen ihrer Schwester Hermine, sind auch bei Margaret die Einflüsse von Ludwigs Denken unverkennbar. Mit diesen Tagebüchern wird ein weiteres, bisher unzugängliches Dokument der Wittgenstein'schen Familiengeschichte vorgelegt.

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Seitenzahl: 382

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Mathias Iven und Ilse Somavilla (Hg.)

Die Tagebücher der Margaret Stonborough-Wittgenstein

 

 

 

Edition Brenner-ForumHerausgegeben von Sieglinde Klettenhammer und Ulrike TanzerBand 19

 

 

 

 

Wissenschaftlicher Beirat:

 

Prof. Dr. Katherine Arens (University of Texas, Austin, USA)

Prof. Dr. Jacques Lajarrige (Université de Toulouse II – Centre de Recherches et d’Études Germaniques, FRA)

Prof. Dr. Joanna Jabłkowska (Univ. Łódź, POL)

Prof. Dr. Alois Pichler (Univ. Bergen – Wittgenstein Archives, NOR)

Dr. Clemens Ruthner (Trinity College Dublin, IRL)

Mathias Iven und Ilse Somavilla (Hg.)

Die Tagebücher derMargaret Stonborough-Wittgenstein

 

 

© 2024 by Studienverlag Ges.m.b.H., Erlerstraße 10, A-6020 Innsbruck

E-Mail: [email protected]

Internet: www.studienverlag.at

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-7065-6418-2

Buchgestaltung:

Satz und Umschlag: Markus Ender

Umschlagabbildung: © Familie Sjögren

Dieses Buch erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger Ausstattung in Ihrer Buchhandlung oder direkt unter www.studienverlag.at

Inhalt

Vorwort der Herausgeber

Tagebücher von Margaret Stonborough-Wittgenstein

Tagebuch, Erstes Heft: 4. September bis 24. Dezember 1917

Tagebuch, Zweites Heft: 25. Dezember 1917 bis 25. Februar 1919

Tagebuch, Drittes Heft: 1. März bis 17. Dezember 1919

Kommentar

Tagebuch, Erstes Heft: 4. September bis 24. Dezember 1917

Tagebuch, Zweites Heft: 25. Dezember 1917 bis 25. Februar 1919

Tagebuch, Drittes Heft: 1. März bis 17. Dezember 1919

Margaret Stonborough und die Leidenschaft – „le feu sacré“ – für das Gute und das Schöne (Ilse Somavilla)

Anhang

Bildteil

Editorische Bemerkungen

Bildnachweis

Weiterführende Literatur (Auswahl)

Namenregister

 

 

Mein Tagebuch kannst Du natürlich lesen, aber ich glaube nicht, dass es Dich interessieren wird, oder eigentlich, ich glaube dass Du ärgerlich enttäuscht sein wirst, weil man niedergeschriebene Gedanken unwillkürlich strenger als gesprochene beurteilt, man legt schon fast einen Litteratur-Maßstab an & darauf sind sie nicht eingerichtet. Mir ist das Tagebuch riesig gesund weil ich gezwungen bin, einen Gedanken fertig zu denken & es sich beim Niederschreiben gleich zeigt ob irgend wo noch eine nicht ganz durchsichtige Stelle vorhanden ist.

 

Margaret Stonborough an Hermine Wittgenstein,

25. November 1917

Vorwort der Herausgeber

Die in der vorliegenden Edition erstmals veröffentlichten Tagebücher von Margaret Stonborough, geb. Wittgenstein, wurden nach ihrem Tod zunächst von ihrem Sohn Thomas aufbewahrt, später gelangten sie in den Besitz von dessen Sohn Pierre. Im Jahre 2009 übergab Pierre Stonborough den gesamten Nachlass seiner Großmutter – deren Tagebücher, ca. 500 Briefe von Mitgliedern der Familie Wittgenstein sowie die Familienerinnerungen von Margarets Schwester Hermine – dem Forschungsinstitut Brenner-Archiv der Universität Innsbruck.

Margherita Anna Maria Wittgenstein, nach ihrer Heirat mit dem Amerikaner Jerome Stonborough im Familien- und Freundeskreis nur noch Margaret genannt, wurde am 19. September 1882 als siebentes Kind und dritte Tochter des Großindustriellen Karl Wittgenstein und dessen Frau Leopoldine, geb. Kallmus, in der bis 1891 eigenständigen Gemeinde Neuwaldegg bei Wien geboren. Bereits in jungen Jahren las sie Schopenhauer, Ibsen und Weininger, später vor allem Kierkegaard. Darüber hinaus begeisterte sich Margaret für die Naturwissenschaften, besonders für die damals noch junge Psychoanalyse, mit deren Begründer Sigmund Freud sie in einem regen Kontakt stand.

Nach ihrer Heirat am 7. Januar 1905 zogen Margaret und ihr Mann zunächst nach Berlin. Dort besuchte Margaret als außerordentliche Hörerin Vorlesungen zur Embryologie und Histologie und arbeitete auch zeitweise in einem Labor. 1906 wurde ihr erster Sohn Thomas, genannt Tommy, geboren, 1912 der zweite Sohn John Jerome, genannt Ji oder Ji-Ji. Im Spätsommer 1907 ließ sich das Paar in Zürich nieder, wo sich Margaret für die Externistenmatura vorbereitete, um ein reguläres Studium beginnen zu können. Nach Ablegung der Matura inskribierte sie im Sommersemester 1909 an der Universität Zürich die Fächer Physik und Mathematik. Durch eine neuerliche Übersiedlung im Herbst 1909 – diesmal nach Paris – musste sie ihr Studium abbrechen, nahm es aber kurze Zeit später wieder auf.1

Die in drei Heften überlieferten Tagebuchaufzeichnungen von Margaret Stonborough umfassen den Zeitraum vom 4. September 1917 bis zum 17. Dezember 1919. Sie vermitteln einen lebhaften und sehr persönlichen Eindruck von den Geschehnissen während der letzten Monate des Ersten Weltkriegs und der unmittelbaren Zeit danach – einer Zeit, in der Margaret vorwiegend in der Schweiz, teils in Amerika und nur zeitweise in Österreich lebte. Ihre fast täglichen Einträge beschreiben nicht nur persönlich Erlebtes, sondern dokumentieren zudem Ereignisse ihres sozialen und politischen Umfelds, an denen sie regen Anteil nahm. Darüber hinaus tritt ihre Persönlichkeit auf lebendige Weise hervor – eine Persönlichkeit, die sich durch einen eigenwilligen Charakter und einer unkonventionellen Haltung gegenüber dem Leben, der Religion und Kunst sowie einem ausgeprägten sozialen und kulturellen Engagement auszeichnete.

Insbesondere während der Zeit des Ersten Weltkriegs und der daran anschließenden schweren, von Arbeitslosigkeit und Hungersnot geprägten Jahre, bewies Margaret ihr soziales Engagement. Wie ihre Tagebuchaufzeichnungen belegen, beteiligte sie sich unter anderem an der vom späteren Präsidenten Herbert Hoover ins Leben gerufenen „Amerikanischen Kinderhilfsaktion“ von 1919.

Abgesehen von ihrer karitativen Tätigkeit engagierte sich Margaret für die Förderung von Wissenschaft und Kunst. Gemeinsam mit ihrem Mann Jerome ließ sie verschiedensten Institutionen großzügige Spenden zukommen. Insbesondere unterstützten die beiden die Österreichische Akademie der Wissenschaften, womit sie eine Wittgenstein’sche Tradition fortsetzten. Margaret stand in persönlichem Kontakt mit zahlreichen Wissenschaftlern der Akademie und rief 1921 gemeinsam mit Jerome den Stonborough-Wittgenstein-Fonds ins Leben, der die Veröffentlichung von Forschungsarbeiten unterstützte.2 Zudem kümmerte sich Margaret tatkräftig um Künstler und Intellektuelle, die sich in der Zeit zunehmender Arbeitslosigkeit in einer existentiellen Notlage befanden.

Margaret Stonborough starb am 27. September 1958 in Wien.

* * *

Für das Zustandekommen dieser Edition geht unser Dank in erster Linie an Pierre Stonborough, der uns den Nachlass seiner Großmutter Margaret Stonborough zur wissenschaftlichen Auswertung anvertraute. Dank gebührt auch seiner Frau Françoise, die, ebenso wie Pierre, jederzeit bereitwillig für unsere Fragen zur Verfügung stand.

Danken möchten wir insbesondere auch Markus Ender, der die Druckfassung unseres Bandes für den Studienverlag vorbereitete. Ebenso danken wir Elisabeth Waldhart vom Studienverlag, Innsbruck.

Für den Druckkostenzuschuss danken wir dem Vizerektorat für Forschung der Universität Innsbruck, dem Verein Brenner-Forum sowie dem Amt der Tiroler Landesregierung, Abteilung Kultur.

 

Die Herausgeber

Innsbruck / Potsdam, im Winter 2024

____________

1 Vgl. zu diesem Abschnitt Prokop, S. 58 sowie S. 67 ff.

2 Vgl. dazu Prokop, S. 138 f.

Tagebücher

Tagebuch, Erstes Heft

4. September bis 24. Dezember 1917

/1/ 4/IX 17

Sahli da gewesen. Sehr sympathisch & freundlich mit mir. Sieht aus wie das Walrus aus Alice in Wonderland. Ich habe sehr ausführlich erzählt. –

Jean Paul nie in Rom gewesen, Beschreibung im Titan Erfindung. Berührt mich unangenehm, fast wie Schwindel.

Schopenhauer Welt als Wille & Vorst. Über das Reizende: Unsinn die Verurteilung der Malerei von gekochten Speisen. Entweder er hat Recht darin, dass die Gefühle des Schaffenden auf den Anschauer übertragen werden so dass zum B. die griechischen Akte 〈deshalb〉 nie sinnlich wirken, weil sie frei von Sinnlichkeit geschaffen wurden & darin bin ich seiner Meinung, dann können auch die Stilleben mit gekochten Speisen nicht auf den Appetit des kunstverständigen Zuschauers wirken, weil kein Maler aus Appetit malt. Hingegen ist es sehr begreiflich, dass man sich zufällig bei einer Malzeit die malerischen Seiten irgend einer Speise entdeckt, die man garnicht einmal gerne zu essen braucht.

/2/ J. noch immer sehr verstimmt wegen Brief von Onkel Paul. Ich weiß nie, soll ich bös sein, oder mild versöhnlich. Empfinden tue ich nur eine Mischung von Traurigkeit über seine Unfreundlichkeit mit einer gewissen Angst wie ich sie 〈in〉 früheren Zeiten so stark empfand So wie es mir wieder besser geht erlischt jede Zärtlichkeit in ihm. Ich werde mich nie an diesen raschen Wechsel von Wärme zur Kälte gewöhnen. Ich sehe wol ein, dass ich irgendwie daran Schuld sein muss, ich hoffe wenigstens dass dem so ist. Sicher ist, dass ich mich anders dazu verhalten sollte, entweder consequent verzeihend & nachgiebig auch in der Brief Frage oder immer rücksichtslos meinen Rechts-Standpunkt geltend machen. Aber ich schwanke; wenn er lieb ist, möchte ich nachgeben & wenn er grauslich ist denke ich: Und dafür soll ich [sie]? vollkommen erlaubte Freuden aufgeben? Sehr lieber Brief von unserm Paul

Das Bewusstsein vermisst zu werden ist das einzige Palliativ (Heilmittel gibt es keines) gegen die Sehnsucht.

/3/ 6/IX 17

J. noch immer verstimmt & fast den ganzen Tag fort. Arbeitet garnicht mehr. Mein Benehmen immer gleich dumm. Beste Vorsätze in seiner Abwesenheit & beim ersten verletzenden Wort gekränkte Attitüde. Teils bin ich wirklich gekränkt, teils will ich strafen in dem Gefühl: Wenn ich ihn alles angehen lasse treibt er es noch ärger & glaubt dazu womöglich ich fühlte mich in der Schuld. – Ich bin unfähig auf die Dauer gegen jemanden zärtlich & liebevoll zu sein, der längere Zeit gegen mich grauslich ist. – Heute abend J. bei einer Tanzerei. Unangenehm weil kein freundliches Wort zum Abschied. – Ekelhaftes Feuilleton über Grillparzer in der Presse vom 5. Baggage! Alles müssen sie mit ihren dreckigen Händen anrühren. – Schopenhauer; Es gibt Bücher die ich nicht verstehe weil ich nicht die nötige Kraft aufbringen will um die fremden Gedankenfäden zu entwirren & Bücher bei denen ich sie nicht aufbringen kann Letzteres gilt für Welt als Wille & Vorst, das heißt für gewisse Stellen, die ich aber auf das für mich erreichbare Minimum herunterdrücken kann. – Brief an Aimee

/4/ Renaissance von Gobineau: Jeder Satz ein Lehrsatz, jede Gestalt eine Puppe im garantiert echten Renaissance Kostüm. Dieses Geisteskind ist, wie man bei den Pferden sagt, von dem Fleiß, aus der Wissenschaft. Aber um damit etwas unsterbliches entstehe muss mindestens ein Teil der Eltern göttlichen Ursprungs sein. Das Evangelium ist vom Genie aus der Liebe.

Cesare Borgia, bester Beweis gegen Carlyles Heldentheorie. Wer könnte leugnen, dass der ein Held war? Aber er war nicht the mouthpiece der kommenden Zeit & deshalb hat er keine Schule gemacht Seine Kraft fiel nicht in die Zeit Richtung Es ist eben nie der Held der die Richtung schafft, sondern die Richtung liegt in der Luft & spricht natürlich am klarsten aus dem Munde der Besten.

Noch ein Beweis wäre Julian der Apostat.

/5/ Es geht mir beim Schreiben mit der Sprache oft ähnlich wie bei der Wahl von Kleidungsstücken. Ich komme sehr leicht in Versuchung solche zu wählen that appeal to me durch ihre Schönheit & Besonderheit obwol andere praktischer & zweckmäßiger wären. Diesen Zug könnte man bei mir in den meisten Betätigungen auffinden. Es ist eine Art congenitaler Originalitäts Hascherei. Hat aber auch sein Gutes denn haschen heißt suchen & wer sucht, der stagniert wenigstens nicht & es ist mir schon manches Gute bei der Sucherei in die Finger gelaufen.

Es ist ein Beweis geringen Verstandes wenn man das Zurückführen eines Problems auf ein anderes schon als Lösung empfindet.

/6/ 7/IX 17

Ein Arzt soll so beschaffen sein, dass schon sein Anblick dem Kranken Stärke leiht. Aber ebenso wie nicht jeder Doktor der Philosophie ein Philosoph sein kann, so kann nicht jeder Dr. der Medizin ein Arzt sein.

J. besser gestimmt aber noch labil.

Ji im Zorn um sich zu rächen zur Nurse1: I wont obey you & I’ll tell a lie. – Das Glücksgefühl der überstandenen Krankheit, des Realisierens der überstandenen Krankheit ist 〈dauert〉 so kurz & mit ihm die Dankbarkeit dafür. Si maladie pouvait, si santé savait! Ich habe seit 3 Tagen Kopfweh, was mir jetzt besonders ungelegen kommt, weil bei mir auf jede Krankheitszeit in der ich unfähig bin auch dem einfachsten Gedankengang zu folgen, eine Periode erhöhter Aufnahmsfähigkeit folgt die ich ausnützen möchte.

/7/ A propos Schopenhauer & gemalte Speisen. Ich glaube es ist überhaupt unzulässig zu sagen: Das darf ein Maler malen & das nicht. Der Maler wie d’ailleurs jeder schaffende Künstler sieht, schluckt, verdaut & dann muss neues Leben aus den Exkrementen blühen. Es lässt sich aber nie voraus sagen was ein Magen verdauen kann, es gibt auch in der Kunst Straußenmagen, wobei dann auch (wie beim gewöhnlichen Essen) die Liebe zur gewählten Speise, der Appetit darauf, die Verdauung begünstigt.

Ich stelle mir vor dass sich die Wollust zur Liebe verhält wie die Butter zur Milch Wenn man sich nun vorstellt, dass jeder Mensch ein gleich großes Kapital von Liebe mitbekommt, so kann man leicht begreifen warum stark sinnliche Menschen nicht liebreich sind. Es braucht eben sehr viel Milch um ein Stückchen Butter zu erzeugen. Es gibt wol auch Leute die ihr Milchkapital verwässern & Liebenswürdigkeit daraus machen.

/8/ 8/IX 17

Heute unwol. Tommy & Ji spielen Fußball in meinem Zimmer & T. hält streng darauf dass kein Wort dabei gesprochen wird. Dem Ji wird das schwer & er kommt mitten im Spiel an mein Bett & sagt mir ins Ohr: „Weißt Du es ist schwer für einen so kleinen wie ich so lange das Maul zu halten.“

Habe einen kleinen Fortschritt im Schopenh. gemacht. Wenn es nur nicht so viele Stufen zwischen Nichtverstehen und Vollkommenverstehen gäbe! Manchmal wenn ich einen Satz lese wird die Sache wie durch einen Blitz erhellt, aber bevor ich Zeit habe mir die Landschaft ein zu prägen ist schon alles wieder dunkel. Und ich bin nur gar zu gerne geneigt mich mit so einem Glimpse zufrieden zu geben, immer vergessend dass sich darauf nichts aufbauen lässt.

/9/ 9/IX 17

Briefwechsel zw. Schiller & Göthe. Der Schiller ist der ideale Beantworter. Jede Frage, jedes appellieren an sein Urteil übt einen Reiz auf seine Verstandes Drüsen aus, die sofort reichlich sezernieren. Was dem Göthe nicht selbst aufgestoßen ist oder 〈was〉 nicht zufälligerweise gerade in seine Gedanken Richtung fällt lässt ihn kalt. –

Ich bin darauf gekommen, dass Brutalität Roheit nichts anderes sind als ein Mangel an Fantasie, das Unvermögen 〈sich〉 ein Leiden das man nicht selbst fühlt vorzustellen. Daher erklärt sich auch die oft beobachtete Grausamkeit der Kinder. Man leidet als Kind ungeheuer unter dem Spott, der Zurücksetzung 〈etz〉 anderer, aber nie kommt es einem in den Sinn, dass ein anderer unter der gleichen Behandlung das Gleiche leidet. Das Schließen von den eigenen Unlustgefühlen auf [an]? die Andern kommt viel später. Merkwürdigerweise schliesst man viel früher von den eigenen Lustgefühlen auf die der anderen.

/10/ Z.B. wird ein Kind einer Fliege Zucker geben, weil 〈es〉 ihm selbst Freude macht Zucker zu bekommen, da schließt es also von sich auf Andere, andererseits wird es das selbe Tier zwicken, ihm die Beine ausreißen, ohne einen Augenblick zu denken, dass das Tier die selben Schmerzen 〈empfinden könnte〉 wie es (das Kind) selbst 〈in so einem Falle〉. (Erstaunlich ist auch, dass es den Erwachsenen gerade umgekehrt ergeht. Es fiele einem Erwachsenen nicht ein 〈in〉 einem niederen Tiere die selben Freuden zu erwarten, wie von einem Menschen aber er setzt unwillkürlich die selben physischen Leiden in ihm voraus & wird absichtlich nur sehr ungern auch das niederste Tier verstümmeln.)

Wenn einerseits Brutalität & Roheit auf Fantasielosigkeit zur[ü]ckzuführen sind (Welch eine unschuldige aussehendes Übel mit schrecklichen Folgen) so ist Mitleiden auch nichts anderes als lebhafte Fantasie.

/11/ 10/IX 17

Heftiges Kopfweh & das Herz wieder etwas labil.

11/IX 17

Kopf besser aber noch nicht gut. Heute Abend kommt Hedwig zurück. – J fast immer verstimmt & feindlich. Ich finde nie den rechten Ton. –

Habe Tommy das Schatzkästlein von Hebel geschenkt. Finde es sehr für Kinder geeignet obwol, wie ich glaube nicht für sie geschrieben. Der Kern ist gut, weil eben ein Buch, dass von einem begabten ehrlichen, von den besten Motiven beseelten Menschen geschrieben ist, einen gewissen Wert haben muss. Schliesslich kommt es doch auf die Gesinnung des Autors an & es ist erstaunlich wie die durch die dicksten Stilwände durchleuchtet. Ist sie schlecht, oder auch nur zweifelhaft wie in der Sapho von Daudet oder im Wilde, so ist mir das bestgeschriebene Buch verleidet.

/12/ 12/IX

Ich war in den letzten Tagen wieder weniger wol. Wenn ich nur wüsste ob es ein Nachklang oder ein Vorspiel ist? – Hedwig noch nicht angekommen, wahrscheinlich an der Grenze angehalten.

13/IX 17

Es geht mir besser. Hedwig ist gestern noch angekommen & ist heute mit Tommy & J nach Zermatt gefahren. – Im Schopenh. große Fortschritte gemacht, weil ich, was die „Bejahung & Verneinung des Willens[“] betrifft schon selbst auf vielen Wegen gegangen bin auf denen der Schop. da geht, nur haben sie mich teils anderswo hin teils nicht so weit geführt.

/13/ 14/IX

Gestern zum ersten Mal ausgefahren. Noch ein bischen zu ermüdend um genußreich zu sein. – Viel Schopenhauer gelesen. Der Gedankenweg ist wunderschön aber die Folgerung unbefriedigend weil willkürlich. Ich muss es gleich noch einmal lesen um herauszufinden wie weit ich mitgehe & wo ich abzweige. 2 sehr liebe Briefe von Mama & Lenka.

Ich habe mich in den letzten 10 Jahren so verändert, dass ich Landschaften Bücher Menschen oder Bildergalerien die ich seinerzeit kannte jetzt kaum wieder erkenne; nicht 〈etwa〉, weil mein Gedächtnis so schlecht wäre, nein, weil mein Gesichtspunkt ein so anderer geworden ist. –

Langes Gespräch mit nurse gestern Abend. Ein armer Kerl. Nicht dumm, eher gut, sehr tüchtig aber die ganze Mischung verpatzt durch eine unverlässliche Gesinnung Nie wird sie jemanden so lieb haben können, dass sie ihn nicht unter dem Einfluss einer ganz oberflächlichen Erregung, um ein paar geistige Silberlinge verriethe. Das nimmt ihrer Freundschaft allen Wert, was sie aber nicht begreift, da ihr die Beweise von Freundschaft, die sie liefert unvergleichlich größer erscheinen als die kleinen Verrätereien die sie vergisst sobald die Erregung vorbei ist.

/14/ 15/IX 17

Wieder heftiges Kopfweh. Den ganzen Vor & Nachmittag unfähig etwas zu lesen & zu schreiben erst gegen Abend im Taxi ausgefahren. Sehr schön & angenehm. Kopf besser. – Ji hört mich & die nurse über unser Kopfweh klagen & sagt: Come on my dears, I have got just the same as you & you dont hear me grumble.

16/IX

Gut geschlafen. Endlich einmal kein Kopfweh pourvue que cela dure. Der Schopenhauer ist das reinste Logik Bad aus dem man mit gereinigtem & gestärktem Verstand heraus kommt. Logik & Wahrheit scheinen für mich eine Verwandschaft zu haben obwol ich noch nicht herausgefunden habe worin sie besteht. –

Man hält sich dadurch warm, dass man andere wärmt. Glücklich sind, die erwärmt werden; selig sind, die ein Ofen sein können für Viele.

Der Ji hat heute von meiner Tee-Untertasse /15/ ein übrig gebliebenes Stück Zucker weggenommen & gesagt: „In my house there will be no sugar wasted.“

17/IX

Heute etwas müde wegen allzu langer Spazierfahrt gestern. Ji nicht wol, wahrscheinlich Magen verdorben. J. telegrafiert, komme erst morgen.

18/IX 17

Ji gestern abend noch heftiges Fieber. Arzt dagewesen, ganz beruhigt.

Es ist merkwürdig & ungerecht dass man die Menschen für gute Taten belohnt die doch zweifellos ihren Lohn in sich tragen, statt für das Unrecht was sie tun (vermöge ihres unfreien Willens tun müssen) als Entschädigung für den Schmerz der jedes Unrechttun begleitet

/16/ 19/IX 17

Mein Geburtstag. Vormittags habe ich geheult aber am Nachmittag habe ich mich derfangen. Was kann J. dafür, dass er nicht weiß, wie ein schöner Geburtstag sein muss, where one is made much of & petted & wo sich alles um einen dreht & alles einen festlichen feierlichen Anstrich hat. Dabei ist der Ji im Bett & der Tommsy reist morgen in die Schule.

Ji hat gestern noch starkes Fieber gehabt ist abends weinend aufgewacht & hat gesagt: „Ich hab geträumt, es war ganz klein & dann ganz groß.“ Der selbe Fiebertraum wie ich & Tommy ihn 〈immer〉 hatten. Mir kommt vor es ist noch nicht genügend beobachtet worden, dass man 〈im Traum〉 immer schon im vorhinein weiß ob etwas schief ausgehen wird oder2 ob es ungefährlich ist. Daher auch die 〈beklemmende〉 Angst bei 〈vor〉 scheinbar ganz sicheren Situationen & die 〈lächelnde〉 Sicherheit in gefährlichen /17/ Lagen. – Mit Tommsy am Nachmittag sehr gemütlich. Er ist doch mit niemandem so at his best & so warm & heart to heart. Wenn er so wie heute ein wenig weich ist, so ist er weit über seine Jahre gut & lieb. Warum habe ich gerade die rechte Art mit ihm & nicht mit J. dem er doch so ähnlich ist. – Lieben Brief von Albert & einen sehr freundl. von Baron de Vaux.

20/IX

Tommy sehr vergnügt abgefahren, Gott sei Dank ohne Thränen, sonst hätte ich mich sicher nicht halten können. Abends war er dem Weinen sehr nahe & sehr zärtlich – Ji zur Hedwig: „Hier aus dem Zimmer darf nichts heraus geholt werden, ohne die nurse zu fragen; ich werde Euch das schon ablernen.“ – Abends Aussprache mit J. – Hopeless 〈jetzt〉. Man muss auf die Zukunft hoffen. – Von seiner Seite immer Feindseligkeiten & von meiner lange nicht genug liebevolle Geduld. Dazu noch die Politik! Und die wiener Reise! – A propos Träume: Schade dass der Freud so ein Tepp & so verrannt ist. Da gäbe es /18/ ganz andere Sachen heraus zu holen als den sexuellen Stiefel. Es ist ja zu begreifen, dass man sich verrennt, wenn man es immer mit hysterischen Menschen zu tun hat. Und es ist merkwürdig wie man die Natur mit ganz wenig zwängen an manchen Stellen〈,〉3 & ausstopfen an anderen die verschiedensten Kleider anziehen kann & keines 〈davon〉 so schlecht sitzt, dass man sagen müsste es passte absolut nicht

21/IX 17

J. noch nicht zurück. Ich bin doch noch recht schwach. Am Vormittag nach dem Bad & der Massage zu nichts zu brauchen. Das Koffeïn hilft verflucht wenig.

22/IX

J. zurückgekommen & ganz guter Dinge. Heute recht unwol gewesen. An Tommy geschrieben. Sehr enttäuscht & deprimiert über Antwort-Noten der Central Mächte. Ein einziges klares Wort, was gäbe man darum!

/19/ 23/IX

Wieder Streitereien wegen der wiener Reise. Wenn es etwas nützte würde ich den Gedanken daran aufgeben. Aber, ist es nicht das, so ist es etwas anderes worüber er schimpfen muss. Er ist ein armer Kerl & nicht glücklich & daran sollte ich immer denken, statt dessen bin ich voller Bitterkeit & muss ihm immer vorrupfen, dass ich mich freue, wenn er den ganzen Tag fort ist & sich unterhält oder reist. Als ob das etwas nützte. Ich sehe keinen anderen Weg zu einem halbwegs erträglichen Leben, als vollkommene Selbstverläugnung & zwar freudige Selbstverläugnung ohne die geringste Aussicht auf Anerkennung. Ach wenn ich das nur könnte! Aber ich bin ein elender & unverbesserlicher Egoïst & nebenbei eitel & lobbedürftig. Verflucht sei der Verstand der 〈doch〉 nur dazu da ist um einem ones own limitations zu zeigen aber 〈ohne einen〉4 unfähig ist einen zu verändern zu bessern.

/20/ Warum man nie träumen kann was man träumen will? Weil sich das Gefühl im5 Traum nie in die Formen kleidet, die ihm im Wachen entsprechen

24/IX

Es geht mir viel besser & ich will versuchen ein wenig auszugehen, nicht zu fahren

Ji liegt auf der Veranda soll schlafen, singt aber statt dessen. Plötzlich hört er auf & ruft zu uns herein: „War das am Ende Parsifal?“ – Brief von Tommy.

Ein paar Minuten zu Fuß gegangen.

25/IX

J. ist merkwürdig, er ist nicht froh, dass ich da bin & ärgert sich, dass ich reisen will. So hat meine große Freude auf diese Reise einen Bodensatz von schlechtem Gewissen, der bei jedem unlieben Wort seinerseits aufgeschüttelt wird & sie trübt. Von meiner ganzen hiesigen Umgebung will mir nur ein einziger Mensch wirklich wol, das ist die Hedwig.

/21/ 26/IX 17

J. besserer Stimmung. Vielleicht bin ich wol genug nächste Woche nach Bern reisen zu können. Die Unsicherheit ob ich 〈nach Wien〉 reisen werde können oder nicht, sekiert mich sehr. Auch ein klares Nein wäre besser als diese Ungewissheit. Das letzte〈re〉 ist vielleicht eine Unwahrheit, ich weiß es nicht. Es ist schwer ganz & gar aufrichtig zu sein, denn mir kommt manchmal vor als läge unter jeder 〈Schichte〉 Aufrichtigkeit noch eine die der Wahrheit näher kommt & dann noch eine & so fort & als könne man sichso auf diese Weise unbegrenzt der Wahrheit nähern ohne sie je zu erreichen.

27/IX

Draußen spielt eine merkwürdige Militär Musik von Internierten (Belgier?) eine Art Schnell-Marsch unterbrochen von Blas Instrument Recitativen. Very attractive. Wieder eine Art Aussprache mit J. in Folge einer Bemerkung6 ich läge zu viel im Bett & könnte eigentlich schon viel mehr tun wenn ich nur wollte. Sollte ich mich verteidigen & sagen dass ich mich noch gar/22/ nicht wol & kräftig fühle? Das käme so heraus als wollte ich Mitleid erwecken. Aber es hat mir wieder forcibly klar gemacht dass ich so wie wir jetzt zusammen stehen, nicht mit ihm leben kann Und zu denken, dass manche Menschen ihr ganzes Leben unter wolwollenden liebreichen Menschen verbringen dürfen, unter Menschen die sich den Kopf zerbrechen wie sie ihnen einen Spass, eine Freude bereiten können!

28/IX

Das habe ich gestern im Ärger geschrieben.

Wer weiß was andere Leute zu tragen haben oder7 besser gesagt ich weiß recht gut wie viel schlimmer es andere Leute haben. Ich sollte mich schämen & tue es auch (manchmal). – Es ist komisch, noch vor ein paar Jahren war ich ganz nahe an der Erkenntnis, 〈(oder so schien es mir wenigstens)〉 dass man out of ones own volition auf Freuden verzichten solle & die unangenehmen & schmerzlichen Dinge im Leben am besten out of ones own volition sich in die Seele drücken solle (so, quasi dem Schicksal freiwillig zuvor /23/ kommend), dann aber kam mein Gewebs[dunst]? & da ein Verzicht auf Freuden die man nicht kennt eben kein Verzicht ist, so hat er mich weit weg, 〈zeitweise〉 fast ausser Sehweite von diesem Ziel geführt, das ich trotz alledem noch für das richtige halte, weil ich es ganz auf eigene Faust entdeckt habe. Alles was ich später von Gleichgesinnten darüber gelesen habe war nur eine Bestätigung meiner eigensten Erkenntnis. – Es geht mir 〈seit einiger Zeit〉 mit meinem Leben wie mit dem Krieg; seit Jahren denke ich, jetzt muss es sich als der Wirbel anfing glaubte ich es handle sich um eine lokale Disturbance, die mit Energie leicht zu unterdrücken sein werde 〈wäre〉, statt dessen griff die Zerstörung immer weiter & weiter um sich. Seit Jahren denke ich, jetzt muss es sich doch endlich lokalisieren 〈lassen〉 & klären & 〈oder〉 wenn ich erst an diese 〈oder jene〉 Ecke gekommen sein werde, dann wird sich auch ein Ausblick ergeben. Aber es wird nur immer verworrener & ich sehe noch nirgends auch nur den Beginn eines Wiederaufbaues. Vielleicht müssen erst alle 〈morschen〉 Fundamente 〈alle Mauern〉, die auf falschen Premissen aufgebaut waren dem Seelenboden gleichgemacht werden.* Bei /24/ vielen Menschen kommt möglicherweise nie ein wirkliches Gebäude zustande sondern ihr Bauplatz besteht aus attempts die nie unter Dach kommen. Einstweilen habe ich noch das sichere Gefühl dass es mir bestimmt früher oder später gelingen werde mir ein festes Gebäude zu bauen an dessen Verbesserung & Verschönerung ich ja bis an mein Lebensende arbeiten kann

* Ich bin 〈freilich〉 auch kein Samson, ich könnte nur im Zorn die Mauern 〈Pfeiler〉 zusammenreißen & da mag 〈würde〉 dann auch mancherlei mitgerissen werden das verdient hätte stehen zu bleiben, also will ich ruhig zu sehen8 warten bis alles was an meinen Mauern unhaltbar war abgebröckelt ist. Das alles wäre noch viel bitterer, wenn es nicht so ungeheuer interessant wäre Hie & da tippe ich den Finger an irgend einen Pfeiler der mir für die Ewigkeit gebaut schien um zu sehen ob auch der schon geborsten, über Nacht fallen wird.

/25/ Wüsste ich nur ob das Leben der andern Menschen dass mir so paisible erscheint, im Grunde auch so 〈ebenso〉 bewegt wie das meine ist. Oder ob 〈scheint〉 mir meines nur so bewegt erscheint weil ich es immer durch das Vergrößerungsglaß des Egoismus betrachte? 〈Wenn man sich nur kennte! Man hat so leicht sagen: Belüge Dich nicht selbst〉

Das Aufrichtigsein sich selbst gegenüber 〈〈Zwischen sich nicht belügen & sich die〉〉 ist verflucht schwer, denn man weiß natürlich genau ob man sich belügt oder nicht, aber von diesem Wissen zur Kenntnis 〈dessen das〉 die Wahrheit ist, 〈ist〉 ein weiter Weg. Man kann wissen dass etwas nicht wahr ist, ohne zu wissen wie die Wahrheit lautet.

Zwischen sich nicht belügen & sich die Wahrheit sagen ist ein himmelhoher Unterschied. Zu dem Ersteren gehört nur Ehrlichkeit, zum Zweiten aber Verstand, schon fast Genie. Denn wenn man im Stande ist, die eigene Natur zu erkennen9

/26/ 29/IX 17

Noch kein Entschluss wann ich nach Bern reise (J. will nicht mit, was vielleicht besser ist weil seine Angst & sein Pessimismus mich immer ärgerlich machen & aufregen) Ich muss es heute noch mit ihm besprechen & schiebe es, feig wie ich bin, hinaus. Eine Tracht Prügel wäre mir lieber, als so eine Besprechung. Vielleicht habe ich am Abend mehr Mut. – Nichts ist gschegn, gut is gangen & ich fahre Montag nach Bern. Ich wattier 〈umgebe〉 mein Herz mit Vernunft-Watte, damit ihn 〈es〉 eine eventuelle Enttäuschung nicht zu hart trifft. – Wenn ich nicht nach Wien reisen kann so will ich mir 2 ganz alleinige Wochen mit Hedwig irgendwo am Land heraus schlagen, das wird meinen Nerven gut tun. – Mit J. darüber gesprochen, er war netter als seit langer Zeit & pretends to laugh. Aber Lachen hilft uns nicht mehr, unser Zustand ist ernst & muß ernsthaft behandelt werden. Ich weiß jetzt genau wo der Hacken steckt, seine Eifersucht, die ja immer stärker war als seine Liebe, hat seine Liebe überlebt.

/27/ 30/IX

Traurig.

1/X

Abreise Bern. Amerik. Gesandtschaft. Reise Erlaubnis verweigert. Bei Sahli gewesen. Sehr traurig, will heute nicht mehr schreiben.

2/X 17

Ermüdender & aufregender Tag. J. kam in der Früh nach Bern, zuerst sehr aufgebracht über Sahlis Wunsch einer mehrmonatlichen Ruhe ohne ihn. Recriminations & reminiscenses! Ich habe zum ersten Mal seit langer Zeit geheult, ich war au bout des mes forces, what with Reise, Aufregung, bittere Enttäuschung & Ermüdung. – Gott allein weiß was ich tun werde! Ich bin ganz Sahlis Meinung dass ich nicht Wochen, sondern Monate eines geruhsamen Lebens brauche um wieder halbwegs widerstandsfähig zu werden. J. nach dem Krawall sehr lieb & weich, aber ich darf mir ja nicht /28/ vorreden, dass es so bleibt. Die fundamentalen Differenzen bleiben nach wie vor die selben & ein Entschluss wird doch gefasst werden müssen.

Sahli war ungeheuer freundlich & warm, hielt meine Hand & sagte: Es10 läge mir sehr viel daran Sie gesund zu machen! 〈Habe Tommy ein kl. gerahmtes Bild vom Beethoven von Bern geschickt.〉

3/X 17

Die Lagen von Vernunftwatte haben nicht viel geholfen bis jetzt; wol weil das Material minderwertig ist. Heute fiel mir ein: Das Land der Phiaker mit der Seele suchend. – J. noch immer sehr guter Stimmung was mir sehr hilft, ach, wenn es nur eine kleine Zeit andauerte! Nie war ich wärmebedürftiger, nie habe ich mich so nach Gemütsruhe gesehnt. Die Frage der monatelangen Ruhe Kur wird nicht so leicht zu lösen sein. Seitdem mir Sahli gesagt hat, dass es eine Lebensfrage ist, (?)11 weiß ich auch, dass ich es durchsetzen muss, weil ich mit dem Durchhalten System niemand etwas Gutes tue. Mir nicht, J. nicht den ich in den Zeiten seiner Verstimmung nur noch mehr enerviere & den Kindern nicht, die von einer kranken Mutter /29/ nichts als Unangenehmes haben. Aber ich darf nicht im Streit & in Kränkung weggehen wie damals auf die Hochreith weil ich dann nicht in Gemütsruhe leben kann. Werde ich es überhaupt noch können? Ich glaube es wird garnicht zu machen sein aber versuchen werde ich es. Am besten ginge es natürlich wenn der Frieden bald käme & J. nach Amerika führe, weil ich dann wenigstens das angenehme Gefühl haben könnte, erstens dass sein Wunsch nachhause zu fahren erfüllt ist & dass er sich glücklich & nicht einsam fühlt. Ich glaube er weiß noch immer nicht ob er mich los werden will oder nicht. – Heute unwol. –

4/X

Die Nurse sagt dem Ji, er müsse unbedingt einen Stuhl haben. Antwort: „Only auf Brotkarte.“ –

/30/ 5/X 17

Noch immer keine Briefe aus Oesterreich! – Gestern sagte ein Herr zu J. Zuoz sei das reinste Paradies für Buben. – Ich habe eine sehr ruhige woltuende Zeit & ich fühle wie mir das gesundheitlich gut tut. – Manche Worte sind erstaunlich gut erfunden, so Z.B. der Ausdruck dass Kummer, Aufregung etz an dem Menschen frisst. – Warum findet sich nicht ein Dichter der die Eva verherrlicht, nicht anklagt oder entschuldigt. Sie hat 〈nur〉 das einzig Rechte getan. Was ist das für eine Güte die das Böse nie gesehen & erkannt hat. & ein Paradies, das man ererbt & nicht erworben hat ist auch keines, weil ihm 〈beiden〉 der dunkle Hintergrund fehlt von dem sie sich 〈erst〉 abheben müssen um als Licht empfunden zu werden

Keller „Grüner Heinrich“ gefällt mir ausnehmend aber wenn mir in meiner Jugend das Feurige in seinen Büchern abgegangen ist, so finde ich ihn jetzt oft zu wenig gütig & liebreich [welcher]?12 Mangel mir durch seine Gerechtigkeit & Ehrlichkeit nicht immer ersetzt wird.

/31/ 6/X

Lustiger Brief vom Tommy. Grüner Heinrich zuende gelesen. Postsperre dauert an!

7/X

Was wird nur aus mir werden, wenn der Krieg endlich vorüber sein wird? Man sollte, da doch die Zukunft unabänderlich ist, nur Luftschlösser bauen mit denen man sich die Gegenwart verschönt & doch kann man nicht umhin to worry. Das lange Liegen & die zwangsweise Einsamkeit haben mich klüger & weiser gemacht, hoffentlich auch besser

Tante Ella und Trude dagewesen

/32/ 8/X

Ich habe mir als Kind immer gewünscht einen Ort zu finden an dem noch nie jemand gewesen war. Ein ähnliches Gefühl ist 〈liegt〉 auch dem13 Missbehagen beim Anblick eines 〈zugrunde das ich empfinde wenn ich einen〉 Gedankens den man 〈ich〉 selbst gefunden habe14 bei einem Autor 〈antreffe〉. Ein Missbehagen das ich nie ganz los werde auch wenn ich mich manchmal geschmeichelt fühle einen Gedanken 〈ihn〉 bei einem plusgrand que moi zu finden.

Heute in Zürich gewesen. J. bester Stimmung

9/X

Nichts

10/X

Reise nach Lausanne. Ankunft kalt nass & grauslich

/33/ 11/X

Magen verdorben & den ganzen Tag unwol gefühlt. J. sehr lieb & zärtlich. Es wäre so gesund für mich, wenn mich das Schicksal mit einem kräftigen Fußstoß von der weltlichen Höhe herunter stieße von der ich, wie ich fürchte nie freiwillig herunter zu kriechen den Mut haben werde, dann würde vielleicht, freilich 〈auch〉 nur vielleicht, ein Mensch aus mir. So, wie es jetzt ist sehe ich zwar den rechten Weg ziemlich genau aber ich kann mich nicht entschließen ihn zu gehen sondern bleibe in dem Wagen sitzen der mich zwar 〈wol〉 mit Gewissensbissen aber ohne Anstrengung eine andere Straße führt

Wenn mich die lange einsame Liegerei schon nicht bessert so lehrt sie mich doch mich selbst klarer erkennen.

/34/ 12/X

Migraine.

13/X

Merkwürdig, was sich aus diesem Krieg heraus krystallisiert. Kriegsziele an die die Menschen die ihn angefangen haben 〈sicher〉 nicht im Entferntesten gedacht haben. Auch die nicht die jetzt so tun. Die Menschen glaubten gegeneinander zu kämpfen & haben am Ende 〈gar〉 doch miteinander für etwas ganz anderes 〈Gemeinsames〉15 gekämpft〈?〉16 Wie Pferde in einer Tretmühle treten & nicht ahnen dass sie daweil höheren Zwecken dienen

Die Kellersche Danaïde blickt nur neugierig um sich daweil sie müde ist, die meine würde vor lauter Neugierde die ganze Sieberei vergessen. Das ist der Unterschied zwischen unbeirrbar & beirrbar.

/35/ 14/X

Noch immer nicht ganz auf der Höhe.

Tommy telefoniert von Schneeball Schlachten

Gegenüber von meinen Fenstern, fast in Spuckweite, liegt das Land in dem unser Herrgott so gut wohnen soll.

15/X

J. nach Bern gefahren. Brief vom Tommy sehr vergnügt. Es geht mir wieder besser Man ist, wie man ist, auch wenn man nie dazu kommt das Schlechteste oder das Edelste dessen man fähig ist 〈aus〉 zu führen & doch wird man nach seinen Handlungen, Werken beurteilt; zu dumm!

16/X

/36/ 17/X 17

Es geht mir trotz ganz ruhiger Zeiten doch garnicht besonders, wol auch von wegen meines verdorbenen Magens, der sich garnicht erholen will.

18/X

Ji zum Hotel Stubenmädchen: Haben Sie Kinder. Sie: Nein, Er: Schad ich hab auch keine, aber einen großen Bruder. – Heftige Magenschmerzen.

19/X

J. nach Zuoz gefahren. Den Tag vertändelt mit Nähen, Schreiben & dummer Leserei. Ich möchte sehr gerne meine Jugend aufschreiben, es wäre eine sehr gute Übung in wahrheitsgetreuer fantasieloser Beschreibung

/37/ 20/X 17

Es geht mir viel besser. Heute zum ersten Mal schwedische Heilgymnastik. Eine Periode der Faulheit des Geistes.

In der Beschränkung den Meister zeigen, scheint mir nicht schwer, ich bin im Gegenteil dankbar für Grenzen & ratlos wenn ich aus dem Vollen schöpfen soll. Wie es ja auch leicht〈er〉 ist, zwischen Wenigem das Beste auszuwählen als zwischen Vielem.

Gefühl & Verstand in fortwährendem Gegensatz bezüglich „Freien Willen“ Tolstoï Tagebücher gelesen, geblättert. Armer! Dass man sich nie über das freuen kann was man vollbracht hat sondern nur über das Unvollbringbare kränkt.

Weil eben die 〈unsere eigenen〉 Taten für uns 〈selbst〉 kein Kriterium für unsern Charakter bilden. Der Ärmste nichts als Jammer über seine eigene Schlechtigkeit.

Gesetzt den Fall ein Mensch käme zuf[ä]lliger weise nie in die Lage seine Schlechtigkeit durch eine Tat zu bestätigen, wäre 〈gälte〉 er bei seiner Umgebung als gut, als Heiliger?

Gute Lekt[ü]re macht mich klug & denkfähig schlechte Lekt[ü]re direkt dumm, ist jeder Mensch so abhängig davon?

/38/ Abh[ä]ngigkeit des Verstandes von der Art seines Futters

Ich beginne von Zeit zu Zeit franz[ö]sisch zu denken. Hat das einen Einfluss auf die Art & Weise des Denkens?

21/X 17

Ich bewundere, oder, das ist eigentlich nicht das richtige Wort, ich habe eine warme Sympathie für alle Menschen die eine wirkliche selbsterschaffene Religion besitzen. Ich weiß nicht warum das so ist. Denn Es17 geht mir mit diesen Leuten wie mit Frauen die rotes Haar haben, es gefällt mir ungeheuer an ihnen aber ich bin mir bewusst dass ich schwarzes Haar habe & mir, um rotes Haar zu besitzen eine rote Perrücke aufsetzen müsste mit der ich dann vielleicht andere Menschen aber nie mich selbst betrügen könnte.

So unfähig ich bin zu begreifen, wie einer der Ausgeburt der eigenen Fantasie, oder was mir 〈eben〉 als das erscheint, göttliche Ehre erweisen kann, so sehr beneide ich diese Menschen, die sich 〈da〉durch ihn eine Hingabe an etwas leisten können /39/ das sie nie enttäuschen kann

Und es ist ja wahr die Ethik ist kein Ersatz für die Religion, weil sie von dieser Welt ist & man für irdische Dinge keine Ekstasen aufbringen kann Man muss sich an einem ausserhalb der Erde liegenden, wenn auch imaginären Punkte anhalten um an 〈& sich an ihm〉 dem man sich aufziehen〈,〉 kann um ausser Sehweite von allem Irdischen zu kommen das Irdische aus den Augen zu verlieren

Zweimal habe ich sicher zu sterben geglaubt & beide Male habe ich auch nicht einen einzigen Gedanken an Religion oder an etwas entfernt damit verwandtes gehabt. Meine Todesangst war eine reine Angst vor dem körperlichen Unbehagen des Sterbens. Ist das nicht ein Beweis für das vollkommene Fehlen jeder18 religiösen Gefühls Anlage?

Freilich, wenn ein religionsloser Mensch im Sterben nach dem Geistlichen ruft, so ist das nicht wie so viele glauben ein Beweis gegen die Ehrlichkeit /40/ seines Unglaubens, sondern einfach einer für die Verwirrung die die Todesangst in uns hervorruft, die uns der Vernunft unzugänglich macht. Man könnte just as well behaupten, dass der Mensch der bei einer Feuer-Panik nach dem Vogelkäfig greift & diesen statt seines Kindes rettet, hätte damit bewiesen dass ihm der Kanarivogel lieber als sein Kind sei.

22/X

Man darf sich über alles auch über das Tragischeste lustig machen oder besser gesagt man darf darüber lustig sein aber man darf nicht darüber spötteln. – Bin heute von der Stadt zu Fuß nachhause gegangen. – J. telefoniert aus St. Moritz, die Schönheit der Landschaft sei unbeschreiblich. Seine Freude an der Natur ist etwas Schönes. Unser verschiedener Geschmack hindert mich oft to appreciate it.

/41/ 23/X 17

Es gibt Menschen die lieben an der Natur 〈genau〉 wie im Leben 〈nur〉 alles was gut & teuer ist; das reizt mich zum Wiederspruch. –

Nachmittags in der Stadt gewesen, sehr hübsches Schachterl & alten Hofkalender 1728 gefunden. Ersteres für Minka. – Ji frägt mich wie man mit den Augen sieht. „Das ist sehr interessant“ Ich sage: Ich kann es Dir nicht erklären aber es ist freilich sehr interessant, genau so wie das Hören mit den Ohren. Er antwortet: „Ja, aber 〈es〉 ist doch nicht so interessant wie das Sehen mit den Augen.“

Sehr lieber Brief vom Tommy & J. diesmal auch datiert. – Zweite Heilgymnastik Stunde, sehr angenehm. –

24/X 17

Etwas bergauf gegangen. Bis halb ein Uhr Nachts auf J. gewartet; nicht gekommen.

Tommy Bananen geschickt.

/42/ 25/X 17

Ji im Bett mit Schnupfen.

Bin etwas müde von schlechter Nacht. Merkwürdig wie man jeden Begriff neu für sich entdecken muss, um ihn zu verstehn. Und wenn man dann seine wahre Bedeutung erfasst hat glaubt man unwillkürlich sie müsse auch den Andern in die Augen springen denen man es vorträgt. Aber für die Andern, so sie es nicht schon selbst erlebt haben, bleibt es das tote Wort, das es vor seiner Erweckung für uns selbst war

J. zurück gekommen, glänzend aussehend & fröhlichster Stimmung War in Zuoz & hat einen geradezu großartigen Bericht vom dortigen Direktor über Tommy bekommen Im Lernen, wie im Sport tadellos; /43/ sehr beliebt bei den Buben „weil er so gar kein Streber ist“ & weiß was er will. Eher zu viel Eifer & fast zu wenig Lausbübereien. Mit solchem Enthusiasmus beim Trompetenblasen in der Haydn Kindersymphonie dass er die ganzen Buben angesteckt hat & die Sache statt, wie der Direktor anfangs meinte, nach 14 Proben schon nach 3 Proben ganz nett ging. – Jeromes Freude & Stolz groß. Hedwig rührend. –

Tommy sehr stolz weil ihn der größte & stärkste Bub der Schule auf seinem Schlitten mitgenommen hat. – Fand das Bett in St. Moritz zu weich, das harte Schulbett viel bequemer.

/44/ 26/X 17

Es geht mir sehr gut. Ji im Bett mit leichtem Schnupfen. Gestern sind meine Hüte aus Paris gekommen. – Es ist mir ein Bedürfniss alles schön zu finden, was ich mir gekauft habe, was ich überhaupt besitze. Auch Dinge die ich geschenkt bekomme, die ich vielleicht sonst scheusslich fände verteidige ich leidenschaftlich gegen meine 〈eigene & gegen fremde〉 Kritik Ich verleibe quasi alle Dinge die mir gehören 〈sofort〉 meinem Ich ein & beschönige sie dann, wie ich meine schlechten Eigenschaften la pluspart du temps vor mir selbst zu beschönigen pflege.

Man lacht über das Vischersche Wort von der Tücke des Objekts, einem jeden ist sie eine altbekannte Sache & doch sollte es einem [zu denken]? 〈einen Begriff davon〉 geben wie oft wir wol einen Nebenmenschen /45/ der Bosheit oder auch nur des Übelwollens bezichtigen, der ebenso unschuldig 〈ist〉 wie das unbelebte Objekt ist, ohne ein so einwandfreies moralisches Alibi liefern zu können.

27/X

Heute früh hat mich die Betty mit den Worten: „Briefe aus Österreich“ geweckt. – Glücklich über den endlich wiederhergestellten Kontakt, aber traurig über Mamas schmerzhaften Zustand. Wie gut könnte ich jetzt bei ihr sitzen. Es ist zu traurig wenn man so viel zu geben hätte & der andere so gerne empfinge. – Hat sich schon einmal jemand umgebracht um seinen Freunden in der best möglichsten Erinnerung zu bleiben? Das wäre doch nicht so dumm.

/46/ 28/X

Briefe über Briefe von zuhause!

Ein besonders lieber von Mama zu meinem Geburtstag. Tommy heute telefoniert, er wünscht sich japanische Bilder. Schien sehr erfreut über den guten Bericht des Direktors.

Bin glücklich über den glänzenden Erfolg unserer italienischen Offensive aber gleichzeitig tiefbetrübt darüber weil es alle schlechten, dem Frieden hinderlichen Elemente bei uns & in Deutschland stärken wird.

29/X

Ich habe heute den Ji fest durchgewichst weil er grauslich mit der Nurse war. „Es hat uns’rer Liebe gar wol getan.“ Da es zum ersten Mal geschehen ist, war der Ji sichtlich impressionirt

/47/ 30/X

Es gibt eine Art scheinbarer, angenommener Bescheidenheit bei empfindlichen leicht verletzten Menschen, die sich nur deshalb freiwillig auf eine niedrigere Stufe stellen als die, die ihnen, wie sie genau wissen, von Rechts wegen gebührt, weil um nur ja nicht Gefahr zu laufen von irgend einem Mitgliede der Welt (die ihnen immer feindselig gesinnt zu sein scheint) dorthin verwiesen zu werden.

/48/ 31/X

Das Unvermögen Grillparzers rückhaltslos zu lieben Das größte Unglück, nicht etwa weil Geben seliger als Nehmen ist sondern weil man in der Liebe nur so viel genießen kann als man selbst geben kann. Jedes Mehr das man geschenkt bekommt rinnt unausgenützt ab.

Es ist als wäre der Behälter der zu gebenden Liebe gleich groß wie der zu empfangenden. Manche Menschen bemühen sich den Fassungsraum des Behälters derer die sie lieben durch fortwährendes Liebe-Nachgießen zu vergrößern & es ist dann jammervoll zu sehen wie der kostbare Stoff nutzlos abrinnt während daneben große leere Behälter danach schmachten. Das nicht absorbierte „Mehr“ wird im besten Falle mit dem Verstand erkannt & mit Dankbarkeit quittiert, /49/ im schlimmen & häufigsten Fall garnicht erkannt & dann erfolgt die oft angestimmte Klage von der Lieblosigkeit der Menschen.

Solche Leute leben in der Finsternis & Kälte weil ihnen das Organ fehlt um die Strahlen der einzigen Licht & Wärmequelle des Lebens zu absorbieren. Briefe sind eine Art Ersatz für einen intellektuellen Verkehr, sie können sogar Liebe übermitteln, aber sie können sie nicht im richtigen Moment in den richtigen Dosen applizieren & nicht auf momentane Stimmungen reagieren. Das Unvermögen mit den Lu[s]tigen lustig zu sein & mit den Traurigen traurig macht sie in Gefühlssachen so unsatisfactory.

/50/ 1/XI 17