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Die vierzehnjährige Nele Johannson aus Marne liegt tot am Elbstrand. Ein brisanter Fall für Oberkommissarin Lyn Harms von der Kripo Itzehoe in Schleswig-Holstein, denn das Mädchen war über elf Jahre lang verschwunden, entführt als Zweijährige beim Marner Rosenmontagsumzug. Die fieberhafte Suche nach dem Täter, die Lyn Harms und ihre Kollegen zu ländlichen Schlachthäusern und einsamen Marschhöfen führt, wird zu einem Wettlauf gegen die Zeit, denn da gibt es noch das Mädchen Anna.
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Seitenzahl: 354
Veröffentlichungsjahr: 2025
Heike Denzau, Jahrgang 1963, ist verheiratet, hat zwei Töchter und lebt in dem kleinen Störort Wewelsfleth in SchleswigHolstein. Bereits mehrfach preisgekrönt, ist sie Verfasserin zweier erfolgreicher Krimireihen und veröffentlicht außerdem bei Droemer Knaur humorvolle Liebesromane.www.heike-denzau.de
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.
Das Gedicht, »Jeder Gedanke ist Saat«, ist dem Band »Ephides« entnommen, der 2002 im Bürger Verlag erschien. Mit freundlicher Genehmigung des Bürger-Verlags, Hardthausen, Hans Dienstknecht.
© 2022 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagfoto: Laura Denzau
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli.
E-Book-Erstellung: Geethik Technologies Pvt Ltd
Erstausgabe 2011
ISBN 978-3-98707-393-9
Originalausgabe
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Dieser Roman wurde vermittelt durch die Agentur Dirk Meynecke.
Für Esther
Auf allen vieren erreichte sie die Deichkrone. Die Anstrengung und der brennende Schmerz in ihrem Rücken, der sich bis in den Brustkorb zog, ließen sie würgen. Ihr Blick glitt irre durch die Dunkelheit. Zurück, den Deich hinunter auf die Felder, zu den vereinzelten Lichtern in der Ferne.
Kam er?
Nackte, alles Denken lähmende Angst trieb sie weiter. Den Deich hinunter. Sie fiel, raffte sich wieder auf. Lief.
Alles war schwarz. Der Himmel, das Wasser. Und die Geräusche. Die schrecklichen Geräusche.
Als ihre Füße das kalte Flusswasser berührten, blieb sie abrupt stehen. Verzweifelt versuchte sie, Luft in ihre schmerzenden Lungen zu pumpen.
Ein Knacken im Schilf ließ sie aufschreien. Sie presste die Hand vor den Mund und rannte.
Rannte um ihr Leben.
»Guten Morgen, alle zusammen.« Der Bass von Hauptkommissar Wilfried Knebel dröhnte über die plappernde Tischrunde, während er die Tür des Besprechungszimmers schloss und Lyn mit einer knappen Handbewegung aufforderte, ihm an die Stirnseite des großen Tisches zu folgen.
»Ich möchte euch unsere neue Kollegin vorstellen. Oberkommissarin Gwendolyn Harms. Zuletzt tätig im bayerischen Bamberg bei der Sitte … Die weitere Vorstellung überlasse ich Ihnen selbst, Frau Harms.« Er zögerte kurz. »Wir duzen uns hier übrigens alle. Das ist natürlich nicht bindend, aber …«
»Schon gut«, sagte Lyn, »das ist okay. Also, meinen Namen habt ihr gehört. Harms, Gwendolyn. Ich möchte euch aber bitten, mich Lyn zu nennen. Es sei denn, ihr möchtet kein Stück dieser außergewöhnlich leckeren Marzipantorte.«
Sie stellte den Kuchenteller auf die ausgefranste Decke in der Mitte des Tisches und nahm das Tischklopfen lächelnd zur Kenntnis. Dann trat sie auf den Ersten der Runde zu und gab ihm die Hand.
»Willkommen, Lyn«, begrüßte der untersetzte Mittvierziger sie, »mein Name ist Jochen. Jochen Berthold.«
Der Rotschopf daneben stellte sich mit Lukas Salamand vor. »Auf Lukas reagiere ich allerdings kaum«, sagte er grinsend, »alle nennen mich Lurchi.«
Lyn lachte. »Ich frage nicht, warum. Ich bin alt genug, um die Werbung noch zu kennen.«
»Hallo, ich bin Karin Schäfer«, machte sich die einzige Frau am Tisch bekannt. »Ich bin die Dienstälteste in dieser Runde und freue mich, dass ich endlich weibliche Verstärkung habe. Herzlich willkommen, Lyn!«
Lyn lächelte die zierliche Mittfünfzigerin mit der flotten Kurzhaarfrisur an und hielt ihre Hand dem Nächsten in der Reihe hin.
Graue Augen musterten ihr Gesicht, während ihr Händedruck kraftvoll erwidert wurde. »Hallo, Gwendolyn aus Bayern. Nase voll von Weißwurst, Loddeln und nicht registrierten Nutten? Oder was sonst treibt dich in eine norddeutsche Mordkommission?«
Stöhnen und Gelächter am Tisch hielten sich die Waage.
Lyn lächelte süß-sauer. »Oh, der Hofnarr, wie nett! Du weißt, dass du dich gerade um deinen Anteil Torte gebracht hast?«
»Ich hasse Marzipan, Gwendolyn.«
»Dieser reizende Kollege ist Hendrik Wolff«, schaltete Wilfried Knebel sich ein. »Anscheinend ist er heute nicht in der Lage, ein vernünftiges Wort herauszubringen. Also ignoriere ihn am besten, Lyn.«
»Das wird mir nicht schwerfallen«, murmelte Lyn, das Grinsen des dunkelblonden Wolff mit dem markanten Gesicht ignorierend, und begrüßte nacheinander den Rest der neuen Kollegen.
»Es geht doch nichts über ein gutes Stück Torte um acht Uhr morgens«, sagte Wilfried Knebel fünf Minuten später, goss sich eine Tasse Kaffee ein und rückte seinen Block zurecht.
»Wie weit seid ihr mit der Messerstecherei in Pinneberg?«, wandte er sich kauend an Thilo Steenbuck, der gerade das dritte Stück Zucker in seinem Kaffeebecher versenkte.
»Der Täter ist zweifelsfrei identifiziert. Ahmet Müzel. Haben ihn gestern Nachmittag noch dem Haftrichter vorgeführt. Sitzt in Neumünster ein, lacht sich wahrscheinlich jetzt schon ins Fäustchen und plant das nächste Ding. Der Sack hat gestern die ganze Zeit gegrinst. Ich hätte ihm die Fresse polieren können, ehrlich.«
Amüsiert registrierte Lyn Wilfried Knebels »Äh, danke, Thilo«. Der Hauptkommissar blickte sie wie um Entschuldigung heischend an.
Lyn zuckte mit den Schultern. Frustrierte Kollegen hatte es auch in Bamberg gegeben.
Weit weniger amüsant fand Lyn ihr Gegenüber. Hendrik Wolff lauschte anscheinend hoch konzentriert seinem Chef, aber sie sah aus dem Augenwinkel, dass er sie fortwährend musterte. Sie seufzte fast unhörbar. Diese Typen kannte sie ebenfalls zur Genüge. Gut aussehend, sportlich und in höchstem Maße arrogant und von sich eingenommen. Ein Typ wie ihr Exgatte. Ein Kotzbrocken!
Als die Tür des Besprechungszimmers nach einem leichten Klopfen geöffnet wurde, wandten sich alle Blicke der kleinen, runden Frau zu, die auf Knebel zumarschierte. In ihrem quietschgelben Sommerkleid erinnerte sie Lyn an einen aufgeplusterten Kanarienvogel.
»Entschuldige, Wilfried, aber die Einsatzleitstelle hat gerade durchgeklingelt. Die Kollegen von der Schutzpolizei haben am Elbstrand bei Hollerwettern zwischen Wewelsfleth und Brokdorf eine Wasserleiche. Mit Stichverletzungen, wie es aussieht.«
»Danke, Birgit«, nickte Wilfried Knebel der Sekretärin zu und wandte sich an seine Kollegen: »Wer will rausfahren?«
Lyn starrte in die Runde. Wow! Ihr erster Tag und schon eine Leiche.
»Vielleicht sollte ich fahren, bevor ihr mit ausgekotzter Torte wertvolle Spuren am Tatort vernichtet«, sagte Hendrik Wolff und sprang auf. »Wie sieht’s aus, bayerische Gwendolyn, willst du mich begleiten? So ‘ne Wasserleiche ist doch mal was anderes als ein Gletscher-Ötzi. Bete, dass sie noch nicht so lange im Wasser lag.«
Lyn imitierte sein Grinsen. »Warst du im Geografieunterricht dauerkrank? Ötzi war Österreicher. Und Bayern hat Seen. Große Seen mit viel Wasser.«
Knebel lachte. »Eins zu null für Bayern. Ich überlasse es dir, ob du Hendrik begleiten möchtest, Lyn. Vielleicht willst du ja lieber erst einmal das Haus und deinen Schreibtisch kennenlernen.«
»Ist das hier ein Nichtraucher-Dienstfahrzeug?«, fragte Lyn und zog den Aschenbecher auf, während sie an der Ampel bei Sterling in der Lindenstraße warten mussten.
»Theoretisch nicht, aber praktisch schon. Jedenfalls wenn ich fahre«, sagte Hendrik und schob den halb vollen Aschenbecher wieder zurück.
Lyn verkniff sich einen Kommentar. »Ist die Spurensicherung auch unterwegs?«
»Selbstverständlich, Frau Kollegin. Wilfried hat sie persönlich in Gang gesetzt.«
Hendrik trat aufs Gas, nachdem sie zwei Kreisel hinter sich gelassen hatten und Itzehoe verließen.
»Es wird dir an der Elbe gefallen, Gwendolyn. Von der Leiche mal abgesehen natürlich. Sehr idyllisch. Ich jogge am Wochenende gerne dort.«
»Wer hätte das gedacht? Wir haben etwas gemeinsam. Ich laufe auch. Um welche Uhrzeit trifft man dich dort an?« Sie studierte kurz sein Profil. Die gerade Nase, das energische Kinn.
»Lass mich raten«, sagte er, die Geschwindigkeitsbegrenzung von achtzig Stundenkilometern um satte fünfzig Stundenkilometer überschreitend, »sage ich morgens, läufst du abends. Und umgekehrt. Richtig?« Lächelnd sah er sie an.
»Schlaues Bürschchen.«
Hendrik grinste. »Dann lassen wir’s drauf ankommen.«
Lyn atmete noch einmal tief durch. Dies war nicht ihre erste Leiche, aber beim Anblick des toten Mädchens überzog, trotz Julisonne, eine Gänsehaut ihre Arme. Sie hatte nicht mit einem Kind gerechnet. Sie konnte den Blick nicht von dem schmalen Gesicht lösen. Die rechte Seite des Kopfes, die im Elbschlick gelegen hatte, war bizarr von dem jetzt verkrusteten Schlamm gezeichnet. Der Dreck reichte bis in den leicht geöffneten Mund.
Lyn schluckte, als eine grünlich schimmernde Schmeißfliege auf der Nase des Mädchens landete, über die bläuliche Oberlippe lief und kurz in der Mundhöhle verschwand. Als sie wieder auftauchte, wedelte Lyn sie angewidert mit der Hand fort. Das eklige Insekt stahl dem toten Kind die Würde.
Die blassbläuliche Haut der anderen Gesichtshälfte des Mädchens war fast makellos sauber. Dem mit Schlick und Reetstückchen durchsetzten blonden Haar hatte die Sonne noch nicht alle Feuchtigkeit entzogen.
»Merkwürdig«, murmelte Lyn und hob mit ihren behandschuhten Fingern die schwere dunkelgraue Wolljacke am Handgelenk des Kindes an, »sie trägt eine dicke Jacke und dazu noch ein langärmeliges Shirt. Und das, obwohl es sich momentan sogar nachts kaum abkühlt.«
Sie ließ die Wolljacke wieder los und ging ein Stück zur Seite, um den Rechtsmediziner, der vor einer halben Stunde eingetroffen war, nicht an seiner Arbeit zu hindern.
Lyn sah den Hünen mit dem strohblonden Haar an. »Was glauben Sie? Wann ist der Tod eingetreten?«
»Schätzungsweise zwischen zwanzig Uhr und vier Uhr letzte Nacht. Genaueres sage ich Ihnen nach der Obduktion.« Dr. Helbing wischte sich mit dem Ärmel des Overalls über die schweißnasse Stirn. »Diese schwüle Hitze macht einen fertig. Sind Sie neu bei den Itzehoern?«
»Mein erster Tag.«
»Und dann so etwas.« Er wies auf die tote Kleine und schüttelte seinen Kopf.
»Was glauben Sie, wie alt ist sie?«, fragte Lyn. »Irgendwie fällt es mir schwer, sie einzuschätzen.«
»Zwölf. Dreizehn vielleicht.«
Lyn seufzte. Sophie war auch zwölf. Eine grässliche Vorstellung, sie könnte hier liegen. Auf dem grauen Reethaufen, angeschwemmt von der Flut, mit leerem, totem Blick.
»Auf ihrem Rücken, sind das Stichwunden von einem Messer? Glauben Sie, dass sie schon tot war, als sie ins Wasser geworfen wurde?«
Dr. Helbing blickte kurz zu Lyn auf. »Zu Frage eins: Mit Sicherheit, ja. Klingenbreite folgt im Bericht. Zu Frage zwei: Kann ich nicht sagen. Wir müssen sehen, ob sie Elbwasser in der Lunge hat.«
Ein Stückchen weiter war die Spurensicherung damit beschäftigt, die Fundstelle im Elbschilf abzusuchen. Bei aller Vorsicht wirkten die Männer in Gebärden und Sprache hektisch. In ein paar Stunden würde das Wasser zurück sein und eventuelle Spuren wegspülen.
Dr. Helbing war Lyns Blick gefolgt. »Den zweiten Schuh haben Ihre Kollegen wohl noch nicht entdeckt?«
Lyn schüttelte den Kopf. »Sieht nicht so aus.« Ihr Blick wanderte zu dem rechten Fuß des Kindes, an dem der blaue Leinenschuh fehlte, dessen Pendant sie am linken trug. Ein Häschenmotiv zierte den Rand der Kindersocke.
»Ich denke, sie werden ihn hier auch nicht finden.«
Lyn blickte überrascht auf. »Warum glauben Sie das?«
»Sehen Sie sich ihren Fuß an.«
Er hatte die rechte Socke vorsichtig von dem schmalen Fuß gezogen. Bläuliche Schnitte von unterschiedlicher Größe waren an der Fußsohle zu erkennen.
»Diese Verletzungen hat sie sich zweifellos beim Laufen über eine längere Distanz geholt. Spitze Steine, scharfes Reet«, er deutete zur Elbe, »sie hat sich im oder am Wasser die Füße daran aufgeschnitten. Genaueres natürlich erst im Bericht. Aber ich täusche mich selten.«
»Sie ist vor ihrem Mörder geflohen«, murmelte Lyn erschüttert, »ist um ihr Leben gerannt … und hat verloren.«
Dr. Helbing hob die Schultern. Zu weiteren Spekulationen wollte er sich anscheinend nicht hinreißen lassen.
Lyn verabschiedete sich und wandte sich nach links. Vor dem mit rot-weißem Flatterband abgesperrten Bereich hatten sich die ersten Gaffer eingefunden.
Auf einer braunen Kunststoffbank neben dem Polizeibus saß Hendrik Wolff mit dem Mann, der die Kleine im Schilf entdeckt und ans Ufer gezogen hatte. Lyn schätzte den Grauhaarigen mit den ausgebeulten Cordhosen und dreckigen Gummistiefeln auf Anfang siebzig. Sein gebräuntes, wettergegerbtes Gesicht zeugte davon, dass er oft an der frischen Luft war.
»Harms, Kripo Itzehoe«, stellte sie sich – das erste Mal mit der neuen Dienststelle – vor.
»Das ist Heinrich Kelting. Er hat die Tote heute Morgen gegen sechs Uhr fünfundvierzig bei seinem Morgenspaziergang entdeckt«, übernahm Hendrik die Vorstellung.
Lyns Blick fiel auf den Handkarren, der neben der Bank stand. Die große zerschlissene Karstadt-Tüte darauf war bis zur Hälfte mit Unrat gefüllt.
»Sie sammeln Müll beim Spazierengehen, Herr Kelting?«
»Na, eigentlich nur nebenbei. Gibt ja so viel Dreckfinken … Eigentlich sammel ich Treibholz und brauchbare Dinge. Sie glauben gar nicht, was man manchmal findet.« Sein Blick glitt zu den Leuten der Spurensicherung. »Außer heut’, mein ich.«
»Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen?«, fragte Lyn den alten Mann. »Andere Personen? Spaziergänger?«
»Nee. Hab ich Ihr’m Kollegen schon gesagt. Da war keiner außer mir.«
»Wo wohnen Sie, Herr Kelting?«
»Dor, achtern Diek, also ich mein: hinter dem Deich.«
Lyn lächelte. »Ich habe Sie schon verstanden, Herr Kelting.«
»Du verstehst Plattdeutsch?«, hakte Hendrik erstaunt nach. »Bayern ist auch nicht mehr das, was es mal war.« Er lächelte Heinrich Kelting an. »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie beim Hochdeutschen bleiben könnten, weil ich sonst kein Wort verstehe.«
»Haben Sie gestern Abend irgendetwas bemerkt, Herr Kelting? Waren Sie noch mal draußen? Nach zwanzig Uhr?«, fragte Lyn und ignorierte Hendriks leicht genervten Gesichtsausdruck. Natürlich hatte er diese Fragen schon gestellt, aber sie wollte die Antworten lieber von Heinrich Kelting als von Hendrik Wolff.
»Nee, so spät nicht, aber um sieben kuck ich jeden Abend noch mal übern Deich. Aber da war nix. Na ja, so gut sind meine Augen allerdings auch nicht mehr. Die Deern lag ja weit im Schilf. Da hätt’ ich wohl ein Kuckglas gebraucht … Wer tut so was nur? So ‘ne schöne kleine Deern.«
Lyn ließ Hendrik die Vernehmung beenden.
»Wir müssen einen Fährtensuchhund ordern«, sagte sie, nachdem sie den alten Mann verabschiedet hatten. »Der Rechtsmediziner hat mir eben den Fuß des Mädchens gezeigt. Die ganze Fußsohle ist aufgeschnitten. Sie muss völlig in Panik gewesen sein. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass sie selbst in die Elbe gelaufen ist. Der Hund wird vielleicht herausfinden, von wo sie gekommen ist, wo sie gelaufen ist. Vielleicht haben auch die Stichverletzungen im Rückenbereich irgendwo Blutspuren hinterlassen.«
Lyn und Hendrik standen schweigend daneben, als die Bestatter die Kinderleiche in den kalt glänzenden Transportsarg legten.
»Wie blass sie ist«, sagte Lyn leise.
»Äh … sie ist tot. Da sieht man nicht wie das blühende Leben aus.«
»Nein, nein«, schaltete der Gerichtsmediziner sich nach Hendriks Bemerkung ein, »Ihre Kollegin hat schon recht. Das Kind ist extrem weiß … Nun, wir werden sehen, was die Obduktion ergibt.«
Er verabschiedete sich und eilte mit großen Schritten den Deich hoch. »Bericht kommt noch heute Abend«, schrie er, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Lyns Blick klebte an dem Mädchen. »Irgendetwas ist an diesem Kind merkwürdig«, sagte sie. »Es ist ja nicht nur ihre Blässe. Diese Hose! Die ist doch mindestens zwei Nummern zu groß. Und die altbackene Wolljacke. Ich kenne kein Mädchen, das diese Sachen freiwillig tragen würde.«
»Ist ja nicht jeder so trendy wie du, Bavaria«, grinste Hendrik und ließ seinen Blick über ihr Shirt und die enge Weste gleiten, die ihre schmale Taille perfekt zur Geltung brachte.
Lyn ignorierte seine Bemerkung. Sie sah der Hundeführerin entgegen, die mit ihrem Schäferhund den Deich herunter auf sie zukam. »Svea?«, stieß Lyn freudig aus.
Die Polizistin mit dem Hund stutzte kurz, dann rief sie ebenso ungläubig: »Harmsi? Ich fass es nicht. Was machst du denn hier?«
»Hi, Svea«, rief Hendrik der Kollegin entgegen, und an Lyn gewandt, »Harmsi? So langsam glaube ich, dass du nicht immer in Bayern gewohnt hast.«
»Du hättest zur Kripo gehen sollen.«
Die uniformierte Polizistin umarmte Lyn, als sie bei ihnen ankam. »Mensch, Harmsi, das ist zwanzig Jahre her, dass wir uns zuletzt gesehen haben. Ich wusste ja, dass du auch zur Polizei wolltest, aber ich dachte, du würdest in Bayern leben. Mit Mann und Kind und Haus. Hat dein Vater mir mal erzählt.«
»Ich lebe jetzt wieder hier«, murmelte Lyn.
Svea und auch Hendrik blickten sie neugierig an. Zweifellos wollte man Details.
»Kollege Wolff hat die Socke des Kindes«, sagte Lyn stattdessen und deutete auf das Plastiktütchen, das Hendrik in der Hand hielt, »hoffen wir, dass dein Hund etwas findet.«
»Viel Glück!«, sagte Hendrik zu Svea, nachdem er ihr die Tüte überreicht hatte. »Wir sehen uns später. Ich fahre jetzt mit Harmsi kurz zurück. Aktuelle Vermisstenfälle checken.«
»Und, wie war’s?«, fragte Karin Schäfer und stellte Lyn einen Becher Kaffee auf die Schreibtischplatte.
Lyn war dankbar für die Unterbrechung und klickte das braunhaarige Mädchen mit der Zahnlücke vom Computerbildschirm. Fehlanzeige. Das Kind wurde seit drei Wochen in Kiel vermisst, war aber allen Erkenntnissen zufolge von ihrem pakistanischen Vater in dessen Heimat entführt worden.
»Ehrlich gesagt: grässlich. Meinen ersten Tag hatte ich mir doch irgendwie anders vorgestellt.«
»Warum ist eigentlich die Kaffeekanne immer leer, wenn ich einen trinken möchte«, platzte Hendrik ins Zimmer, hockte sich auf die Kante von Lyns Schreibtisch und drehte seinen Kopf Richtung Computerbildschirm. »Lass uns eine bundesweite Erkenntnisanfrage machen. Die aktuellen Vermisstenfälle in der Gegend geben nichts her. Unsere Kleine ist nicht dabei. Oh, Kaffee!«
»Lyns Kaffee«, sagte Karin Schäfer und nahm ihm den Becher wieder aus der Hand. »Wer nie kocht, hat auch kein Anrecht auf Kaffee.«
»Ach, Schäferlein, sei doch nicht so hässlich zu mir. Dein Kaffee schmeckt nun einmal am besten.«
»Besser als Birgits?«, fragte sie grinsend.
»Jeder Kaffee schmeckt besser als Birgits«, lachte Hendrik auf, »aber dieser …«, er deutete auf ihren Becher, »sieht besonders gut aus.«
»Jetzt sieh dir diesen Blick an«, sagte Karin lachend zu Lyn, »da kann man doch gar nicht anders, oder? Hier, du Charmeur. Nimm meinen. Ich koche gleich eine neue Kanne. Ihr seid ja beschäftigt.«
»Diese Wirkung habe ich auf ältere Frauen«, sagte Hendrik grinsend als Erwiderung auf Lyns ungläubigen Gesichtsausdruck, nachdem sich die Tür hinter Karin geschlossen hatte.
»Nicht auf mich.«
»Du kennst mich erst einen halben Tag. Außerdem bist du nicht alt.«
»Älter als du.«
»Was sind schon zwei, drei Jahre? Ich bin neunundzwanzig.«
»Kleiner, ich bin achtunddreißig. Und jetzt trink deinen Kaffee und lass die gute Tante Harms ihre Arbeit machen.«
Die Altersangabe schien ihn ein wenig aus der Fassung gebracht zu haben. Er blickte sie ungläubig an und stand vom Schreibtisch auf. Zu Lyns Unmut ärgerte sie sich darüber.
»Lyn, Hendrik? Ihr müsst gleich noch mal los«, platzte Wilfried Knebel ins Zimmer, »der Hund hat eine Spur aufgenommen. Die Kleine muss über die Felder zum Deich gelaufen sein. Kümmert euch darum. Nehmt am besten noch Karin mit. Dann seid ihr mit der Befragung der Anwohner schneller durch. Die Vermisstenfälle kann Lurchi am Computer checken.«
»Wohnst du in Itzehoe?«, fragte Karin Schäfer Lyn beiläufig, nachdem sie die Stadt das zweite Mal im Dienstwagen verlassen hatten. Lyns Blick streifte die spargeligen Windräder auf den Hochfelder Weiden, die es noch nicht gegeben hatte, als sie Schleswig-Holstein den Rücken gekehrt hatte.
»Nein, ich wohne in Leichenfundortnähe. In Wewelsfleth. Ich habe dort ein kleines Häuschen gemietet.«
Hendrik sah sie verblüfft an. Lyn hoffte, dass Karin keine weiteren Fragen stellen würde, aber sie sah sich getäuscht.
»Hast du Familie oder lebst du allein?«
»Wenn ihr’s denn genau wissen wollt: Ich lebe von meinem Mann getrennt. Ich habe zwei Töchter, die im Moment noch bei ihrem Vater sind, aber bald nachkommen.«
Lyn war sich bewusst, dass ihre Antwort sehr gereizt rübergekommen war.
Karin wirkte betreten. »Tut mir leid, Lyn, ich war wohl zu neugierig.«
Lyn blickte aus dem Fenster. »Ich bin gespannt, was der Hund entdeckt hat.«
»Hier endet die Spur.« Svea Magens tätschelte dem Schäferhund kräftig den Kopf. »Bosco hat die Fährte ein gutes Stück oberhalb der Leichenfundstelle aufgenommen und uns bis hierher geführt.«
Lyn blickte sich um. Sie standen auf einer geteerten Nebenstraße, die in dreihundert Metern Entfernung in die Bundesstraße 431 mündete. Der Elbdeich lag noch einmal einen guten Kilometer entfernt. Parallel zur Nebenstraße verlief die Wettern. Lyn zog die Nase kraus. Anscheinend war der kleine Kanal gerade ausgebaggert worden, denn der mächtige Schlammhaufen, der sich auf großer Länge an der Grabenkante entlangzog, verströmte Modergeruch.
Uniformierte Polizisten waren dabei, das Gelände großräumig abzusperren.
»Zweifellos hat sie hier gelegen«, sagte ein Kollege von der Spurensicherung. Lyn starrte auf das Grasstück entlang der Wettern, das anscheinend lange nicht gemäht worden war. Die hohen Halme von Gras und blühendem Wiesenkraut waren an einer Stelle niedergedrückt. In Gedanken legte Lyn den schmalen Kinderkörper auf die platte Fläche. Es passte.
»Wenn der Hund keine Witterung mehr hat, bedeutet das wohl, dass sie aus einem Auto oder dergleichen hier abgelegt wurde, oder?«, wandte Hendrik sich fragend an den Kollegen der Spurensicherung.
»Wahrscheinlich.«
»Sie wird sich kaum freiwillig hier hingelegt haben«, sinnierte Hendrik weiter, »also war sie vermutlich gefesselt. Oder betäubt. Wollte der Täter, ich gehe mal davon aus, dass es ein Mann ist, sie hier ersäufen? Warum haben wir sie da hinten am Elbdeich gefunden?« Er deutete auf den entfernten Deich, auf dem sich Dutzende Schafe als cremefarbene Punkte tummelten.
Der Kollege von der Spurensicherung hob die Schultern. »Mit Sicherheit hat der Täter sie hier aus einem Fahrzeug geladen und im Gras abgelegt. Reifenspuren können wir vergessen. Die Straße ist so schmal, dass alle Wagen, die sich hier begegnen, auf den Grünstreifen ausweichen müssen. Da ist alles platt.«
»Gibt es Blutspuren an der Ablegestelle?« Lyn deutete auf das niedergedrückte Gras.
»Nein. Vielleicht war sie in eine Decke oder Folie gewickelt. Aber das finden wir raus. Hier, das dürfte Sie interessieren!« Er ging zu dem Polizeibus und kam mit einer Plastiktüte zurück.
»Der Schuh!«, rief Lyn, »wo haben Sie ihn gefunden?«
»Dort, gut fünfhundert Meter entfernt hinter den Weiden. Neben dem Teerweg auf der anderen Seite der Bundesstraße. Er führt zum Elbdeich. Ohne Zweifel ist sie die Strecke gelaufen und hat den Schuh dort im Gebüsch verloren.«
Hendrik schüttelte den Kopf. »Macht irgendwie alles keinen Sinn, oder? Gehen wir mal davon aus, dass der Täter sie hier abgelegt hat, um sie in der Wettern zu ertränken. Warum hat er es nicht getan? Hatte sie hier überhaupt schon die Stichverletzungen? Oder hat er ihr die erst an der Elbe zugefügt?«
Der Mann von der Spurensicherung schüttelte seinen Kopf. »Es gibt Bluttropfen auf dem gesamten Weg bis zum Deich. Zwar nur vereinzelt, das meiste wird die Kleidung aufgesogen haben, aber die Kleine war schwer verletzt, als sie die Strecke lief.«
»Warum hat er sie nur schwer verletzt?«, fragte Hendrik in die Runde. »Warum hat er sie nicht gleich getötet?«
»Und wenn er gar nicht wusste, dass sie noch lebt?« Lyn starrte ins Nichts. »Er hat ihr ein Messer zweimal in den Rücken gestoßen, wo auch immer, und dachte, sie ist tot. Vielleicht wollte er ihren Leichnam hier versenken. Tief genug wäre die Wettern. Sie ist frisch ausgebaggert. Er hat das Mädchen also hier abgelegt«, sie deutete auf das platte Gras, »ist dann aus irgendeinem Grund noch einmal zum Auto zurück, vielleicht um Gewichte zu holen«, sie lief zur Straße und wühlte in einem imaginären Kofferraum, »und als er zurückkam, war sie weg.«
»Sie war schwer verletzt. Auch wenn sie aus einer Bewusstlosigkeit erwacht und geflohen ist, müsste er sie schnell eingeholt haben.« Hendrik sah sie skeptisch an.
»Es war Nacht. Sieh dich um, hier gibt es keine Straßenlaternen. Bis zur Landstraße ist es nicht weit. Und auf der anderen Seite der Landstraße hat sie sich hinter den Weiden verkrochen. Dort wurde der Schuh gefunden. Er kann leicht an ihr vorbeigelaufen sein. Oder die entgegengesetzte Richtung eingeschlagen haben.«
Hendrik blickte zum Elbdeich. »Deine Theorie hat einen Haken, Bavaria. Wenn sie vor ihrem Mörder geflohen ist, warum hat sie dann nicht Schutz in einem der Häuser gesucht?«
Er deutete auf eine kleine reetgedeckte Kate und ein Bauernhaus, die entlang des Teerweges standen, auf dem das Kind zweifellos gelaufen war.
»Gute Frage«, sagte Lyn ernüchtert, »Panik?«
»Wie es aussieht, hat sie sogar einen Bogen um zwei weitere Häuser gemacht, die direkt am Elbdeich liegen«, klinkte Svea sich ein, »der Hund hat die Spur exakt verfolgt. Es sieht also nicht nach Panik, sondern nach Bedacht aus. Sie hat bewusst bewohntes Gebiet gemieden.«
»Aber warum?« Lyn spielte gedankenverloren mit einer Strähne ihres halblangen, gestuften Haars. Was war in dem Mädchen vorgegangen?
Hendriks Handy holte sie in die Wirklichkeit zurück. Lyn zog eine Augenbraue in die Höhe, als sie seinen Klingelton erkannte. Die James-Bond-Filmmelodie.
»Ein Anruf für 007?«, fragte sie spöttisch.
»Ich lade dich gern mal auf einen Martini zu mir ein«, parierte er grinsend, »Mister Bond bekommt immer die schönsten Frauen.«
Lyn war froh, als er endlich das Gespräch annahm. Ein kurzes Gespräch.
»Das war Wilfried. Er schickt uns Lurchi und Jochen zur Verstärkung«, sagte er zu Lyn, »je schneller wir mit der Befragung der Anwohner durch sind, umso besser.«
Gähnend tappte Lyn die schmale Holztreppe hinunter. »Scheiße!«, fluchte sie, als sie auf dem Weg in die Küche schmerzhaft daran erinnert wurde, dass Unordentlichkeit gern bestraft wurde. Vorsichtig knetete sie ihren kleinen Zeh, mit dem sie gegen den Umzugskarton gestoßen war.
»Weg hier«, murmelte sie und zog den Karton von dem engen Flur ins Wohnzimmer, wo sie ihn im Essbereich auf seinen Zwilling hievte. Seufzend blickte sie sich um. Ihrem Häuschen fehlte es eindeutig an Platz und ihr selbst an Zeit.
Sie öffnete den Deckel des oberen Kartons und griff nach dem erstbesten, in Zeitungspapier gewickelten Gegenstand. Sie zerfetzte das Stück Süddeutsche Zeitung und hielt das fragile, mit Blattgold überzogene Zuckerdöschen ihrer Großmutter in Händen. Lächelnd stellte sie es auf den alten Sekretär, den sie in die Ecke neben Terrassentür und Büfett gequetscht hatte. Sie stopfte das zerknüllte Zeitungspapier in den Karton zurück und klappte den Deckel wieder zu. Irgendwann würde der Inhalt der Kisten verstaut sein.
In dieser Gewissheit schlurfte sie in die seit drei Tagen eingeräumte Küche. Erst hinter der zweiten Schranktür fand sie die Kaffeedose. Als die Kaffeemaschine lief, ging sie unter die Dusche. Mit dem Föhn pustete sie anschließend den beschlagenen Spiegel frei und sah sich an.
So sah die Frau aus, die Bernd Hollwinkel nach sechzehn Jahren Ehe verlassen hatte. Verlassen für eine blonde, nicht einmal besonders attraktive siebenundzwanzigjährige Finanzbeamtin, die sie beide aus dem Ruderclub kannten.
Lyns Kopf ruckte vor, bis die Nase fast den Spiegel berührte. Die leichten Krähenfüße konnten nicht den Ausschlag gegeben haben. Und ganz gewiss auch nicht ihre Augen. Er hatte das Kakaobraun doch immer so geliebt. Gut, ihr herzförmiges Gesicht war vielleicht einen Tick zu breit, die Lippen vielleicht zu voll, aber die durchaus noch straffe Haut glich das doch wieder aus! Lyn seufzte und streckte sich selbst die Zunge raus.
Dinge passieren, hatte er gesagt. Liebe könne man nicht steuern. Miriam wäre sein Yin.
Nach dem Satz hatte sie Yang die Bodenvase von Hutschenreuther vor die Füße geworfen. Ein Hochzeitsgeschenk seiner Eltern. Dann hatte sie, zum letzten Mal, seine Koffer gepackt und sie auf dem direkten Weg aus dem Obergeschoss auf den Rasen befördert, die Scheidung eingereicht und ihren Mädchennamen wieder angenommen. Das alles lag Monate zurück. Seit einer Woche hatte sie die Ära Bayern endgültig hinter sich gelassen.
Sie riss sich von ihrem Spiegelbild los. Im Eiltempo föhnte sie das braune Haar, schminkte Augen und Lippen und wählte zu der weißen Leinenhose ein türkisfarbenes Shirt.
In der Küche stellte sie den Honigtopf wieder in den Schrank zurück, nachdem sie festgestellt hatte, dass nur noch ein schimmliger Kanten Weißbrot im Haus war. Der Bäcker war zwar nicht weit entfernt, aber ihr fehlte der Antrieb. Mit dem Kaffeebecher in der Hand starrte sie durch die Butzenscheiben des Küchenfensters.
Würden sie heute herausfinden, wer das tote Mädchen war? Sie hatten in der vergangenen Nacht bis weit nach Mitternacht gearbeitet, ohne auch nur einen einzigen konkreten Hinweis zu erlangen. Die Anwohnerbefragungen hatten nichts ergeben. Es gab keine Hilfeschreie, und niemand hatte das Mädchen oder verdächtige Personen bemerkt. Auch die bundesweite Erkenntnisabfrage war ergebnislos verlaufen. Von den vielen vermissten Mädchen in Deutschland war keines mit der Toten in der Elbe identisch.
Lyn hatte unruhig geschlafen. Der Fall hatte sie bis in die frühen Morgenstunden nicht losgelassen. Wer war die Kleine?
Der Gedanke beschäftigte sie auch noch, als sie ihren Wagen in Itzehoe auf dem Parkplatz neben dem Polizeihochhaus parkte.
»He, Bavaria, das ist mein Parkplatz«, erklang Hendrik Wolffs Stimme hinter ihr, als sie aus ihrem knallroten Beetle stieg. Er hatte die Scheibe seines Volvo heruntergefahren und ausnahmsweise kein charmantes Lächeln auf den Lippen.
»Zeig mir den Grundbuchauszug, der beweist, dass dies dein Parkplatz ist. Mir hat Wilfried gestern erklärt, dass ich in diesem Bereich parken kann«, sagte Lyn und schloss ihren Wagen ab. »Er hat nicht gesagt, dass es reservierte Plätze gibt.«
»Theoretisch gibt es die auch nicht, aber praktisch schon. Gewohnheitsrecht. Ich stehe immer hier.«
»Heute nicht.«
Ein zufriedenes Grinsen umspielte Lyns Lippen, als sie hinter sich einen aufheulenden Motor hörte.
»Guten Morgen, alle zusammen.« Wilfried Knebel blickte über seine Brille in die Frühbesprechungsrunde. »Jeder, der nichts Aktuelles zu bearbeiten hat, ist ab sofort in der Moko ›Elbe‹. Das heißt wohl«, er blickte noch einmal alle der Reihe nach an, »alle außer Thilo. Du bringst erst den Papierkram mit dem türkischen Messerstecher zu Ende.«
»Ist der Obduktionsbericht endlich da?«, hakte Hendrik nach und deutete auf das Papier vor Knebel.
Wilfried nickte. »Dr. Helbing entschuldigt sich. Bis gestern Abend war das nicht zu schaffen. Die Rechtsmedizin scheint völlig überfordert zu sein. Urlaub, Krankheit, was weiß ich.«
Er starrte auf das Hamburger Protokoll. »Tod durch Ertrinken. Elbwasser in der Lunge. Wahrscheinlich ist, dass sie durch die Schwere ihrer Verletzungen im Wasser zusammengebrochen ist. Sie hat zwei Einstichwunden im oberen Rückenbereich. Interessant ist: Der Vaginalbereich ist völlig intakt. Keine Vergewaltigung. Sie menstruierte.«
»Vielleicht der Grund, warum es nicht zu einem Missbrauch kam?«, mutmaßte Lyn.
»Gut möglich. Geholfen hat’s ihr aber nicht«, sagte Jochen Berthold.
Nach der Besprechung vergrub sich Lyn an ihrem Schreibtisch in das rechtsmedizinische Gutachten. Die Stichverletzungen der Kleinen rührten von einem Messer mit Sägezahnung der Schneide und einer Klingenbreite von 2,8 Zentimetern. Ein handelsübliches Tomatenmesser, wie es auch in ihrer Schublade lag. Die Schnittverletzungen an der Fußsohle stammten von scharfen Steinen und Glasscherben. Dr. Helbing hatte also recht gehabt.
Lyn trank einen Schluck Kaffee. Das Kind war am Elbufer gelaufen. In tiefster Nacht.
Dr. Helbing hatte den Todeszeitpunkt zwischen Mitternacht und drei Uhr festgelegt. Sie musste gerannt sein, ohne Rücksicht auf die Schmerzen in ihrem Rücken und auf die Schmerzen, die spitzkantige Steine und Glasscherben ihren Füßen zufügten. Lyn griff nach ihrer Handtasche. Es war Zeit für eine Zigarette.
Das Raucherareal, das Dach des Dienstgebäudes, war zum Glück leer. Ihr war nicht nach Smalltalk. Sie inhalierte den Rauch der Zigarette tief, während ihr Blick über die Ruinen der ehemaligen Zementfabrik Alsen glitt.
War die Kleine in Todesangst, in Panik, vor ihrem Mörder davongelaufen? Lieber in das tiefe, kalte Elbwasser gerannt, als den letzten todbringenden Stich zu empfangen? Und … warum vermisste niemand das Kind?
Nach drei weiteren Zügen drückte Lyn die halblange Kippe aus und eilte zu ihrem Schreibtisch zurück.
Der Zahnstatus des Mädchens war interessant. Es gab etliche Fehlstellungen. Das Kind schien nie eine Zahnarztpraxis von innen gesehen zu haben. Der Ernährungszustand war gut. Hingewiesen wurde einzig auf die Regelblutung und die Haut. Dr. Helbing äußerte im Bericht einen Verdacht, der Lyns Beobachtung, dass das Kind eine extrem blasse Haut hatte, bestätigte.
Betroffen las sie den Absatz noch einmal, als Birgit an ihre offene Tür klopfte. »Lyn, der Chef bittet alle schleunigst ins Besprechungszimmer. Es scheint bahnbrechende Neuigkeiten zu geben.«
Wilfried Knebel nahm seine Brille ab, rieb sich kurz den Nasenrücken und blickte in die Runde im Besprechungszimmer. »Hammer-Nachrichten, Leute! Ein echter Hammer!«
»Nun sag schon, was ist los? Hat die bundesweite Erkenntnisanfrage noch Erfolg gehabt? Wird das Kind irgendwo vermisst?«, fragte Hendrik. Er krakelte, ohne hinzusehen, mit seinem Kugelschreiber wirre Muster auf den Block vor sich.
Wilfried setzte seine Brille wieder auf und starrte auf das Schriftstück vor seinen Augen. »Erinnert ihr euch an den Kindsraub in Marne vor elf Jahren? Den sogenannten Robin-Hood-Fall?«
»Natürlich«, sagte Karin Schäfer, »die kleine Nele, die beim Rosenmontagsumzug verschwand. Entführt von einem Mann im Robin-Hood-Kostüm. Man hat sie nie gefunden. Es war frustrierend.«
Wilfried blickte über den Rand seiner Brille in die Runde. »Sie wurde gefunden. Gestern Morgen. Am Elbdeich.«
Die Stille am Tisch war spürbar. Lyn schluckte. Hendriks Hand hatte aufgehört, mit dem Kuli zu spielen.
»Du … du meinst, das tote Mädchen am Elbdeich ist … ist die Kleine aus Marne?«, fragte Lukas Salamand. »Woher …?«
Lyn war, wie der Rest der Runde, von der Nachricht überwältigt. Über den Robin-Hood-Fall war damals in der süddeutschen Presse berichtet worden. Aber an Details konnte sie sich nicht erinnern.
»Die Rechtsmedizin hat das DNA-Identifizierungsmuster des toten Mädchens vom Elbstrand wie gewohnt in die DNA-Datei des Landeskriminalamts eingestellt. Und das ist das Ergebnis.« Er deutete auf das Schreiben vor sich. »Die DNA-Formel des Mädchens ist identisch mit der des in Marne entführten Kindes. Es gibt keinen Zweifel.«
Wilfried holte tief Luft. »Nele Johannson aus Marne ist nach über elf Jahren wieder da. Tot!«
Hendrik stellte den Wagen aus und blickte zu dem weiß geklinkerten Einfamilienhäuschen im Marner Amselweg. »Dann wollen wir mal. Ich bin froh, dass Karin und Lurchi uns das Schlimmste gestern schon abgenommen haben.«
Lyn lief vor Hendrik den kleinen Aufgang zum Haus empor. Ihr Finger ruhte auf dem Klingelknopf, aber sie drückte ihn nicht. Ihr Blick verharrte auf dem Keramik-Namensschild neben der Tür. ›Matthias und Claudia Johannson‹ stand unter zwei sich küssenden Igeln. Dann gab es noch drei kleinere Igelschilder darunter. Mit den Namen Nele, Morten und Rieke.
Lyn schluckte. Schließlich klingelte sie.
»Es tut uns sehr leid, Herr Johannson«, sagte Lyn leise zu dem Mann, der ihr auf seinem Sofa gegenübersaß. »Ich wage kaum, mir vorzustellen, was Sie und Ihre Frau gerade durchmachen.«
Matthias Johannson blickte sie an. Sein blasses Gesicht mit den rot geränderten Augen wirkte seltsam teilnahmslos, als er sprach.
»Wissen Sie, wir hatten gerade wieder ein Leben. Verstehen Sie? In den ersten Jahren, das Hoffen, das Bangen. Nicht zu wissen, wo sie ist. Es hat uns aufgezehrt. Vor sieben Jahren haben wir dann Morten bekommen, vor vier Jahren kam Rieke. Und jetzt, nach elf Jahren, hatten wir wieder so etwas wie ein normales Leben. Die beiden Kinder haben uns aus dem Loch herausgezogen. Und gestern …«, er begann zu weinen, »da kommen Ihre Kollegen und sagen, dass Sie Nele gefunden haben. Tot!«
Lyn blickte zu Hendrik, der jede Lässigkeit verloren hatte und den weinenden Vater sichtlich unwohl betrachtete. »Wir werden den Kerl finden«, sagte er forsch, in dem Versuch, Trost zu spenden, wo es keinen Trost gab.
»Warum haben Sie ihn nicht vor elf Jahren gefunden?«, durchbohrte eine hysterische Stimme die einsetzende Stille. »Dann würde mein Kind noch leben! Meine kleine Nele, meine Kleine.«
Lyn und Hendrik drehten sich erschrocken um. Matthias Johannson war aufgesprungen und nahm seine Frau in den Arm.
»Pst, Liebes, pst. Es wird alles gut. Ich verspreche es dir. Warum schläfst du nicht? Der Doktor hat dir doch die Tabletten gegeben.«
»Wie kann ich denn schlafen, wenn ich weiß, dass mein Kind all die Jahre gelebt hat? Nach ihrer Mama geschrien hat? … Wie kannst du schlafen? Wie kannst du hier sitzen und reden?«
Laut aufweinend machte sie sich von ihrem Mann frei und stellte sich vor Lyn und Hendrik. Ihr ganzer Körper bebte wie im Schüttelfrost, während sie schluchzte: »Sie! Sie sind schuld, dass meine Kleine tot ist. Warum haben Sie sie nicht gesucht? Sie hätten weitersuchen müssen! Sie haben einfach aufgehört. All die Jahre hat sie gelebt. Gelebt! Ohne mich, ohne ihre Mama. Und Sie haben sie nicht gefunden.« Sie brach weinend zusammen. Ihr Mann nahm sie in seine Arme und führte sie aus dem Zimmer.
Als er wiederkam, war er noch blasser als zuvor. »Ich habe ihr noch eine Tablette gegeben. Sie ist mit ihren Nerven am Ende. Sie hat immer gesagt, dass Nele noch lebt. Wissen Sie, ich habe irgendwann die Hoffnung aufgegeben. Ich dachte wirklich, dass sie tot ist. Aber Claudia wollte das nicht hören. Sie sagte immer: Ich würde fühlen, wenn sie tot ist. Sie hat recht gehabt.«
»Sie können uns glauben, dass die Polizei damals alles getan hat, was in ihren Möglichkeiten lag. Auch jetzt –«
»Ich weiß das alles«, fiel Matthias Johannson Hendrik müde ins Wort, »ich weiß es. Sie dürfen es meiner Frau nicht übel nehmen. Wir haben unser Kind gerade zum zweiten Mal verloren.«
»Herr Johannson«, sagte Hendrik, »gestern war Ihre Frau, verständlich, nicht in der Lage, eine Aussage zu machen. Wir kennen natürlich die Akte, trotzdem würden wir gern noch einmal aus dem Mund Ihrer Frau hören, was genau sich vor elf Jahren abgespielt hat. Glauben Sie, ihr seelischer Zustand ließe es zu, uns einige Fragen zu beantworten?«
Matthias Johannson ging wortlos nach oben. Lyn und Hendrik schwiegen in stiller Übereinkunft. Lyns Blick wanderte durch den Raum. An den orangerot gestrichenen Wänden hingen Kinderfotografien in bunten Rahmen. Lyn erkannte sofort die lachende kleine Nele, denn es war das gleiche Bild, das sie in der Ermittlungsakte führten. Ein Blondschopf, von dem es nie ein Kindergartenfoto geben würde. Kein Bild mit Schultüte. Keine Konfirmation.
Lyn löste den Blick, als Matthias Johannson mit seiner Frau zurückkam. Ihr Anblick schnitt Lyn ins Herz. Claudia Johannson zitterte nach wie vor in Schüben. Ihre Lippen waren blutleer. Hinter den rot geschwollenen Lidern blickten die Pupillen jetzt seltsam starr. Das starke Beruhigungsmittel schien zu wirken.
»Wir wollen Sie nicht quälen, Frau Johannson«, sprach Hendrik die Frau an, nachdem ihr Mann sie an seine Seite auf das Sofa gezogen hatte, »aber wir würden gerne noch einmal von Ihnen hören, was sich vor elf Jahren beim Rosenmontagsumzug ereignet hat. Fühlen Sie sich dazu in der Lage?«
Claudia Johannson blickte Hendrik an. »Haben Sie Kinder?«
Er schüttelte den Kopf.
Sie blickte zu Lyn.
»Ich habe zwei Töchter, Frau Johannson. Zwölf und sechzehn Jahre alt.«
»Können Sie sich vorstellen, wie Ihre Tochter wohl in elf Jahren aussehen wird?« Claudia Johannson erwartete keine Antwort. Sie blickte durch Lyn hindurch. »All die Jahre habe ich versucht, mir Nele vorzustellen. Wie sie jetzt wohl aussehen würde.«
Als sie weitersprach, sah sie Lyn klar an. »Gestern habe ich mein Kind nach elf Jahren wiedergesehen. Ich konnte sie kaum entdecken in dem großen, kalten Mädchen. Sie sah so fremd aus. Und doch waren es ihre Züge. Ich wünschte, sie hätte mich noch einmal ansehen können. Ich hätte so gerne noch einmal ihre leuchtenden Augen gesehen. Sie waren so blau … wie ein Gewitterhimmel.«
»Sie war ein hübsches Mädchen«, sagte Lyn leise, »sie hatte Ihr Haar, Frau Johannson.«
»Ja, nicht? Das habe ich auch zu meinem Mann gesagt«, sagte Claudia leise, und ein Lächeln stahl sich um ihre Mundwinkel, während sie sich über ihr dichtes Blondhaar strich, das glanzlos und ungekämmt auf ihre Schultern fiel.
»Wir werden herausfinden, wo Nele in den vergangenen elf Jahren war. Und wir werden den Täter finden.« Lyn versuchte, Zuversicht in ihre Stimme zu legen.
»Er hat sie nicht missbraucht, sagten Ihre Kollegen gestern.« Claudia Johannson schüttelte ihren Kopf. »Was wollte er denn von unserem Kind? Warum hat er sie so lange festgehalten? Und warum tötet er sie nach elf Jahren? Warum jetzt?«
Lyn nickte. »Die Obduktion hat eindeutig ergeben, dass Nele nie missbraucht wurde. Sie … sie hatte ihre Menstruation, als sie starb. Wir wissen natürlich nicht, ob diese Tatsache den Täter bei seinem Tun beeinflusste. Aber wir müssen diese Möglichkeit in Erwägung ziehen. Ihre Tochter wurde nie vergewaltigt. Vielleicht bedeutete Neles Blutung Unreinheit für den Täter, und er tötete sie. Das ist natürlich alles Spekulation, aber vom Profil her könnte es passen.«
»Und … und wenn es gar kein Mann war, der sie damals entführt hat? Vielleicht war es eine Frau. Eine kinderlose Frau. Das liest man doch immer wieder, nicht wahr? Eine Frau wünscht sich ein Kind, stiehlt eines und gibt es als das ihrige aus. So könnte es doch gewesen sein.«
Lyn seufzte. Aus Claudia Johannson sprach die Hoffnung, dass eine mütterliche Frau sich in den vergangenen elf Jahren liebevoll um ihr Kind gekümmert haben könnte.
»Wir können es nicht ausschließen, dass der Täter eine Frau ist, aber einiges spricht dagegen, Frau Johannson«, klinkte Hendrik sich ein, »vor allem die Tatsache, dass sie getötet wurde. Warum hätte eine Frau, die Nele an Kindes statt aufgezogen hat, sie töten sollen? Das ergibt keinen Sinn. Der Gerichtsmediziner hat außerdem Auffälligkeiten an der Haut entdeckt. Wie es aussieht, es tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen, hat Ihre Tochter jahrelang kein Sonnenlicht gesehen. Wir müssen davon ausgehen, dass sie irgendwo versteckt gehalten wurde.«
Matthias Johannson verbarg sein Gesicht in seinen Händen. Claudia Johannson griff sich an die Kehle. Sie kämpfte mit einem Würgereiz.
»Bitte erzählen Sie uns noch einmal, was an diesem 15. Februar 1999 in Marne passiert ist, Frau Johannson«, bat Hendrik.
»Es war … so ein schöner, klarer Tag«, begann Claudia brüchig, nachdem sie Hendrik sekundenlang angestarrt hatte, fast als würde sie prüfen, ob ein Kinderloser ihrer Geschichte würdig war.
»Nele war den ganzen Morgen aufgeregt, weil sie am Nachmittag endlich ihr Schmetterlingskostüm anziehen durfte, das ich ihr genäht hatte. Die Flügel hatte Matthias aus Draht gebogen. Ich habe sie mit buntem Gardinenstoff bezogen.« Sie sah ihren Mann an und begann, mit beiden Händen nervös seine Finger zu kneten, als sie weitererzählte.
»Wir wohnten damals noch direkt an der Hauptstraße, an der der Umzug vorbeiführte. Zur Miete im zweiten Stock. Hunderte Menschen waren unterwegs. Wir sind aus dem Haus gegangen, und Nele ist vor Freude über all die bunt kostümierten Menschen auf und ab gesprungen. Wir haben dem Treiben eine Weile zugeschaut, dann wollten wir dem Umzug folgen.« Sie brach ab.
»Ich … ich wollte nur noch schnell Neles Trinkflasche holen. ›Bleib hier stehen‹, habe ich zu ihr gesagt. ›Rühr dich nicht vom Fleck. Mami ist in einer Minute wieder da.‹ Ich wollte nicht, dass sie mit ihren Schmetterlingsflügeln noch einmal durch das enge Treppenhaus mit mir nach oben gehen musste. Wir wollten doch die schönen Flügel nicht verbiegen.« Sie blickte ihren Mann an. Und der nickte und gab so sein Ja zu ihrer Entscheidung.
Lyn fragte sich, wie oft er wohl schon genickt hatte, um ihre tragische Entscheidung mitzutragen, ihr die Schuld zu nehmen.
»Ich bin dann hinaufgeeilt, habe die Flasche mit Saft und Wasser gefüllt und bin wieder hinunter auf die Straße … und … und sie war weg.« Claudias Blick schweifte in eine elf Jahre entfernte Vergangenheit. »Ich bin losgerannt und habe ihren Namen geschrien. Mir war ganz schlecht vor Angst. Sie war doch so klein. Und überall diese laute Musik und die vielen Menschen! Ich konnte sie nicht hören. Sie hat doch bestimmt nach mir gerufen.« Sie begann zu weinen.
»Ich habe alle Leute angesprochen, gefragt, ob sie ein kleines Mädchen mit Schmetterlingsflügeln gesehen haben. Aber keiner hat sie gesehen. Alle waren laut und fröhlich … Und mein kleiner Schmetterling war weg.«
Alle schwiegen für einen Moment. Matthias Johannson zog seine Frau in seine Arme. »Ein Junge hat Nele in Begleitung eines Mannes im Robin-Hood-Kostüm gesehen«, sagte er leise.
»Ja«, nickte Hendrik, »die einzige verwertbare Zeugenaussage. Wir haben sie gelesen. Marco Schmych hat das Kostüm Ihrer Tochter damals ziemlich genau beschreiben können. Es bestehen kaum Zweifel an seiner Aussage.«
»Es waren so viele Menschen unterwegs«, flüsterte Matthias Johannson, »und nur einer hat sie gesehen. Nur einer.«
»In der Masse der bunt kostümierten Menschen geht ein Einzelner allzu leicht unter«, sagte Hendrik, »eine Tatsache, die der Täter mit hoher Wahrscheinlichkeit einkalkuliert hat. War Nele vertrauensselig Fremden gegenüber oder eher ängstlich?«
