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Mörderische Spiele auf Föhr Inseldetektiv Raphael Freersen bekommt einen ungewöhnlichen Auftrag: Hermann Suhrkamp behauptet, dass jemand aus seiner Familie seinen vorzeitigen Tod herbeiführen will. Um den Täter zu entlarven, hat der alte Herr ein Ratespiel à la Agatha Christie ausgetüftelt, bei dem hunderttausend Euro Preisgeld winken. Raphael soll daran teilnehmen und die Familienmitglieder im Auge behalten. Die Verwandtschaft versucht alles, um sich gegenseitig auszutricksen. Doch dann häufen sich mysteriöse Begebenheiten, und der Tod hält Einzug ins Spiel ...
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Seitenzahl: 502
Veröffentlichungsjahr: 2025
Heike Denzau, Jahrgang 1963, ist verheiratet, hat zwei Töchter und lebt in dem kleinen Störort Wewelsfleth in Schleswig-Holstein. Bereits mehrfach preisgekrönt, ist sie Verfasserin zweier erfolgreicher Krimireihen und humorvoller Liebesromane.
www.heike-denzau.de
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2025 Emons Verlag GmbH
Cäcilienstraße 48, 50667 Köln
www.emons-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Hilla Czinczoll
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-98707-244-4
Küsten Krimi
Originalausgabe
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.
Das menschliche Gesicht ist im Grunde genommen nichts anderes als eine Maske.
Agatha Christie
Der Sturm, der in der Nacht an den Fenstern des Schlafsaals gerüttelt hatte, war in den Morgenstunden weitergezogen, und Gitti war mehr als dankbar dafür. Unheimlich waren das Heulen und das Knarzen gewesen, als würde ein wütender Riese draußen toben, und sie hatte Angst gehabt, dass die Scheiben zerspringen würden. Aber sie hatten gehalten.
Auch die Scheiben des Speisesaals, in dem sie an ihrem Platz saß, waren heil geblieben. Es war Nachmittag, und ein Blick aus dem Fenster zeigte, dass kein einziges Blatt mehr an den schönen Bäumen im Garten hing. Gitti liebte Bäume, auch wenn das Laub schon gefallen war. Dann sah man endlich die vielen Äste und Zweige, die sonst von den Blättern verdeckt waren. Außerdem war es wichtig, dass der Sturm vorbei war, denn morgen würden sie einen Ausflug machen. »Zum Sandwall an die Promenade«, hatte die alte Tante Dora ihnen gestern gesagt. »Da gibt es schöne Häuser und Geschäfte anzusehen. Und am Strand dürft ihr Muscheln sammeln.«
Ein Lächeln stahl sich auf Gittis Lippen. Wie sehr sie sich darauf freute.
»Nun schreibt eure Briefe, Kinder«, holte die Stimme von Tante Femke sie aus den Gedanken zurück an den alten Holztisch im Speisesaal. Der Tisch hatte schon so viele Kratzer, dass man wohl bis zum Ende aller Zahlen gelangte, wenn man sie zählen würde.
Mit Blick auf die anderen Mädchen und Jungen, deren Namen sie nicht kannte, spitzte Gitti den Bleistift, mit dem sie nun den Brief an Mama schreiben würde. Doch, sie kannte Marie, fiel ihr ein, während sie den Stift achtsam im Anspitzer drehte und zu dem blonden Mädchen mit den Zöpfen am anderen Ende des Tisches sah. Marie war auch acht Jahre alt und ganz nett. Die hatte immer gute Laune. Aber die sprach komisch, wohl weil sie da wohnte, wo die hohen Berge waren.
Den Tanten gefiel es auch nicht, dass Marie so sprach. »Das werden wir dir noch austreiben«, hatte Tante Dora einmal gesagt. »Die deutsche Sprache ist ein hohes Gut.«
Gitti war froh, dass sie richtig sprechen konnte. Es war schon grässlich genug hier. Jeden Tag mussten sie eine lange Mittagsstunde machen, obwohl sie doch alle keine Babys mehr waren. Keinen Mucks durften sie dann von sich geben. Und wenn man sich rührte, quietschte das Bett, dann kam sofort die Tante, die Aufsicht hatte, und kontrollierte, ob man schlief. Am Anfang hatte Gitti noch nicht rausgehabt, dass man die Augen nicht zu fest zusammendrücken durfte, und normal weiteratmen musste. Sonst merkte die Tante, dass man nur so tat, als würde man schlafen. Nun klappte es ganz gut.
Ob sie wohl jemals wieder zu Hause sein würde? Acht Wochen war sie zur Verschickung, und sie wusste nicht, wie viele davon schon um waren. Zweimal hatte sie die Tanten gefragt, aber jedes Mal die Antwort bekommen, dass man es ihr schon sagen würde, wenn es so weit war. »Wer nicht zunimmt, kann auch nicht nach Hause.«
Gitti kamen die Tränen. Vielleicht würde sie niemals wieder nach Hause kommen. Onkel Hermann hatte mit den Tanten geschimpft, als er die Listen durchgesehen hatte, in die sie jeden Tag hineinschrieben. »Füttern, füttern, füttern!«, hatte er gesagt. »Mastschweine oder Hänflinge, da machen wir keinen Unterschied.« Laut und unheimlich rau, als habe er eine schlimme Erkältung, so klang seine Stimme. Doch sie war lange genug hier, um zu wissen, dass er nicht krank war. Er klang immer so. Wie der Hund ihrer Nachbarn. Der hieß Hasso, aber Mama nannte ihn Köter.
Manchmal kam der Onkel zur Frühstücks- oder Mittagszeit in den Speisesaal. Mucksmäuschenstill mussten sie beim Essen sein. Darum hörte man seine Schritte auch so gut. Klonk-klonk-klonk-klonk … Alle waren immer froh, wenn er vorbeiging. Natürlich sagte das niemand, aber Gitti sah es in den Augen der anderen. Einmal war er hinter ihr stehen geblieben. Sie hatte nicht gewagt, sich umzudrehen, auch nicht, als schrecklich viel Zeit verging und er nichts sagte. Ihre Hand, in der sie den Löffel hielt, hatte gezittert.
»Mädchen, warum ist dein Teller noch halb voll? Alle anderen sind gleich fertig«, hatte die Köterstimme ihr im nächsten Moment die Nackenhaare aufgestellt. »Schmeckt dir unser Essen nicht?«
Ihr leises »Doch« hatte in ihren Ohren wie das Piepsen eines Jungvogels geklungen. Und wohl auch in seinen, denn seine große Hand hatte sie am Hals gepackt und ihren Kopf heruntergedrückt, bis die Nase fast die Suppe im Teller berührte.
»Riecht das nicht lecker? Eine Buttermilchsuppe mit Graupen und Mehlklößen … Sei dankbar dafür, Mädchen. Die Zeiten, in denen wir froh gewesen wären, so etwas Nahrhaftes auf dem Teller zu haben, liegen noch nicht lange zurück.« Dann hatte er sie zum Glück losgelassen und war weitergegangen. Klonk-klonk-klonk-klonk …
Doch nun war von Onkel Hermann zum Glück weit und breit nichts zu sehen. Gitti legte den Anspitzer auf den Tisch zurück und auch den Bleistift, denn ihre Finger waren eiskalt. Sie rieb sie eine Weile so schnell sie konnte aneinander, bis sie glaubte, ein wenig Wärme zu spüren, doch bis in die Fingerspitzen reichte es nicht. Aber der Brief musste fertig werden, so schnell es nur ging.
Sie sah zu der Schiefertafel, auf die Tante Femke das heutige Datum und den Ort geschrieben hatte, damit es alle richtig machten. Gitti gab sich die größte Mühe, in ihrer besten Schrift zu schreiben.
Wyk auf Föhr, 12. November 1967
Liebe Mama,
kannst du mich bitte, bitte abholen? Ich will auch immer ganz viel essen, damit ich nicht mehr so dünn bin. Bitte, bitte, komm und hol mich. Hier ist es so kalt. Und das Essen schmeckt auch nicht so gut. Du weißt doch, dass ich keine Graupen mag, aber hier darf man das nicht sagen. Einmal habe ich alle Graupen zuerst aufgegessen und dabei gewürgt, ich wollte, dass sie weg sind, damit ich nur noch die Suppe löffeln muss. Aber die Tanten haben gedacht, ich mag die Graupen so gern, und haben mir noch mehr aufgefüllt. Da habe ich geweint. Und die Tanten haben geschimpft. Und pieschern darf man in der Nacht auch nicht. Ich muss es immer verkneifen, bis ich aufstehen darf. Wer ins Bett pieschert, muss aufstehen und kommt nicht wieder. Ein Mädchen hat gesagt, man muss dann die ganze Nacht auf dem eisig kalten Flur sitzen. Im Nachthemd. Bis morgens. Gut, dass ich meine Piesche verkneifen kann. Gestern wollte ich …
Gitti schrak zusammen, als ihr das Blatt unter den Händen weggerissen wurde, sodass sich ein Bleistiftstrich über das Papier zog. Sie sah hoch und schluckte. Tante Femke stierte auf das Geschriebene. Sie sah dabei so wütend aus, wie Gitti es selten bei ihr gesehen hatte. Eigentlich nur einmal, als der Junge mit den schwarzen Haaren die Erbsensuppe nicht essen wollte. Aber er musste. Tante Femke war bei ihm stehen geblieben und hatte zugeguckt, wie er geweint und gegessen hatte. Und als der Teller halb leer gewesen war, hatte er gewürgt und alles, alles wieder ausgespuckt. Aber getröstet hatte die Tante ihn nicht. Der Junge musste weiteressen. Auch das Ausgespuckte.
»Was soll das?« Tante Femkes Augen blitzten unheilvoll.
»Ich schreibe einen Brief an Mama«, antwortete Gitti leise.
»Was haben wir gesagt?«, fuhr die Tante sie an. »Wir wollen alle nur schreiben, was wir Hübsches erlebt haben.«
Gitti nickte. Sie hatte wirklich überlegt. Sie wollte Mama ja auch etwas Hübsches schreiben, aber zuerst musste sie doch das Wichtige erzählen. Und sowieso war ihr nur ein einziger schöner Nachmittag eingefallen. Sie hatten einen Spaziergang zum Meer gemacht und Muscheln gesammelt.
Im nächsten Moment musste Gitti mit ansehen, wie ihr so schön sauber geschriebener Brief zerknüllt wurde und in der Schürzentasche der Tante landete. Doch viel schlimmer war die Stimme, die hinter ihr erklang.
»Was ist das, Schwester Femke? Zeigen Sie es her.« Die große Hand von Onkel Hermann streckte sich neben Gittis Kopf vor.
Gittis Herz begann so heftig zu schlagen, dass ihr schlecht wurde, als Tante Femke das zerknüllte Papier aus der Schürze zog, es notdürftig glättete und dem Onkel wortlos reichte.
Die Angst fraß sich bei Gitti in alle Gliedmaßen. Erstarrt und steif wie ein Brett saß sie da und konnte den Blick nicht von ihm abwenden. Sie musste den Kopf dabei weit in den Nacken legen, denn er war ein Riese. Konnte er ihr Herz klopfen hören?
Gitti wünschte sich, er würde endlich etwas sagen. Alles war besser, als das Zucken seiner Oberlippe zu sehen und die tiefe Furche zwischen seinen Augen, die die schwarze Brille nicht verbergen konnte.
Als er seinen Blick schließlich auf sie richtete, nahm Gitti den Wunsch zurück, er möge etwas sagen. Speicheltröpfchen trafen sie, während er auf sie herabsah und hervorspie: »Wie ist dein Name, Mädchen?«
Sie zitterte am ganzen Körper. »Gitti.«
»Brigitte Mahler«, wandte die Tante sich an den Onkel.
Er antwortete ihr nicht, sondern sah unverwandt das Kind an. »Wenn dich jemand fragt, wie du heißt, dann sagst du gefälligst deinen richtigen Namen.«
Gitti nickte heftig.
»Sag ihn!«
»Brigitte Mahler«, wisperte Gitti.
»Ich kann dich nicht hören.«
Gitti holte tief Luft und wiederholte ihren Namen etwas lauter.
»Warum schreibst du deiner Mutter so hässliche Sachen, Brigitte? Willst du sie traurig machen? Willst du, dass sie weint, dass sie sich für ihr Kind schämt, weil es nicht einmal ein paar Wochen, ohne zu klagen, auf dieser schönen Insel sein kann?«
Gittis Augen füllten sich mit Tränen, ihre Mundwinkel bogen sich nach unten. »Nein«, flüsterte sie.
»Dann schreib ihr jetzt etwas Schönes.« Er wandte sich an die Tante. »Schwester Femke, eine Karte für das Mädchen. Und den Text auf die Tafel.« Im nächsten Moment zerriss er ihren Brief in klitzekleine Teile und ließ die Stücke auf den Boden rieseln. »Den Dreck sammelst du dann nachher auf«, sagte er, und Gitti nickte geflissentlich, froh, dass er weiterschritt.
Die Tante ging zu ihrem Tisch, nahm eine der Postkarten, die dort in einem kleinen Stapel lagen, und legte sie vor Gitti ab. Dann trat sie an die Tafel, wischte mit dem Schwamm Ort und Datum weg und begann zu schreiben.
»Schwester Femke gibt euch Kartenschreibern jetzt vor, was ihr nach Hause schreibt«, füllte die Köterstimme den Raum. »Ihr wollt eure Eltern doch glücklich machen.«
Gitti sah zu, wie Onkel Hermann von Tisch zu Tisch ging und jeden einzelnen Brief aufnahm und las. Sie zählte mit. Sechs Mal zerriss er weitere Briefe, und Tante Femke legte auch diesen Kindern eine Postkarte hin.
Als er die Reihen abgelaufen war, stellte er sich neben die Tafel. Er sah sehr schick aus, trug einen schönen Anzug, ein weißes Hemd und blitzsaubere blanke Schuhe, aber sein Gesicht wollte einfach nicht dazu passen. Vor allem der Mund nicht. Sie hatte ihn noch nie lächeln sehen. Und seine Augen … Gitti fröstelte erneut.
Er nahm einen Zeigestock aus der Ablage der Tafel, als Tante Femke dort fertig war, und pochte auf das Geschriebene. »Nun schreibt das auf eure Karten, ihr unartigen Kinder.« An die Tante gewandt sagte er: »Den sieben Kindern ist der Ausflug morgen gestrichen, und die Mittagsruhe wird ihnen für eine Woche um eine Stunde verlängert. Dann haben sie jeden Tag drei Stunden Zeit, darüber nachzudenken, wie gut es ihnen hier bei uns geht.«
Gittis Augen schwammen in Tränen, während sie die Vorderseite der Postkarte betrachtete. »Nordseeheilbad Wyk auf Föhr« stand in schwarzer und roter Schrift in der Mitte. Die kleinen Abbildungen zeigten Strand und Meer, das Fährschiff, mit dem sie gekommen war, eine Mühle und eine schöne Straße mit vielen hübschen Häusern. Sie und die anderen sechs würden nun all das morgen nicht sehen.
Hastig wischte sie die Tränen fort, als sie zu laufen begannen. Falls sie noch einmal nach Hause kommen sollte, wollte sie dort nie wieder weg. Sie wollte Onkel Hermann niemals wiedersehen. Sie wollte die Tanten niemals wiedersehen. Sie wollte einfach nur zu Mama und diese Insel vergessen. Wyk auf Föhr war ein hässlicher Ort.
War das die Brandung der Nordsee? Raphael konnte sich nicht dazu aufraffen, die Augen zu öffnen, denn seine Lider waren noch schwerer als sein Schädel. Fest stand: Er lag definitiv nicht in seinem eigenen Bett, denn das herrlich einschläfernde Rauschen des Meeres drang niemals bis in die Mühlenstraße.
»Raphael?« Eine warme Hand schlang sich von der Seite über seine Lende und begann, seinen Bauch zu kraulen. »Machst du uns Frühstück? Die Küche liegt gegenüber.«
Fuck. Wieder einmal hatte er es versäumt, sich rechtzeitig vom Acker zu machen. Das war der Nachteil, wenn man sich zuschüttete – man schlief wie ein Toter. Er drehte sich auf den Rücken und sagte mit geschlossenen Augen: »Ich brauche kein Frühstück. Ich verschwinde gleich, Tina.«
Es herrschte zwei Sekunden Ruhe, dann verschwand die Hand von seinem Bauch. »Echt jetzt?«
Raphael öffnete die Augen. Sie hatten gestern Nacht einvernehmlich festgelegt, dass es ein One-Night-Stand sein würde, warum also klang sie so zickig? Die Antwort kam direkt.
»Wenigstens meinen Namen hättest du dir merken können.«
Der Blick ihrer blauen Augen förderte ein unbekanntes, ein schales Gefühl in seinem Inneren herauf. »Äh, nicht Tina, dann … Dingsbums, äh, Lisa?«
»Luisa. Und Frühstück fällt jetzt aus.«
»Ach ja, klar. Luisa.« Er machte das doch nicht mit Absicht. Namen hatte er sich noch nie merken können.
Mit deutlicher Handbewegung und einem giftigen »Und tschüs!« wedelte sie ihn aus dem Bett.
Stöhnend schwang er sich hoch und reckte sich vor dem Fenster der Ferienwohnung. Mit Meerblick, herrlich. Der Strandabschnitt, den er von hier aus sah, zeigte, dass er letzte Nacht – nach der ausschweifenden Strandparty bei Lipsie – in der Gmelinstraße gelandet war, in einer der Wohnungen der halbrunden Anlage »Bi de Wyk«.
Er sammelte seine Klamotten vom Boden und wandte sich um. »Dein Bad darf ich aber schon noch benutzen, Lisa?«
Er durfte nicht.
Der Heimweg von seinem One-Night-Stand führte ihn über die Gmelinstraße. Hoffentlich traf er niemanden, der ihn kannte. Ungeduscht, ungekämmt, die Zähne nicht geputzt, dazu ein hässlicher Aperol-Spritz-Fleck auf dem weißen Hemd – Luisas Werk, so hatten sie sich kennengelernt – wohlfühlen ging anders.
Das Paar, das ihm in der Ferne entgegenkam, kannte er nicht. Touris mit dem Modegeschmack einer Klobürste – zumindest galt das für den Mann. Er trug zu hellgelben Bermudas ein wild geblümtes Kurzarmhemd und ein cremefarbenes Käppi. Als sie an der Ecke Forstweg auf einer Höhe waren, sagte der Papageien-Touri: »Ach, der selbst ernannte Insel-Poirot.«
Raphaels Hirn brauchte ein wenig für das Herstellen einer neuen Synapse. Er kannte das Gesicht irgendwoher. Die Synapse war gnädig und arbeitete schnell. Sie tauschte die Shorts und das Hemd des Mannes gegen eine Uniform, das Käppi gegen eine Polizeimütze und lieferte Raphael den Dienstgrad direkt mit. Polizeiobertrottel.
»Müller.« Raphael grinste. »Heute inkognito unterwegs?« Er ließ seinen Blick genüsslich über den Mann gleiten. Zu einem perfekten Trottel-Look fehlten nur die Socken, aber er beschloss, das für sich zu behalten. Müller war ein Bullterrier. Er verbiss sich gern in verbale Waden.
Müller blieb cool. »Ich habe Urlaub und kann mein Leben genießen. Ich muss nicht wie ein abgewrackter, versiffter Alkoholiker durch Wyk laufen.«
»Thorsten!« Frau Müller sah ihren Mann entsetzt an. »Sag mal …«
Raphael schenkte der Mittvierzigerin sein charmantestes Lächeln. »Keine Sorge. Ein kleiner verbaler Fight ist bei Ihrem Mann und mir immer drin. Richtig?« Er boxte Müller auf den Oberarm, was ihm ein »Nehmen Sie Ihre Pfoten weg, Freersen« einbrachte.
Raphael fügte gedanklich »Grrr, wuff!« hinzu und entschied, sich zu trollen, damit das Bild des Summertime-Müllers sich nicht für alle Zeiten in sein Hirn fraß. »Bis zum nächsten gemeinsamen Fall«, verabschiedete er sich und tippte sich an einen imaginären Hut.
Frau Müller lächelte zurück, Thorsten Müller lachte hämisch. »Gemeinsam haben wir beide gar nichts, Freersen. Sie sind ein arroganter Sack, der Detektiv spielt und von Polizeiarbeit keine Ahnung hat. Null Ahnung!«
»Thorsten!«
Raphael zwinkerte der Frau zu. »Als der liebe Gott den Charme verteilt hat, war Thorsten gerade auf dem Klo.« Dann ging er gut gelaunt seines Weges. Ein kleiner Schlagabtausch mit Müller war immer belebend.
An der Ecke Gmelin- und Badestraße blieb er kurz stehen, um den Blick zu genießen, den er niemals satthaben würde. Meer und Strand, die Warften von Langeneß, alle sechs Stunden das Watt … Nun war allerdings Hochwasser, doch der Kipppunkt nahte, die Bojen standen gerade. Die Kitesurfer durften bei dem schwachen Wind kaum Spaß haben, im Gegensatz zu den kreischenden Kindern zwischen den bunten Strandkörben, die ihre Eltern vermutlich gerade bedauern ließen, kein Kondom benutzt zu haben.
Er wechselte auf die Promenade, um den Meerblick weiter zu genießen, verließ den Weg erst am Strandaufgang beim Aquamarin und bog schließlich vom Rebbelstieg in die Mühlenstraße ab. Kinderlachen war zu hören, und Raphael grunzte. Das kam doch von seinem Grundstück. Waren schon wieder Ferien? Hatte Imme wieder einmal ihre Ableger mitgebracht?
In Erwartung, die drei Kinder seiner Assistentin in dem großen alten Apfelbaum vorzufinden, betrat er sein Grundstück, das, wie er fand, angenehm naturbelassen war. Seine Mutter nannte den Garten »grauenhaft ungepflegt«. Dabei wollte sie doch das Klima retten, wie sie stets verkündete, wenn sie statt des Laubbläsers – das Lieblingsspielzeug seines Vaters – Besen und Rechen benutzte. Dann sollte sie gefälligst auch zufrieden sein, wenn sein Garten sich von den übrigen Gärten in der Mühlenstraße abhob. Gut, ein Rasenmähroboter wie bei den Nachbarn zur Linken würde bei ihm keinen Meter weit kommen, sondern Zwanzig-Zentimeter-Halme würgen und verrecken, doch Raphael überfiel auch selten bis nie das Verlangen, den alten Benzinmäher, den sein verstorbener Onkel Georg ihm samt Haus und Hof vererbt hatte, aus dem Holzschuppen zu holen.
Im Apfelbaum brach ein Zweig, und Blätter rieselten zu Boden. Es waren nicht Imme Hölderlings Kinder, die ihn ansahen, und auch nicht Tarik, der Sohn seiner zweiten Assistentin Ava.
»Wer seid ihr?«, fragte Raphael die beiden blonden Jungen. »Verschwindet aus meinem Baum! Ihr habt hier nichts zu suchen.«
Einer der Jungen hockte im Geäst und linste durch die Blätter, der andere hing an einem der starken Äste und versuchte vergeblich, sich mit den Füßen am Stamm hochzuhieven.
»Warum fragst du denn, wer wir sind, Onkel Raphael?«, erklang die Stimme aus dem Laub. »Du kennst uns doch«, kam es anklagend hinterher.
Raphael riss die Augen auf. Was machte die Brut seiner Schwester denn hier? »Ihr seid das?«, hakte er nach. »Justus und, äh, Dings … bums?« Er sah die Jungs nur alle Jubeljahre, zuletzt am Tag der Testamentseröffnung, und das war über ein Jahr her. Auch da hatten sie in einem Gebüsch gehockt.
Die legendäre Testamentseröffnung! Die, in der ihm und seinem Zwillingsbruder Johannes von Onkel Schorsch je eine Hälfte dieses Doppelhauses vererbt worden war. Sein Blick wanderte über die Buchsbaumhecke zu Johannes’ Grundstück, das seine Mutter ihm immer als Beispiel vorhielt. »Bei deinem Bruder sieht es nicht so grauenhaft verlottert aus. Pflanze doch auch mal ein paar Stauden und schneide vor allem endlich die Hecke.«
Hecken und Blumengedöns … Als hätte Privatdetektiv Raphael Freersen nichts Besseres zu tun. Die Berufsbezeichnung fühlte sich immer noch gut an, eigentlich saugut, insbesondere, nachdem er im vergangenen Jahr neben einigem Kleinkram zwei wahrhaft spektakuläre Mordfälle gelöst hatte. Mit viel Hilfe seiner Truppe inklusive Johannes, aber gelöst war gelöst.
»Kannst du mir helfen, Onkel Raphael?«, holte ihn die Stimme seines Neffen, dessen Name ihm nicht einfiel, aus der wohligen Jobbetrachtung. Der Junge versuchte nach wie vor, keuchend zu seinem Bruder auf den Baum zu gelangen.
Raphael sah dem vergeblichen Unterfangen noch ein paar Sekunden zu, dann stellte er sich vor das Kind und sagte: »Lass los.«
»Aber ich will doch rauf. Zu Justus.«
»Das werden wir gleich üben, aber erst mal lässt du los.«
Der Junge tat, was er sagte, und rieb sich die Hände. »Und jetzt?«
Raphael blickte von seinen eins dreiundneunzig auf ihn herab. »Jetzt gibt es zwei Ansagen. Erstens: Ich will aus eurem Mund nie wieder das Wort ›Onkel‹ vor meinem Namen hören.« Er hob seine Stimme, als sein Neffe den Mund öffnete. »Auch wenn eure Eltern das gern so hätten.«
»Aber du bist unser Onkel«, kam es aus dem Geäst.
»Ja, das bin ich. Aber ›Onkel‹ ist ein Verwandtschaftsgrad. Und den müssen wir im einundzwanzigsten Jahrhundert nicht mehr vor den Namen setzen, weil ihr wisst, dass ich euer Onkel bin, und ich weiß es auch.« Er sah in die Blätter. »Ich nenne dich ja auch nicht Neffe Justus, sondern nur Justus.«
Der Junge lachte. »Stimmt.«
»Und mich nennst du auch nur mit meinem Namen«, sagte der Kleinere vor ihm.
»Genau.« Raphael geriet ins Schwitzen, weil der erwartungsvolle Blick seines Neffen signalisierte, dass er ihn nun nennen sollte.
Hilfe kam von oben. »Er weiß deinen Namen nicht, Max.«
Erleichtert wuschelte Raphael dem Kleinen über das blonde Haar, das beide Jungen von ihrer Mutter geerbt hatten. »Dein Bruder spinnt. Natürlich weiß ich, dass du Max bist.« Er hätte auch Bonifatius heißen können, denn der Name kam ihm genauso fremd vor wie Max.
Der Kleine zog seinen Kopf unter ihm weg. »Aber ich heiße nicht Max. Ich heiße Jonne.«
Das hörte sich bekannt an. Raphael warf einen anerkennenden Blick ins Geäst. »Die Aktion hätte von mir sein können, Justus. Sehr gut! Und damit sind wir direkt bei Ansage Nummer zwei.« Er sah Jonne an. »Wenn du zu deinem pfiffigen Bruder rauf möchtest, dann musst du das ohne Hilfe schaffen und dafür trainieren.«
»Aber ich schaff das nicht. Ich bin kleiner als Justus.«
»Ja und?«, blieb Raphael hart. »Das ist doch kein Grund, nicht auf den Baum zu kommen. Wie alt bist du?«
»Acht.«
»Acht! Da musst du auf jeden Baum kommen, der auch nur ansatzweise ein Kletterbaum ist.« Er nahm Jonnes Hände, hob dessen Arme und ließ sie wieder fallen. »Das sind lauter schlaffe Muckis. Du bist völlig untrainiert. Bist du so ein nerdiger Stubenhocker?«
»Raphael!«, erklang die Stimme seines Bruders hinter ihm. Und dieses Mal fehlte der gewohnt ruhige und sanfte Klang, der Johannes’ Ton von seinem eigenen unterschied, obwohl sie beide mit gleicher Stimme sprachen. »Was machst du denn? Nennst du das Motivieren?« Johannes trat näher und legte Jonne den Arm um die schmalen Schultern.
»Moin, Bruder«, begrüßte Raphael seinen Zwilling fröhlich. »Bist du eigentlich auch mal in Sanderup? Oder sind da Kirche und Pastorat wegen ständigen Leerstands geschlossen?«
»Heute ist Montag, mein freier Tag«, sagte Johannes und klang gereizt. Er hasste es, wenn Raphael ihn wegen der schwindenden Kirchenbesucherzahlen aufzog. »Ich will heute Nachmittag mit Hannah an den Strand und wollte vorher mal bei Mama und unseren Neffen vorbeischauen.«
»Ach, ihr seid mit eurer Oma hier?«, meinte Raphael und blickte zum Haus, wo seine Mutter sich dann wohl anscheinend bei Imme im Büro aufhielt.
Doch im nächsten Moment öffnete sich die Tür von Johannes’ Haushälfte, und Frauke Freersen trat hinaus. »Ah, meine vier Lieblingsjungs«, rief sie fröhlich über die Hecke. Ihr folgte Sina Ahmling, der Johannes seine Haushälfte vermietet hatte. Sina hätte, wenn es nach Johannes ging, auch umsonst dort wohnen dürfen, schließlich war sie die Mutter seiner Tochter Hannah, aber das hatte Sina entschieden abgewehrt.
»Du bist früh dran«, wandte Sina sich an Johannes und trat bis an die Hecke. »Hannah hat noch bis vierzehn Uhr Schule.«
»Ich weiß.« Johannes ging ebenfalls bis zu der grünen Abgrenzung. »Ich wollte vorher kurz schauen, was Justus und Jonne so treiben.«
»Ach so.«
Dann herrschte Schweigen, und Raphael erschien die Buchsbaumhecke in diesem Moment als Zeichen für das Verhältnis der beiden. Sie standen auf verschiedenen Seiten, hätten sich die Hände reichen können, taten es aber nicht. Vielleicht waren sie einfach zu lange getrennt gewesen. Vielleicht konnten sie niemals dort wieder anknüpfen, wo sie sich losgelassen hatten.
Wobei »loslassen« nicht das richtige Wort war. Sina hatte vor elf Jahren von einem Tag auf den anderen mit Johannes Schluss gemacht und Flensburg auf Nimmerwiedersehen verlassen. Dass sie schwanger gewesen war, hatte sie Jo verschwiegen. Er hatte es erst im letzten Jahr erfahren, als sie Sina hier auf Föhr wiedergetroffen hatten. Seither war die zehnjährige Hannah Jos Ein und Alles.
»Ich bin mit euren Neffen eine Woche auf Föhr«, klärte Frauke Freersen Raphael auf. »Wir haben uns eine nette Ferienwohnung in Boldixum genommen und freuen uns auf viele tolle Ferienerlebnisse, nicht wahr, meine Süßen?«
»Ja, Oma.«
»Ja, Oma.«
»Als hättest du Arabica und Robusta mitgebracht«, meinte Raphael. Die beiden Papageien gab es im Haus seiner Eltern, seit er denken konnte. Johannes und er hatten in der Kindheit und Jugend viel Spaß mit den Aras gehabt. Sogar ihr Vater hatte laut gelacht, als sie Robusta gelehrt hatten, auf die Frage »Wer macht den besten Kaffee?« mit »Tchibo« zu antworten.
»Eva und Olaf machen eine zweiwöchige Kreuzfahrt – das erste Mal allein, seit die Jungs auf der Welt sind«, klärte seine Mutter ihn auf, obwohl es ihn nicht interessierte, was seine Schwester und der Schleimbeutel so trieben. Das Einzige, wofür er Eva wirklich dankbar war, war die Tatsache, dass sie mit Hingabe als Nachfolgerin für das Freersen-Kaffee-Imperium fungierte. So konnten Jo und er das machen, was sie liebten, ohne ein schlechtes Gewissen haben zu müssen.
Als Frauke Freersen auf Johannes einzureden begann, nutzte Raphael die Chance. »Ich brauche dringend Koffein«, verabschiedete er sich von Mutter und Bruder und betrat seine Haushälfte.
Die Tür zum Büro stand offen, genau wie der Käfig des Nymphensittichs Waltraud auf dem alten Nussbaum-Sideboard. Seine Vormittags-Assistentin Imme Hölderling traf er in der Küche. Sie saß am Tisch, auf dem Waltraud vor einem Teller herumtaperte und immer wieder in die Himbeeren pickte, die Imme durchgeschnitten hatte.
»Moin, Chef«, grüßte Imme fröhlich und musterte ihn. »Du siehst aus, als hättest du eine lange Nacht gehabt.«
Raphael grunzte nur, stellte den Kaffeevollautomaten an und öffnete die Kühlschranktür. Aus einem Glas löffelte er Föhrer Joghurt in eine Müslischale, schnitt darüber eine Banane in Scheiben, schüttete Haferflocken darauf und öffnete den Kühlschrank noch einmal.
Hinter der Tür fragte er missmutig: »Frisst der dumme Vogel da meine letzten sauteuren Himbeeren?«
»Waltraud brauchte was Frisches«, antwortete Imme. »Sie sah so blassfedrig aus.«
»Blassfedrig?« Raphael schloss die Kühlschranktür schwungvoll. »Kommt bei dir das Blut nicht mehr im Hirn an?« Weit genug wäre der Weg zu ihrem Kopf, denn Imme war eine Riesenfriesin. Mit ihren eins neunzig konnte sie ihm direkt in die Augen blicken.
»Sie sah jedenfalls von meiner Perspektive am Schreibtisch nicht wohl aus«, verteidigte Imme sich.
»Du sollst auch nicht zum Käfig gucken, sondern deine Arbeit machen«, brummte Raphael.
»Ist doch eh nichts zu tun.«
»Dann wisch Staub oder putz das Klo.«
»Hach«, Imme verschränkte die Arme vor der Brust und grinste breit, »deine Phantasie möchte ich haben.«
Raphael trat an den Küchentisch, klaubte die Himbeeren von Waltrauds Teller und warf sie auf sein Müsli.
»Dein Ernst?«
»Herrje, hier …« Er warf eine halbe Himbeere zurück auf den Teller und ging mit Kaffee und Müsli in sein Büro.
Zehn Minuten später war nicht nur er, sondern anscheinend auch Waltraud satt, denn Imme kam mit ihr zurück ins Büro. Der angebotene Käfig fand nicht Waltrauds Wohlwollen – sie startete durch und flatterte auf die Gardinenstange. Ihr Lieblingsplatz, wie die vollgekackten, bunt betuschten Muscheln auf der Fensterbank zeigten.
Raphael lehnte sich auf dem Schreibtischstuhl zurück, der hinter Onkel Schorschs antiquiertem, verschnörkeltem Eichenschreibtisch stand. »So langsam könnten wir mal wieder einen Fall gebrauchen. Du und Ava und Waltraud kostet mich einfach zu viel Geld.«
»Vielleicht kommt ja heute ein neuer Auftrag rein.« Imme zog ein Post-it von ihrer Schreibtischunterlage ab und klebte es auf Raphaels geschlossenen Laptop.
Er beugte sich vor. Eine Handynummer und der Name »Bonhoff« waren auf dem gelben Zettelchen zu lesen. »Er, sie, es Bonhoff will was von mir?«
»Sie-Bonhoff hat mir auf Nachfrage gesagt, dass ihr Großonkel einen Detektiv braucht, weil er merkwürdige Postkarten zugesendet bekommt. Das Genaue würde sie mit dir besprechen, wenn du sie zurückrufst.«
»Merkwürdige Postkarten.« Raphael zog die Oberlippe hoch. »Klingt ja nach einem Megaauftrag.«
»Kleinvieh macht auch Mist.«
»Die Bäuerin hat gesprochen. Amen.«
Imme lachte. »Heute Morgen war ich tatsächlich schon Bäuerin. Unsere Ophelia hat um halb sechs ein schönes Kalb geworfen.«
»Hoffentlich ein Kuhkalb?«, hakte Raphael in Erinnerung an einen Besuch auf dem Hof der Hölderlings nach, bei dem er Zeuge einer Geburt gewesen war. »Bullenkälber zählen ja bei euch Milchbauern nichts.«
»Eine kräftige Harriet«, meinte Imme fröhlich.
Raphael musterte sie. Imme Hölderling war stets und ständig die personifizierte gute Laune. Wenn man in ihre blauen Augen sah, war der Tag gleich viel heller und freundlicher. Im nächsten Moment stand er auf. Was interpretierte er denn da in Augen rein? Ihm fehlte eindeutig mehr Koffein.
»Ich hol mir noch einen Kaffee«, sagte er, als er an Imme vorbeiging.
»Bring mir einen mit.«
»Irgendwas läuft hier gewaltig schief«, murmelte er, als er in der Küche den Kaffeevollautomaten wieder anstellte und einen der schlanken Becher für Imme aus dem Hängeschrank nahm. Die Schränke gehörten noch zur Ausstattung seines verstorbenen Onkels. Immerhin hatte er im Winter die mit Kalkflecken verhunzte Spüle, den Kühlschrank und den Neandertaler-Herd durch neue hochwertige Geräte ersetzt und einen Geschirrspüler gekauft. Eine komplette Küche war finanziell nicht mehr drin gewesen, weil er das Wohnzimmer entrümpelt, renoviert und neu ausgestattet hatte.
Seine Mutter hatte ihm zwar angeboten, Geld vorzuschießen, doch das hatte er abgelehnt, um seinem Vater zu beweisen, dass er auf elterliche Unterstützung nicht mehr angewiesen war. Ein gutes Gefühl war das. Wenn er es jetzt noch schaffen würde, die hübschen grünen Scheine, die seine Mutter ihm hier und da zusteckte, abzulehnen, wäre die monetäre Unabhängigkeit gänzlich erreicht. Aber Mütter schenkten ja nun mal so gern – da war Ablehnen einfach unschön.
Er nahm die beiden Becher, als das herrliche Röstaroma der Freersen-Bohnen die Nase kitzelte, und stellte Imme einen Latte macchiato auf den Schreibtisch. »Bitte, Chef.«
Imme grinste. »Danke, Raphaela.«
Genüsslich ihren Kaffee trinkend, überlegten sie, inwiefern Postkarten merkwürdig sein konnten, kamen aber zu keinem Ergebnis. So lehnte Imme sich gespannt vor, als Raphael Frau Bonhoff anrief und auf laut stellte, damit sie mithören konnte.
Doch neue Erkenntnisse gab es wenige, denn Frau Bonhoff, die sehr jung klang, wollte sich mit Raphael treffen, um ihm die Karten zu zeigen.
»Dann kommen Sie doch heute noch vorbei«, meinte Raphael. »Egal wann, ich bin den ganzen Tag im Büro.« Er wedelte abwehrend mit der Hand Richtung Imme, die lautstark flüsterte: »Vormittags! Lieber vormittags!«
»Gut, dann bis fünfzehn Uhr«, verabschiedete er sich schließlich.
»Ach, nachmittags.« Imme zog einen Flunsch. »Dann bin ich doch nicht hier.«
Raphael erwiderte nichts. Er sah durch das Fenster, dass seine Mutter zum Apfelbaum ging. Jonne versuchte nach wie vor hinaufzukommen. Immerhin gab er nicht auf, was Raphael ihm zugutehielt. Die Oma schob Jonne schließlich am Po nach oben, aber letztlich half ihm das nicht viel. Wie ein nasser Sack hing er in Faultierstellung am Ast.
Raphael schüttelte den Kopf und stand auf. Der Schlaffi brauchte Training.
Raphael nahm die Postkarte, die Lilly Bonhoff ihm reichte, und las laut, was dort geschrieben stand. »Lieber Onkel Hermann, mir geht es hier sehr gut. Am Strand sammeln wir Muscheln. Das Essen schmeckt lecker. Ganz liebe Grüße, Dein Werner.«
Er drehte und wendete die Karte. Es war eine der typischen Wyk-auf-Föhr-Postkarten, die es auf der Insel tausendfach für nicht einmal einen Euro zu kaufen gab. Diese zeigte Bildchen der Walkieferknochen am Eingang des Friesenmuseums, vom Strand, von der Wasserpumpe in der Carl-Häberlin-Straße und von der alten Mittelbrücke, die abgerissen worden war, um durch eine weitaus größere Brücke ersetzt zu werden. Am sechzehnten August sollte die Einweihung sein.
Raphael sah Lilly Bonhoff an. »Ich verstehe nicht, was an dieser Karte besonders beziehungsweise merkwürdig sein soll. Es ist eine stinknormale Postkarte, ausreichend frankiert. Oder wie hoch ist das Porto für eine Karte?«, wandte er sich an Ava Rahmani, die von vierzehn bis siebzehn Uhr am Assistentinnen-Schreibtisch saß.
»Siebzig Cent«, antwortete sie. Ava besaß nicht Immes Unverschämtheit. Statt untätig dazusitzen und zuzuhören, sortierte sie Unterlagen in Ordnern.
Raphael kontrollierte die Briefmarke. »Nicht unterfrankiert.«
Lilly Bonhoff lachte auf. »Glauben Sie echt, ich würde zu Ihnen kommen, weil das Porto nicht stimmt?«
»Wohl kaum«, gestand Raphael lächelnd. Lilly war eine süße Maus, höchstens zweiundzwanzig und nicht auf den Mund gefallen. Das hatte sie in den ersten Minuten ihres Gesprächs bewiesen.
Sie reichte ihm die nächste Karte.
»Lieber Onkel Hermann, mir geht es gut. Hier sind viele Kinder, und das Essen schmeckt gut. Das Meer ist schön. Liebe Grüße von Deiner Gerda«, las Raphael wieder laut, damit Ava mithören konnte. Er nahm die nächste Postkarte entgegen. »Lieber Onkel Hermann, mir geht es sehr gut. Alle Kinder sind lieb, und wir spielen immer schön. Föhr ist schön. Deine Marie.«
Die vierte Karte, die Lilly ihm hinhielt, wehrte er ab. »Was soll das, Frau Bonhoff? An diesen Karten ist nichts merkwürdig. Von der Tatsache abgesehen, dass an Werner, Gerda und Marie keine Poeten verloren gegangen sind … Hat Ihr Großonkel Hermann einen Neffen und Nichten, die so heißen?«, hakte er nach.
»Nein, das ist es ja. Diese Namen sind Onkel Hermann und mir unbekannt.«
»Irgendwelche Kinder veräppeln vermutlich Ihren Onkel«, mutmaßte Raphael. »Denn vom Text her sind es doch eindeutig Kinder.«
»Und mehr fällt Ihnen nicht auf?« Lilly Bonhoff klang gleichermaßen enttäuscht wie fordernd. »Ich dachte, Sie sind hier der Super-Detektiv. Sie haben doch die Mordfälle in der ›Klinik am Kliff‹ und an Dalika Gorden gelöst.«
Jetzt war Raphael an seiner Ehre gepackt. Was gab es denn bei den Karten noch zu entdecken? Die Vorderseiten waren unterschiedlich, zeigten aber alle Bildchen mit Motiven Wyks. Er drehte die Karten um, um sie erneut zu lesen, als ihm etwas auffiel, das keinen Sinn ergab. »Sie sind mit unterschiedlichen Namen unterzeichnet, tragen aber alle dieselbe Handschrift.«
»Genau.«
»Die auch?« Er deutete auf die Karte, die er abgewehrt hatte.
Lilly reichte sie ihm.
Der Text unterschied sich nur minimal von den anderen. Unterzeichnet war die Karte von »Irene«. »Dieselbe Handschrift«, meinte Raphael. »Wirklich kindlich sieht sie nicht aus, aber eine Erwachsenenhandschrift scheint es auch nicht zu sein.« Er stand auf und ging zu seiner Assistentin. »Schau du sie dir mal an, Ava.«
Ihre dunkelbraunen Augen hielten seinen Blick einen Moment lang, bevor sie die vier Karten nahm. Sie klappte den Ordner zu und breitete die Karten nebeneinander auf der Schreibtischunterlage aus. »Ja, das ist immer dieselbe Handschrift«, sagte sie und las.
Sie sah zu Raphael hoch, dann zu Lilly. »Tatsächlich glaube ich, dass ein Erwachsener sie geschrieben hat, aber vortäuschen möchte, dass sie von Kinderhand sind. Mein Sohn ist acht Jahre alt und geht in die Grundschule. Die Kinder lernen eine andere Schreibschrift.«
»Aber …« Raphael beugte sich über Avas Schulter, um die Schrift besser in Augenschein nehmen zu können. »Ist das mit einem Füller geschrieben? Das ist doch kein Kuli … Also vielleicht doch ein Kind?«
Ava rückte fast unmerklich ein Stück mit dem Stuhl nach links, aber Raphael registrierte es und ärgerte sich darüber. Warum ertrug sie seine Nähe nie?
An seinem Geruch konnte es nicht liegen. Er war frisch geduscht und hatte sein verdrecktes weißes Hemd gegen ein neues schwarzes getauscht.
Sie selbst verströmte einen Duft nach Patschuli und Vanille, was perfekt zu ihr passte. Die ihm zugewandte rechte Seite ihres Gesichts war wunderschön. Zarte Haut, eine hübsche kleine Nase und perfekt geschwungene Lippen, die leider viel zu selten in seiner Gegenwart lachten. Sie war eine orientalische Märchenprinzessin, belegt mit einem Fluch, der sie körperlich getroffen hatte. Dass ihr langes schwarzes Haar eine Perücke war, sah man nicht, doch die großflächige Vernarbung ihrer linken Gesichtshälfte fiel sofort ins Auge. Die hellen Wülste, die sich nach vielen Operationen über ihre Wange bis hinunter zum Hals zogen, waren nicht wegzuschminken.
Ava war vor sechs Jahren Opfer ihres Ehemannes geworden, als sie sich von ihm getrennt hatte. Dass die Säure nicht noch mehr Schaden angerichtet hatte, war der Tatsache zu verdanken, dass sie eine Mütze getragen und ihm den Kopf nicht zugewandt hatte, als er sie aus dem Hinterhalt mit Säure verätzte. So waren Augen und Gehörgang glücklicherweise verschont geblieben. Musa Rahmani saß dafür hinter Gittern, und Raphael wusste, wie sehr Ava den Tag fürchtete, an dem er freikam.
»Ja, das ist mit einem Füller geschrieben«, bestätigte Ava seine Meinung. »Mit einer feinen Spitze. Die Kinder schreiben in der Schule ja eher mit etwas breiterer Spitze.«
»Mein Lamy hat auch Stärke zwei«, sagte Lilly, »damit schreibe ich immer noch.«
Wie jung sie war, stellte Raphael erneut fest. Das hielt sie allerdings nicht davon ab, ihn mit ihren Blicken anzuflirten. Er reagierte nicht darauf, was ihn irritierte. Himmel, er war gerade mal dreiunddreißig. Wurde er etwas senil?
»Was genau erwartet Ihr Großonkel denn nun von mir?«, fragte er die junge Frau und setzte sich wieder an seinen Platz. »Viel mehr wird es über diese Karten nicht herauszufinden geben.«
»Das mit dem Füller ist schon mal eine neue Info«, meinte Lilly, was Raphael zufrieden nicken ließ, schließlich hatte die süße Kröte seine Fähigkeiten angezweifelt. Dass die Entdeckung Füller auf Ava ging, war zweitrangig. Wozu hatte man Assistentinnen?
»Onkel Hermann wollte anfangs eigentlich gar nicht, dass ich zu Ihnen gehe«, fuhr sie fort. »Er meinte, das sei Quatsch und ich solle mich nicht mehr um die Postkarten kümmern. Aber da ich meistens die Post aus dem Kasten nehme, habe ich immer wieder welche gefunden. Und die letzte«, sie wedelte mit einer weiteren Karte in ihrer Hand, »unterscheidet sich doch gewaltig von den ersten.« Sie reichte sie Raphael. »Aber selbst da wollte Onkel Hermann nicht, dass ich zu Ihnen gehe.«
»Was hat seine Meinung geändert?«, fragte er.
»Keine Ahnung. Vorgestern meinte er plötzlich, ich soll Sie unbedingt engagieren.«
»Na dann …« Raphael betrachtete die Karte. Wyk-Motive, wie gehabt. Die Anrede auf der Rückseite der Karte lautete erneut »Lieber Onkel Hermann«. Allerdings war das Wort »Lieber« diesmal in Anführungszeichen gesetzt. Weiter ging es mit: »Ich hoffe, es geht dir schlecht. So schlecht, wie du es verdient hast. Deine Monika.«
»Das klingt in der Tat anders«, meinte Raphael.
Ava war, noch während Raphael vorgelesen hatte, aufgestanden und hatte sich neben ihn gestellt. »Wie unheimlich«, sagte sie und sah von der Karte in seiner Hand zu Lilly Bonhoff. »Ihr Onkel hat sicherlich Angst bekommen.«
»Onkel Hermann hat keine Angst«, wehrte Lilly ab. »Er sagt, da erlaubt sich jemand einen albernen Scherz.«
»Aber er hat Sie zu mir geschickt«, wandte Raphael ein.
»Ja, das hat mich auch gewundert«, gab Lilly zu. »Er bittet Sie, am vierten August zu ihm zu kommen.«
Raphael nahm den Tischkalender, der noch die vorletzte Woche anzeigte, und blätterte weiter. »Das ist ein Sonntag.«
»Das habe ich ihm auch gesagt, aber er ließ sich nicht davon abbringen. Es soll unbedingt der Tag eine Woche vor seinem Geburtstag sein. Am elften August wird er neunzig – mit allem Pipapo. Der Pastor und der Bürgermeister kommen, und was weiß ich, wer bei so alten Leuten noch zum Gratulieren aufschlägt.«
Da Raphael auch an Werktagen gern mal sein Leben chillte, war es ihm egal, dass der alte Onkel ihn am Wochenende zu sich zitierte, aber … »Da nehme ich dann allerdings einen Sonntagszuschlag.«
»Das sage ich ihm.« Lilly stand auf. »Sie kommen dann am vierten August zu uns?«
Raphael nickte und erhob sich ebenfalls. »Leben Sie bei Ihrem Onkel?«
»Nur für ein paar Monate. Ich studiere Medienwissenschaft an der Uni Hamburg und mache gerade ein Praktikum beim ›Inselboten‹.«
»Da haben Sie ja Glück, dass Sie hier mietfrei wohnen können.«
»Deshalb habe ich mir die Praktikumsstelle auf Föhr gesucht. Nicht nur, weil die Bude umsonst ist, sondern weil sie einfach krass ist. Sie werden Onkel Hermanns Haus am Vierten kennenlernen.«
»Noch eine Frage«, hielt Raphael die junge Frau zurück, als sie sich mit einem Winken von ihm und Ava verabschiedete. »Sagen Sie wirklich ›Onkel‹ Hermann?«
Lilly lachte auf. »Ja, klar. Er würde durchdrehen, wenn ich ihn nur beim Vornamen nenne. Er ist krass altmodisch.«
***
Es war genau acht Uhr, als Raphael am Sonntag das Grundstück von Hermann Suhrkamp erreichte. Dass die Badestraße menschenleer war, verwunderte ihn nicht, denn welcher normale Mensch stand am Wochenende vor elf auf? Aber Lilly hatte ihn am Vortag angerufen und gesagt, dass ihr Onkel ihn »um Punkt acht Uhr zu sehen wünsche«. Dafür würde er dem Tattergreis einen Nachtzuschlag abknöpfen, der sich gewaschen hatte.
In der Badestraße gab es viele wunderschöne und stattliche Häuser, bei denen man den Architekten Tribut zollen musste. Dieses gehörte allerdings nicht dazu. Vielleicht war ihm der große Kasten deshalb noch nie bewusst ins Auge gefallen? Weiß verputztes Mauerwerk, auf dem wilder Wein auf Eroberungsfeldzug war, zwei Erker, gepflegte Holzfenster und eine düstere Haustür. Außergewöhnlich wirkte hier gar nichts, aber von Imme hatte er erfahren, dass das Innere des Hauses wohl eine eigene Welt war. Sogar der NDR hatte vor einigen Jahren ein Filmteam gesandt und im Schleswig-Holstein-Magazin von den Räumlichkeiten und der Sammelleidenschaft des alten Mannes berichtet.
Nun war Raphael gespannt. Das schmiedeeiserne Gartentor hing in den Angeln und quietschte unangenehmer als seine hölzerne Pforte. Zügig schritt er die teilweise gerissenen Waschbetonplatten zum Eingang entlang, als sich die Haustür öffnete und Lilly ihm zuwinkte. »Hallo, super, dass Sie da sind.«
Sie ließ ihn an sich vorbeigehen, und er erhaschte den Duft von Orient. »Ich mag Ihr Parfüm.«
»Danke!« Sie strahlte ihn an und deutete zu einer Tür am Ende des langen dunklen Flurs. »Sie sind alle im Esszimmer.«
»Alle?«, hakte Raphael nach, während er den Lift an der alten Holztreppe registrierte. Der Hausherr war also nicht mehr so mobil, dass er die Treppe allein hinaufkam. Doch dann fiel sein Augenmerk umgehend auf die Wände, die beidseitig vor Tierpräparaten strotzten. Imposante Hirsch- und Wildschweinköpfe waren gleich mehrfach vertreten.
»Die ganze Familie ist hier. Ich weiß nicht, was Onkel Hermann vorhat, aber alle sollten heute schon kommen und die Woche bis zu seinem Geburtstag auf Föhr bleiben.«
Raphael blieb stehen und meinte spöttisch: »Wenn der alte Onkel pfeift, kommen tatsächlich alle angetanzt?«
Lilly grinste und antwortete mit leiser Stimme: »Jedenfalls alle, die ihn beerben wollen.«
»Ah, verstehe.« Er ging langsam weiter. Die ausgestopften Dachse, Marder und Wiesel schienen ihn durch ihre dunklen Knopfaugen zu mustern, während ein Keilerkopf aussah, als könne er noch zubeißen. Etwas, das man sich nicht wünschte, wenn man die gelbgrauen Hauer betrachtete, die aus dem leicht geöffneten Unterkiefer herausragten. »Ist Ihr Onkel Jäger?«
»Nein, er sammelt einfach nur gern alles Mögliche.« Sie folgte seinem Blick über die Exponate. »Als Kind fand ich die Teile großartig und nervenkitzel-gruslig. Jetzt empfinde ich diese Zurschaustellung von toten Tieren nur noch als furchtbar.«
Es gab noch diverse Setzkästen aus Holz, aber es fehlte die Zeit, um die Winzigkeiten darin zu betrachten. Lilly deutete auf eine offen stehende dunkle Eichentür, hinter der Gesprächsfetzen zu hören waren. »Bitte.«
Raphael trat ein, und es wurde ruhig im Raum. Er hatte nicht mit so vielen Leuten gerechnet. »Guten Morgen«, begrüßte er die drei Frauen und vier Männer, die ihn allesamt neugierig musterten, während sie seinen Gruß erwiderten.
Der Einzige, der kein Wort sagte, war der Hausherr – aufgrund des Alters musste er es sein, denn die übrigen Männer waren jünger. Hermann Suhrkamp erhob sich mit einem Ächzen, als Raphael auf ihn zuschritt und ihn musterte. Er hatte ein fast neunzigjähriges gebrechliches Hutzelmännchen erwartet, nicht den großen, kantigen Mann, der nun aufrecht vor seinem Stuhl stand und keine Miene verzog.
»Sie sind zu spät, Herr Freersen.«
Raphael gönnte sich in Gedanken ein »Dir auch einen guten Morgen, Arschloch«, bevor er launig anmerkte: »Fünf Minuten drüber ist bei mir immer noch pünktlich.«
»Unpünktlichkeit ist gelebte Arroganz, Herr Freersen«, kam die nächste Klatsche, und Raphael war drauf und dran, auf den Hacken kehrtzumachen, aber der gestrige Blick auf sein Konto verbat diese Aktion leider.
Mit einem gezwungenen Lächeln reichte er dem alten Herrn die Hand. »Guten Morgen, Herr Suhrkamp. Was kann ich für Sie tun?«
»Immer ruhig mit den jungen Pferden«, erwiderte der alte Mann, dessen Haar weiß, aber dicht war. Er hob seine ungewöhnlich raue Stimme und sagte in die Runde: »Nehmt jetzt bitte alle Platz, damit wir frühstücken können.« Dann sah er Raphael an und deutete auf den Platz rechts vom Kopfende. »Ich möchte Sie neben mir haben.«
Raphael blieb stehen. »Ich dachte, ich sei hier, um einen Auftrag entgegenzunehmen, und nicht, um bei einem Familienfrühstück dabei zu sein.«
»Ihr jungen Leute seid immer so unentspannt«, erwiderte Hermann Suhrkamp. »Darum hätte ich auch lieber eine ältere Ausgabe gehabt.« Er musterte Raphael erneut.
»Eine ältere Ausgabe von was?«, hakte Raphael irritiert nach, während die Familie sich setzte.
»Einen älteren Detektiv, mein Lieber. Einen Hercule Poirot.« Er schnaubte, und Raphael glaubte, einen Hauch Verachtung für sich herauszuhören. Die nächsten Worte Suhrkamps bestätigten es. »Nun, ich muss mich wohl mit Ihnen zufriedengeben. Auf die Schnelle wird sich nichts Besseres finden.«
»Onkel Hermann«, erklang Lillys Stimme fröhlich mahnend. »Sei doch bitte nett. Herr Freersen hat sich an einem Sonntagmorgen extra Zeit für dich genommen.«
»Dafür wird er ja schließlich gut bezahlt werden«, murrte Hermann Suhrkamp und klopfte neben sich. »Nun kommen Sie endlich, Herr Freersen. Die Meute hat Hunger und ist vor allem begierig darauf zu erfahren, warum sie alle eine Woche vor meinem Geburtstag anreisen sollten.«
Raphael blickte in die Runde. Einige nickten, und ein gemurmeltes »Allerdings« war zu hören. Der Rest schwieg. Als Hermann Suhrkamps »Guten Appetit, werte Familie« erklang, wurden die Brötchenkörbe herumgereicht, aber es blieb ungewöhnlich still. Nur das Klimpern von Geschirr und Besteck war zu hören, während alle ihre Brötchen mit Butter bestrichen und mit Wurst oder Käse belegten. Raphael fragte sich, ob es an seiner Anwesenheit lag, dass kaum Small Talk stattfand.
Er nahm Kassler und Camembert mit einem Klacks Himbeerkonfitüre auf seine Brötchenhälften und scannte den großen Raum, während er aß. Vergilbte Tapeten bekleideten die Wände, an denen Gemälde in verzierten goldenen Rahmen hingen. Allesamt zeigten die Bilder heimatlich Verbundenes, aber bevorzugt das Meer unter verschiedenen Wolkenstimmungen. Große Fotografien eines hölzernen Segelboots gab es mehrfach. Auf einem winkte unverkennbar der junge Hermann Suhrkamp dem Fotografen lächelnd zu. Oder war es eine Fotografin gewesen?
Dickbauchige Sideboards aus einem glänzenden orangebraunen Holz, das Raphael nicht zuordnen konnte, standen an zwei Wänden, darüber hingen kleine und größere Mahagoni-Vitrinen, in denen Taschenuhren, Medaillons und Sanduhren präsentiert wurden. Das helle Holz zeigte sich auch an den sechs Stühlen mit türkisfarbenem Bezug. Um für alle Platz zu bieten, waren weitere dunkle Stühle an die zwei zusammengeschobenen Tische gestellt worden.
Weiße Tischdecken und Stoffservietten zeugten vom klassischen Stil des Hausherrn. Das, was er auftischte, war allerdings eher bescheiden. Mett- und Leberwurst, zwei Käsesorten, Marmelade und Honig. Die Dinge, die Raphael bei einem guten Frühstück schätzte – Obst der Saison, Joghurt, Müsli, Tomate, Gurke, Rührei mit Speck, ein frisch gepresster Orangensaft –, suchte er vergeblich.
Der Suhrkamp-Familie war nicht anzumerken, ob sie etwas vermisste. Neben Lilly saß ein etwa Zwanzigjähriger mit dünnem Schnurrbart, der mit seinem Handy beschäftigt war, während er aß. Dann gab es zwei Seniorinnen und einen weiteren Senior um die achtzig. Die anderen beiden – ein Mann und eine Frau – waren Ende vierzig.
Hermann Suhrkamp war wohl seinem Blick gefolgt, denn er erklärte: »Die grauhaarige Dame ist meine verwitwete Schwester Mechthild Rasmussen. Sie lebt hier im Haus. Daneben sitzen meine Schwester Ingeburg und ihr Mann Günther Haack.«
Raphael nickte den dreien zu, als sie aufsahen.
»Warum sollte das Herrn Freersen interessieren, Onkel Hermann?«, fragte die Endvierzigerin. »Er soll herausfinden, was es mit den Postkarten auf sich hat. Wozu muss er die Familie kennenlernen?«
Raphael war sich sicher, dass sie Lillys Mutter war, denn die Ähnlichkeit war frappant.
Hermann Suhrkamp lachte dunkel auf. »Glaubst du ernsthaft, Urte, ich hole einen Detektiv ins Haus, damit er sich um diesen Karten-Unsinn kümmert? Ich habe etwas ganz anderes mit ihm vor. Aber vor allem mit euch.«
Jetzt klimperte nicht mal mehr das Geschirr. Alle starrten Hermann Suhrkamp an. Auch Raphael.
»Das klingt ja geradezu mysteriös, Onkel Hermann«, begrub der mittelalte Mann die Stille schließlich mit einem aufgesetzten Lachen. »Kläre uns bitte auf.«
»Gemach, Hauke, gemach«, wiegelte Suhrkamp ab. »Die Feinheiten teile ich euch morgen mit, wenn die letzten beiden Familienmitglieder eintreffen. Fast wollte ich die beiden ausschließen, weil sie es nicht nötig hatten, pünktlich zu sein, aber ich denke, die Sache wird interessanter, wenn vor allem Björn dabei ist.«
»Du zitierst uns eine Woche vor deinem Geburtstag hierher, alle haben Urlaub genommen«, ereiferte Hauke sich. »Da wäre es doch nett zu erfahren, warum für Lucie und den Spinner wieder einmal Ausnahmen gelten.«
»Dein Cousin mag ein Spinner sein, aber er ist erbberechtigt«, blieb Hermann Suhrkamp ruhig. »Darum soll er dabei sein. Und Lucie kann als Oberärztin nicht so beliebig Urlaub nehmen wie ihr Übrigen.«
Raphael hatte das Gefühl, dass »die Übrigen« sich durchaus herabgewürdigt fühlten, die Demütigung aber hinnahmen, weil ein Wort in Suhrkamps Rede dazu riet. Und da wurde es auch schon wiederholt.
»Erbberechtigt?« Mechthild Rasmussen musterte ihren Bruder erstaunt. »Was soll das bedeuten?« Sie blickte die anderen an, deren Aufmerksamkeit nicht höher sein konnte. »Geht es um dein Testament?«
Suhrkamp lachte auf. »Ich habe gar kein Testament, Mechthild. Wenn ich tot bin, greift die ganz normale gesetzliche Erbfolge.«
Raphael glaubte, das eine oder andere erleichterte Gesicht zu sehen. Und wohl nicht nur er, denn Hermann Suhrkamps Lächeln wurde zu einem hässlichen Grinsen. »Eigentlich.«
»Onkel Hermann, das ist wirklich nicht nett«, ergriff Lilly das Wort. »Wenn du dir jedes Wort aus der Nase ziehen lässt, wird doch nur die Stimmung am Tisch mies.«
»Gönn mir meinen Spaß, Kindchen«, meinte Suhrkamp und klang überraschend milde. Anscheinend hatte er seine Großnichte sehr gern. »Nun stärkt euch, meine Lieben«, warf er energischer in die Runde und griff nach seiner Kaffeetasse, die Lilly ihm befüllt hatte. Seine Hand zitterte leicht. »Wir haben eine wahrlich aufregende Woche vor uns.«
Eine Stunde später führte Hermann Suhrkamp Raphael durch die Räumlichkeiten des Untergeschosses. Lilly begleitete die beiden auf Wunsch des alten Mannes. Sie gingen langsam, denn das Gehen fiel Suhrkamp schwer. Er stützte sich auf einen Handstock, der antiquiert und ungewöhnlich aussah.
Suhrkamp war aufmerksam, fiel Raphael erneut auf, denn er blieb stehen und hob den gedrechselten Stock an. »Ein über hundert Jahre altes Familienerbstück, mit besonderer Länge. Die Suhrkamps neigen zum Großwuchs.«
Raphael nickte. »Schönes Teil. Der Griff, ist das –«
»Elfenbein«, fiel Suhrkamp ihm schon ins Wort. Stolz färbte seine Stimme. »Mein Großvater hat den Elefanten selbst erlegt. 1902 in Togo.«
»Na, dann freuen wir uns mal, dass die imperialistischen Kolonialzeiten vorbei sind und die Dickhäuter in Afrika heute unter Schutz stehen«, sagte Raphael betont ruhig.
»Von wegen Schutz«, empörte Lilly sich. »Jedes Jahr sterben Zehntausende von Elefanten durch diese Fuck-Wilderer. Die vergiften ganze Wasserlöcher, um die tollen Tiere zu töten. Ich hab’s nachgelesen: Das meiste Elfenbein geht nach Asien, weil die Chinesen drauf stehen.«
»Die Chinesen leben ihre Traditionen der Schnitzkunst«, sagte Hermann Suhrkamp streng. »Den Deutschen kommen all ihre Traditionen ja leider mehr und mehr abhanden.«
»Bitte, Onkel Hermann, lass uns nicht wieder diese fruchtlose Diskussion führen«, gab Lilly ihm Kontra. »Zeiten ändern sich, und nicht immer zum Schlechten, auch wenn du das ständig behauptest. Die Menschen haben der Welt schon so viel Gutes getan und machen weiter. Umweltschutz, Klimaschutz … Das ist doch überlebenswichtig für unsere junge Generation.«
Hermann Suhrkamp stöhnte und schüttelte den Kopf. »Klimaschutz … Spökenkram. Als könne der Mensch das Wetter beeinflussen.« Er ging weiter.
Lilly sah Raphael an und verdrehte die Augen. Raphael zwinkerte ihr zu. Es gab Zeitgenossen, da waren Diskutieren und Debattieren vergeudete Lebensenergie.
Der alte Mann zeigte Raphael Küche und Hauswirtschaftsraum – beide waren zweckmäßig und unspektakulär eingerichtet. Im Wohnzimmer gab es ein Sofa, einen dazu passenden Sessel und einen gekachelten Couchtisch – alles erinnerte Raphael an die Möbel von Onkel Schorsch, die nun auf dem Sperrmüll waren. Ein sehr viel neuerer Relaxsessel stand mit Blickrichtung zum Fernseher. Auf dem Flur gab es noch ein Kabuff, das keine Tür hatte, sondern einen Vorhang, der geöffnet war. Die Regale in dem winzigen Raum waren mit Kisten und Kartons vollgestellt. »Ich wollte immer mal aufräumen«, meinte Suhrkamp. »Aber wie es so ist, die Zeit läuft einem davon.«
Raphael blickte den langen Flur entlang, während Lilly auf Anweisung des Alten den Vorhang zuzog. »Es ist wirklich ein Riesenhaus, Herr Suhrkamp.«
Hermann Suhrkamp nickte. »Ja, und ich brauche den Platz.«
Raphael fragte sich, wofür. Der alte Mann lebte hier mit seiner Schwester allein, obwohl locker Platz für zwei komplette Familien wäre. Was für eine wahnsinnige Verschwendung von Wohnraum, der auf der Insel knapp war.
Hermann Suhrkamp deutete beim Weitergehen auf dieses und jenes Möbelstück. In einem mit ziseliertem Glas versehenen Oberbau eines Büfetts nahm Raphael im Vorübergehen mindestens ein Dutzend Tee- und Kaffeekannen wahr, und auf einem Regal standen Dutzende bunt lackierter Matroschkas – anscheinend handbemalt, denn bei einer war die Farbe eines Auges ein wenig verlaufen, was sie gruslig aussehen ließ. Was der Alte wohl noch alles sammelte und aufbewahrte?
»Nun kommen Sie schon, Herr Freersen«, mahnte der alte Mann und schritt Richtung Treppe, »ich möchte Ihnen mein Schlafzimmer zeigen. Das komplette Interieur stammt aus den zwanziger Jahren.« Vor dem Treppenlift wies Suhrkamp die beiden an: »Geht vor, das Gefährt braucht ein wenig.«
Der groß gewachsene Suhrkamp wirkte in dem Lift deplatziert, und er schien seine Immobilität als Schwäche zu empfinden, denn sein Gesicht war missmutig verzogen, als er oben ankam und sich mit einem Ächzen hochstemmte.
Als Lilly in der Mitte des Flurs eine Tür zur Linken aufzog und Raphael hinter Suhrkamp dessen Schlafzimmer betrat, war ihm, als würde er von Schattenwesen begrüßt. Ein Doppelbett, aus dunkelstem Holz, verschnörkelt und mit Intarsien versehen, fing in seiner Mächtigkeit den ersten Blick ein. Zerknitterte Bettwäsche signalisierte, dass der Alte tatsächlich in diesem Zimmer schlief, das einem auf zweifache Weise den Atem raubte. Zum einen, weil es durch und durch aus der Zeit gefallen war, und zum Zweiten, weil die Atmosphäre des Raumes schwermütigen Menschen den Rest geben würde. Dazu bei trug auch eine in eine Friesentracht gehüllte Schaufensterpuppe, die steif und staubig neben einem der Nachttische stand.
»Die Tracht meiner verstorbenen Tante«, bemerkte Hermann Suhrkamp erneut aufmerksam.
Ein Kleiderschrank und eine Kommode mit Spiegel waren aus dem gleichen Holz wie das Bett. Samtene Vorhänge in dunklem Weinrot wurden von verblichenen, goldfarbenen Kordeln zusammengehalten, sodass durch die beiden Fenster wenigstens etwas Licht in den Raum gelangte, aber das Gefühl, nicht Atem holen zu können, blieb. Die Düsternis des Hauses hatte hier ein Ausrufezeichen gesetzt.
Raphael hatte keine Ahnung von Möbelstilen und deren Zuordnung, aber dieses Interieur sah aus, als gehörte es nicht in die zwanziger Jahre, sondern in das Schlafzimmer eines britischen Earls im neunzehnten Jahrhundert. Die Crawleys aus Downton Abbey kamen ihm in den Sinn. Doch der Earl von Grantham hätte persönlich mit Hand angelegt und die Vorhänge von den Wänden gerissen, hätte sein Schlafzimmer so ausgesehen.
»Schon mein Großvater schlief in diesem Bett«, sagte Suhrkamp und strich über das dunkelbraune Holz.
Raphael nickte. Der Elefantenmörder hatte darin hoffentlich Alpträume der schlimmsten Art gehabt. Er war versucht, diesen Gedanken laut zu wiederholen, als sein Blick auf ein Grammophon fiel, das auf einem kleinen Schränkchen neben der wuchtigen Kommode stand. »Wow!« Er ging darauf zu.
»Wunderschön, nicht wahr?«, meinte Suhrkamp und trat neben Raphael. »Ein Original-Trichtermodell aus den zwanziger Jahren. Morgens, wenn ich mich ankleide, lege ich immer eine Platte auf.«
Raphael sah den Alten ungläubig an. »Es funktioniert noch?«
»Natürlich.« Hermann Suhrkamp wollte vielleicht beiläufig klingen, aber der Stolz in seiner Stimme war nicht zu überhören. Er legte seinen Stock beiseite und öffnete den kleinen Schrank. Bedächtig zog er eine Schallplatte aus einer knittrigen Hülle und legte sie auf den Teller des Grammophons. »Eine Schellackplatte«, sagte er.
»Wunderbar«, erwiderte Raphael ehrlich begeistert. »Mein Bruder hat auch einige alte Schellackplatten. Wussten Sie, dass Schellack ein Harz ist, das von Blattläusen ausgeschieden wird?«
»Natürlich«, erwiderte der Alte unbeeindruckt, während Lilly ein angewidertes »Echt jetzt? Klingt voll eklig« ausstieß.
Der Großonkel schüttelte milde den Kopf. »Es ist doch verarbeitet, Kindchen, und dient bei Platten nur als Bindemittel.« Dann setzte er sich mit einem leisen Stöhnen auf einen Lehnstuhl neben dem Schrank und wandte sich an Raphael. »Möchten Sie die Kurbel drehen? Die Feder anzuziehen ist durchaus ein wenig mühsam.«
Raphael ließ sich nicht zweimal bitten. Rund vierzigmal drehte er auf Suhrkamps Anweisung die Kurbel an der rechten Seite des Grammophons. Dann durfte er den Plattenstopper lösen und, als die Platte lief, den Tonarm aufsetzen.
Hermann Suhrkamp lehnte sich entspannt im Stuhl zurück. »Wir hören jetzt Enrico Caruso.«
Lillys »Hä? Wen?« ignorierte er.
Raphael war wahrhaft begeistert, als die Töne von »O sole mio« knisternd den Raum füllten. »Großartig!«
Sie hörten das Lied zu Ende, wobei Lilly sich auf das Bett setzte und auf die Bettdecke zurückfallen ließ, was ihr ein missbilligendes Kopfschütteln des Großonkels einbrachte, sie aber nicht daran hinderte, mit seitlich ausgestreckten Armen so liegen zu bleiben.
»Und nun zeige ich Ihnen mein Krimi-Zimmer, Herr Freersen, ein Raum mit Möbeln aus den sechziger Jahren.«
Das Krimi-Zimmer war in Raphaels Augen das bisher gemütlichste – auf seine besondere Weise. Es gab verschiedenfarbige kleine Sessel mit hölzernen Armlehnen, ein Nierentischchen und einen Blumenständer mit verschiedenen Etagen, auf denen zwei großblättrige Pflanzen standen. Statt eines Grammophons gab es hier einen Plattenspieler. Er stand auf einer Anrichte, direkt daneben standen Plattenhalter aus früheren Zeiten. Weitere Hunderte Schallplatten – Singles und Alben – befanden sich in einem Plattenschrank. Raphael fand alles großartig, doch gerade richtete sich sein Interesse auf das alte schwarze Telefon mit Wählscheibe, das auf der Fensterbank stand. »Funktioniert es auch noch?«
»Leider nicht.« Der Alte deutete zu einem Regal, auf dem mehr als fünfzig Bücher standen. »Hier, meine Agatha-Christie-Sammlung. Alle gelesen, ich bin sehr stolz darauf. Wie gefallen Ihnen ihre Krimis?«
»Ich kenne keinen einzigen«, musste Raphael zugeben. »Tatsächlich höre ich lieber Hörbücher, und da bin ich eher auf dem humorvollen Sektor unterwegs. Ich empfehle Ihnen ›Achtsam morden‹, sehr witzig.«
»Für Nonsens bin ich nicht zu haben. Hier, ein Hercule-Poirot-Krimi.« Er zog ein Buch aus dem Regal und drückte es Raphael in die Hand. »Er wird Ihnen gefallen, versprochen.«
»›Mord im Orient-Express‹«, murmelte Raphael. »Danke, ich werde mal reinlesen.« Nicht, setzte er in Gedanken hinzu.
Als sie zurück auf dem fensterlosen Flur waren, schickte Suhrkamp Lilly mit den Worten »Bringst du mir einen Pfefferminztee in mein Schlafzimmer, mein Kind?« nach unten. Er wartete, bis sie außer Hörweite war, bevor er sich Raphael zuwandte. »Den Rest des Hauses können Sie sich in den nächsten Tagen ansehen, Herr Freersen. Zeit genug werden Sie haben.«
»Okay, ich habe verstanden, dass ich wiederkommen soll. Aber warum?«
»Ich möchte, dass Sie hier übernachten, Herr Freersen, bis zu meinem Geburtstag.«
Raphael war genervt. »Sie sollten mir langsam sagen, was Sie von mir wollen, Herr Suhrkamp.«
Hermann Suhrkamp lächelte, aber Raphael fiel auf, wie verkrampft es wirkte. Hatte der alte Mann Schmerzen? Er stützte sich schwer auf seinen Stock, und die ohnehin teigige Gesichtsfarbe wirkte noch gelber.
»Morgen Nachmittag erfahren Sie alles, Herr Freersen. Geld spielt keine Rolle, ich werde Sie gut bezahlen.«
»Ich werde keinen Schritt mehr in Ihr Haus setzen, wenn Sie mir jetzt nicht sagen, worum es geht. Anscheinend ja nicht um die Postkarten, obwohl Ihre Nichte mich deshalb aufgesucht hat.«
»Dieser Kartenunsinn interessiert mich nicht«, sagte Suhrkamp. »Sie sollen einfach mein Hercule Poirot sein, Herr Freersen. Ich verspreche Ihnen eine Woche voller Geheimnisse. Sie werden meine Augen und meine Ohren sein, wenn meine Familie sich gegenseitig belauert und der eine dem anderen das Gelbe im Ei nicht gönnt.«
Geheimnisse? Anscheinend war der Alte komplett senil. Anders war der Unsinn nicht zu erklären. Aber wenn er es so wollte. »Ich muss auf eine Vorauszahlung für diese Woche bestehen, Herr Suhrkamp.«
»Soll mir recht sein.« Als Raphael die hohe Summe nannte, blieb der alte Mann unbeeindruckt. »Bringen Sie Ihre Rechnung morgen mit, Herr Freersen. Ich erwarte Sie zum Frühstück und zahle bar.«
»Diese hohe Summe dürfen Sie gern überweisen, Herr Suhrkamp. Ich –«
»Das ist noch gar nichts«, unterbrach der alte Mann ihn. »Sie werden morgen noch weitaus mehr Bargeld zu sehen bekommen. Und jetzt, Herr Freersen, möchte ich mich einen Moment ausruhen.« Er nickte Raphael zu und verließ vor ihm den Flur.