Die Tränen der Vila - Wolfgang Jaedtke - E-Book
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Die Tränen der Vila E-Book

Wolfgang Jaedtke

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Beschreibung

„Mein Sohn, nun ist die Zeit gekommen, da ich mich deinem Urteil aussetzen muss. Du magst mich einen Feigling schelten, weil ich das Nahen meines Todes abgewartet habe. Doch urteile nicht zu hart über mich: Auch die Größten und Tapfersten bekannten manches erst auf dem Sterbebett.“ Das Herzogtum Sachsen im 12. Jahrhundert: In den Wirren eines Fehdekrieges verwaist, ist der junge Bauernsohn Odo auf sich allein gestellt und muss um sein Überleben kämpfen. Als er von einem fahrenden Ritter als Waffenknecht angenommen wird, scheint sich sein Schicksal zu wenden. Dann aber muss er sich an der Seite seines Herren dem Kreuzzug anschließen, der den heidnischen Wenden in Mecklenburg den wahren Glauben bringen soll – mit dem Schwert. Odo wird nicht nur Zeuge blutigen Schreckens und blinder Raserei, sondern auch des Widerstandes. Denn in den Wäldern lauert etwas auf die Eroberer: intelligent, schnell und tödlich. Odo ahnt nicht, dass sich hinter der unheimlichen Macht, die seine Gefährten Mann für Mann dezimiert, ein zu allem entschlossenes wendisches Mädchen verbirgt – und dass die Begegnung mit ihr sein Leben auf ungeahnte Weise verändern wird … Eine kaum bekannte Episode der Geschichte. Zwei besondere Menschen, die einer Zeit des Schreckens trotzen müssen. Ein kraftvoller und fesselnder historischer Roman. Jetzt als eBook: „Die Tränen der Vila“ von Wolfgang Jaedtke. dotbooks – der eBook-Verlag.

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Über dieses Buch:

Das Herzogtum Sachsen im 12. Jahrhundert: Zwei Fürsten kämpfen um die Macht. Das Land wird geplündert und vielerorts dem Erdboden gleichgemacht. Nur der junge Odo entkommt dem Blutbad in seinem Dorf. Von nun an ist er auf sich selbst gestellt und muss um sein Überleben kämpfen. Erst als er von einem Ritter als Knecht angenommen wird, scheint sich sein Schicksal zu ändern. Doch dann muss er sich an der Seite seines Herrn dem Kreuzzug anschließen, der dem Wendenland im Osten den wahren Glauben bringen soll – mit dem Schwert. Odo wird nicht nur Zeuge dieses blutigen Schreckens, sondern auch des Widerstandes. In den Wäldern lauert etwas auf die Eroberer: intelligent, schnell, tödlich. Odo ahnt nicht, dass sich hinter der vermeintlichen Kampfgruppe ein zu allem entschlossenes wendisches Mädchen verbirgt, das sein Leben auf ungeahnte Weise lenken wird …

Eine kaum bekannte Episode der Geschichte. Zwei besondere Menschen, die einer Zeit des Schreckens trotzen müssen. Ein kraftvoller und fesselnder historischer Roman.

Über den Autor:

Wolfgang Jaedtke, geboren 1967 in Lüneburg, ist promovierter Musikwissenschaftler und freier Autor. Sein besonderes Interesse gilt der Vor- und Frühgeschichte. Wolfgang Jaedtke veröffentlichte bereits zahlreiche Romane und Sachbücher. Er lebt im norddeutschen Stelle.

***

Originalausgabe Januar 2013

Copyright © 2013 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Redaktion: Ralf Reiter

Titelbildgestaltung: Nicola Bernhart Feines Grafikdesign, München

Titelbildabbildung: Foto: © Nejron Photo – Fotolia.com; Hintergrundbild: © mozZz – Fotolia.com

ISBN 978-3-95520-093-0

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Wolfgang JaedtkeDie Tränen der Vila

Historischer Roman

dotbooks.

Das Manuskript des Odo von Reppenstede, geschrieben im 12. Jahrhundert in mittelniederdeutscher Sprache, wird hiermit erstmals der Öffentlichkeit in neuhochdeutscher Übertragung vorgelegt. Es wurde entschieden, die damals gebräuchlichen Ortsnamen beizubehalten:

Meinem teuren Sohn, Vitus von Reppenstede

Zu lesen nach meinem Tod

Anno MCLXXIX nach der Fleischwerdung des Wortes

Mein Sohn,

da ich das Ende nahen fühle, das der Herr allem sterblichen Fleisch beschieden hat, will ich meine Seele im heiligen Sakrament der Beichte erleichtern. Keinem Priester vertraue ich mich an, denn ich bin überzeugt, dass Gott meine Sünden kennt. Auch glaube ich nicht, dass der Spruch eines Priesters meine Schuld tilgen könnte. Ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass kein Sterblicher, sei er Bauer, Freibürger, Bischof oder selbst Papst, die Wege des Herrn erkennen und voraussagen kann, wem vergeben oder nicht vergeben wird. Die Gnade Gottes ist sein Geheimnis, und er offenbart keinem Menschen, aus welchem Grund er den einen errettet und den anderen verwirft. Denn so spricht der Herr gemäß der Schrift: Soviel der Himmel höher ist als die Erde, so sind auch meine Wege höher als eure Wege und meine Gedanken als eure Gedanken.

Dir, mein Sohn, gebührt diese Beichte, denn das dir geschehene Unrecht lastet schwer auf meiner Seele. Niemand sonst lebt auf meinem Landgut, der des Lesens mächtig wäre, und so darf ich sicher sein, dass allein du jene Geheimnisse erfahren wirst, von denen ich mich schreibend befreie. Tu mit diesem Manuskript, was immer du willst: Verbirg oder verbrenne es, nachdem du es gelesen hast, doch sorge vor allem dafür, dass es keinem Geistlichen in die Hände fällt.

Das Wichtigste will ich dir als Erstes offenbaren, auch wenn du es bereits, wie ich vermute, mit Staunen aus meiner Anrede entnommen hast: Ja, Vitus, du bist mein leiblicher Sohn. Nun wirst du fragen, warum ich dir dies nie zuvor offenbart habe, und ich muss dir antworten: Ich schwieg, weil Furcht mir die Lippen verschloss. Es war nicht so sehr die Furcht vor den Priestern, denen Vaterschaft ohne den Segen des Ehesakraments ein Greuel ist. Ich fürchtete mich – vor dir, mein Sohn.

Was wäre geschehen, wenn ich dir die Wahrheit schon früher eröffnet hätte? Hättest du mich nicht hassen müssen, weil ich dich deiner Heimat entriss und fortführte in dieses Land, dessen Glaube und Sitten dir fremd sind? Hättest du nicht annehmen müssen, der Sachse habe sich deiner Mutter kraft derselben rohen Gewalt bemächtigt, die das Land deiner Vorfahren heimsuchte, ihre Dörfer verwüstete, ihre Heiligtümer niederbrannte und ihre Kinder unter das Kreuz zwang? Ich gestehe es frei: Ich fürchtete deinen Zorn.

Nun aber ist die Zeit gekommen, da ich mich deinem Urteil aussetzen muss. Du magst mich einen Feigling schelten, weil ich das Nahen meines Todes abgewartet habe. Doch urteile nicht zu hart über mich: Auch die Größten und Tapfersten bekannten manches erst auf dem Sterbebett, und wer weiß, welche Geheimnisse selbst Bischöfe und Kardinäle ihren Beichtvätern in jener Stunde anvertrauen. Lies, mein Sohn, doch verdamme mich nicht, bevor du die letzten Seiten dieses Manuskripts erreicht hast und verstehst, welche Kräfte mich einst in meiner Jugend bewegten und auf welche Weise mein Schicksal in die Geschichte meiner Zeit verflochten wurde.

Wie ich aus meiner Heimat vertrieben wurde

Ich beginne mit meiner Erzählung im Jahr des Herrn 1138.

Es war der Morgen eines schönen Tages im September. Die Sonne schien, und ich, ein junger Bursche von elf Jahren, war früh aufgestanden, um mich um Haus und Hof zu kümmern. Unser Dorf, das zu den Besitzungen des Grafen von Blankenburg gehörte, war klein und hatte, soweit ich mich erinnern kann, nicht einmal einen Namen. Es umfasste neun Hufen, wie hierzulande die Hofstellen der Hörigen genannt werden. Die Hütten aus geflochtenem Astwerk, mit Lehm verkleidet und mit Binsen gedeckt, duckten sich in den Schatten eines Höhenzuges, der zu den nördlichsten Ausläufern des Harzgebirges gehörte. Auch meine Familie besaß eine solche Hütte, und obwohl sie nur einen einzigen fensterlosen Raum umschloss, kam sie mir doch allzu groß vor, seit meine Mutter und mein Bruder gestorben waren.

Nachdem ich aufgestanden war, versorgte ich als Erstes meinen Vater, der fiebernd auf seinem Strohlager ruhte. Seit dem vergangenen Winter war seine Gesundheit ernstlich angegriffen: Anhaltende Schwäche und Gelenkschmerzen plagten ihn, und mittlerweile hatte sich ein trockener Husten zu den übrigen Plagen gesellt. Ich gab ihm Wasser und versprach, auch Ziegenmilch zu bringen, sobald ich die Schweine in den Wald geführt und Zeit zum Melken haben würde.

„Habt keine Sorge, Herr Vater“, sagte ich, legte die Hand auf seine Stirn und bemühte mich, kein Erschrecken angesichts der Hitze seiner Haut zu zeigen. „Ich schaffe die Arbeit schon allein.“

In der Tat bewirtschaftete ich den Hof seit Monaten, wenn auch mehr schlecht als recht, mit der Kraft meiner eigenen jungen Hände. Im Mai hatte ich in mühevoller Arbeit mit unserer einzigen Kuh den Acker gepflügt, im Juli das Heu eingebracht, im August das Getreide geerntet. Wir hatten nur wenig zu essen, und oft blieb mir nichts anderes übrig, als zum Mittagsmahl eine Schüssel Getreidebrei mit Milch anzurühren. Es war mir klar, dass wir in diesem Jahr kaum in der Lage sein würden, unserem Grundherrn die Steuer zu entrichten, denn es gab so gut wie nichts, was wir zurücklegen konnten.

Mein Vater seufzte, als habe er denselben Gedanken, zeigte jedoch ein schwaches Lächeln.

„Mein großer Junge“, flüsterte er und unterbrach sich, als ein Hustenanfall seine nackte Brust schüttelte. Ich wartete geduldig und zugleich gerührt, denn nur selten hatte er in letzter Zeit das Wort an mich gerichtet. „Ich bin so froh, dass der Herrgott dich mir erhalten hat. Du bist ein guter Junge, Odo. Ich bete jeden Tag für dich.“

Sosehr mich dieses Lob erfreute, fühlte ich doch Angst in mir aufsteigen, denn es klang wie ein Abschiedswort. Ergriffen nahm ich seine Hand, die rauh und trocken war, voller Falten und Schwielen von vierzig Jahren Feldarbeit.

„Auch ich bete für Euch, Herr Vater“, sagte ich und konnte nicht verhindern, dass meine Stimme wankte. „Und wenn Gott meine Gebete hört, wird er auch Euch erhalten.“

Mein Vater seufzte, lehnte sich zurück und ließ seine Hand aus der meinen sinken. Bis heute frage ich mich, ob er an jenem Morgen ahnte, dass etwas Schreckliches geschehen würde.

„Denk daran, die Schweine in den Wald zu treiben“, flüsterte er mit veränderter Stimme.

Ich nickte, griff nach der Weidengerte und ging zur Tür unseres Hauses.

Draußen schien bereits die frühe Herbstsonne, so dass ich die Augen beschatten musste, als ich ins Freie trat. Rasch umrundete ich das Haus und ging auf den kleinen Stall zu, ein windschiefes Gerüst aus verwittertem Holz mit einem Gatter aus geflochtenem Astwerk. Die Schweine scharrten und grunzten bereits, denn sie wussten, welches Tagwerk ihnen anstand: In dem kleinen Wäldchen auf der Ostseite des Dorfes waren jüngst die Eicheln und Bucheckern gefallen, und die Schweine würden bis zum Abend zwischen den Bäumen umherstreifen und sich an den Leckerbissen mästen. Hinter ihnen stand Christa, unsere einzige Kuh, und warf bei meinem Anblick freudig den schweren Kopf in die Höhe. Auch sie erwartete ein angenehmer Tag, der in nichts anderem bestehen würde als dem ruhigen Abweiden des Klees auf unserem Brachfeld. Allein ich würde von früh bis spät zu arbeiten haben, und wie so oft ertappte ich mich dabei, meine vierbeinigen Hausgenossen zu beneiden: Das Heu musste gewendet werden und das Wintergetreide gesät, die Ziege musste gemolken werden und das Federvieh gefüttert, und wenn nach all dem noch Zeit blieb, war es gewiss klug, ein wenig Holz zu schlagen, um mit der Anlage eines Vorrats für den Winter zu beginnen.

Seufzend ergriff ich das Gatter, als mich vom benachbarten Haus eine helle Stimme anrief.

„Gott zum Gruß, Odo!“

Ich wandte mich um und erblickte Gunde, die Frau unseres Nachbarn Hartmut, die hinter dem Gartenzaun stand und die herabgefallenen Früchte ihres Apfelbaums auflas.

„Gott zum Gruß, Frau Nachbarin“, erwiderte ich höflich und konnte nicht umhin, innezuhalten und zu beobachten, wie sie sich nach den Äpfeln bückte. Ich war noch nicht in das Alter eingetreten, in welchem junge Burschen sich für Frauenspersonen begeistern, doch streifte mich beim Anblick Gundes zuweilen eine frühe Ahnung solcher Empfindungen. Hartmut, unser Nachbar, war ein reifer Mann von fünfunddreißig Jahren, seine Frau jedoch war mindestens zehn Jahre jünger und, obwohl sie bereits fünf Kinder geboren hatte, unverbraucht und von reizender Gestalt. Sie hatte nicht einmal einen Buckel, wie ihn fast jede Bäuerin mit der Zeit bekam, sondern hielt sich aufrecht und gerade wie eine Edelfrau. Oft fragte ich mich, ob auch meine Mutter eine so schöne Frau wie Gunde gewesen war, doch ich konnte mich nicht erinnern. Sie war bereits vor vielen Jahren bei der Geburt meines Bruders gestorben, der sie nur um wenige Tage überlebt hatte.

Betreten schlug ich die Augen nieder, als Gunde meinen Blick bemerkte.

„Ich bringe deinem Vater morgen einen Korb Äpfel hinüber“, rief Gunde. „Der Baum trägt dieses Jahr reichlich.“

„Gott soll’s vergelten, Frau Nachbarin!“, antwortete ich.

Gunde nickte mir zu, wandte sich ab und ging zum Haus zurück, in dessen Tür sich zwei ihrer Kinder drängten und lauthals nach den Äpfeln verlangten. Erneut blickte ich aufmerksam hinüber, und der Anblick erweckte eine seltsame Wehmut in mir. Wie gern hätte auch ich eine Schar von Geschwistern und eine liebende Mutter gehabt, einen Apfelbaum im Hof und ein Haus voller junger und gesunder Menschen – mir hatte Gott nur den Vater, die Tiere und die ständige Sorge um unsere kargen Vorräte gelassen.

In diesem Moment mahnte mich das ungeduldige Scharren der Schweine an meine Pflichten. Seufzend öffnete ich das Gatter, woraufhin die Tiere eilig hinausstrebten und meine nackten Beine streiften.

„Langsam!“, rief ich ärgerlich und schwang die Gerte. „Ihr werdet noch jemanden umrennen!“

Und dies geschah auch beinahe, denn als die Schweine den Weg zur Dorflinde hinabschossen und in Richtung des Waldes bogen, kreuzten sie den Weg dreier Männer, die auf unser Haus zustrebten.

Erschrocken erkannte ich den Gutsverwalter, einen korpulenten Mann in guter Kleidung aus grünem Tuch, begleitet von zweien seiner Hausknechte, die einen Karren zogen. Er kam früher als befürchtet – noch vor dem Matthäustag, und dies verhieß nichts Gutes. Nicht, dass sein Erscheinen im Dorf jemals irgendwelchen Anlass zur Freude gegeben hätte, denn Diederich, der sich von seinen Hörigen „Thiedericus“ nennen ließ, war ein hartherziger und allgemein gefürchteter Mann. Er residierte auf dem Herrenhof, einem stattlichen Haus auf einem nahe gelegenen Hügel, und sein Amt bestand darin, die abgelegene Besitzung zu verwalten und für seinen Herrn die Abgaben aus den umliegenden Dörfern einzuziehen.

Entsprechend beklommen fühlte ich mich daher, als ich sah, wie er geradewegs auf unser Haus zuhielt. Zu allem Unglück kreuzten eben die Schweine seinen Weg und nötigten ihn, unter Vernachlässigung seiner herrschaftlichen Haltung mit einem unwilligen Keuchen zur Seite zu springen. Böse starrte er zu mir herüber, als hätte ich die Tiere absichtlich auf ihn und seine Begleiter losgelassen.

„Heda, Junge!“, rief er. „Wo ist dein Vater?“

Ich stand wie erstarrt, das Gatter des Schweinestalls in der Hand. Thiedericus trat näher – so nahe, wie der pflichtgemäße Abstand zwischen Grundherr und Hörigen es zuließ – und blickte auf mich herab.

„Im Haus“, beantwortete ich recht verspätet die Frage.

Thiedericus verzog den Mund. „Es ist helllichter Tag“, sagte er ungnädig. „Was tut dein Vater um diese Zeit im Haus? Warum ist er nicht bei der Arbeit auf dem Feld?“

„Er ist noch immer krank“, brachte ich schüchtern vor.

Thiedericus trat auf das Haus zu, blieb jedoch vor dem hüfthohen Weidenzaun stehen – dem Friedensbezirk, den selbst ein Edler ohne Einladung nicht betreten durfte. Er öffnete eben den Mund, um nach meinem Vater zu rufen, als dieser ihm zuvorkam und die Tür von innen aufschob. Offenbar hatte er gehört, wer ihn zu so früher Stunde aufzusuchen gedachte, und sich mühsam von seinem Lager erhoben. Leicht gebeugt stand er in der Tür, eine Hand gegen den Rahmen gestützt, und der Anblick seines erbärmlichen Zustands ließ mir das Herz schwer werden.

„Gott zum Gruß, Herr“, sagte mein Vater, und den heiseren Worten folgte ein Anfall trockenen Hustens, der seine dürre Brust erschütterte und gewiss jeden guten Christenmenschen mit Mitleid erfüllt hätte. Nicht so Thiedericus: Ohne den Gruß zu erwidern, streckte er die Hand aus und ließ sich von einem seiner Knechte ein Pergament reichen, das mit Schriftzeichen bedeckt war.

„Sasse Arnulf“, begann er förmlich – Arnulf war der Taufname meines Vaters. „Ich tue dir kund, dass unser gnädiger Herr, der Graf von Blankenburg, vom Markgrafen Albrecht mit Krieg bedroht wird und zur Verteidigung seines Landes eine Sonderabgabe erhebt. Er erbittet daher von jedem Hof die folgenden Gaben.“

Thiedericus machte eine bedeutungsvolle Pause, und ich bemerkte, wie mein Vater sich in Erwartung des Kommenden straffte.

„Fünf Pfennige von jeder Hufe mit mehr als einem Ochsen“, verlas Thiedericus, „und vier Pfennige von jeder Hufe, die nur einen Ochsen oder gar keinen besitzt.“

Ich bemerkte, wie mein Vater seufzte und den Kopf sinken ließ. Wir besaßen überhaupt kein Geld, denn der schmale Umfang unserer jährlichen Ernte ließ es nicht zu, auch nur eine Weizengarbe auf dem Markt zu verkaufen.

„Diejenigen, welche nicht über Münzgeld verfügen“, fuhr Thiedericus fort, „dürfen die Abgabe auf folgende Weise in rebus naturalibus leisten: fünf Hühner oder ersatzweise fünfzig Eier, dazu ein Schwein oder ersatzweise fünf Pfund Schweinefleisch, dazu fünf Klafter geschlagenes Holz und alles an Eisengerät, was im Haus vorhanden ist und sich zu Waffen umschmelzen lässt.“

Thiedericus rollte sein Pergament zusammen, während mein Vater ergeben den Kopf senkte und den Besuchern zunickte. „Kommt herein.“

Thiedericus blieb stehen, während die beiden Knechte ihren Karren abstellten und das Haus betraten. Mein Vater verharrte an der Tür, und ich empfand das starke Verlangen, zu ihm hinüberzulaufen und ihn zur Bettstatt zurückzuführen. Unglücklicherweise jedoch versperrte Thiedericus die Gartenpforte, und um nichts in der Welt hätte ich gewagt, ihn zum Wegtreten zu nötigen. So warteten wir einige Zeit reglos, jeder an seinem Platz, während aus dem Innern des Hauses dumpfes Gerumpel zu hören war. Am Ende erschienen die Knechte wieder in der Tür, wobei sie eine Sense und ein Beil mit sich trugen – die einzigen Geräte aus Eisen, die wir besaßen.

„Ich bitte Euch, Herr“, flehte mein Vater, „lasst mir die Sense! Es ist mir sonst nicht möglich, im nächsten Jahr die Ernte einzubringen.“

Thiedericus verzog den Mund, prüfte noch einmal den Wortlaut seines Dokuments und gab schließlich einem der Knechte ein Zeichen. „Die Sense mag er behalten.“

Der Knecht stellte das langstielige Gerät ab und lehnte es gegen den Gartenzaun.

„Was ist mit dem Holz?“, fragte Thiedericus streng.

„Es ist keines da, Herr“, antwortete der Knecht.

„Hast du kein geschlagenes Holz?“, wandte der Verwalter sich an meinen Vater. Und als dieser resigniert den Kopf schüttelte, deutete Thiedericus zum Schweinestall hinüber. „Nehmt den Stall auseinander.“

„Nein!“, schrie ich entsetzt, schloss das Gatter in meinem Rücken und stellte mich mit ausgebreiteten Armen davor. „Unsere Christa ist da drin! Soll sie erfrieren, wenn der Winter kommt?“

Thiedericus wandte sich mit einem Blick nach mir um, als hätte ich seinen laubgrünen Umhang mit Kot beworfen.

„Bitte, Herr“, bat ich, „lasst mich in den Wald gehen und Holz für Euch schlagen! Ich komme so schnell wie möglich zurück.“

Thiedericus musterte mich skeptisch.

„Dann könnte ich auch gleich eines der Schweine mitbringen“, fügte ich hinzu.

Dies schien dem Verwalter einzuleuchten, und er ließ sein gnädiges Einverständnis durch ein Nicken erkennen. Zögernd trat ich näher und wies auf das Beil, das einer der Knechte in den Händen hielt.

„Könnte ich das Beil haben?“

Der Mann gab es mir.

„In spätestens einer Stunde bist du zurück!“, befahl Thiedericus. „Wenn nicht, zerlegen wir den Stall und nehmen eure Kuh anstelle des Schweins mit.“

Ich neigte demütig den Kopf. Der Verlust eines Schweins würde uns schmerzen; der Verlust der Kuh jedoch hätte bedeutet, dass wir unsere Äcker nicht mehr pflügen konnten und im kommenden Jahr hungers sterben würden. Ich wechselte einen Blick mit meinem Vater, der mir dankbar zunickte und sich ins Haus zurückzog.

Während Thiedericus und seine Männer sich dem Nachbarhaus zuwandten, schulterte ich das Beil und ging raschen Schrittes die Dorfstraße hinab, um an der Linde abzubiegen und den Wald aufzusuchen. Es würde nicht schwer sein, die Schweine zu finden, denn ihre Klauenspuren waren in der feuchten Erde leicht zu verfolgen. Schwieriger würde es sein, innerhalb einer Stunde genug Holz zu schlagen, um die geforderten fünf Klafter zusammenzubringen. Das kleine Beil war abgenutzt und taugte kaum dazu, einen Baum umzuhauen. Es blieb mir also nichts anderes übrig, als Bruchholz zu sammeln, Äste abzutrennen und mich vielleicht an einigen dünnen Pappeln zu versuchen.

Würde Thiedericus seine Drohung wahrmachen, wenn ich nicht rechtzeitig zurückkam? Eigentlich konnte es unter keinen Umständen rechtens sein, eine Kuh anstelle eines Schweins zu beschlagnahmen, doch es gab niemanden, den wir ob einer solchen Ungerechtigkeit um Beistand anrufen konnten. Die Bewohner unseres Dorfes waren keine Freibauern, sondern Hörige, und Thiedericus selbst besaß die niedere Gerichtsgewalt. Gewiss gab es noch das gräfliche Gericht, doch das war im fernen Blankenburg, und da der Graf unsere abgelegene Besitzung nie aufgesucht hatte, erschien er mir ebenso fern und unerreichbar wie der Papst. Konnte es tatsächlich wahr sein, dass Thiedericus mich und meinen Vater aus einer missgünstigen Laune heraus zum Hungertod verurteilte?

Heilige Jungfrau, Mutter unseres Erlösers, betete ich, während ich über ein brachliegendes Feld stapfte und den Wald erreichte. Lass nicht zu, dass dies geschieht.

Ich bat die Muttergottes, all jenes Unglück zu bedenken, das mich und meinen Vater bereits heimgesucht hatte: das Hinscheiden meiner Mutter, den Tod meines Bruders, Elend, Krankheit und Not. Doch noch eine andere Stimme im Innern meines Geistes mischte sich dazu, und diese verwünschte den grausamen Verwalter. Er selbst sollte Weib und Kind verlieren, seine Tiere sollten an Seuchen zugrunde gehen, die Früchte in seinem Garten sollten verderben und er selbst vom Pilzbrand heimgesucht werden, dass es ihm die Eingeweide zerriss. Ich schalt mich angesichts solcher bösen Gedanken, die meine Gebete störten, vermochte die rachsüchtige Stimme jedoch nicht zum Schweigen zu bringen. Und als ich endlich einen Baum gefunden hatte, den umzulegen ich mir zutraute, hieb ich mit dem kleinen Beil wie besinnungslos auf den Stamm ein und stellte mir vor, es sei der Hals des Schurken.

Wenn ihm doch nur der hässliche Kopf von den Schultern getrennt würde, dachte ich zornig.

Und vielleicht vernahm der Teufel meine Bitte, denn zuweilen gibt er den Menschen durchaus, was sie verlangen, stets jedoch unter Hohngelächter und zu ihrem Schaden.

Als nämlich die schlanke Pappel endlich umknickte, hielt ich inne, durch ein Geräusch aufgestört, und spähte zwischen den Bäumen hindurch in Richtung der Hügel jenseits des Waldes. Zuerst meinte ich, es sei nur das Scharren und Grunzen der Schweine, die sich irgendwo in der Nähe aufhalten mussten. Dann jedoch begriff ich, dass etwas Ungeahntes in der Ferne heraufzog, etwas, das wie der Ansturm einer Rinderherde klang und mich mit plötzlichem Entsetzen bannte. Unwillkürlich packte ich das Beil fester und umschloss den Griff mit beiden Händen, während ich gegen die Vormittagssonne blinzelte.

Der Lärm schwoll an, und mit einem Mal erhoben sich dunkle Schatten auf den Hügeln und fluteten ins Tal, geradewegs auf das Dorf zu. Ich fühlte mein Herz heftig schlagen, als ich Fußknechte in ledernen Waffenröcken erkannte, Äxte und Streitpickel schwingend. Hinter ihnen tauchten Reiter auf, in voller Rüstung mit Schild und Kettenhemd.

Im nächsten Moment stürzten die fünf Schweine an mir vorbei, die am Waldrand Eicheln aufgelesen hatten. Sie stoben quiekend und grunzend zum Dorf zurück, und ihre Flucht riss endlich auch mich aus meiner Erstarrung. Ich folgte ihnen und rannte um mein Leben. Inzwischen gewahrten auch die übrigen Dorfbewohner die Heimsuchung. Männer, die auf den Feldern arbeiteten, richteten sich erschrocken auf, ließen ihre Hacken sinken und beschatteten die Hände gegen die Sonne. Rinder und Ziegen auf der Weide scharrten, blökten erregt und warfen die Köpfe empor. Frauen kreischten und trieben ihre Kinder in die Häuser.

„Feinde!“, schrie ich, als ich die Dorflinde erreichte, den Weg zum Haus meines Vaters einschlug und Gunde erblickte, die an ihrem Gartenzaun stand und mir entgegenstarrte. Der Korb mit den Äpfeln fiel ihr aus der Hand, und sie stürzte zur Haustür.

Im nächsten Moment fühlte ich mich am Kragen gepackt, wirbelte herum und starrte in das verhasste Gesicht von Thiedericus, dessen Knechte eben damit beschäftigt waren, ihren Karren zum Nachbarhaus zu ziehen.

„Was ist geschehen?“, herrschte mich der Verwalter an. „Warum bist du nicht im Wald?“

„Herr!“, stieß ich hervor. „Feinde sind im Anmarsch! Bitte lasst mich zu meinem Vater!“

Thiedericus starrte mir misstrauisch ins Gesicht, als wittere er eine Lüge. Erst, als er des Aufruhrs ringsum gewahr wurde, richtete er sich auf und blickte zum Wald hinüber. Ich strampelte und wehrte mich verzweifelt, doch noch immer hielt er mich am Kragen meines Kittels gepackt.

Unterdessen hatten die fremden Krieger das kleine Waldstück durchquert und stürmten über die Felder auf das Dorf zu. Thiedericus erstarrte, und einstweilen gab ich jeden Versuch auf, mich ihm zu entwinden, denn der Anblick bannte mich mit Schrecken. Während mir das Herz laut in der Kehle pochte, beobachtete ich, wie die Fußknechte geradewegs auf einen Bauern zuhielten, der eben mit der Aussaat des Wintergetreides beschäftigt war. Er hatte sich aufgerichtet und die Heranstürmenden wie eine übernatürliche Erscheinung angestarrt, unfähig sowohl zur Flucht als auch zur Gegenwehr. Nun drangen sie auf ihn ein, und einer der Krieger schlug ihn mit dem Streitpickel zu Boden, ohne im Lauf innezuhalten. Der jüngste Sohn des Bauern hatte die Flucht ergriffen und rannte zum Dorfplatz, wurde jedoch von einem Ritter zu Fall gebracht, der ihm mit gezücktem Schwert nachsetzte und die Waffe auf seinen Kopf niederfahren ließ.

Thiedericus regte sich erst, als der Ritter die Dorflinde umrundete und fast gemächlich auf uns zutrabte. Endlich ließ er mich los, und seine Hand fuhr zum Griff des Schwertes, das er unter dem laubgrünen Mantel trug.

„Heda! Zu mir!“, schrie er den beiden Knechten zu, in deren Begleitung er ins Dorf gekommen war. Doch die jungen Männer, die keine Waffen trugen und den Ernst der Lage schneller begriffen als ihr Herr, hatten sich bereits zur Flucht gewandt.

Thiedericus fluchte, zog sein Schwert und stellte sich mitten auf die Dorfstraße, dem herantrabenden Ritter in den Weg. Ich selbst, endlich frei, hätte nun fortlaufen und das Haus meines Vaters aufsuchen können. Doch der Anblick der beiden Gegner fesselte mich, so dass ich an den Gartenzaun unserer Nachbarn zurückwich, ohne den Blick abwenden zu können.

Thiedericus stand hoch aufgerichtet da, ohne jedes Zeichen von Angst. Womöglich schien er zu glauben, seine bloße Erscheinung werde den Angreifer zurückweichen lassen. Sein berittener Gegner jedoch ließ sich von dieser selbstherrlichen Haltung nicht im Mindesten beeindrucken. Für einen Moment verlangsamte er den Schritt seines Pferdes, und die grauen Augen unter der Kettenhaube zogen sich abschätzend zusammen. Dann gab er dem Tier die Sporen, hob seine Waffe und setzte auf Thiedericus zu.

Der Verwalter erbleichte, tat einen Schritt rückwärts und packte den Schwertgriff mit beiden Händen. Ich muss gestehen, dass ich eine gewisse Befriedigung bei seinem Anblick empfand. Die Herrenmiene war von seinem Antlitz abgefallen; seine drohend zusammengekniffenen Augen weiteten sich in jäher Angst, und seine Hände zitterten. Als sein Gegner herangesprengt kam, führte Thiedericus einen ebenso ungeschickten wie vergeblichen Schlag mit dem Schwert, der ihn um die eigene Achse wirbeln ließ und fast zu Fall brachte. Der Ritter indes ließ seine Waffe mit der Ruhe eines Mannes niederfahren, der einen hoffnungslos unterlegenen Feind erkennt. Thiedericus’ Kopf flog zur Seite; seine Hände fuhren an die Kehle, wo eine breite Wunde klaffte. Sein Schwert fiel zu Boden, und seine Augen weiteten sich in einem eher erstaunten als schmerzvollen Ausdruck. Ein Blutstrom tränkte seine Hände und den laubgrünen Mantel, während er auf der Stelle schwankte, den Mund zu einem tonlosen Schrei geöffnet. Dann brach er zusammen.

Der Anblick löste mich aus meiner Starre, gerade, als der Ritter mich erblickte und sein Pferd wendete. Mit einem Schrei sprang ich weg vom Zaun und rannte davon.

Kaum nahm ich wahr, was sich inzwischen ringsum begab: Die fremden Krieger schwärmten durch das ganze Dorf, trieben Männer, Frauen und Kinder aus den Hütten und selbst das Vieh aus den Ställen, um alles Lebendige ohne Unterschied niederzustechen. Überall gellten Schreie, krachten Äxte und blitzten Schwerter. Einige der Angreifer hatten Holzscheite aus den Feuerstellen der Häuser ergriffen und entzündeten die Binsendächer, so dass bald die Mehrzahl der Hütten in hellen Flammen stand.

Als ich endlich das Haus meines Vaters erreichte, war der Sturm bis in den Garten unserer Nachbarn gelangt, wo mehrere Fußknechte sich eben mühten, Gunde und ihre Kinder ins Freie zu zerren. Vielleicht hätte ich der armen Frau beistehen sollen, doch mein erster Gedanke galt meinem Vater, und so stürzte ich zur Haustür, in der Erwartung, ihn auf seinem Lager vorzufinden. Als ich jedoch die Tür aufriss, prallte ich erschrocken zurück: Da stand er vor mir, krank und schwach auf den Beinen, doch mit einem Ausdruck grimmiger Entschlossenheit auf dem Gesicht.

„Geh ins Haus!“, herrschte er mich an, mit einer Festigkeit in der Stimme, wie ich sie seit Jahren nicht mehr bei ihm wahrgenommen hatte. Verängstigt schlüpfte ich an ihm vorbei, um hinter dem Türrahmen in Deckung zu gehen, während er ins Freie trat und die Sense ergriff, die noch immer am Zaun lehnte.

Unterdessen hatte im Garten unseres Nachbarn ein grauenvolles Schauspiel seinen Lauf genommen. Vier von Gundes Kindern lagen erschlagen am Boden. Das jüngste, das noch kaum aufrecht gehen konnte und mit tränenüberströmtem Gesicht zum Haus zurückwankte, wurde soeben von einem der Fußknechte niedergetreten. Gunde, die verzweifelt schrie, war zu Boden geschleudert worden und wurde von mehreren Männern niedergehalten. Ihr Leinenkleid war bis zum Nabel hinauf zerrissen. Der Apfelkorb lag neben ihr am Boden; die Früchte waren in alle Richtungen davongerollt.

Der Ritter, von dessen Hand Thiedericus gefallen war, hatte offensichtlich von meiner Verfolgung abgelassen, als er des Weibes ansichtig wurde. Er war vom Pferd gestiegen, hatte den Garten betreten und raffte eben sein Kettenhemd empor, um die Bruche, die lange, wollene Unterhose, herabzuzerren und sich zwischen Gundes Schenkel zu drängen. Die Männer johlten und hielten die gepeinigte Frau am Boden, während ein Hauptmann mit einem Eisenhut das Dach der Hütte in Brand steckte, um dann seelenruhig einen Apfel aufzuheben und hineinzubeißen.

Mit wild klopfendem Herzen beobachtete ich, wie mein Vater geradewegs auf die Männer zuhielt, mit einiger Mühe den niedrigen Zaun überstieg und die Sense erhob. Erst jetzt wurde mir klar, was er vorhatte, und ich hätte ihm zurufen mögen, von diesem irrsinnigen Unterfangen abzulassen. Doch sein verzweifelter Mut erfüllte auch mein Herz mit plötzlicher Härte, und so verharrte ich auf meinem Posten hinter der Tür, gab keinen Laut von mir und sandte ein stummes Stoßgebet zum Himmel.

Da die Männer mit der am Boden liegenden Frau beschäftigt waren, bemerkte niemand meinen Vater, bis er auf wenige Schritte herangekommen war. Der Hauptmann mit dem Eisenhut war der Erste, der aufblickte. Erschrocken ließ er den Apfel fallen. Seine Hand fuhr zum Schwertgriff, doch da pfiff bereits die Sense durch die Luft. Im Moment des Aufpralls schloss ich die Augen, und als ich sie wieder öffnete, sah ich den Hauptmann rückwärts taumeln, den ledernen Brustharnisch zerschnitten und klaffend.

Nun bemerkten auch die übrigen Männer den tollkühnen Angreifer und sprangen auf. Mein Vater jedoch, dem ein verzweifelter Zorn übermenschliche Kräfte zu verleihen schien, warf sich ihnen schreiend entgegen, und bevor sie nach ihren Waffen greifen konnten, fuhr das Sensenblatt in einem mächtigen Halbkreis umher und ließ sie zurückweichen. Der Ritter reagierte als Letzter und mühte sich erschrocken, auf die Füße zu kommen, doch behinderte ihn die herabgezogene Hose, so dass er stolperte und auf Hände und Knie niederfiel. Erneut kreiste die Sense, und diesmal streifte sie das nackte Gesäß des Mannes und hinterließ eine blutende Wunde auf der linken Hälfte. Der Ritter brüllte vor Wut und Schmerz, rollte sich herum, kam endlich auf die Beine, wich einem weiteren Hieb der Sense aus und zog sein Schwert.

Was dann geschah, nahm ich wie durch einen Nebel der Betäubung wahr, dennoch prägte sich mir jedes einzelne Bild unauslöschlich ein. Der Ritter drang auf seinen Gegner ein und schwang das Schwert. Der erste Streich wehrte das eiserne Blatt der Sense ab, der zweite Streich ließ den hölzernen Schaft zersplittern, der dritte traf die Schulter meines Vaters. Der vierte ließ ihn auf die Knie sinken, und der fünfte warf seinen dürren Leib rücklings in den Staub. Im nächsten Moment sprangen die Fußknechte hinzu und hieben mit Äxten und Streitpickeln auf ihn ein. Kein Schrei ertönte mehr; mein Vater starb ohne einen weiteren Laut – der Einzige, der schrie, war ich, verborgen im Schatten hinter der Tür meines Hauses. Besinnungslos schrie ich, während heiße Tränen meinen Blick trübten und ich meinte, der Schrei müsse mir die Kehle zerreißen und mein hämmerndes Herz zerspringen lassen.

Sofort wandten sämtliche Männer die Köpfe und starrten herüber. Die Fußknechte packten ihre Waffen und kletterten über den Zaun, während der Ritter sein blutbesudeltes Schwert abwischte und seine Kleider ordnete. Der Ansturm der Mörder brachte mich augenblicklich zur Besinnung, und mein Zorn wich nackter Todesangst. So sprang ich hinter der Tür hervor, rannte an der Längsseite des Hauses entlang und bog um den nördlichen Giebel, um außer Sicht meiner Verfolger zu gelangen.

Kurz hielt ich inne, denn das Haus meines Vaters lag am äußersten Ende des Dorfes, und in dieser Richtung führte nur ein schmaler Pfad zu einem weiter entfernten Waldstück. Mit einem raschen Rundblick nahm ich wahr, dass das gesamte Dorf brannte und vom Schlachtenlärm widerhallte. Wahrscheinlich war in den Häusern und Ställen kein Mensch mehr am Leben. Selbst das Herrenhaus des Verwalters auf dem nahen Hügel stand in lodernden Flammen.

Ich traf meine Entscheidung, als ich eben hörte, wie die Fußknechte hinter mir um die Ecke bogen. Die Plünderer waren von Süden gekommen; also war der Norden die Richtung, die ich einzuschlagen hatte. Ich rannte los, mit rasendem Puls und keuchenden Lungen, fort von den Häusern und quer über das offene Land. Eine Wildwiese glitt unter meinen Füßen dahin, und hohes Gras rauschte mir um die nackten Beine. Dann tanzten die Umrisse der Bäume auf mich zu, und ich warf mich ins Dickicht, wobei mein Kittel sich an einem niedrigen Ast verfing und der Länge nach aufriss.

Ich wusste nicht, ob die Männer mir noch immer auf den Fersen waren, doch um nichts in der Welt hätte ich mich umgewandt, um es festzustellen. Stattdessen rannte ich weiter, immer tiefer in den Wald hinein, wobei ich über Steine und Gräben, über Wurzeln und Stümpfe, über Farne und Büsche sprang, bis meine nackten Füße blutig und zerkratzt waren. Noch immer meinte ich, das Geschrei der Kriegsmannen, das Schnauben der Rosse und das Klirren der Schwerter in meinem Rücken zu hören, und so hielt ich nicht inne, bis die Sonne ihren Höhepunkt überschritt und ich mich weiter von meinem Dorf entfernt hatte als je zuvor.

Von meiner Flucht in den Norden

Am Ende brach ich zusammen, und mein Geist floh in eine plötzliche Ohnmacht, während mein Körper mitten im Unterholz zu Boden sank. Als ich wieder zu mir kam, war die Dämmerung bereits hereingebrochen, und ich brauchte längere Zeit, um zu begreifen, wo ich mich befand. Stöhnend setzte ich mich auf und spürte erst jetzt den Schmerz meiner wunden Füße. Beim Gedanken an die Geschehnisse des vergangenen Tages war meine erste Regung, aufzuspringen und weiterzulaufen, doch eine tödliche Schwäche hatte mich erfasst, die mir die Beine zittern und den Kopf dröhnen ließ. Also blieb ich sitzen, lehnte den Rücken gegen einen Baumstamm und umschlang meine Knie mit den Armen. Die letzten Strahlen der sinkenden Sonne ließen die Baumwipfel über mir erglühen; dann kroch Dunkelheit über den Himmel, und der Mond stieg kalt schimmernd zwischen den hohen Zweigen auf. Ringsumher erwachten die Geräusche des nächtlichen Waldes: Ein Steinkauz schrie, im Unterholz raschelte ein Igel, und in der Ferne vernahm ich das unheimliche Röhren eines Hirsches.

Konnte es eine größere Verlassenheit geben, als ich sie in jener Nacht empfand, verwaist, verirrt und verloren in der Finsternis? Ich blieb an meinem Baumstamm sitzen und lauschte dem Rauschen des Windes in den Wipfeln, während ich im Geist zu meinem Heimatdorf zurückkehrte, das nun irgendwo weit im Süden lag und eine lodernde Flammensäule zum Himmel schickte. Alles hatte ich verloren, was zuvor mein Leben ausgemacht hatte. Mein Vater lag erschlagen im nachbarlichen Garten, die zerbrochene Sense unter dem mageren Körper, der schon von Hunger und Krankheit geschwächt gewesen und von den Schlägen des Ritters gefällt worden war wie ein spröder Baum. Niemals wieder würde ich gemeinsam mit ihm auf den Feldern stehen und den Pflug ziehen, niemals wieder mit ihm am Herdfeuer sitzen, meine Breischüssel leeren und seinen Geschichten lauschen. Seine freundlichen braunen Augen hatten sich für immer geschlossen, und seine Stirn, noch am Morgen heiß vom Fieber, war nun erkaltet wie sein zerschlagener Leib.

Im nachbarlichen Garten lagen Gundes Kinder tot am Boden, zwischen ihnen die Mutter selbst, denn gewiss hatten die Männer ihr nach vollzogener Notzucht die Kehle durchschnitten. Hartmut, ihr Ehemann, war vermutlich auf den Feldern überrascht worden und noch vor ihr gestorben. Auch alle anderen Bewohner des Dorfes waren tot, alle Nachbarn, die ich je gekannt und gegrüßt, alle Jungen, mit denen ich gespielt und gerauft hatte, und selbst Christa, die Kuh, Hilde mit ihren Ferkeln sowie alle Schweine und Hühner waren eingefangen und geschlachtet worden.

Ich hatte keine Vorstellung davon, warum all dies geschah. Wohl erinnerte ich mich an die Worte des Verwalters, wonach ein Markgraf Albrecht dem Grafen von Blankenburg den Krieg erklärt hatte, doch verband ich mit beiden Namen gleichermaßen wenig. Nichts wusste ich damals von dem Streit um die Herzogswürde in Sachsen; von König Konrad kannte ich nicht mehr als den Namen, und vom Krieg hatte ich nur gelegentlich als von etwas gehört, das in fernen Gegenden stattfand.

Nachdem ich ein inbrünstiges Gebet gesprochen hatte, um Gott die Seele meines armen Vaters anzuempfehlen, sann ich darüber nach, was ich tun und wohin ich gehen sollte. Nur eines erschien mir sicher, nämlich dass an eine Rückkehr nicht zu denken war. Vermutlich waren die Krieger weitergezogen, um andere Dörfer im Umkreis zu verheeren, und in meiner Heimat würde ich nichts mehr vorfinden außer brennenden Höfen und zertrampelten Äckern. Folglich schien es mir der sicherste Weg, weiter nach Norden zu fliehen – in der Hoffnung, dass ich mich schneller voranbewegte als die plündernde Feldschar in meinem Rücken.

Wie aber sollte ich überleben, ein verwaister, halbwüchsiger Knabe mitten in der Wildnis? Sollte ich das nächste Dorf aufsuchen, mich auf die Knie werfen und den ersten Menschen, der meinen Weg kreuzte, um Nahrung und Obdach anflehen? Wahrscheinlich konnte ich von Glück reden, wenn ich mich irgendwo für ein paar Wochen als Tagelöhner verdingen konnte. Womöglich würde mir am Ende nichts anderes übrigbleiben, als mich mit Betteln durchzubringen – und bei diesem Gedanken wurde mir so elend, dass ich in Tränen ausbrach.

Erstaunlicherweise glättete das Weinen die Wogen in meinem Innern, und als die Nacht bereits weit fortgeschritten war und fahles Licht über den östlichen Horizont kroch, schlief ich erschöpft ein.

Als ich erwachte, war mein Kopf klarer. Es musste bereits gegen Mittag sein, denn die Sonne stand hoch am Himmel, und im Licht des Tages ereilte mich neuerlich die Furcht vor den Schrecken, denen ich entflohen war. So stand ich rasch auf, wählte diejenige Richtung, die ich nach dem Sonnenstand für die nördliche hielt, und schlug mich weiter durch den Wald.

Ich wanderte viele Stunden lang, und so war es bereits später Nachmittag, als ich auf einen Pfad stieß. Ihm folgte ich, bis die Bäume sich lichteten und Wiesen auftauchten, die in Ackerfelder übergingen. Offenbar näherte ich mich einem Dorf. Inzwischen quälte mich der Hunger, und ich verschlang alles Essbare, das ich am Weg vorfand, zunächst eine Handvoll Beeren, dann Sauerampfer und Kresseblätter. Hätte irgendeine Feldfrucht in voller Blüte gestanden, würde ich ohne Skrupel zugegriffen haben, doch die Äcker, die ich passierte, lagen brach.

Ich schlug einen Feldweg ein und erreichte nach kurzer Zeit die dazugehörende Ortschaft. In ihrer Bescheidenheit ähnelte sie meinem Heimatdorf, besaß etwa ein Dutzend Hufen und einen Dorfplatz mit Brunnen.

„Gott zum Gruß!“, rief ich eine junge Frau an, die im Garten ihres Hauses eine Schar Gänse fütterte. Die Frau sah auf, grüßte jedoch nicht, sondern musterte misstrauisch meinen zerrissenen Kittel und mein abgezehrtes Gesicht. „Ich möchte Euch warnen: Die Truppen des Markgrafen Albrecht haben meine Heimat verwüstet und überziehen wahrscheinlich die gesamte Grafschaft mit Krieg!“

„Grafschaft?“, fragte die Frau verständnislos, während die Gänse sie schnatternd umdrängten.

„Gehört dieses Dorf denn nicht dem Grafen von Blankenburg?“, fragte ich.

Die Frau schüttelte den Kopf. „Dem Bischof von Halberstadt.“

Ich staunte: Offenbar hatte ich mich bereits weit von meiner Heimat entfernt.

„Wir haben gehört, dass Krieg ausgebrochen ist“, sagte die Frau. „Doch was soll uns deine Warnung? Wir sind Hörige und dürfen nicht fortgehen ohne die Erlaubnis unseres Verwalters.“

Ich nickte entmutigt. Den einfachen Leuten blieb nichts anderes übrig, als auszuharren und zu hoffen, dass das Unheil ihr Dorf verschonte.

„Habt Ihr etwas zu essen für mich?“, setzte ich rasch hinzu. „Ich würde Euch segnen für ein wenig Brei und einen Schlafplatz für die Nacht.“

Die Frau winkte ab. „Ich habe sieben Kinder“, sagte sie mit einer Stimme, die plötzlich viel älter und müder klang, als ihre jugendliche Erscheinung vermuten ließ. „Ein achtes kann ich nicht auch noch durchfüttern.“

Enttäuscht wandte ich mich ab und wanderte zum Brunnen, wo ich dasselbe Gesuch an einen alten Mann richtete, der vor seiner Haustür saß.

„Scher dich fort, Wendensohn!“, krächzte er und spuckte aus, als ich mein Sprüchlein aufgesagt hatte. „Hier gibt es nichts für dich.“

Ich hatte keine Ahnung, was ein Wendensohn war, begriff jedoch immerhin so viel, dass weitere Verhandlungen mit dem mürrischen Alten zwecklos waren. So lenkte ich meine Schritte zum Ausgang des Dorfes, wo ich eine Gruppe von Männern ansprach, die mit einem Heukarren von den Feldern heimkehrten.

„Wenn du essen willst, musst du arbeiten“, sagte ein derber, vierschrötiger Kerl mit verwachsener Lippenscharte. „Wie alt bist du, Bursche?“

„Vierzehn“, log ich kühn.

Der Bauer packte prüfend meinen Arm mit einer schweren, behaarten Hand, die zweifellos kräftig genug gewesen wäre, um mir die Knochen zu brechen.

„Zu mager“, brummte er. „Du kannst noch keine Männerarbeit tun.“

„Ich habe in diesem Jahr die Ernte meines Vaters ganz allein eingebracht“, beharrte ich, wenngleich ich mir – bei freier Wahl – nicht eben diesen unfreundlichen Menschen zum Brotherrn gewünscht hätte.

„Und wo ist dein Vater?“, fragte der Bauer. „Kann er das bestätigen?“

„Nein“, gestand ich. „Er ist tot.“

„Das kann jeder behaupten“, beschied der Mann gleichgültig und wandte sich zum Gehen.

Die Sonne sank, und als es dunkelte, erreichte ich erneut ein Waldstück und richtete mir einen kleinen Haufen aus gefallenem Laub als Nachtlager. Es war September und am Tage noch warm gewesen; die Nacht jedoch wurde empfindlich kühl, und Kälte und Hunger ließen mich kaum Schlaf finden. Am Morgen zog ich weiter, beständig nach etwas Essbarem Ausschau haltend, und fand zum Glück einige Nüsse und Bucheckern, die mich auf den Beinen hielten.

Ähnlich wie am Vortag erging es mir im nächsten Dorf, das ich gegen Mittag erreichte, und ebenso im dritten, dessen Hütten vor mir auftauchten, als die Sonne schon wieder sank. Niemand wollte mir Arbeit oder Nahrung geben, sosehr ich auch bat und flehte. Am Ende wartete ich, bis es dunkel geworden war, kletterte lautlos über einen Gartenzaun und schlich in den Schatten eines Kuhstalls. Ich wagte nicht hineinzugehen, doch rollte ich mich an der Rückwand des Verschlags zusammen und zehrte von der dürftigen Wärme, die von den Leibern der Tiere herüberdrang. Ich musste sehr fest geschlafen haben, denn am nächsten Morgen überraschte mich der Besitzer des Stalls, schwang drohend einen Holzstecken und jagte mich unter Verwünschungen fort.

Mir war elend wie einem getretenen Hund, als ich die Straße nach Norden hinaufstolperte und mich vom Dorf entfernte. Was sollte nur aus mir werden? Bald würde der Winter kommen, und wenn ich keine Bleibe fand, würde ich in der Wildnis erfrieren.

Auf der Straße begegnete ich einem Mann, der einen Ochsenkarren voller Holzfässer führte. Die Fässer waren offen und leer, was mich vermuten ließ, dass es sich um einen fahrenden Böttcher handelte. Er grüßte, und sein freundliches Gesicht ermutigte mich, ihn anzusprechen.

„Könnt Ihr einen Jungen bei Eurem Gewerbe brauchen, Herr?“

Er musterte mich mitleidig. „Leider nein. Ich komme aus Remlingen; dort habe ich eine Werkstatt und auch einen Gesellen.“

Resigniert ließ ich den Kopf hängen.

„Woher kommst du?“, fragte der Mann.

„Aus einem kleinen Dorf bei Blankenburg, Herr.“

„Kriegswaise?“, erriet er.

Ich bejahte stumm.

„Wenn du keine Arbeit findest“, sagte der Böttcher, „solltest du ein Kloster aufsuchen. Am besten gehst du nach Brunsvik; dort gibt es ein Benediktinerkloster. Mönch kannst du nicht werden, denn das ist nur Männern von Adel gestattet. Doch ein Kloster hat auch Knechte und Laienbrüder, und ich habe gehört, dass die heiligen Männer oft Waisen in ihr Gesinde aufnehmen.“

Ich dankte dem freundlichen Mann, und nachdem er mir den Weg nach Brunsvik gewiesen hatte, trieb er seinen Ochsen an und entfernte sich, nicht ohne mir zuvor Glück und Gottes Segen zu wünschen.

Der Gedanke, in ein Kloster einzutreten, war mir bis dahin noch nicht gekommen. Erst jetzt erinnerte ich mich, dass mein Vater stets gesagt hatte, Barmherzigkeit sei die wichtigste christliche Tugend. Vielleicht würden die Mönche mir freundlicher begegnen als die Bauern, die es sich nicht leisten konnten, ihre wenige Habe mit Fremden zu teilen.

Dass ich nicht gleich an die Kirche als an eine mögliche Rettung gedacht hatte, verdankte sich dem Umstand, dass sie in meinem bisherigen Leben kaum eine Rolle gespielt hatte. Zwar galt das Gesetz, dass jeder Christenmensch mindestens einmal im Jahr die Eucharistie zu empfangen hatte, doch angesichts der niemals endenden Arbeit auf den Feldern war es den Menschen in meiner Heimat nur selten möglich gewesen, die Kirche im vier Meilen entfernten Nachbardorf zu besuchen. Ein Kloster – dies wusste ich immerhin – war ein Ort, an dem heilige Männer lebten, um sich gänzlich dem Dienst an Gott und der Seelsorge für ihre Mitmenschen zu weihen. In diesem Licht erschien mir der Rat des mitleidigen Böttchers unbedingt beherzigenswert, und so beeilte ich mich, auf geradem Weg nach Brunsvik zu gelangen.

Noch drei weitere Nächte verbrachte ich im Wald, trank Wasser aus einem Bach und nährte mich notdürftig von Beeren und Pilzen. Dann aber wendete sich mein Glück, denn ich erreichte einen Ort, wo mehrere Freibauern lebten – Bauern also, die keinem Grundherrn hörig waren, sondern ihr Land als freie Männer bestellten und lediglich eine Pacht dafür zahlten. Einer der Bauern besaß einen umfriedeten Garten, größer als das ganze Ackerfeld meines Vaters und bestanden von mehreren Dutzend Apfelbäumen. Als ich hier nach Arbeit fragte, wurde ich sogleich angenommen und erfuhr, dass sich aufgrund der bevorstehenden Obsternte bereits mehrere Tagelöhner auf dem Hof eingefunden hatten. So half ich eine Woche lang bei der Ernte, erhielt Brot und Hirsebrei und durfte mit den anderen Arbeitern im Kuhstall schlafen, wo es leidlich warm war. Dann zog ich weiter, gestärkt und mit größerer Zuversicht.

Am Nachmittag des folgenden Tages erreichte ich Brunsvik. Der Anblick überwältigte mich, als ich die Kuppe eines Hügels erklomm und das Tal der Oker vor mir auftauchen sah. Noch nie hatte ich eine Stadt erblickt, und ich staunte über die gewaltige, von Mauern umgebene Anlage mit Hunderten von Häusern und einer mächtigen Burg, die sich auf einer Insel in der Flussmitte erhob. Als ich mich der Stadtbefestigung näherte, sank mir der Mut, denn das Stadttor war zwar geöffnet, wurde aber von bewaffneten Männern bewacht. Glücklicherweise drängten sich dort zahlreiche Menschen, viele davon mit Handkarren, denn es war Markttag. Es gelang mir, mich unter sie zu mischen, und da ich weder Gepäck noch Waren mitführte, beachteten mich die Wachleute nicht, da ihre hauptsächliche Pflicht darin bestand, von den Händlern den Marktzoll einzutreiben.

So betrat ich die Stadt, und angesichts der Großartigkeit meiner Umgebung gingen mir die Augen über. Noch nie hatte ich so viele und so große Häuser gesehen, einige davon sogar zweistöckig, wobei die oberen Stockwerke über die steinernen Untergeschosse hinausragten und die Straße beschatteten. Unzählige Menschen waren unterwegs, Männer in den verschiedensten Trachten, Handwerker, Kaufleute, Knechte und Bettler, dazwischen Frauen mit Säuglingen auf den Armen und spielende Kinder. Während ich erwog, wen ich nach dem Weg zum Kloster fragen sollte, wurde ich auf einen Bauern aufmerksam, der einen Handkarren mit Kohlköpfen durch die Straßen zog. Der Anblick erfüllte mich mit derartigem Verlangen, dass ich mich an seine Fersen heftete und ihm bis zum Fluss folgte. Eine Brücke führte zum gegenüberliegenden Ufer, wo der westliche Teil der Stadt den Marktplatz umschloss. Dort angekommen, stellte der Bauer seinen Karren ab und schloss sich den Reihen der Händler an.

Rasch vergaß ich meine ursprüngliche Absicht, mich sogleich zum Kloster zu begeben. Stattdessen packte mich überwältigendes Verlangen angesichts der Überfülle von Obst und Gemüse, und ich verschob die Ausführung meines Plans, um zunächst etwas für meinen leeren Magen zu tun. Eine Zeitlang beobachtete ich das rege Treiben vom Straßenrand aus und wagte kaum, den Ständen näher zu kommen, aus Angst, meine Hand würde sich wie von selbst ausstrecken und einen Apfel, ein Brot oder eine Mohrrübe ergreifen.

Während ich so dastand, bemerkte ich, dass auch andere Mittellose sich eingefunden hatten, zumeist an den Ecken der zuführenden Straßen: Bettler, die an den Hauswänden kauerten und flehentlich die Hände nach den Marktbesuchern ausstreckten. Neugierig beobachtete ich einen alten Mann, der auf Holzkrücken gestützt stand, da sein linkes Bein oberhalb des Knies abgetrennt war. Er hatte eine Schulter gegen die Mauer gelehnt, um sich aufrecht halten und einen seiner dürren Arme ausstrecken zu können. Gelegentlich hielt einer der Vorübergehenden an, öffnete seinen Geldbeutel und ließ eine Münze in die Hand des Alten fallen, woraufhin dieser mit brüchiger Stimme rief: „Vergelt’s Gott! Nennt mir Euren Namen, Herr, damit ich für Euch beten kann.“

In ähnlicher Weise sah ich auch andere Bettler verfahren, etwa eine ausgemergelte junge Frau mit mehreren kleinen Kindern und einen Mann, der mit leerem Blick in die Menge starrte und offensichtlich blind war. Mangels anderer Möglichkeiten versuchte ich diese Unglücklichen nachzuahmen, senkte demütig den Kopf, streckte die rechte Hand aus und verharrte in der Hoffnung auf eine Gabe – doch niemand beachtete mich. Vielleicht lag es daran, dass ich weder einbeinig noch blind und meine Bedürftigkeit weniger offenkundig war.

Während ich vergeblich wartete, ließ ich den Blick schweifen und entdeckte einen Mann, der eine weit elegantere Methode praktizierte, um sich in den Besitz fremden Gutes zu bringen. Er trug einen weiten Umhang aus grobem Wolltuch und das lange Haar eines Freien, sah jedoch nicht wie ein Stadtbürger aus, sondern eher wie ein fahrender Geselle, der die gute Kleidung nicht gewohnheitsmäßig trug. Zwar schlenderte er mit selbstsicherem Schritt durch die Menge und musterte scheinbar gelangweilt die angebotenen Waren, doch seine dunklen Augen schossen unruhig und beinahe lauernd umher. Als er an einem Obststand vorbeikam, beobachtete ich, wie er im Vorbeigehen eine Hand unter dem Umhang hervorstreckte, um einen Apfel zu ergreifen und ihn rasch in den Falten des Wolltuchs zu verbergen.

Ich weiß nicht, welcher Teufel es war, der mich in den Bann dieses gemeinen Diebs schlug und mich die einfachste und zugleich gefahrvollste Möglichkeit ergreifen ließ, etwas für meinen leeren Magen zu tun. Wie unter einem Zwang löste ich mich von der Hauswand, mischte mich unter die Menge und ließ zu, dass meine Füße mich zu demselben Obststand trugen, wo der Dieb den Apfel entwendet hatte. Der Besitzer des Standes, ein bäuerlich gekleideter Alter, hatte den Diebstahl nicht einmal bemerkt; stattdessen zankte er mit einer Käuferin, die lautstark die Qualität seiner Früchte bemängelte.

„Zwei Dutzend für einen Pfennig?“, rief die Frau entrüstet und musterte einen wurmstichigen Apfel, der verdächtig nach Fallobst aussah. „Das ist Wucher! Schätzt Euch glücklich, wenn ich Euch zwanzig Stück für einen Heller abnehme!“

Der Alte brummelte unwirsch, empfing die Münze und prüfte umständlich ihre Echtheit, indem er hineinbiss. Dann zählte er zwanzig Äpfel ab, griff jedoch absichtlich nach den kleinsten und schadhaftesten, die er finden konnte.

„Zwanzig Äpfel!“, schrie die Frau. „Auf zwanzig Würmer kann ich verzichten! Warum gebt Ihr mir nichts von diesen dort?“

Und sie wies auf einen Korb mit besonders prallen, goldfarbenen Früchten, der am äußersten Ende des hölzernen Tresens stand.

Während sie so stritten, schob ich mich vorsichtig zum Rand des Tresens, streckte eine Hand nach den goldfarbenen Äpfeln aus und barg einen davon unter meinem Kittel. Das Herz klopfte mir bis zum Hals, doch ich glaubte, meine Sache gut gemacht zu haben, denn der Alte fuhr fort, zu schimpfen und zu murren, ohne auch nur den Blick nach mir zu wenden. Unwillkürlich regte sich etwas wie Stolz in mir – gewiss eine höchst unchristliche Regung angesichts meiner Geschicklichkeit als Verbrecher.

Die Stimme der Frau jedoch erstarb plötzlich, und aus dem Augenwinkel bemerkte ich, dass sie mir misstrauisch nachsah. Erschrocken wandte ich mich zum Gehen, machte aber sogleich jenen Fehler, der den ungeübten Dieb verrät: Ich ging zu schnell, und meine Hast ließ den Verdacht der Beobachterin zur Gewissheit werden.

„Haltet den Jungen!“, schrie sie und deutete auf mich. „Haltet den Dieb!“

Der Besitzer des Standes fuhr herum, und als er sah, wie ich mich mit unter dem Kittel geballter Faust davonmachte, reckte auch er den dürren Arm nach mir.

„Haltet ihn!“

Panik ergriff mich, und ich beging den nächsten Fehler, indem ich zu rennen begann und kopflos das Weite suchte, womit ich die allgemeine Aufmerksamkeit auf mich zog. Jemand packte den Saum meines Kittels, der jedoch so stark zerschlissen war, dass der Stoff zerriss und nur ein Fetzen in den Händen des Häschers zurückblieb. Ein Faustschlag traf mich von der Seite, doch ich war wie betäubt und empfand keinen Schmerz. So rannte ich die Straße hinunter, die vom Marktplatz nach Westen führte, und fragte mich verzweifelt, wohin ich mich wenden sollte. Deutlich hörte ich, dass mindestens drei oder vier Menschen mir auf den Fersen waren. Womöglich würden sie mich im Kreis durch die Straßen jagen, bis ich vor Erschöpfung zusammenbrach, und dann drohte mir das Abschlagen der Hand oder gar der Tod am Galgen.

Es war reines Glück, dass ich den Weg fand, der zum westlichen Stadttor führte. Während ich entgegenkommenden Händlern und Fuhrwerken auswich, näherte ich mich dem Wall und erblickte auch hier Wachsoldaten, die soeben einen Seiler angehalten hatten, um dessen Handkarren zu inspizieren. Ich nutzte die Gelegenheit, flankte um die Rückseite des Karrens und rannte durch das Tor, während den Wachsoldaten eben genug Zeit blieb, um die Köpfe nach mir zu wenden. Meine Verfolger waren glücklicherweise zurückgeblieben, so dass der Ruf „Haltet den Dieb“ nicht mehr zu hören war. Erst im letzten Moment reagierte einer der Wächter und rief mich mit barscher Stimme an – doch da war ich schon auf den breiten Zufahrtsweg hinausgelaufen und hatte mich unter die Menschen gemischt, die aus allen Richtungen zum Tor strömten.

Ich weiß nicht, ob man den Versuch unternahm, mir zu folgen, denn ich blickte nicht zurück. Jedenfalls hielt niemand mich auf, bis ich einen Hügel erreicht hatte, an dessen Fuß die Straße eine Kurve beschrieb und ein kleines Wäldchen umschloss. Hier schlug ich mich seitwärts in die Büsche, verlangsamte meinen Schritt, tauchte in den Schatten der Bäume und sank schließlich an einem der Stämme nieder.

Von einem fremden Mädchen

Bis hierher, mein Sohn, habe ich dir nur diejenigen Ereignisse geschildert, die unmittelbar mir selbst widerfuhren. Gleichzeitig jedoch, in einem anderen Teil der Welt, bereiteten sich Dinge von ebenso großer Wichtigkeit vor, auch wenn du noch nicht verstehen wirst, auf welche Weise sie dein Schicksal bestimmten. Da aber die Gabe der Allwissenheit allein Gott zu Gebote steht, kann ich dir vieles nur so schildern, wie es mir später berichtet wurde, ergänzt um manches, was ich erraten musste. Ist es bereits schwer, sich des eigenen Lebens in allen Einzelheiten zu erinnern, so noch schwerer, in die Seele eines anderen Menschen zu blicken, um nicht nur die Geschehnisse zu beschreiben, die ihm widerfuhren, sondern auch zu ahnen, wie er sich dabei gefühlt haben mag. Insbesondere für die gesprochenen Worte vermag ich nicht mit letzter Sicherheit zu bürgen, da ich nicht Zeuge der Gespräche war, so dass ich mir in diesem Punkt einige Freiheit nehmen muss. Dennoch werde ich alles nach bestem Gewissen so wiedergeben, wie ich es Jahre später erfuhr aus welchem Munde, wirst du vielleicht erraten können.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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