Die Treuhandanstalt in Brandenburg - Wolf-Rüdiger Knoll - E-Book

Die Treuhandanstalt in Brandenburg E-Book

Wolf-Rüdiger Knoll

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Beschreibung

Zwischen Abbruch und Aufbruch

Die Treuhandanstalt spielte eine Sonderrolle im wiedervereinigten Deutschland. Privatisierungen und Abwicklungen von Betrieben hatten erhebliche ökonomische und soziale Konsequenzen in den betroffenen Regionen. Welche Handlungsspielräume hatten die Akteure vor Ort, und wie versuchten sie, auf die Arbeit der Treuhand Einfluss zu nehmen? Wolf-Rüdiger Knoll schildert am Beispiel Brandenburgs erstmals umfassend die Bedeutung der Treuhandanstalt für die Entwicklung der jungen ostdeutschen Bundesländer. Anhand der Privatisierungsverläufe wichtiger Betriebe wie EKO Stahl in Eisenhüttenstadt oder der Braunkohleindustrie in der Lausitz analysiert er das Spannungsfeld unterschiedlicher Interessen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Stärker als bislang bekannt beeinflussten sich Treuhandanstalt und Landesregierung gegenseitig in ihren Entscheidungen.

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Wolf-Rüdiger Knoll

Die Treuhandanstalt in Brandenburg

Studien zur Geschichte der Treuhandanstalt

Herausgegeben von Dierk Hoffmann,Hermann Wentker und Andreas Wirschingim Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte München – Berlin

Wolf-Rüdiger Knoll

Die Treuhandanstalt in Brandenburg

Regionale Privatisierungspraxis 1990–2000

Das Manuskript hat 2021 als Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Universität Potsdam vorgelegen.

Gutachter: Prof. Dr. Dierk Hoffmann und Prof. Dr. Michael Schwartz

Tag der mündlichen Prüfung: 22. 10. 2021

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Ch. Links Verlag ist eine Marke der

Aufbau Verlage GmbH & Co. KG

Aufbau Digital,

veröffentlicht in der Aufbau Verlage GmbH & Co. KG, Berlin

© Aufbau Verlage GmbH & Co. KG, Berlin 2022

Die Originalausgabe erschien 2022 im Ch. Links Verlag, einer Marke der Aufbau Verlage GmbH & Co. KG.

www.christoph-links-verlag.de

Lektorat: Dr. Daniel Bussenius, Berlin

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München, unter Verwendung eines Fotos von einem Hochöfner beim Hochofenabstich, EKO Stahl GmbH, Eisenhüttenstadt, 2005, © picture alliance/photothek, Thomas Koehler/photothek

ISBN 978-3-96289-173-2

eISBN 978-3-8412-3238-0

Inhalt

Vorwort der Herausgeber

Einleitung

Einführung in das Thema und forschungsleitende Fragen

Forschungsstand und Quellen

Methodik und Aufbau der Arbeit

I. Ausgangsbedingungen der Transformation: Brandenburgs industrielle Prägung bis 1989

1. Industrielle Entwicklung Brandenburgs bis 1945

2. Wirtschaft und Industrie in den Bezirken Cottbus, Frankfurt (Oder) und Potsdam zwischen 1945 und 1989

3. Ausgangsbedingungen der Systemtransformation: Brandenburgs Wirtschaft im Jahr 1989

4. Fazit

II. Das Institutionengefüge in der Dynamik der Aufbauzeit

1. Verwaltungsaufbau und Arbeitsschwerpunkte der Landesregierung in Brandenburg ab 1990

Die Wiederbegründung des Landes Brandenburg

Landesregierung, Aufbau der Verwaltung und wirtschaftspolitische Instrumente

2. Die Treuhandanstalt und die Zusammenarbeit mit der brandenburgischen Landesregierung

Institutionalisierte und formalisierte Zusammenarbeit von THA und Landesregierung

Zusammenarbeit in der Praxis

3. Die Treuhandniederlassungen in Cottbus, Frankfurt (Oder) und Potsdam

Organisation, Personal und Privatisierungsergebnisse

Öffentliche Wahrnehmung und Skandale

Interne Kontrollen durch das Direktorat Revision

4. Fazit

III. Die Privatisierung der Braunkohle- und Stahlindustrie

1. Privatisierung der Lausitzer Braunkohleindustrie

Die Bedeutung der Braunkohle für die Lausitz bis 1989

Kein Strom ohne Kohle – Keine Kohle ohne Strom: Der Stromvertrag und seine Folgen

Privatisierung der Lausitzer Braunkohle

Folgen der Transformation

2. Verkauf der Brandenburger Stahlstandorte

Ausgangssituation 1989

»Die Fratze des Kapitalismus?« – Die Privatisierung der Walzwerke Oranienburg und Finow

»Wenn der Italiener kommt, dann ist der Krieg programmiert!« Der Streit um den Verkauf der Stahlwerke in Hennigsdorf und Brandenburg an der Havel

Das langwierige Ringen um die EKO Stahl AG

3. Fazit

IV. Strukturbestimmende Industriebetriebe und die Akteure der Transformation

1. Politische Akteure

Europäische Union und Beihilfekontrollen: Das Textilkombinat Cottbus

Der Einfluss von Bundesregierung und Bundeskartellamt auf Privatisierungsprozesse der THA: Die Abwicklung der Interflug in Schönefeld

Widerstreitende Interessen: Auseinandersetzungen zwischen der Landesregierung und der THA am Beispiel des Halbleiterwerks Frankfurt (Oder)

2. Treuhandinstitutionen und Akteure

Die Treuhand im Fokus der Öffentlichkeit: Der Skandal um die Geräte- und Regler-Werke Teltow

Der Leitungsausschuss und seine Funktion im Privatisierungsprozess am Beispiel des Schwermaschinenbaus in Wildau

Die Rathenower Optischen Werke und die Bedeutung von Unternehmensberatungen

3. Betriebliche Akteure

Handlungsspielräume ostdeutscher Geschäftsführer am Beispiel des Nähmaschinenwerks Wittenberge

Betriebsräte und Belegschaften gegen den Niedergang: Das Chemiefaserwerk Premnitz

4. Westdeutsche Privatisierungsgewinner?

Von der Partnerschaft zur Übernahme: Das Engagement von Mercedes-Benz am Standort des Nutzkraftwagenwerks Ludwigsfelde

Die Rolle der Liquidatoren am Beispiel der Privatisierungsbemühungen um das Reifenwerk Fürstenwalde

5. Fazit

V. Die Transformation und ihre Folgen vor Ort: Die Stadt Eberswalde

1. Privatisierung der Großbetriebe: Die industrielle Fleischproduktion und der Kranbau Eberswalde

Die Privatisierung der industriellen Fleischproduktion

Die zwei Privatisierungen des Kranbaus Eberswalde

2. Privatisierung kleinerer und mittlerer Betriebe in Eberswalde und Umgebung

Chance für einen ostdeutschen Mittelstand? Die Eisengießerei Britz

Vergebliches Werben um einen Investor, Weg in die Abwicklung und die Folgen: Die Chemischen Werke Finowtal

Scheitern trotz Privatisierung: Die Papierfabrik Wolfswinkel

Zukunft nach dem Truppenabzug? Die OBEMA Handelsgesellschaft

3. Folgen der Transformation auf kommunaler Ebene

Friedliche Revolution und politisch-gesellschaftlicher Umbruch

Arbeitslosigkeit und beschäftigungspolitische Maßnahmen

Die Treuhandanstalt im Fokus der Kommunalpolitik – Ein »neues Politbüro«?

Proteste, Demonstrationen und soziale Erosion

Eigentumsfragen und kommunale Rückgabeverfahren

Strukturwandel und kommunale Strukturpolitik

4. Fazit

VI. Vergleich und Bilanz

1. Ein »Brandenburger Weg«? Die sozioökonomische Transformation im Vergleich der ostdeutschen Länder

2. Nebenregierung Ost oder Strukturpolitik wider Willen? Bewertung der Treuhand und der am Transformationsprozess der Brandenburger Industrie beteiligten Akteure

Schluss

Anhang

Tabellenverzeichnis

Abbildungsnachweise

Quellen- und Literaturverzeichnis

Interviews

Ungedruckte Quellen

Gedruckte Quellen

Literatur

Abkürzungen

Personenregister

Dank

Der Autor

Vorwort der Herausgeber

Noch in der Spätphase der DDR gegründet, entwickelte sich die Treuhandanstalt zur zentralen Behörde der ökonomischen Transformation in Ostdeutschland. Ihre ursprüngliche Aufgabe war die rasche Privatisierung der ostdeutschen volkseigenen Betriebe (VEB). Sehr bald aber wies ihr die Politik zahlreiche weitere Aufgaben zu. Sukzessive sah sich die Treuhandanstalt mit der Lösung der Altschuldenproblematik, der Sanierung der ökologischen Altlasten, der Mitwirkung an der Arbeitsmarktpolitik und schließlich ganz allgemein mit der Durchführung eines Strukturwandels konfrontiert. In ihrer Tätigkeit allein ein behördliches Versagen zu erkennen wäre daher ahistorisch und einseitig, auch wenn die Bilanz der Treuhandanstalt niederschmetternd zu sein scheint. Denn von den etwa vier Millionen Industriearbeitsplätzen blieb nur ein Drittel übrig. Das öffentliche Urteil ist daher ganz überwiegend negativ. Die Kritik setzte schon ein, als die Behörde mit der Privatisierung der ersten VEBs der DDR begann. Bis heute verbinden sich mit der Treuhandanstalt enttäuschte Hoffnungen, überzogene Erwartungen, aber auch Selbsttäuschungen und Mythen. Außerdem ist sie eine Projektionsfläche für politische Interessen und Konflikte, wie die Landtagswahlkämpfe 2019 in Ostdeutschland deutlich gemacht haben. Umso dringender ist es erforderlich, die Tätigkeit der Treuhandanstalt und mit ihr die gesamte (ost-)deutsche Transformationsgeschichte der frühen 1990er-Jahre wissenschaftlich zu betrachten. Dies ist das Ziel der Studien zur Geschichte der Treuhandanstalt, deren Bände die Umbrüche der 1990er-Jahre erstmals auf breiter archivalischer Quellengrundlage beleuchten und analysieren.

Die Privatisierung der ostdeutschen Betriebe brachte für viele Menschen nicht nur Erwerbslosigkeit, sondern auch den Verlust einer sicher geglaubten, betriebszentrierten Arbeits- und Lebenswelt. Insofern ist die Erfahrungsperspektive der Betroffenen weiterhin ernst zu nehmen und in die wissenschaftliche Untersuchung ebenso zu integrieren wie in die gesellschaftspolitischen Konzepte. Der mit der Transformation einhergehende Strukturwandel hatte Folgen für Mentalitäten und politische Einstellungen, die bis in die Gegenwart hineinreichen. Dabei wurden die individuellen und gemeinschaftlichen Erfahrungen und Erinnerungen stets von medial geführten Debatten über die Transformationszeit sowie von politischen Interpretationsversuchen geprägt und überlagert. Diese teilweise miteinander verwobenen Ebenen gilt es bei der wissenschaftlichen Analyse zu berücksichtigen und analytisch zu trennen. Der erfahrungsgeschichtliche Zugang allein kann die Entstehung und Arbeitsweise der Treuhandanstalt sowie die Privatisierung der ostdeutschen Wirtschaft nicht hinreichend erklären. Vielmehr kommt es darauf an, die unterschiedlichen Perspektiven miteinander in Relation zu setzen und analytisch zu verknüpfen, um so ein differenziertes und vielschichtiges Bild der Umbrüche der 1990er-Jahre zu erhalten.

Diese große Aufgabe stellt sich der Zeitgeschichte erst seit Kurzem, denn mit dem Ablauf der 30-Jahre-Sperrfrist, die für staatliches Archivgut in Deutschland grundsätzlich gilt, ergibt sich für die Forschung eine ganz neue Arbeitsgrundlage. Das öffentliche Interesse konzentriert sich auf die sogenannten Treuhandakten, die im Bundesarchiv Berlin allgemein zugänglich sind (Bestand B 412). Sie werden mittlerweile auch von Publizistinnen und Publizisten sowie Journalistinnen und Journalisten intensiv genutzt. An dieser Stelle sei aber daran erinnert, dass schon sehr viel früher Akten anderer Provenienz allgemein und öffentlich zugänglich waren – die schriftliche Überlieferung der ostdeutschen Landesregierungen oder der Gewerkschaften, um nur einige Akteure zu nennen. Darüber hinaus können seit einiger Zeit auch die Akten der Bundesregierung und der westdeutschen Landesverwaltungen eingesehen werden. Die Liste ließe sich fortsetzen.

Bei aller Euphorie über die quantitativ wie qualitativ immer breiter werdende Quellengrundlage (allein zwölf laufende Aktenkilometer Treuhandüberlieferung im Bundesarchiv Berlin) sollte allerdings nicht aus dem Blick geraten, dass Historikerinnen und Historiker die Archivalien einer Quellenkritik unterziehen müssen. Dies gehört grundsätzlich zu ihrem Arbeitsauftrag. Da die Erwartungen der Öffentlichkeit an die Aussagekraft vor allem der Treuhandakten hoch sind, sei dieser Einwand an dieser Stelle ausdrücklich gemacht. So gilt es, einzelne Privatisierungsentscheidungen der Treuhandspitze zu kontextualisieren und mit anderen Überlieferungen abzugleichen. Zur Illustration der Problematik mag ein Beispiel dienen: Treuhandakten der sogenannten Vertrauensbevollmächtigten und der Stabsstelle Recht enthalten Vorwürfe über »SED-Seilschaften« und »Korruption«, die sich auch in der Retrospektive nicht mehr vollständig klären lassen. Die in Teilen der Öffentlichkeit verbreitete Annahme, die Wahrheit komme nun endlich ans Licht, führt daher in die Irre und würde ansonsten nur weitere Enttäuschungen produzieren. Es gibt eben nicht die historische Wahrheit. Stattdessen ist es notwendig, Strukturzusammenhänge zu analysieren, unterschiedliche Perspektiven einzunehmen, Widersprüche zu benennen und auch auszuhalten. Dazu kann die Zeitgeschichtsforschung einen wichtigen Beitrag leisten, indem sie mit quellengesättigten und methodisch innovativen Studien den historischen Ort der Treuhandanstalt in der Geschichte des vereinigten Deutschlands bestimmt, gängige Geschichtsbilder hinterfragt und Legenden dekonstruiert.

Im Rahmen seines Forschungsschwerpunktes »Transformationen in der neuesten Zeitgeschichte« zu den rasanten Wandlungsprozessen und soziokulturellen Brüchen der Industriegesellschaften seit den 1970er-Jahren hat das Institut für Zeitgeschichte München – Berlin (IfZ) im Frühjahr 2013 damit begonnen, ein großes, mehrteiliges Projekt zur Geschichte der Treuhandanstalt inhaltlich zu konzipieren und vorzubereiten. Auf der Grundlage der neu zugänglichen Quellen, die erstmals systematisch ausgewertet werden konnten, ging das Projektteam insbesondere folgenden Leitfragen nach: Welche politischen Ziele sollten mit der Treuhandanstalt erreicht werden? Welche Konzepte wurden in einzelnen Branchen und Regionen verfolgt, und was waren die Ergebnisse? Welche gesellschaftlichen Auswirkungen haben sich ergeben? Wie ist die Treuhandanstalt in internationaler Hinsicht zu sehen?

Bei der Projektvorbereitung und -durchführung waren Prof. Dr. Richard Schröder und Prof. Dr. Karl-Heinz Paqué unterstützend tätig, denen unser ausdrücklicher Dank gilt. Über Eigenmittel hinaus ist das IfZProjekt, das ein international besetzter wissenschaftlicher Beirat kritisch begleitet hat, vom Bundesministerium der Finanzen von 2017 bis 2021 großzügig gefördert worden. Auch dafür möchten wir unseren Dank aussprechen. In enger Verbindung hierzu standen zwei von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte Einzelprojekte von Andreas Malycha und Florian Peters.

Dierk Hoffmann, Hermann Wentker, Andreas Wirsching

Einleitung

Einführung in das Thema und forschungsleitende Fragen

Am Abend des 21. Februar 1991 begrüßten die ZDF-Journalisten Klaus Bresser und Klaus-Peter Siegloch den Präsidenten der Treuhandanstalt (THA), Detlev Karsten Rohwedder, im Rahmen der Sendung »Was nun, Herr Rohwedder?«. Mit ihm sprachen sie über die sich zuspitzende Situation in den neuen Bundesländern, die nach Ansicht der Interviewer kurz vor dem ökonomischen Kollaps zu stehen schienen. Nachdem Rohwedder sich zunächst den Fragen der Journalisten gestellt hatte, kündigten die Moderatoren einen Überraschungsgast an, der mit Rohwedder eine Diskussion über die Rolle der THA in den neuen Ländern führen sollte.

Regine Hildebrandt, seit November 1990 Ministerin für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Frauen im Land Brandenburg, betrat daraufhin das Studio und begrüßte Rohwedder mit der ihr eigenen Direktheit: »Tag, Herr Rohwedder, ich glaub, jetzt wird’s ein bisschen munterer hier.«1 Der Treuhandpräsident begegnete Hildebrandt zunächst süffisant und erkundigte sich, wie sie den bisherigen Verlauf der Sendung empfand. Hildebrandt begann umgehend mit ihren Ausführungen zur dramatischen Entwicklung des Arbeitsplatzabbaus in Brandenburg und stellte dazu fest: »Wir sterben ja hier in Etappen! Und was tun wir nun?« Daraufhin entspann sich zwischen der Brandenburger Arbeitsministerin und dem Treuhandchef ein Streitgespräch, dessen Inhalt sich um die Aufgaben der THA im Rahmen der sozioökonomischen Umgestaltung der ostdeutschen Wirtschaft sowie um die Gestaltungsmöglichkeiten der Landesregierung vor Ort drehte:

Detlev Rohwedder [R]: »Aber Frau Hildebrandt, inzwischen sind Sie doch die Ministerin in der Landesregierung von Brandenburg. Sie sind doch in der politischen Verantwortung. Was machen Sie denn nun?! […] Ich habe Ihnen schon früher gesagt, dass Sie die Treuhand nicht so sehen dürfen. Es gibt eine politische Verantwortung für die Wirtschaftspolitik. Was machen Sie denn nun, um den Arbeitsmarkt in Brandenburg weniger schlecht aussehen zu lassen, als er ist? Was ist denn mit Qualifizierungsmaßnahmen – in Brandenburg, nicht irgendwo? Bei unserem ersten Treffen hatten Sie die Vorstellung, man könne Beschäftigungsgesellschaften über die ganze DDR verteilen.«

Regine Hildebrandt [H]: »Eben, hab’ ich immer noch! […] Wissen Sie, warum kann man nicht mal konzeptionell denken?!«

[R]: »Na dann tun sie das doch! Setzen Sie das doch um, das können Sie doch alles alleine machen.«

[H]: »Nee, das kann ich nicht!«

[R]: »Sie wollen es bei uns eigentlich abladen, sich im Hintergrund halten und die arme Treuhand nach vorne schieben! […] Sie müssen Ihrer politischen Verantwortung auch gerecht werden! Nicht nur in Parlamentsreden in Potsdam, sondern wirklich vor Ort.«

[…]

[H]: »Sie sind die Eigner!«

[R]: »Nein, ich bin der Aktionär und ich bin nicht der Veranstalter von Qualifizierungsmaßnahmen, Umschulungsmaßnahmen, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Sie schieben, seitdem wir beide uns kennen und über dieses Thema sprechen, schieben Sie die THA vor sich her.«

[H]: »Ihren Part soll die Treuhand wahrnehmen. Ihren Part, mehr nicht!«

[R]: »Und der ist viel geringer, als Sie ihn haben möchten!«

[H]: »Ja, bei uns ja nun gleich null.«

[…]

[R]: »Aber wir stellen das doch zur Verfügung. Wir stellen Grund und Boden zur Verfügung, die Gebäude […]«

[H]: »Das denken Sie! Herr Rohwedder, die Realitäten sind doch die: Sie machen die Bedingungen so, dass keiner kommt. […]«

[R]: »Frau Hildebrandt, Sie sind ja von dieser Treuhandvorstellung besessen!«

[H]: »Ich brauche sie [die THA, W-R Knoll], sie hindert uns!«

An dieser Stelle unterbrachen die Moderatoren die beiden Diskutanten und baten Detlev Karsten Rohwedder und Regine Hildebrandt um abschließende Worte über die zu erwartende zukünftige Entwicklung der ostdeutschen Bundesländer:

[R]: »Meine Meinung ist, dass wir in 1992 damit rechnen können, dass der Wiederaufstieg dieser neuen Bundesländer auf breiter Front und dann auch nachhaltig beginnt.«

[H]: »Ich möchte noch mal sagen, dass das hier keine Schaudiskussion ist, sondern, dass es darum geht, die Wegstrecke dahin zu gestalten. […] Und wenn wir das nicht schaffen und wenn uns dafür von der Treuhand nicht die Voraussetzungen dafür gegeben werden, dann sieht es noch trostloser aus, speziell auch für den sozialen Frieden!Und wenn es vorhin darum ging, dass die Menschen im Blick sind – wir haben ja jetzt nur von der Arbeitsmarktpolitik, also Arbeitsförderung, gesprochen, nicht mal von den Neugründungen – dann möchte ich dieses dringlich einfordern. So geht es nicht weiter! Und ich glaube, dass wir mindestens fünf Jahre brauchen, in der Tat, bis wir die Angleichung haben.«

[R]: »Frau Hildebrandt, ich muss Ihnen mal sagen, wenn ich Ihnen zuhöre, innerhalb der letzten Viertelstunde, dann würde ich mal sagen, schaffen wir doch als Erstes mal das Arbeitsministerium in Brandenburg ab. Dann können wir das ja durch die THA ersetzen!«

[H]: »Herr Rohwedder, heute sind wir wenig konstruktiv. Ich weiß auch nicht, warum?!«

Schließlich beendete ZDF-Chefredakteur Klaus Bresser das Streitgespräch. Rohwedder und Hildebrandt, die sich während des Abspanns zunächst keines Blickes würdigten, setzten dann schließlich sichtbar angestrengt ihre Diskussion fort. Als die Kamera bereits abgeschaltet war und die Mikros noch liefen, bemerkte Rohwedder abschließend: »Ich meine, schauen Sie: Sie schütten mich hier zu mit dieser komischen Vorstellung, die Sie von der THA haben.«

Offensichtlich unterschieden sich die Vorstellungen des Treuhandpräsidenten und der Brandenburger Arbeitsministerin im Hinblick auf die Frage, welche Aufgaben durch die THA und welche durch die Landesregierung Brandenburgs im Rahmen der Umwandlung der ostdeutschen Wirtschaftsstrukturen wahrgenommen werden sollten, signifikant. Zentraler Gegenstand der Debatte war dabei nicht die Frage nach dem Kernauftrag der THA – die Privatisierung der ehemaligen volkseigenen Betriebe (VEB) der früheren DDR –, sondern die Verantwortung der in Berlin ansässigen Behörde für bzw. ihre Beteiligung an der Linderung der daraus resultierenden Folgen. In der zeitgenössischen Wahrnehmung verdeutlichte die Sendung damit die Probleme des seit wenigen Monaten wiedervereinigten Deutschland, indem sie ein »exemplarisches Scharmützel […] zwischen einer nichts als Bürokratie gewohnten Politikerin / Ost und einem Manager auf dem Bürokratenstuhl / West« zeigte, deren individuelle Erwartungshorizonte sich stark unterschieden: »Sie haben Sorgen und reden auf den Punkt. Aber es ist nicht derselbe.«2

Der mediale Schlagabtausch zwischen Rohwedder und Hildebrandt fand vor dem Hintergrund einer dramatischen Verschlechterung der ökonomischen Situation in den neuen Bundesländern zu Beginn des Jahres 1991 statt. Innerhalb eines Jahres hatte das Bruttoinlandsprodukt Ostdeutschlands laut Deutschem Institut für Wirtschaftsforschung einen Rückgang um 44 Prozent verzeichnet. Besonders stark betroffen war dabei das produzierende Gewerbe.3

Insbesondere in den von der THA betreuten Unternehmen zeichneten sich zudem weitere krisenhafte Entwicklungen ab. Waren zum Jahreswechsel 1990/91 noch 2,82 Millionen Menschen in Treuhandunternehmen tätig, rechneten gungswelle wurde zum 31. Juni 1991 mit dem Auslaufen THA und Bundesregierung beinahe mit einer Halbierung dieser Zahl bis Ende 1991.4 Während ein Drittel der Betroffenen über Altersübergangsregelungen oder das Erreichen des Rentenalters sozial abgesichert werden sollte, bedeutete dies für fast eine Million Menschen betriebsbedingte Kündigungen. Der Höhepunkt der Kündigungswelle wurde zum 31. Juni 1991 mit dem Auslaufen der Kurzarbeiterregelung erwartet.5 Auch die betroffenen Unternehmen selbst schätzten ihre Lage Anfang 1991 äußerst kritisch ein. Eine vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit (IAB) in Auftrag gegebene Umfrage unter allen THA-Betrieben ergab, dass sich beinahe die Hälfte der dort Beschäftigten in Kurzarbeit befand.6

Für die Brandenburger THA-Betriebe wurde mit einem massiven Beschäftigtenrückgang von 375.000 auf 214.000 zwischen dem 1. Januar 1991 und dem 1. Januar 1992 gerechnet.7 Darüber hinaus hatte die Ankündigung der THA für massive öffentliche Proteste gesorgt, mit der Interflug am Standort Schönefeld die ehemalige staatliche Fluglinie der DDR aufgrund fehlender Privatisierungsaussichten und zu hoher Kosten abwickeln zu wollen.8 Für eine Reihe großer Industrieunternehmen in Brandenburg sahen die Zukunftsaussichten ebenfalls düster aus und die Landesregierung stand vor der Herausforderung, Massenentlassungen möglichst aufzufangen, um den ehemals in den volkseigenen Betrieben Beschäftigten eine berufliche Perspektive bieten zu können und damit in letzter Konsequenz den sozialen Frieden aufrechtzuerhalten.

Eine aktivere Rolle der THA bei dem Umgang mit den Folgen der Freisetzung vieler Tausend Arbeitskräfte in den Betrieben war daher die zentrale Forderung der brandenburgischen Arbeitsministerin. Im Kern ging es dabei im Rahmen der sozioökonomischen Transformation Ostdeutschlands um die Kompetenzen und Steuerungsmöglichkeiten der THA auf der einen und der Landesregierung auf der anderen Seite. Damit spiegelte die etwas mehr als einen Monat vor der Ermordung Detlev Karsten Rohwedders aufgezeichnete ZDF-Sendung einen Grundkonflikt wider, der auch unter Rohwedders Nachfolgerin Birgit Breuel Bestandteil der öffentlichen Debatten blieb: Die THA nahm eine Sonderstellung im öffentlichen Institutionengefüge des wiedervereinigten Deutschland ein.9 Als Eigentümerin von zunächst mehr als 8000 Betrieben mit etwa vier Millionen Beschäftigten, hiervon 1375 Unternehmen mit 473.125 Mitarbeitern10 in Brandenburg, hatte jede ihrer Entscheidungen über den Verkauf, die Sanierung oder Stilllegung eines Unternehmens unmittelbare Auswirkungen auf die regionale Wirtschaftsstruktur in den ostdeutschen Bundesländern.11

Dabei waren entsprechend der föderalen Verfasstheit der Bundesrepublik eigentlich die ostdeutschen Länder zuständig für die Strukturpolitik vor Ort.12 Veraltete Arbeitsstätten und stillgelegte Anlagen sollten mittels Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen abgerissen oder rückgebaut werden; Qualifizierungsmaßnahmen der Umschulung und Weiterbildung von ehemaligen Werksangehörigen dienen. Ökologische Altlasten mussten beseitigt und nicht mehr betriebsnotwendige Betriebsflächen sollten entweder an private Investoren verkauft oder kommunalisiert werden. Für diese und weitere Aufgaben war eine enge Abstimmung zwischen THA, Landesregierung und Kommunen vor Ort notwendig. Hierzu bedurfte es eines Aufbaus von Kommunikations- und Informationskanälen sowie den entsprechenden Institutionen, die bis in das Frühjahr 1991 hinein kaum oder gar nicht vorhanden waren.

Darüber hinaus zeichnete sich bereits wenige Wochen nach der Wiedervereinigung ein grundsätzlicher Konflikt zwischen THA und Landesregierungen ab, der bis zum Ende der Tätigkeit der THA Gegenstand der Debatten blieb: Mit den ersten Betriebsstilllegungen – neben Pentacon in Dresden betraf dies auch ein Chemiefaserwerk mit 2000 Beschäftigten in Wittenberge im Nordwesten Brandenburgs – wurde deutlich, dass die Treuhand gewillt war, im Zuge der Einführung marktwirtschaftlicher Strukturen in den neuen Ländern hochgradig defizitäre Unternehmen ohne Privatisierungsaussichten zu schließen. Der zuständige Staatssekretär im Bundesfinanzministerium und spätere Bundespräsident Horst Köhler forderte Anfang 1991 im Präsidialausschuss des Verwaltungsrats der THA: »Es muß auch mal gestorben werden«.13 Dieses unternehmenszentrierte, betriebswirtschaftliche Agieren widersprach jedoch den Interessen der ostdeutschen Länder, die zwar einerseits die Umwandlung der Wirtschaft nach Kriterien des Wettbewerbs fördern wollten, andererseits aber ein natürliches Interesse daran hatten, so viele Arbeitsplätze wie möglich in den von Schließung bedrohten Unternehmen zu erhalten. Die Kosten für die laufenden betrieblichen Aufwendungen, Sanierungsausgaben sowie die Umsetzung von Restrukturierungskonzepten liefen wiederum bei der THA auf, die ständig auf eine Reduzierung der Ausgaben drängte.

Durch das Streitgespräch von Detlev Karsten Rohwedder und Regine Hildebrandt wurden diese Probleme offensichtlich. In der Argumentation spielten dabei auch soziokulturelle Prägungen eine nicht unerhebliche Rolle. Rohwedder, der bis 1978 als Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium und seit 1980 als Vorstandsvorsitzender des Dortmunder Hoesch-Konzerns tätig gewesen war, vertrat die Rolle eines Managers. Durch die Moderatoren angesprochen auf die Frage, ob betriebswirtschaftliches Denken in dieser Krise ausreiche, erklärte Rohwedder, dass er dafür da sei, das Kaufmännische ins Recht zu setzen und unternehmensbezogene Entscheidungen zu treffen. Dabei schreckte er in seiner Argumentation auch vor saloppen Formulierungen nicht zurück. Im Hinblick auf die gescheiterten Versuche zur Privatisierung der Interflug, deren Schicksal durchaus eine symbolische Funktion im krisenhaften Frühjahr 1991 zukam, erklärte Rohwedder: »Ich bin ja nun nicht dafür verantwortlich zu machen, dass Interflug mit diesen alten Iljuschin-62 und diesen anderen Knatterbombern noch nach Phnom Penh und Ho-Chi-Minh-Stadt und ich weiß nicht wohin fliegt.«14

Ihm gegenüber saß mit Regine Hildebrandt, bis 1989 in der DDR als Biologin beim volkseigenen Betrieb Berlin-Chemie tätig und bereits in der letzten DDR-Regierung unter Führung von Lothar de Maizière Ministerin für Arbeit und Soziales, eine Landespolitikerin, die sich als »authentisches Ost-Gewächs« großer Beliebtheit sowohl in Brandenburg als auch in den neuen Bundesländern insgesamt erfreute.15 Aufgrund ihres impulsiv-empathischen Auftretens erwarb sich Hildebrandt den Ruf einer »Mutter Courage des Ostens«.16 Ihre schnelle, markante und durch den Berliner Dialekt gefärbte Redeweise stand ebenso im Gegensatz zum Auftreten Rohwedders wie ihre inhaltlichen Forderungen nach einer starken Ausweitung von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und der entsprechenden Beteiligung der Treuhand.

Die Agenda der Brandenburger Arbeitsministerin war geprägt durch den Gedanken, das grassierende Phänomen des Beschäftigungsabbaus durch alle verfügbaren Maßnahmen der Arbeitsmarktpolitik sozial abzufedern. Die Mitarbeiter ihres Ministeriums forderte sie dabei dazu auf, bei der Verwendung öffentlicher Mittel bis an die Grenzen der Legalität zu gehen.17 Das hohe Privatisierungstempo der THA, das sich seit Beginn des Jahres 1991 merklich beschleunigte und zu Hunderten Unternehmensverkäufen pro Monat führte, kritisierte Hildebrandt anlässlich einer Rede im Deutschen Bundestag im Mai 1992:

»Man hat fast den Eindruck eines sozialistischen Wettbewerbs. In der DDR mußte man nämlich immer alles abrechnen, abhaken und Berichte schreiben. Ich habe den Eindruck, die Treuhand muß jetzt auch privatisieren, so wie wir unseren sozialistischen Wettbewerb abgerechnet haben. Sie muß ein bestimmtes Soll schaffen. Wenn sie nicht an produzierendes Gewerbe verkaufen kann, dann muß sie eben die Immobilie vermarkten. Aber abgehakt ist abgehakt. Die THA ist immer noch dem Finanzministerium unterstellt, obwohl es sich um Wirtschaft handelt, obwohl das Wirtschaftsministerium vielleicht günstiger wäre. Aber nein, es geht um die Gewinnmaximierung. Damit können wir Strukturpolitik im Osten nicht machen.«18

Gerade die regionale sowie sektorale Struktur- und Wirtschaftspolitik war ein zentrales Aufgabenfeld der Länder. Noch im September 1990 hatte Detlev Karsten Rohwedder vor der DDR-Volkskammer verkündet, wie er die Rolle der THA in der Zusammenarbeit mit den entstehenden ostdeutschen Bundesländern zukünftig gestalten wolle:

»Wir wollen ja nicht im Elfenbeinturm sitzen, sondern wir wollen in einer vernünftigen regionalen Vorortverantwortung unsere Arbeit tun. […] Wir möchten gern durch die Außenstellen, durch die Niederlassungen bei der Konzipierung und Initiierung von lokalen und regionalen Wirtschaftsförderungsprogrammen mitwirken. Wir möchten eine Rolle spielen können bei Industrieansiedlungskonzepten.«19

Die Äußerung Rohwedders widersprach allerdings durchaus dem später von Birgit Breuel vertretenen Leitsatz, dass die THA »keinen Auftrag für eine Industrie- und Strukturpolitik« habe.20 Zwar ruderte auch Rohwedder selbst Ende 1990 zurück und erklärte, dass es nicht die Aufgabe der THA sei, »anstelle der Länder und des Bundes Struktur-, Ansiedlungs-, Energie- oder Regionalpolitik zu betreiben«.21 Ein Jahr später hatten die Entwicklungen in Ostdeutschland aber dazu geführt, dass sich seine Nachfolgerin Breuel im Herbst 1991 hinsichtlich des gesetzlichen Privatisierungsauftrags und strukturpolitischer Sanierungserfordernisse noch immer »zwischen Baum und Borke« sah.22

Das Spannungsfeld aus sich abzeichnenden unterschiedlichen Interessen zwischen THA auf der einen und regionalen Gebietskörperschaften in Brandenburg auf der anderen Seite ergab sich bereits aus den unterschiedlichen Aufträgen und Ansprüchen der Akteure. Das von der DDR-Volkskammer verabschiedete und im Zuge des Einigungsvertrages ergänzte Treuhandgesetz beauftragte die Behörde schließlich mit der Zielstellung, »daß sich durch zweckmäßige Entflechtung von Unternehmensstrukturen marktfähige Unternehmen herausbilden und eine effiziente Wirtschaftsstruktur entsteht«.23 Aussagen zu regionalen Kooperationen und Abstimmungsprozessen mit territorialen Verwaltungseinheiten wie den zu der Zeit noch existierenden Bezirken der DDR oder den Ländern, deren Wiederbegründung perspektivisch zu erwarten war, enthielt das Treuhandgesetz nicht. Auch der Einigungsvertrag brachte dahingehend nur die Ergänzung, dass im Zuge der Erweiterung des Verwaltungsrates der THA auch die Ministerpräsidenten der ostdeutschen Bundesländer anstelle zweier Volkskammerabgeordneter als Mitglieder dieses Gremiums berufen werden sollten.

Während also die THA auf die Herausbildung einer effizienten Wirtschaftsstruktur hinarbeitete, verkündete Artikel 44 der 1992 in Kraft getretenen Verfassung des Landes Brandenburg als Ziel der Wirtschaftspolitik: »Das Land gewährleistet eine Strukturförderung der Regionen mit dem Ziel, in allen Landesteilen gleichwertige Lebens- und Arbeitsbedingungen zu schaffen und zu erhalten.«24 Aus den mithin unterschiedlichen wirtschaftspolitischen Aufgabenstellungen ergab sich ein latentes Konfliktpotenzial.

Die Position der THA im föderalen System der Bundesrepublik Deutschland sowie die Festlegung ihrer Aufgaben, ihrer Kompetenzen und Handlungsmöglichkeiten insbesondere im regionalen Kontext bedurften also einer Regelung. Doch welche Stellung hatte die THA eigentlich im politischen Institutionengefüge des wiedervereinigten Deutschland, und welche Gestaltungsmöglichkeiten hatte eine brandenburgische Arbeitsministerin oder hatte die Landesregierung eines ostdeutschen Bundeslandes überhaupt, wenn es um die operative Tätigkeit der THA ging? War die in der Presse als allmächtig bezeichnete THA mit ihrem als »Herrscher des Ostens« wahrgenommenen Präsidenten tatsächlich eine »mächtige Nebenregierung« Ost, wie es der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt 1993 behauptete?25

Die vorliegende Arbeit hat das Ziel, die THA im politischen Kräftefeld sowie den ökonomischen und gesellschaftlichen Debatten des wiedervereinten Deutschland zu verorten. Forschungsleitend soll dabei die Frage nach der Bedeutung der Treuhandanstalt und den auf ihre Tätigkeit Einfluss nehmenden Akteuren der sozioökonomischen Transformation im Bundesland Brandenburg in der ersten Hälfte der 1990er-Jahre, aber auch darüber hinaus sein. Wer waren diese Akteure auf politischer, institutioneller, privatwirtschaftlicher sowie betrieblicher Ebene und inwiefern nahmen sie tatsächlich Einfluss auf die Arbeit der Treuhand sowie das Privatisierungsgeschehen vor Ort?

Auf Basis der bisherigen Forschungsliteratur sowie neu zugänglichen Archivmaterials soll das Wirken der THA aus einer zeithistorischen Perspektive erstmals auf regionaler Ebene systematisch untersucht werden. Dabei soll geklärt werden, wie Kompetenzen und Einflussmöglichkeiten zwischen der THA und dem Land Brandenburg verteilt wurden und wie sich deren Zuschnitte im Verlauf der Zeit veränderten.

Als wesentlicher Ansatz dient eine politik- und institutionengeschichtliche Analyse der handelnden Akteure in Verbindung mit einer empirischen, wirtschafts- und unternehmensbezogenen Auseinandersetzung mit Privatisierungsvorgängen und deren Folgen in Brandenburg.26 Damit soll diese Arbeit einen Beitrag zu dem leisten, was die jüngere zeithistorische Transformationsforschung bereits seit einiger Zeit einfordert: »Although valuable historical work has been done on the Treuhand Agency, a detailed history remains to be written. Such a history would need to address the very different situations in the various industrial sectors and regions and the specific conditions of individual companies«.27 Ein solcher Ansatz auf Landesebene stellt bisher ein Forschungsdesiderat dar und bietet für das Verständnis der THA neue Zugänge.

Dabei ist von Interesse, inwiefern die Treuhand überhaupt auf Länderebene agierte. Hierbei gilt es insbesondere die Stellung landeshoheitlicher und kommunaler Einrichtungen zu unterscheiden. Wie sah die Kommunikation der THA mit der Landesregierung auf der einen, aber auch mit betroffenen Städten und Gemeinden auf der anderen Seite aus? Welche Austausch- und Meinungsbildungsstrukturen zwischen THA und den regionalen sowie lokalen Akteuren existierten und wie entwickelten sich diese? Eine Regional- bzw. Länderstudie bietet auf der Basis eines multiperspektivischen Ansatzes die Chance zu einem tieferen Verständnis sowohl der konkreten Tätigkeit der THA vor Ort als auch der Handlungsspielräume von Bund, Ländern und Kommunen im Rahmen der sozioökonomischen Transformation Ostdeutschlands.

Das Land Brandenburg als Untersuchungsgegenstand bietet sich hierzu in besonderem Maße an. Wie gezeigt werden wird, ist Brandenburg im ostdeutschen Vergleich stark durch die regionale und sektorale Struktur- und Ansiedlungspolitik der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) geprägt worden. Zahlreiche sozialistische Großbetriebe entstanden in den 1950er- bis 1970er-Jahren neu oder wurden massiv personell erweitert. Die THA übernahm 1990 die Verantwortung für diese Betriebe und hatte die Aufgabe, sie in marktwirtschaftliche Strukturen zu überführen. Eine Reihe der Großbetriebe lag direkt an der Oder-Neiße-Grenze und war auf die arbeitsteilige Struktur des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW), des Wirtschaftsraums des Ostblocks, ausgerichtet gewesen. Mit der Einführung der D-Mark in Ostdeutschland, der Wiedervereinigung und den Umbruchsentwicklungen in Ostmitteleuropa endeten viele der Lieferbeziehungen schlagartig und das Bundesland rückte an den östlichen Rand der Europäischen Gemeinschaft.

Als Folge der DDR-Strukturpolitik bildete Brandenburg zugleich so etwas wie eine Zwischenstufe zwischen dem agrarisch geprägten Norden und den traditionellen industriellen Schwerpunktregionen im Süden Ostdeutschlands ab. Dies betraf auch die Einwohnerzahl, welche in etwa der von Thüringen und Sachsen-Anhalt entsprach. Zudem wies das Land eine Besonderheit im Hinblick auf seine politische Kultur nach der Wiedervereinigung auf. Die erste Ampelkoalition in Deutschland, also eine Koalition aus SPD, Bündnis 90 und FDP, unter Führung der Ersteren, stellte mit Manfred Stolpe bis 1994 nicht nur den einzigen sozialdemokratischen Ministerpräsidenten in Ostdeutschland, sie beschritt vor allem einen auf Konsens angelegten, eigenständigen »Brandenburger Weg«. Ob das Land aufgrund der politischen Konstellation auch einen Brandenburger Weg in der Wirtschaftspolitik verfolgte, der zu messbaren Unterschieden in den ökonomischen Entwicklungspfaden der ostdeutschen Bundesländer führte, bedarf allerdings einer Klärung.

Darüber hinaus sind es auch Möglichkeiten des Quellenzugangs und deren Verfügbarkeit, die das Bundesland Brandenburg zu einem bevorzugten Untersuchungsgegenstand machen. Zu diesen zählen insbesondere die gut erschlossenen Bestände des Brandenburgischen Landeshauptarchivs in Potsdam (BLHA), aber auch der Kreisarchive auf kommunaler Ebene.

Ein empirischer Ansatz hat einerseits den Vorteil, eine Auswahl an Fallbeispielen vornehmen, und damit zugleich den Nachteil, andere Fälle nicht in den Blick nehmen zu können. Diese Arbeit nimmt 25 Industriebetriebe in den Blick, in denen etwa ein Drittel aller Brandenburger Treuhandbeschäftigten im Jahr 1990 tätig waren. Von den insgesamt 1,33 Millionen Beschäftigten in Brandenburg arbeiteten 1989 463.000 Menschen im verarbeitenden Gewerbe, das damit den größten Wirtschaftszweig bildete.28 Insgesamt existierten 17 Großbetriebe mit jeweils mehr als 5000 Mitarbeitern, die den Regionen Brandenburgs ihr Gepräge gaben. Mehr noch wirkten sie identitäts- und sinnstiftend. So bezeichnete sich die Stadt Wittenberge als »Stadt der Nähmaschinen«. Rathenow trägt bis heute den Zusatz »Stadt der Optik« in seiner offiziellen Darstellung. Eisenhüttenstadt war überhaupt erst aufgrund seines standortbestimmenden Eisen- und Stahlwerkes entstanden und sodann (1961, zuvor Stalinstadt) nach diesem benannt worden. Die besondere Bedeutung und Funktion der Betriebe sowie nicht zuletzt die Fokussierung von Politik und Medien auf die »großen« Privatisierungsfälle bieten den Ausgangspunkt für eine tiefergehende Analyse der Akteure auf betrieblicher und kommunaler Ebene, ebenso der Landes- und Bundesregierung, in Einzelfällen auch der supranationalen Ebene, also der Europäischen Gemeinschaft, sowie letztlich der Rolle der THA im Transformationsprozess selbst.

Dieses Vorgehen verfolgt den Ansatz einer differenzierten Betrachtung der THA, die es ermöglichen soll, die Handlungsspielräume und -grenzen der Entscheidungsträger sowie die Rolle betriebswirtschaftlicher, industrie- und wirtschaftspolitischer Erfordernisse zu untersuchen.

Im Gegensatz zu anderen Sektoren wie dem Forschungs- und Hochschulwesen, dem Rundfunk oder dem Gesundheitswesen, die nach dem Vorbild der Bundesrepublik umgebaut wurden, blieb die Entwicklung vieler Industriebetriebe bis weit in die 1990er-Jahre offen.29 Der Einigungsvertrag machte kaum Vorgaben zur Transformation und künftigen Gestaltung marktnaher Wirtschaftsbranchen. Da auch das Treuhandgesetz die Aufgabe des ökonomischen Umbaus ohne nähere Ausführungsbestimmungen beschrieb, rückte die THA ins Zentrum einer »industriellen Lenkungsstruktur, die auf dem Weg von der früheren sozialistischen Kombinatsorganisation zu einer marktwirtschaftlich konstituierten Branchengliederung als institutionelle Zwischenlösung fungieren sollte«.30 Wie die THA bei Privatisierung der ehemaligen volkseigenen Betriebe vorging, welche Strategien sie auch unter öffentlichem Druck entwickelte und wie sich die Ergebnisse letztlich bewerten lassen, wird anhand der Fallbeispielanalysen aufgezeigt werden.

Die Beantwortung dieser und der weiter oben formulierten Forschungsfragen ist in jüngerer Zeit zu einem Gegenstand öffentlicher Debatten geworden. Entgegen zeitgenössischer Erwartungshaltungen ist die Tätigkeit der THA nicht in Vergessenheit geraten und es legte sich doch kein »sanfter Schleier des Vergessens« über die Behörde.31 Im Kontext ostdeutscher Landtagswahlen im Jahr 2019 äußerten sich Politiker der Parteien Die Linke und Alternative für Deutschland (AfD) negativ bis abfällig über das Agieren der THA, attestierten ein bis heute wirkendes »Treuhand-Trauma«, das noch nicht überwunden sei (Dietmar Bartsch, Die Linke), unterstellten, dass durch die Treuhand Millionen von Arbeitsplätzen »leichtfertig vernichtet« worden seien, und verlangten, dass deren »Machenschaften rücksichtslos aufgeklärt« gehörten (Björn Höcke, AfD).32 In ähnlicher Weise stellte auch die Landesvorsitzende der Partei Die Linke in Brandenburg, Anja Mayer, fest: »Für viele Brandenburger bedeutete die Treuhand nicht nur den Verlust ihres Arbeitsplatzes, sondern es war auch die Abwicklung und gnadenlose Entwertung ihres bisherigen Lebens.«33

Ob eine zeithistorische Regionalstudie auf empirischer Basis die Funktion der THA als eine Art »Bad Bank« der ostdeutschen Erinnerungskultur, also einem negativem Gründungsmythos des wiedervereinigten Deutschland, beeinflussen kann,34 sei an dieser Stelle ebenso dahingestellt wie die Triftigkeit der in jüngster Zeit geäußerten Behauptung, dass eine »historisch angemessene Einschätzung der THA auch künftig schwerfallen wird«.35 Diese Arbeit setzt sich stattdessen das Ziel, bisherige Leerstellen zu füllen und somit einen differenzierten Beitrag zur Erforschung einer Einrichtung und ihrer Arbeitsweise in regionaler Perspektive zu leisten, die die sozioökonomische Struktur der ostdeutschen Bundesländer nachhaltig geprägt hat. Darüber hinaus soll ein landesgeschichtlicher Beitrag zur Entstehung des Bundeslandes Brandenburg und seiner Entwicklung im wiedervereinigten Deutschland geleistet werden. Damit bietet sich auch die Gelegenheit, die in ihrer Bedeutung etwas zurückgedrängte Landesgeschichte als methodischen Zugang wieder stärker in das Bewusstsein zeithistorischer Debatten zurückzuholen und in die Forschung zur jüngsten Transformationsgeschichte zu integrieren.36

Forschungsstand und Quellen

Die THA war bereits während ihrer Tätigkeit und darüber hinaus bis in die Gegenwart Gegenstand zahlreicher Veröffentlichungen, deren Spektrum von journalistischen und skandalisierenden Publikationen bis hin zu verwaltungs- bzw. wirtschaftswissenschaftlichen und schließlich auch ersten zeithistorischen Untersuchungen reicht.37 Dem Bochumer Historiker Marcus Böick ist es mit seiner 2018 erschienenen Monografie zur Geschichte der THA zu verdanken, dass erstmals die gesamte Bandbreite der bis dahin erschienenen Literatur umfassend erörtert und eingeordnet wurde. Was die vor 2018 erschienenen Arbeiten zur THA angeht, kann daher an dieser Stelle auf die umfangreiche Überblicksdarstellung Böicks verwiesen werden.38

In den Jahren 2018 bis 2021 waren darüber hinaus aber auch weitere Veröffentlichungen zur Thematik Treuhand zu verzeichnen, deren Veröffentlichung in einem engen zeitlichen Zusammenhang mit den 30. Jahrestagen des Mauerfalls und der Wiedervereinigung erfolgte. Die in dieser Zeit veröffentlichten Werke haben nicht nur bestehende negative Narrative über die Treuhand repetiert, sondern durchaus versucht, neue Akzente der Bewertung zu setzen sowie aktuelle Forschungsergebnisse zu präsentieren.39

Der seit wenigen Jahren mögliche Zugang zu den THA-Akten im Bundesarchiv sowie der jahrestagsbezogene Veröffentlichungsrhythmus von Publikationen zur Friedlichen Revolution, der Wiedervereinigung und ihren Folgen lassen auch zukünftig weitere, mitunter kontroverse Darstellungen zur THA erwarten. Damit ist schon deshalb zu rechnen, da die THA unabhängig von Werturteilen über ihre Tätigkeit als »zentraler operativer Akteur« und »institutionelles Kernstück der Transformationspolitik für Ostdeutschland« wahrgenommen wurde und wird.40

Im Rahmen dieser Arbeit wird Transformation als Systemwechsel mit allen daraus resultierenden politischen, rechtlichen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Facetten verstanden.41 Charakterisiert wurde dieser Systemwechsel nach Klaus König durch eine »Veränderung der gesamten Ordnung von Gesellschaft, Wirtschaft, Staat und damit der öffentlichen Verwaltung in all ihren Bezügen«.42 Bestandteile der Neuordnung sind demzufolge ein Regimewechsel, eine Steuerung durch aktive Politik sowie staatszentriertes Handeln ebenso wie partielle Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen altem und neuem Regime.43 Insbesondere in den Sozialwissenschaften ist der Transformationszeitraum zwischen 1990 und 1994, intensiv erforscht worden. Dabei hat die Kommission für den sozialen und politischen Wandel Ostdeutschlands (KSPW) mit insgesamt 25 Veröffentlichungen umfangreiche Forschungsbeiträge zu Umbruchsprozessen auf kommunaler und regionaler Ebene und damit zum sozial-strukturellen, institutionellen und kulturell-mentalen Wandel geleistet.44 Mit Blick auf das Land Brandenburg brachten Beiträge zu den Städten Frankfurt (Oder), Strausberg und Brandenburg an der Havel umfangreiche qualitative und quantitative Ergebnisse hervor, die Eingang in diese Darstellung gefunden haben.45 Zudem sind die wirtschaftlichen Verflechtungsstrukturen Brandenburgs mit Berlin diskutiert worden.46

Neben den Studien der KSPW entstanden in den 1990er-Jahren eine Reihe von Darstellungen, die sich sowohl mit dem institutionellen Wandel der Verwaltungsstrukturen auf Landes- und auf lokaler Ebene beschäftigten als auch Fragen nach der politischen und sozialen Neustrukturierung des Bundeslandes Brandenburg nachgingen.47 Da diese, wie gezeigt werden wird, in einer unmittelbaren Wechselwirkung zur Tätigkeit der THA erfolgten, stellen die entsprechenden Arbeiten eine wichtige Grundlage dar.

Einen wichtigen transnationalen Beitrag zur Transformationsforschung insbesondere im Hinblick auf Deindustrialisierungsprozesse und ihre Folgen hat Lutz Raphael vorgelegt.48 Wenngleich sich Untersuchungszeitraum (1970 – 2000) und -gegenstand (Bundesrepublik, Frankreich, Großbritannien) nicht ohne Weiteres auf die spezifischen Herausforderungen Ostdeutschlands übertragen lassen, bietet Raphael doch gerade vor dem Hintergrund der schwindenden Bedeutung des verarbeitenden Gewerbes neue Impulse zum Verständnis makrohistorischer Prozesse und lebensweltlicher Erfahrungsräume an ausgewählten Beispielen wie der Stahlindustrie, die gerade auch in Brandenburg eine herausgehobene Stellung im öffentlichen Bewusstsein einnahm. Insofern ergeben sich hier direkte Anknüpfungspunkte für die Transformationsforschung zu Ostdeutschland.

Die Position der THA im politischen System der Bundesrepublik ist bereits seit den 1990er-Jahren intensiv untersucht worden.49 Ihre Stellung im Institutionengefüge wurde dabei wiederholt problematisiert. Ihre Rechtsform einer bundesunmittelbaren Anstalt des öffentlichen Rechts ließ zunächst kaum Rückschlüsse auf die tatsächliche Stellung der THA zu. Dies führte zur Feststellung: »Die THA ist rechtlich kein Unternehmen und faktisch keine staatliche Behörde.«50 Gerade die Funktion der THA, ihre Einbindung und Kontrolle innerhalb politischer Entscheidungsprozesse waren jedoch für die ostdeutschen Länder von besonderer Bedeutung, da sie sich innerhalb des institutionellen Gefüges mit der THA arrangieren und mit ihr zusammenarbeiten mussten. Daraus ergaben sich Konflikte über Zuständigkeiten, finanzielle Mittel und eigene Gestaltungsmöglichkeiten.51

Die Bundesregierung erklärte die rasche Privatisierung des Unternehmensbestandes der THA zu ihrem strategischen Ziel.52 Dass die Institution THA nicht in einem politökonomischem Vakuum entstand bzw. agierte, sondern vielmehr in den Zusammenhang einer geistig-ideellen Entwicklung gehörte, die heute als »neoliberale Wende« bezeichnet wird, zeigen auch die jüngeren Bewertungen der Treuhand im Kontext ideologischer Grundsatzdebatten. So sieht der Ostmitteleuropahistoriker Philipp Ther die Treuhand als Gegenstand einer »neoliberalen Reformstrategie«.53Den wesentlichen Wirkungszeitraum dieser Ideologie verortete er explizit in die Phase des Bestehens der THA: »Die Rolle des Staats sollte reduziert werden, dabei ging es in den 1980er- und 1990er-Jahren zunächst um die Wirtschaft, seit den späten 1990er-Jahren auch um die sozialen Sicherungssysteme und damit um wohlfahrtsstaatliche Kernkompetenzen.«54

Thers Einschätzung der Rolle der THA als sichtbares Zeichen staatlicher Deregulierungs- und Privatisierungsabsichten deckt sich mit anderen Wahrnehmungen, die in der Treuhand eine »neoliberale Exekutivmaschine schlechthin« erkannten.55 Zu berücksichtigen ist allerdings auch, dass es sich dabei nicht nur um einseitige westliche Konzepte zur Umwandlung der Wirtschaftssysteme handelte. Vorstellungen von Entstaatlichungsprozessen zur Modernisierung der Betriebe existierten auch in der DDR und in Ostmitteleuropa vor und während des Transformationsprozesses.56 Letztlich muss eine Beurteilung der Treuhandtätigkeit wirtschaftspolitische Leitbilder mitdenken, um das Handeln der Akteure und ihre Motivationen nachvollziehen zu können. Ob und inwiefern dabei möglicherweise Diskrepanzen innerhalb der Treuhandführung, aber auch aufseiten der politischen Funktionselite Ostdeutschlands, der Interessensverbände sowie der Betriebe bestanden, wird ebenfalls zu klären sein.

Bisher nur unzureichend untersucht worden ist das Wirken der THA auf regionaler Ebene, das gilt auch für Brandenburg. Dies zeigt sich unter anderem an den Überblicksdarstellungen zur Landesgeschichte, in denen zwar die wirtschaftlichen Probleme der frühen 1990er-Jahre thematisiert werden, die THA hierbei aber nicht einmal namentlich erwähnt wird.57 Auch eine 2017 erschienene sehr umfangreiche Lokalstudie zur Transformationsgeschichte Potsdams in den späten 1980er- und frühen 1990er-Jahren sparte eine wirtschaftshistorische Perspektive und damit die Rolle der THA gänzlich aus.58 Ähnliches scheint für andere Bundesländer zu gelten, wie eine 2018 erschienene Umbruchsgeschichte Mecklenburg-Vorpommerns zeigt, in der mit der THA einer der zentralen Akteure deutlich zu kurz kommt.59 Das Bundesland Thüringen bildet insofern eine Ausnahme, als dass mit dem bis 1992 als Minister der Staatskanzlei tätigen Franz Schuster ein Akteur der Transformationszeit 2015 eine Arbeit zur Tätigkeit der THA vorgelegt hat.60 Die durchaus ambitionierte Darstellung greift vor allem auf Sekundärliteratur sowie Presseartikel zurück, weist jedoch Schwächen in der Nachweisführung und der Quellengrundlage auf. Darüber hinaus bleiben kausale Zusammenhänge zwischen der Privatisierungspraxis der THA und den Ergebnissen der Transformation unterbelichtet.61

Zum Bundesland Brandenburg ist eine Reihe von Studien entstanden, die den sozialen Wandel in peripheren Regionen wie der Prignitz oder der Lausitz thematisierten oder den Transformationszeitraum aus politik- oder wirtschaftswissenschaftlicher Perspektive betrachtet und bewertet haben.62 Bisher erstellte Studien zur Transformation ostdeutscher Wirtschaftsbranchen berücksichtigten zudem mitunter Brandenburger Unternehmen.63 Darstellungen zur Geschichte von Brandenburger Industriestandorten stammen zum Teil von ehemaligen Betriebsangehörigen oder von Regionalhistorikern, entstanden aber auch im Rahmen von Auftragsarbeiten, die ebenfalls die Transformationszeit der Unternehmen nach 1989 in den Blick nehmen.64

Eine umfassende Wirtschaftsgeschichte Brandenburgs nach 1990 ist noch nicht geschrieben worden.65 Bisherige Darstellungen konzentrieren sich auf das 19. und frühe 20. Jahrhundert sowie die Zeit zwischen 1945 und 1989.66 Insofern bildet die Tätigkeit der THA in Brandenburg für das Bundesland auch eine neue wirtschaftsgeschichtliche Untersuchungsdimension. Dem Wirtschaftshistoriker André Steiner zufolge bieten sich dadurch Möglichkeiten zur Analyse von »Wahrnehmungen und Reflexionen von wirtschaftlichen Handlungen, Prozessen und Strukturen durch die Akteure in Öffentlichkeit, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft«.67 Dementsprechend sollen die von den Akteuren verfolgten Praktiken sowie die darauf aufbauenden Institutionen in den Blick genommen werden, um so die Ergebnisse, Konsequenzen und Strukturen des wirtschaftlichen Handelns aufzuzeigen. Dieser Ansatz entspricht auch den Erwartungen an aktuelle wirtschaftshistorische Arbeiten, verstärkt Veränderungsprozesse in den Blick zu nehmen. Nach Werner Plumpe liege die Zukunft der Wirtschaftsgeschichte gerade »in der Analyse des wirtschaftlichen Strukturwandels in seiner Einbettung in den gesellschaftlichen Wandel«.68

Methodisch umfasst dieser Ansatz zugleich auch eine unternehmensgeschichtliche Dimension, da in der empirischen Forschung nach Ansicht des Wirtschaftshistorikers Ralf Ahrens »ohnehin kaum ein Weg an einer pragmatischen, am Einzelfall orientierten Kombination von ökonomischen und historischen Zugängen zum Unternehmen vorbei« führe.69 Gerade weil Unternehmen sich wie andere historische Organisationsformen analysieren lassen, bietet die Unternehmensgeschichte grundlegende Einblicke in die Geschichte moderner Gesellschaften.70

Dabei sind derartige Perspektiven kein Selbstzweck.71 Politik-, Institutionen-, Sozial-, Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte haben bisher ein großes Set an relevanter Forschungsliteratur hervorgebracht, die – durch zahlreiche Quellen erweitert – auf der Basis verschiedener Methoden zum Erkenntnisgewinn beitragen kann.

Im Gegensatz zu früheren Studien besteht im Rahmen dieser Arbeit die Gelegenheit, mit den äußerst umfangreichen Aktenbeständen der THA zu arbeiten. Diese hat insgesamt ungefähr 45 laufende Kilometer Akten produziert. Das Bundesarchiv Berlin übernimmt seit 2017 kontinuierlich Unterlagen aus diesem Bestand, sodass bis zum September 2019 bereits etwa 26.500 Akten archivalisch nutzbar gemacht wurden.72 Zu den bedeutendsten unter der Signatur B 412 im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde zu findenden Beständen gehören die Unterlagen der Vorstands- und Verwaltungsratssitzungen sowie des Leitungsausschusses der THA.

Neben den Protokollen und Unterlagen dieser Gremien sind für diese Regionalstudie insbesondere die Akten des Länderdirektorates Berlin-Brandenburg relevant. Die THA richtete Länderdirektorate ein, um unmittelbar mit den ostdeutschen Landesregierungen in den Austausch treten zu können. Zahlreiche Korrespondenzen, Vermerke und Unterlagen zu einzelnen Betrieben sind in der Überlieferung enthalten und ermöglichen eine interne Perspektive auf die Arbeitsweise der THA. Darüber hinaus sind über die THA-Akten Überlieferungen zu einzelnen Unternehmen zugänglich. Diese umfassen in der Regel Sanierungskonzepte, Aufsichtsratsprotokolle, Schriftverkehr sowie Kaufangebote und Material zu Privatisierungsverhandlungen. Zwar übernimmt das Bundesarchiv nicht die Bestände der in den ehemaligen Bezirksstädten der DDR ansässigen Niederlassungen der THA. Dennoch kann der institutionelle Aufbau dieser Einrichtungen sowie deren Struktur und Arbeitsweise über die Unterlagen der THA-Zentrale sowie Ersatzüberlieferungen aus Untersuchungsausschüssen und Selbstzeugnissen nachvollzogen werden.

Ebenfalls neu zugänglich sind darüber hinaus die Bestände der Bundesministerien im Bundesarchiv Koblenz für die Zeit nach 1990. Eingesehen werden konnten dort Archivalien aus dem Bundeskanzleramt (B 136), dem die Aufsicht über die THA führenden Bundesfinanzministerium (B 126) sowie dem Bundeswirtschaftsministerium (B 102), welche Vorgänge zu relevanten Unternehmen in Brandenburg, aber auch zur Lage in den neuen Ländern umfassen.

Erstaunlicherweise und von der Forschung bis dato unbemerkt war eine Reihe von THA-Unterlagen bereits seit Längerem in den Landesarchiven zugänglich. So führte der Verwaltungsratssitz des brandenburgischen Ministerpräsidenten Manfred Stolpe dazu, dass der Schriftwechsel sowie Vorlagen und Protokolle des Verwaltungsrates der THA im Brandenburgischen Landeshauptarchiv bereits seit einigen Jahren eingesehen werden können. Davon betroffen sind auch die Treuhandbestände in den korrespondierenden Ministerien, wie dem Wirtschafts- und dem Arbeitsministerium sowie den Ministerien für Finanzen und Umwelt. Ebenfalls im BLHA überliefert sind die Bestände der von der THA liquidierten Brandenburger Großbetriebe entsprechend einer Vereinbarung zwischen THA und Landesarchiven Anfang der 1990er-Jahre.73

Daneben bieten auch andere Landesarchive einen Zugang zur Arbeit der THA im Land Brandenburg. Exemplarisch zu nennen sind das Landesarchiv Sachsen-Anhalt und das Landesarchiv Nordrhein-Westfalen (NRW). Sie bieten einerseits die Möglichkeit, mit einem »Blick über den Tellerrand« externe Perspektiven auf die Arbeit der brandenburgischen Landesregierung zu gewinnen. Darüber hinaus finden sich auch Abstimmungsprozesse zwischen den ostdeutschen Ländern wieder, um gemeinsame Positionen gegenüber der THA einzunehmen. Das Landesarchiv NRW beherbergt zudem einen umfangreichen Bestand zur Verwaltungshilfe in Brandenburg. Diese umfasste Hilfen und Organisationsberatung zum Aufbau der kommunalen Selbstverwaltung sowie die Bereitstellung und Vermittlung von Führungskräften in die neuen Bundesländer (Institutionen- und Elitentransfer).

Einen Einblick in Transformationsprozesse auf lokaler Ebene ermöglichen die Kreisarchive in Brandenburg. Insbesondere das Kreisarchiv Barnim, aber auch die Stadtarchive in Schwedt oder Rathenow beherbergen umfangreiche kommunale Korrespondenzen sowohl mit der THA als auch mit der Landesregierung ebenso wie kleine Bestände zu abgewickelten Betrieben aus den Regionen.

Da die THA nicht in einem Vakuum agierte, bilden auch Archive zu Verbänden und Institutionen eine wichtige Arbeitsgrundlage. Hierzu zählen unter anderem das Archiv der sozialen Demokratie in Bonn mit den Beständen des Deutschen Gewerkschaftsbundes aus der Region Berlin-Brandenburg sowie die Unterlagen der Industrie- und Handelskammer aus Eberswalde.

Zu den politischen Interaktionen bieten die digital zugänglichen Parlamentsarchive des Deutschen Bundestages und des Brandenburger Landtages hervorragende Recherchemöglichkeiten. Dazu zählen auch die Ergebnisse des Untersuchungsausschusses »Treuhandanstalt« des Deutschen Bundestags sowie die verfügbaren Materialien zum Untersuchungsausschuss zur Überprüfung der Tätigkeit der brandenburgischen Landesregierung im Verwaltungsrat der THA.74 Die Einsetzung einer Enquete-Kommission zur Aufarbeitung der Geschichte und Bewältigung von Folgen der SED-Diktatur und des Übergangs in einen demokratischen Rechtsstaat im Land Brandenburg im Jahre 2010 führte zu einer Befragung ehemaliger THA-Niederlassungsleiter und zur Bewertung der THA-Tätigkeit in Brandenburg durch die Kommission.75

Zahlreiche zeitgenössisch publizierte Presseberichte sind ein wichtiger Quellenbestand zur Kontextualisierung und Einordnung der Aktenfunde. Als besonders ergiebig erwies sich dabei ein von der THA selbst angelegtes Medienarchiv, das auch systematisch Artikel zu Unternehmen gesammelt hat. Dem digitalen Fortschritt ist es zu verdanken, dass Tagesund Wochenzeitungen wie Der Spiegel, Die Zeit, Die Tageszeitung (taz), Neues Deutschland oder Handelsblatt ihre Pressearchive online und auf der Basis einer Schlagwortsuche zur Verfügung stellen. Diese oftmals sehr detailreichen Darstellungen werden ergänzt durch Pressesammlungen aus den Regional- und Lokalarchiven, welche die in Brandenburg auflagenstärksten Tageszeitungen wie die Lausitzer Rundschau, die Märkische Allgemeine bzw. die Märkische Oderzeitung und die Potsdamer Neuesten Nachrichten umfassen.76

Nicht zuletzt haben einige der handelnden Akteure durch Selbstzeugnisse die Arbeit der Treuhand reflektiert. Dies betrifft insbesondere Politiker und deren Arbeit in der Landesregierung sowie beim Aufbau der Verwaltungsstrukturen, aber auch ehemalige Kombinats- bzw. Betriebsdirektoren.77

Eine besondere Quelle stellt das Tagebuch des ehemaligen THA-Vorstandes und Wirtschaftsministers in Sachsen-Anhalt Klaus Schucht dar. Schucht, der in der Treuhand für die Privatisierung der Bereiche Energie, Bergbau und Chemie zuständig war, hinterließ auf 1238 Seiten detaillierte Schilderungen von internen Abläufen und Verhandlungen mit potenziellen Investoren im Zeitraum seiner THA-Tätigkeit von April 1991 bis Ende 1994. Für das Land Brandenburg ergeben sich aus den Darstellungen zahlreiche Hintergrundinformationen zur Privatisierung der Chemiefaser- und Reifenindustrie sowie zu den langwierigen Verhandlungen über die Zukunft der Lausitzer Braunkohleförderung. Das Tagebuch Klaus Schuchts, dessen Entstehungsgeschichte bis heute allerdings nach wie vor nicht eindeutig nachvollzogen werden konnte, ist im Bundesarchiv Koblenz in zwölf Bänden überliefert.78

In den vergangenen Jahren hat sich die Zeitgeschichte verstärkt der Transformationsforschung zugewandt. Allerdings ist ihr im Verhältnis zu anderen Wissenschaften aufgrund der schwächer ausgeprägten Tendenz zur Quantifizierung bisher gelegentlich unterstellt worden, mehr der »Horizonterweiterung« zu dienen, als eine eigenständige Disziplin darzustellen.79 Auf der Grundlage zugänglicher Daten von Statistikämtern, durch Untersuchungen wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute sowie auch der Veröffentlichungen der THA bestehen neue Möglichkeiten zur zeithistorischen Untersuchung der wirtschaftlichen Transformation Ostdeutschlands. Indem Resultate und Materialien von sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Studien einbezogen und im geschichtlichen Kontext verortet werden, ergeben sich dadurch Chancen, quantitative Befunde als einen empirischen Rohbau zu nutzen und diesen historisch »auszubauen«.80

Abschließend bietet auch die Oral History, subjektive Erinnerungszeugnisse in Form von Interviews, die Möglichkeit, Fragen der Zusammenarbeit zwischen der THA und brandenburgischen Akteuren zu erörtern. Als Gesprächspartner für die Interviews dienten ehemalige Akteure aus der Bundes- und Landesregierung, THA-Mitarbeiter, Wirtschaftsfunktionäre sowie Betriebsdirektoren, Belegschafts-, Gewerkschaftsvertreter und Bürgermeister. Die Einbindung dieser Protagonisten bzw. die Gegenüberstellung der unterschiedlichen Positionen soll einen tieferen Zugang zum Verständnis der maßgeblichen zeitgenössischen Auseinandersetzungen sowie ihrer Deutung bis in die Gegenwart bieten. Im Hinblick auf die Aussagekraft der Interviews blieb zugleich die Beschäftigung mit den schriftlich überlieferten Quellen zum Abgleich bzw. zum Aufdecken von Widersprüchen oder Auslassungen der grundlegende wissenschaftliche Ansatz der Arbeit.

Methodik und Aufbau der Arbeit

Die Transformationsforschung hat im Hinblick auf die zur THA noch zu leistenden und zu erwartenden Forschungsbeiträge eine Analyse ihrer Zwangslagen und Handlungsspielräume bei der Privatisierung der volkseigenen Betriebe auf der Basis fundierter und quellengesättigter Studien eingefordert.81 Diese Aufgabe versucht die vorliegende Studie auf der Basis eines landesgeschichtlichen Ansatzes aufzugreifen. Im Sinne einer modernen (ostdeutschen) Regionalgeschichte erfolgt dabei ein komparativer Blick über die territorial-administrativen Beschränkungen der brandenburgischen Landesgrenzen hinaus auf politik-, wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Fragestellungen, die auch die benachbarten Bundesländer betreffen. Landesgeschichte wird hierbei als Synthese bei gleichzeitiger Integration der Erträge der Regionalgeschichte begriffen.82 Nicht zuletzt aus einer sozialgeografischen Perspektive ergibt sich für Brandenburg unweigerlich eine Wahrnehmung von zentralen und peripheren Regionen in jeweiliger Abhängigkeit bzw. Entfernung zu Berlin, aus der sich handlungsbestimmende Verhaltensweisen ableiten lassen.83 Mit dem »Brandenburger Weg« findet sich zudem eine Art »mental map«, deren Inhalt und Deutung es zu hinterfragen gilt.84 Überhaupt ist es eine Aufgabe der Arbeit, nach »Konzepten raumbezogener Kommunikation« in Brandenburg zu suchen, also zum Beispiel nach einem besonderen Umgang zwischen THA und Landesregierung bzw. den Unternehmen, der sich von dem in anderen Bundesländern unterscheidet.85 Nicht zuletzt resultiert der landesgeschichtliche Ansatz auch aus den archivalisch abgegrenzten Forschungszugängen, die das »Land Brandenburg« als eigenes Forschungsobjekt ermöglichen – und dieses damit sowohl einordnen als auch abgrenzen.

Der Untersuchungszeitraum der Studie umfasst im Kern etwa zehn Jahre, wobei der Schwerpunkt auf der ersten Hälfte der 1990er-Jahre liegt. Die Reformen der Modrow-Regierung hatten im Frühjahr 1990 zur Gründung der THA geführt. Die Privatisierungsprozesse in der Brandenburger Industrie endeten jedoch keineswegs mit dem offiziell zum Jahresende 1994 verkündeten Ende der Institution Treuhandanstalt. Deren Nachfolgeeinrichtung, die Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben (BvS), sah sich wiederholt mit der Rückabwicklung von Kaufverträgen und erneuten Privatisierungsverhandlungen konfrontiert. Verfahren der Europäischen Union zu möglicherweise unzulässigen Beihilfen dauerten zudem ebenso bis Ende 1990er-Jahre an wie die Umsetzung von Modernisierungskonzepten, die unter anderem den Aufbau neuer Werksanlagen umfassten. Abgesehen davon zeigte sich, dass anscheinend zunächst erfolgreiche Privatisierungskonzepte durch veränderte Wettbewerbsbedingungen in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre infrage gestellt wurden. Andererseits wurden auch Standorte noch vor der Jahrtausendwende wiederbelebt, nachdem sie sich zuvor in einem permanenten Modus des Arbeitsplatzabbaus und der Krisenbewältigung befunden hatten. Mit der Fokussierung auf den Zeitraum von 1990 bis 2000 wird diesen Umständen Rechnung getragen, wobei auch die Entstehungsgeschichte der Industriestandorte vor 1989 sowie die Entwicklungen der Betriebe bis in die jüngste Zeit Eingang in die Darstellung finden.

Als zentraler empirischer Untersuchungsgegenstand fungieren die strukturbestimmenden Industriebetriebe Brandenburgs. Deren Relevanz ergab sich aus den durch die Staats- und Parteiführung der DDR forcierten betrieblichen Konzentrationsprozessen im verarbeitenden Gewerbe, die durch die Kombinatsbildung seit den 1970er-Jahren noch verstärkt wurden.86 Im Jahr 1988 arbeiteten in der DDR 3,2 Millionen Industriebeschäftigte in 3408 Betrieben. Drei Viertel aller Industriebeschäftigten arbeiteten in Betrieben mit über 1000 Mitarbeitern.87 Der sozialistische Großbetrieb war also die Regel und nicht die Ausnahme.

Zu klären ist dabei, inwiefern die betrieblichen Strukturen vor 1989 mit dem gängigen Deindustrialisierungsnarrativ in Ostdeutschland nach der Wiedervereinigung übereinstimmten?88 Dies bezieht sich insbesondere auf den Anteil der tatsächlich in der Produktion tätigen Beschäftigten. Der sozialistische Betrieb sollte nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine soziale sowie auch eine politisch-ideologische Einheit bilden.89 Neben den eigentlichen Produktionsstätten waren daher Kulturhäuser, Sportstätten, Ferienheime, Kindergärten und Berufsschulen den Betrieben angegliedert. Die dafür benötigten Arbeitskräfte waren damit Teil der Gesamtbelegschaft der industriellen Großbetriebe. Diese prägten nicht nur die regionale und sektorale Wirtschaftsstruktur der DDR, sondern übernahmen auch Aufgaben, die im politisch-administrativen System der Bundesrepublik der kommunalen Selbstverwaltung zugeordnet waren bzw. mit der Wiedervereinigung dieser zugeordnet werden mussten.

Abbildung 1:

Lage der zu untersuchenden Brandenburger Industriestandorte

90

Die strukturbestimmende und damit überragende regionalpolitische Funktion der Großbetriebe hatte auch Auswirkungen auf die mediale Berichterstattung der frühen 1990er-Jahre in Brandenburg, in deren Zentrum immer wieder die schwierige wirtschaftliche Situation der beschäftigungsintensiven Unternehmen stand. Zu untersuchen ist dabei, inwieweit sozioökonomische Entwicklungen der 1990er-Jahre in den ostdeutschen Ländern schon durch soziale Ordnungen in der späten DDR vorgeformt waren, da sich mit der Betrachtung des Davor und Danach neben den Brüchen auch mögliche Kontinuitäten über 1989/90 hinweg beobachten lassen können.91 Dieser Logik folgt der Aufbau der Arbeit.

Im ersten Kapitel werden die wesentlichen Entwicklungen des verarbeitenden Gewerbes und ihre Wechselwirkungen mit dem Ausgangspunkt der dynamischen Entwicklung der Stadt Berlin seit dem 19. Jahrhundert nachgezeichnet. Dabei werden sowohl historisch gewachsene als auch mehr oder weniger künstlich bis 1945 entstandene Strukturen Brandenburgs in den Blick genommen, welche die Wirtschaftsgeografie des Landes nachhaltig prägten. Daran anknüpfend wird der Zeitraum zwischen 1945 und 1989 betrachtet. Die Wirtschaftspolitik der SED war nach den Demontagen durch die sowjetische Besatzungsmacht zunächst auf eine Wiederherstellung bestehender Strukturen ausgelegt. Mit dem Beschluss zum Aufbau einer Schwerindustrie und dem Entstehen eines Eisenhüttenkombinats Ost (EKO) an der Oder begann die Phase industrieller Neuansiedlungen. Bis in die 1970er-Jahre profitierte Brandenburg schließlich stärker als alle anderen Teile der DDR von der zentralisierten sektoralen und regionalen Strukturpolitik der DDR, die auf den Ausgleich von Disparitäten angelegt war und die eine Reihe von Neuansiedlungen von Großbetrieben bedeutete. In der Folge entstand auch aufgrund der Deutschen Teilung und der Abtrennung West-Berlins eine wenig ausdifferenzierte regionalwirtschaftliche Struktur, die die Ausgangssituation für die ökonomische Transformation Brandenburgs nach 1989 bildete. Aus der Darstellung dieser Prozesse ergibt sich eine Vergleichsfolie für die weitere Entwicklung Brandenburgs bzw. der ostdeutschen Länder nach 1990. Zugleich sollen so Wechselwirkungen zwischen den Transformations- und Umbruchsprozessen ostdeutscher Unternehmen im 20. Jahrhundert nachvollzogen und verdeutlicht werden.92

Das zweite Kapitel widmet sich den Akteuren der sozioökonomischen Transformation. Dabei geht es zunächst um die Umwandlung der Bezirksstrukturen 1990 sowie um die Herausbildung der Landes- und der kommunalen Selbstverwaltung nach westdeutschem Muster. Innerhalb der administrativen Strukturen der neuen Länder stellt sich dabei die Frage nach der Bedeutung des Elitenwechsels, der einerseits das Fortwirken von Netzwerken über den Systembruch hinweg in den Blick nimmt, zugleich aber auch nach mentalitätsspezifischen Aspekten und Problemen des Zuzuges westdeutscher Verwaltungsbeamter fragt. Dies betrifft auch Austauschprozesse innerhalb der Wirtschaftselite und deren Auswirkungen auf die Privatisierungsanstrengungen Brandenburger Betriebe.93 Damit verbunden ist die Darstellung des Aufbaus der Landesverwaltung und der wirtschaftspolitischen Institutionen unter der Regierung Stolpe sowie der politischen Agenda der Landesregierung im Hinblick auf die Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und Finanzpolitik. Ebenfalls Gegenstand dieses Kapitels ist die Genese der Institution THA und ihre Tätigkeit im Land Brandenburg. Die Ende 1990 / Anfang 1991 entstandenen administrativen und institutionellen Einrichtungen auf THA-Seite werden ebenso in den Blick genommen wie Fachressorts, Zuständigkeiten und Gremien der Landesregierung, die für die Kooperation beider Akteure von zentraler Bedeutung waren. Von enormer Bedeutung für die Privatisierung der Brandenburger Industriebetriebe waren die THA-Niederlassungen in den ehemaligen Bezirksstädten Cottbus, Frankfurt (Oder) und Potsdam, die in einem dritten Abschnitt thematisiert werden. Die organisatorische und personelle Zusammensetzung sowie die öffentliche Wahrnehmung der Brandenburger THA-Niederlassungen und deren interne Kontrolle durch die Zentrale sind bisher weitgehend unerforscht und bedürfen für das Verständnis der Treuhand auf Landesebene daher einer tiefergehenden Analyse.

Mit dem dritten Kapitel beginnt mit der Betrachtung der Umwandlung und Privatisierung großer, ehemaliger volkseigener Betriebe die eigentliche empirische Analyse der handelnden Akteure. Aufgrund ihrer besonderen Bedeutung für die regionale Wirtschaftsstruktur werden exemplarisch zwei Branchen analysiert. Mit etwa 77.000 Beschäftigten bildete die in der Lausitz angesiedelte Braunkohleindustrie den beschäftigungsintensivsten Wirtschaftszweig Brandenburgs, der durch die Autarkiebestrebungen der DDR rasant gewachsen war. Die THA stand vor der schwierigen Aufgabe, die beiden großen Betriebe der Braunkohleförderung und -verarbeitung, die Lausitzer Braunkohle AG und die Energiewerke Schwarze Pumpe AG, aufgrund des rasch zurückgehenden Bedarfs an Braunkohleerzeugnissen in Ostdeutschland in zukunftsfähige Strukturen zu überführen und zugleich die bis 1989 massiv vernachlässigte Sanierung der ökologischen Folgeschäden des Bergbaus in die Wege zu leiten.

In ähnlicher Weise wie in der Braunkohle war auch die Struktur der Stahlindustrie in Brandenburg geprägt durch die Erfordernisse eines abgetrennten und auf den RGW ausgerichteten Wirtschaftsraumes. Während in Westeuropa seit den 1970er-Jahren anhaltende Überkapazitäten für einen verschärften Wettbewerb insbesondere auf dem bundesdeutschen Markt sorgten, wuchs die Stahlproduktion in der DDR bis 1989 kontinuierlich an. Mit der Wiedervereinigung stellte sich die Frage nach der Wettbewerbsfähigkeit und Existenzberechtigung der fünf Stahlstandorte in Brandenburg. Dies galt insbesondere für das EKO in Eisenhüttenstadt, mit 13.000 Beschäftigten wichtigster Arbeitgeber der peripher gelegenen Region. Das EKO war daher Gegenstand intensiver öffentlicher Debatten um die Aufgaben und die Verantwortung der THA im Hinblick auf strukturpolitische Grundsatzentscheidungen.

Eine weniger systematische als stärker die einzelnen Akteure in den Blick nehmende Darstellung der Privatisierung strukturbestimmender Industriebetriebe ist Gegenstand des vierten Kapitels. Anhand von Unternehmen aus unterschiedlichen Branchen sollen Einflussmöglichkeiten politischer oder betrieblicher Akteure beleuchtet werden. Dazu zählen das Trabantenfeld der Treuhandanstalt, zu dem der sogenannte Leitungsausschuss und Unternehmensberatungen gehörten, wie auch westdeutsche Privatisierungsakteure, zu denen die Käuferbetriebe oder die mit der Abwicklung von THA-Betrieben beauftragten Liquidatoren zählten.

Die akteurszentrierte Perspektive wird jeweils in die Darstellung der Privatisierungsverläufe, wie unter anderem der Rathenower Optischen Werke, des Reifenwerkes Fürstenwalde oder des Chemiefaserbetriebes Premnitz, einbezogen. Mit der Privatisierung der Geräte- und Regler-Werke in Teltow wird zudem der erste medial stark rezipierte »Skandalfall« der THA analysiert, der vor dem Hintergrund von Insidergeschäften und Falschbewertungen letztlich dazu führte, dass sich die THA gezwungen sah, ihre eigene Revisionsabteilung erheblich auszubauen. Am Beispiel des Halbleiterwerks Frankfurt (Oder) soll die Auseinandersetzung zwischen der THA und Brandenburg über Landesbeteiligungen an einem hochgradig defizitären Unternehmen mit geringen Privatisierungsaussichten nachvollzogen werden.

Die Darstellung der Entwicklung von insgesamt zehn strukturbestimmenden Betrieben mit jeweils mehreren Tausend Beschäftigten soll schließlich aussagekräftige Rückschlüsse auf generelle Privatisierungsstrategien der THA, Veränderungen der betrieblichen Strukturen im Rahmen des Transformationsprozesses sowie die Auswirkungen für die Industriestruktur des Landes Brandenburgs erlauben. Bei der Auswahl der einzelnen Perspektiven bzw. ihrer Nichtberücksichtigung wurde zudem auf aktuelle Forschungsprojekte Rücksicht genommen, die sich schwerpunktmäßig mit weiteren Akteuren der Transformation auseinandersetzen.94

Das fünfte Kapitel wagt schließlich den Blick auf die Meso- und Mikroebene der sozioökonomischen Transformation. Am Beispiel der Stadt Eberswalde, die Ende 1989 durch zahlreiche Betriebe des verarbeitenden Gewerbes geprägt war, werden Veränderungsprozesse auf kommunaler Ebene nachvollzogen. Mit der industriellen Schweinefleischproduktion und dem Kranbaubetrieb werden zwei wichtige Unternehmen hinsichtlich ihrer Privatisierungsverläufe in den Blick genommen. Zur Erweiterung der Perspektive jenseits der Großbetriebe werden in einem zweiten Abschnitt auch kleinere Privatisierungen volkseigener Betriebe des Handels sowie der Chemie-, Metall- und Papierindustrie dargestellt. Anhand der Beispiele sollen generelle Herausforderungen wie die Probleme innerstädtischer Industrieanlagen ostdeutscher Betriebsleitungen oder den wirtschaftlichen Verflechtungen mit den sowjetischen Besatzungstruppen dargestellt werden.

Die Rahmenbedingungen, die Begleitung sowie die Auswirkungen der sozioökonomischen Transformation sind Gegenstand des dritten Abschnitts. Neben der Frage nach der Kontinuität betrieblicher Eliten in einem neuen politischen Umfeld zählt dazu auch der Umgang mit der Treuhandanstalt in der Lokalpolitik. Ein wesentlicher Schwerpunkt der Arbeit von städtischen Entscheidungsträgern betraf den Umgang mit den drängenden sozialen Fragen, die sich aus den Entlassungen der THA-Beschäftigten ergaben. Darüber hinaus prägten Proteste und ungeklärte Eigentumsfragen gleichermaßen die Arbeit der THA wie des Verwaltungsapparates vor Ort. Welche Strategien zum Umbau der Wirtschaftsordnung auf Mikroebene gewählt wurden und welche Auswirkungen diese hatten, soll zudem exemplarisch am Aufbau eines Gewerbeparks nachgezeichnet werden.

Ziel dieses Kapitels ist es damit, die kommunalen Handlungsspielräume zur Lösung ökonomischer Probleme zu erörtern. Ein Erkenntnisinteresse ergibt sich aus der Frage, welchen Aktionsradius die THA überhaupt vor Ort hatte, außerdem, wie sich die Kommunikation zwischen Stadt, THA und Landesregierung gestaltete. Zudem sollen verstärkt die Folgen und Wechselwirkungen der THA-Tätigkeit beschrieben werden. Das betrifft unter anderem die Flächen- und Ansiedlungspolitik von THA, Kommunen und Landesregierung ebenso wie Probleme der Vermögenszuordnungen, aber auch arbeitsmarkt- und strukturpolitische Maßnahmen, um dem rasanten Beschäftigungsabbau entgegenzuwirken.

Das zusammenfassende sechste Kapitel greift die in den vorangehenden Abschnitten dargestellten Befunde auf und kontextualisiert diese. Auf der Basis eines Vergleichs wesentlicher sozioökonomischer Parameter wird die Frage nach einem spezifischen Brandenburger Weg im Zuge des Übergangs von der Plan- in die Marktwirtschaft in Ostdeutschland beantwortet. Schnitt Brandenburg in Relation zu den anderen neuen Bundesländern besser oder schlechter ab und wie sehr waren die Transformationsergebnisse überhaupt von landesspezifischen Schwerpunkten in der Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik abhängig?

In einem zweiten Teil werden die Besonderheiten des Brandenburger Transformationsprozesses charakterisiert. Mit Blick auf die Stellung der THA und ihr Verhältnis zur Brandenburger Landesregierung soll die Frage geklärt werden, ob es sich bei der Treuhand wirklich um eine Art »Nebenregierung Ost« handelte oder jene vielmehr als strukturpolitischer Akteur »wider Willen« agierte.95 Darüber hinaus sollen die Auswirkungen der THA-Tätigkeit auf die Wirtschaftsstruktur Brandenburgs eingeordnet und Anregungen für weitere Forschungsansätze gegeben werden.