Die Tuttiperspektive - Julian Ehrhorn - E-Book

Die Tuttiperspektive E-Book

Julian Ehrhorn

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Beschreibung

Der ERSTE ABSCHNITT (Feuilleton) der Abhandlung lenkt den Blick auf die Rolle von großen Orchesterinstitutionen im Kulturleben moderner Gesellschaften. Das Berufsbild von Instrumentalisten und Dirigenten wird beleuchtet, ebenso ihr professionelles Milieu im Allgemeinen. Darüber hinaus wird darüber spekuliert, aus welchen Wahrnehmungsfacetten sich das Kunsterlebnis empfindsamer Beobachter und Hörer von Konzerten bzw. musikalischen Videoproduktionen zusammensetzen kann. Der ZWEITE ABSCHNITT (Praktischer Teil) entwickelt sich an der Frage, wie ein Dirigent agieren sollte, um in Orchesterproben effizient musikalisches Repertoire zu erarbeiten und in Konzerten würdig und ›nach allen Regeln der Kunst‹ aufzuführen. Knapp hundert erlebte Situationen aus dem Orchesteralltag werden erzählt und kommentiert. Die Darstellung vollzieht sich aus der Sicht eines Orchestermusikers, - eine ungewöhnliche Perspektive, da die meisten verfügbaren Essays und Unterrichtswerke über das Dirigentenhandwerk aus der Feder von Dirigenten stammen. Zu den musikalisch-technischen Parametern werden zusätzlich noch die Erfahrungen des Autors mit der Alexandertechnik eingearbeitet. Die Alexandertechnik widmet sich nach einer möglichen Kurzdefinition der Verfeinerung der geistigen Kontrolle über motorische Funktionen in körperbetonten Lern-, Arbeits- und Kommunikationsprozessen. Eine allgemeine Einführung in die Alexandertechnik und eine konkrete Anleitung zur Beiziehung des »elektronischen Alexandertechnik-Coachs zum Selberbasteln« zur Überoutine von Musikern bilden einen Unterabschnitt dieses praktischen Teils. Neben den Aspekten der rein künstlerischen Tätigkeit werden der Vollständigkeit halber auch noch ein paar Aspekte der institutionellen Führungsverantwortung des Dirigenten abgehandelt. Der DRITTE ABSCHNITT fasst die Schlussfolgerungen des zweiten nochmal handbuchmäßig in 155 »Empfehlungen aus dem Tutti für die Ausübung des Dirigentenberufs« zusammen.

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Ehrhorn – Die Tuttiperspektive

Julian Ehrhorn

DIE TUTTIPERSPEKTIVE

Was Orchestermusikervom Dirigenten brauchen

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

978-3-95983-557-2 (Paperback)978-3-95983-558-9 (Hardcover) 978-3-95983-572-5 (e-Book)

© 2018 Schott Music GmbH &Co. KG, Mainz

www.schott-buch.com

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck in jeder Form sowie die Wiedergabe durch Fernsehen, Rundfunk, Film, Bild- und Tonträger oder Benutzung für Vorträge, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlags.

Umschlagfoto: Julian Ehrhorn

INHALT

VORBEMERKUNGEN

Über dieses Buch

Über den Autor

Vorbemerkung zur Schreibweise »Dirigent« (m)

Positionsbestimmung

Einleitung

ERSTER ABSCHNITT – FEUILLETON

Eine komplette Gesellschaft in Miniaturformat

Spielerische Welteröffnung – menschliche Wahrheiten auf einer abstrakten Ebene

Synergie

Künstlertum

Schöpfer und Nachschöpfer

Video

Persönliche und gesellschaftliche Integration

Druck

Dampf ablassen

Nebenbeschäftigungen

Erfahrung

Institutionalität

Der Konzertgänger

Anziehung

Die Leitfigur

Unterströmungen

Ein Dirigent sollte haben:

ZWEITER ABSCHNITT – PRAKTISCHER TEIL

(Faktoren, Situationen, Fallstudien)

ALLGEMEINES

Dirigent und Orchester

Geheimnis

Psychologische Abhängigkeiten

Starke Lebenserfahrung

Instrumentalspielerfahrung

Konstitutionstypen

Spirituelle und leibliche Präsenz

Mit oder ohne Stab?

Im Sitzen oder im Stehen?

Mit Partitur oder auswendig?

Kleidung

PROBEN (I)

Erster Kontakt

Analyse

Die typischen Laster eines Orchesters

Arbeiten gegen eingefahrene Gewohnheiten

Abkürzungen

Hören

Klang

Tempo

Rhythmus

Agogik

Dynamik

Intonation

Balance

Körpersprache/ Gestik/ Schlagtechniken/ Verlautbarungen

Innere Ausrichtung

Nochmals: Sitzen oder Stehen?

Beidhändig, links-/rechtshändig

Aufgabenverteilung auf beide Hände, Arme, Kopf, Körper

Unorthodoxe Zeichensprache

Einsatz und Zählzeit

Auftakt

Bewegungsqualität

Bewegungslogik

Konventioneller Taktschlag

Bewegungsamplitude

Wechsel der Schlageinheit

Abschlagen

Phrasierungsbögen

›Falsches‹ Vorwegschlagen

Antreiben

Reden

Singen

Deklamieren

Skandieren von Zählzeiten oder Unterteilungen

INTERMEZZO I

Über das Hinterherspielen

Anhang: Über das Hinterherdirigieren

PROBEN (II)

Wenn alles verloren scheint

Probenplan

Hörbeispiele auf Tonträgern

Erste Probenlektüre

Registerproben

Üben von Passagen

Chronologisches Arbeiten

Große Zusammenhänge

Wiederholungen

Verdeckte Korrekturen

Vermeidung von überflüssigem Verdruss

Nochmal Dynamik

Nochmal Intonation

Nochmal Rhythmus

Unkontrolliertes Rasen

INTERMEZZO II

Harte oder sanfte Autorität?

PROBEN (III)

Hartnäckiges Schleppen

Ansagen über ›Makro‹-Verläufe

Ansagen von Details

Schwerpunktunterteilungen in asymmetrischen Takten

Taktübergänge

Phrasierungen

Zuweisende Gesten bei Anrede

Eintragungen in die Einzelstimmen

Divisi

Texttreue

Allgemeine Gestimmtheit

Disziplin

Der Konzertmeister

Strichbezeichnungen für Streichinstrumente

Zwischen Proben und Konzert

DAS KONZERT

Auftritt und Abgang

Die Aufführung

Blickkontakt

Obacht

Eingesprungen

EINIGE GENRES

Oper und Oratorium (Sängerbeteiligung)

Alte Musik

Kirchenmusik

Neue Musik

INSTITUTIONELLE VERANTWORTUNG

Programmgestaltung

Gesundheit am Arbeitsplatz

Gehörschutz für Orchestermusiker
Architektonische Anpassung der Arbeitsräume
Arbeitsorganisation
Arbeitspraxis
Technische Hilfsmittel
Maßnahmen der Arbeitsmedizin
Allgemeine räumliche Gegebenheiten
Orchesteraufbau
Störungsbeseitigung
Tourneen

Politischer Einsatz in der Institution

Verantwortung verpflichtet
Die ›Untergebenen‹

AN SICH SELBST ARBEITEN IM BÜHNENBERUF

Beispiel: Alexandertechnik

Alexandertechnikunterricht

Der elektronische Alexandertechnik-Coach

DRITTER ABSCHNITT

155 Empfehlungen aus dem tutti für die Ausübung des Dirigentenberufs

Allgemeine Einstellung

Konstitution und psycho-physische Hygiene

Kontakt aufnehmen und Führen

Komplementäre Fähigkeiten

Vorbereitung mit der Partitur

Sitzen, Stehen, Haltung, Mienen, Körpersprache

Schlagtechniken, Zeichensprache

Reden, Deklamieren, Skandieren, Singen

Das Probeneinmaleins

Die typischen Laster eines Orchesters

Einiges zu Konzert und Interpretation

Ein paar Äußerlichkeiten

Umgangsformen

Institutionelle Verantwortung

QUELLENM

VORBEMERKUNGEN

Über dieses Buch:

Der ERSTE ABSCHNITT (Feuilleton) der Abhandlung lenkt den Blick auf die Rolle von großen Orchesterinstitutionen im Kulturleben moderner Gesellschaften. Das Berufsbild von Instrumentalisten und Dirigenten wird beleuchtet, ebenso ihr professionelles Milieu im Allgemeinen. Darüber hinaus wird darüber spekuliert, aus welchen Wahrnehmungsfacetten sich das Kunsterlebnis empfindsamer Beobachter und Hörer von Konzerten bzw. musikalischen Videoproduktionen zusammensetzen kann.

Der ZWEITE ABSCHNITT (Praktischer Teil) entwickelt sich an der Frage, wie ein Dirigent agieren sollte, um in effizient musikalisches Repertoire zu erarbeiten und in Konzerten würdig und ›nach allen Regeln der Kunst‹ aufzuführen.

Knapp hundert erlebte Situationen aus dem Orchesteralltag werden erzählt und kommentiert. Die Darstellung vollzieht sich aus der Sicht eines Orchestermusikers, – eine ungewöhnliche Perspektive, da die meisten verfügbaren Essays und Unterrichtswerke über das Dirigentenhandwerk aus der Feder von Dirigenten stammen.

Zu den musikalisch-technischen Parametern werden zusätzlich noch die Erfahrungen des Autors mit der Alexandertechnik eingearbeitet. Die Alexandertechnik widmet sich nach einer möglichen Kurzdefinition der Verfeinerung der geistigen Kontrolle über motorische Funktionen in körperbetonten Lern-, Arbeits- und Kommunikationsprozessen und ist heutzutage in vielen Ländern als pädagogisches Verfahren in Ausbildungsstätten für Bühnenberufe eingeführt.

Eine allgemeine Einführung in die Alexandertechnik und eine konkrete Anleitung zur Beiziehung des »elektronischen Alexandertechnik-Coachszum Selberbasteln« zur Überoutine von Musikern bilden einen Unterabschnitt dieses praktischen Teils.

Neben den Aspekten der rein künstlerischen Tätigkeit werden der Vollständigkeit halber auch noch ein paar Aspekte der institutionellen Führungsverantwortung des Dirigenten abgehandelt.

Der DRITTE ABSCHNITT fasst die Schlussfolgerungen des zweiten nochmal handbuchmäßig in 155 »Empfehlungen aus demtuttifür die Ausübung des Dirigentenberufs« zusammen.

Über den Autor:

Der Autor, geboren 1963 in Braunschweig, ist Geiger und Lehrer der Alexandertechnik. Nach dem Violinstudium bei Nicolás Chumachenco an der Freiburger Musikhochschule und ersten Berufserfahrungen im Orchester des Freiburger Stadttheaters übersiedelte er nach Buenos Aires, wo er seit 1995 Mitglied der 1. Violinen des Staatlichen Sinfonieorchesters von Argentinien ist. Dort hat er auch weitreichende Teilhabe an Gewerkschaftsarbeit und kulturpolitischen Projekten seines Berufsfeldes.

Er ist Mitinhaber eines Patents auf einen höhen- und neigungsverstellbaren Stapelstuhl für Musiker und entwickelte das architektonische Design der Orchesterbühne des Großen Saals des Staatlichen Kulturzentrums von Argentinien in Buenos Aires (Centro Cultural Kirchner– CCK, Einweihung 2015).

Mit seiner ›doppelten Optik‹ des erfahrenen Orchestermusikers und Alexandertechniklehrers war er 2005 Gastdozent im VII. Internationalen Dirigierkurs der Universität von Concepción/Chile.

Vorbemerkung zur Schreibweise »Dirigent« (m):

Erfreulicherweise profilieren sich zunehmend Frauen im Dirigentenberuf, und man darf hoffen, dass es früher oder später zu völligem numerischem Ausgleich kommt. Die ständige WiederholungDirigentinnen und Dirigentenim Text wäre indessen doch recht holprig und auch die SchreibweiseDirigentInnenüberzeugt nicht vollständig. Eine konsequente Beschränkung auf das grammatischefemininumkam auch nicht in Frage, da es so wirken könnte, als ob nur Frauen in diesem Beruf Anlass hätten, an sich zu arbeiten. Dem Autor liegt jede Regung vonmachismofern. Die konservativ wirkende Sprachregelung möchte ausdrücklich als geschlechtsunspezifisch interpretiert werden. Das gleiche gilt natürlich für Begriffe wie Musiker, Blechbläser, Konzertmeister, etc.

Positionsbestimmung

Es sei darauf hingewiesen, dass der Autor kein Musikwissenschaftler, kein Philosoph, kein Psychologe, kein Soziologe und kein Historiker ist, sondern nur ein Orchestergeiger und Alexandertechniklehrer, der sich nebenher noch für Kulturangelegenheiten aller Art interessiert. Die Anschauungen können daher sehr persönlich erscheinen. Mancher Leser könnte eventuell wissenschaftliche Rigorosität vermissen. An ihre Stelle tritt praktische Unterrichts-, Proben- und Bühnenerfahrung, persönliche Wahrnehmung, Intuition, Gefühl, Jargon, Sprachexperiment und vielleicht noch die eine oder andere versuchsweise Begriffsanleihe aus ›strengeren‹ Denkwerkstätten.

Man kennt eine Auffassung, die da lautet: »Über Musik kann man nicht sprechen.«

Dem steht der überlieferte Ausspruch des Komponisten Jean Sibelius gegenüber: »Über Musik kann man am besten mit Bankdirektoren reden. Künstler reden ja nur über Geld.«

Der Autor hält es in diesem Falle mit den Bankdirektoren.

Einleitung

Der Kern eines persönlichen Kunsterlebnisses, das, was uns daran im Innersten anrührt, geht über alle Begriffe. Die zutiefst menschliche Bewandtnis, die es mit der Kunst bzw. der Musik hat, mag man immerhin festhalten. Staunen darüber ist immer eine angebrachte Reaktion, nicht nur über das so und so (vermutlich wundervolle) Gefügtsein des Werks und was es einem bedeuten mag, auch nicht nur über die Virtuosität eines vortragenden Musikers, sondern immer auch über das vom Kunstwerk eigentümlich begünstigte Gewahrwerden desDass-seins:dassdas Werk im Universum ist,dasses mich anrührt,dassjemand es mir oder uns vorträgt,dasswir alle im Universum sind,dassuns etwas verbindet,dassdas Ganze ein großes, ehrfurchtgebietendes Rätsel ist, und eben auch nochmals,dasswir darüber staunen können.

Man könnte noch viel über das Thema philosophieren, denn es ist von brennendem Interesse. Dieses Buch ist hingegen vor allem an der Praxis des Musikmachens orientiert. Es hält sich beschreibend und kommentierend meistens in jenem Bereich, in dem das Musizieren und Dirigieren von Ensembles gerade noch technisch beschrieben oder eingegrenzt werden kann, sozusagen als Kulturtechnik einer beschäftigten leiblichen Anwesenheit, als deren Resultat Musik erklingt. Es geht der Frage nach, welches die Mittel sind, durch die ein Dirigent zu einem großen musikalischen Kunstereignis am besten beitragen kann.

Der praktische Nutzen der Alexandertechnik, dessen Erörterung sich wie ein roter Faden durch die ganze Abhandlung zieht, möchte dabei so unesoterisch wie möglich verstanden werden, – die Technik selbst einfach als eine von vielen möglichen Methoden, an sich selbst zu arbeiten, wobei diese spezifische Methode vor allem gegen die Macht der Gewohnheit im Denken, Fühlen und Handeln eingesetzt werden kann.

ERSTER ABSCHNITT – FEUILLETON

Eine komplette Gesellschaft in Miniaturformat

Ein großes Orchester versammelt alle menschlichen Charaktertypen. Es ist eine schöne Maxime der anthroposophischen Pädagogik, dass alle jungen Menschen ab dem 9. Lebensjahr ein Musikinstrument spielen lernen sollten. Die Entwicklung der Persönlichkeit werde ideal gefördert, wenn das Individuum das zu ihm passende Instrument finde und daran wachse.

Auf dem Orchesterpodium versammeln sich die Spielteilnehmer. Spieler einer Instrumentengattung formen jeweils die sogenannten Instrumentenfamilien. Die Gesamtheit der Familien stellt dabei symbolhaft ein Modell menschlicher Gesellschaft auf. Zunächst formlos, unter Begrüßungen und Geplauder, richtet diese sich im Raum ein, wobei bereits die Sinnhaftigkeit einer höheren Ordnung sichtbar wird (mehr oder weniger halbkreisförmig in mehreren Reihen, bezogen auf einen Mittelpunkt).

Sodann stimmt sie sich am allgemeinverbindlichen Kammerton auf kommende Aufgaben ein. Was dieser Gesellschaft daraufhin vollen Zusammenhalt, scharf umrissene Identität und kraftvolle Ausstrahlung gibt, ist ihre Zusammenarbeit an einem gemeinsamen Projekt: der Entfaltung eines musikalischen Kunstwerks, eines in Echtzeit erlebten und sehr vitalen Symbols einer gemeinsam bewohnten und gestalteten Welt.

Obwohl im Orchester beim Spielen ab und zu einzelne Persönlichkeiten mit ihren Aktionen hervortreten, sucht man doch die Homogenität. Das korporative Element, der Klang und die Wesenszüge des Orchesters, sind wichtiger als Individualleistungen, obwohl es interne Hierarchien gibt, die ungefähr mit dem Protagonismus einzelner Stimmführungen zusammenfallen. Die klingenden Hervorbringungen der Gemeinschaft sind dementsprechend eher als Geschehnisse zu bezeichnen denn als Taten. Das gleiche gilt für ihre Reaktionen auf einen Dirigenten.

Der Dirigent steht dem Kollektiv als Einzelpersönlichkeit gegenüber. Er symbolisiert Regentschaft im weitesten Sinne. Orchesterkultur wurde in allen bekannten Gesellschaftsformen seit der Renaissance gepflegt. Im Laufe dieser Geschichte haben Orchesterdirigenten ihre Amtsbrüder der politischen Parallelwelt in allen Variationen nachgeahmt und dabei außerdem die ganze Palette vom Lächerlichen bis zum Großartigen durchgespielt: Sie waren Despoten oder regierende Exekutive. Sie wurden eingesetzt oder gewählt. Sie stützten sich auf ihre institutionelle Macht oder überzeugten durch Führungsqualität. Sie wurden von ›ihren‹ Musikern gehasst bis geliebt. Sie klammerten sich an ihren Thron oder wurden bestätigt. Sie waren »sitzende Staffage« oderprimi inter pares. Sie wurden entlassen oder gingen freiwillig. Heutzutage wird das Verhältnis »in beiderseitigem Einvernehmen« aufgelöst oder fortgeführt.

Der musikalische Solist ist in gesellschaftlicher Hinsicht einfacher verfasst: er ist Publikumsliebling oder er verschwindet bald von der Bildfläche. Er taugt eher zum Idol als der Dirigent, der seinerseits unfreiwillig hier und da das heimliche Idol von Menschen abgeben mag, die auch gerne Chef sein würden oder sogar sind. Der Solist symbolisiert den Ausnahmemenschen, Helden, Selbstüberwinder. In ihm ist der Individualitätskult auf die Spitze getrieben. Sein Versagen in Aktion wird sofort offenkundig. Auf der Bühne steht er am passendsten ein wenig außen vor. Wenn Dirigent und Solist ihr Handwerk beherrschen, gibt der Dirigent dem Solisten nach, vermittelt ihn dem Orchester.

Spielerische Welteröffnung – menschliche Wahrheiten auf einer abstrakten Ebene

Die Orchesterbühne ist nichts anderes als »die Bretter, die die Welt bedeuten«. Friedrich Schillers poetische Umschreibung der Theaterbühne lässt sich noch problemlos auf die Opernbühne anwenden. Im Gegensatz zum theatralischen Werk lässt sich allerdings der Gegenstand absoluter Musik, der oft auf denselben Brettern vor demselben Publikum dargeboten wird, nicht ganz so leicht dingfest machen. Die musikalische Sprache ist zwar universell, aber abstrakt, bei aller affektiven Geladenheit und sinnlichen Eindrücklichkeit.

Die klingend erstehenden Welten wurden von Komponisten vorgedacht, ursprünglich hervorgebracht, manche denken: empfangen. So oder so wird das Werk Zeugnis seines Durchgangs durch die menschliche Psyche ablegen, und käme es noch als der kühlste Entwurf reiner Form daher. Bei der Wiedergabe wird es zusätzlich im Durchgang durch Psyche und Leiber der Interpreten menschlich angereichert, gleichsam auf Körpertemperatur gebracht, und auch der Eindruck beim Zuhörer ist nicht nur die Ankunft eines akustischen Signals, sondern ein seelischer und physiologischer Resonanzfall mit einem Schuss eigener Kreativität auf Seiten des Empfängers. Um menschliche Wahrheiten dreht es sich bei musikalischen Kunstwerken also unzweifelhaft, um musikalische Symbole von Menschenwelten und deren Wandlungen.

Synergie

Ein sinfonisches Konzert oder eine Opernaufführung ist eine erstaunliche Kulturleistung. Der ausführende Organismus kann Orchester, Chor, Solisten und einen Dirigenten umfassen; er bildet eine Art höchstentwickeltes Kollektivlebewesen. Die Zusammenarbeit seiner zuweilen weit über hundert Glieder ist in geglückten Momenten auf Bruchteile von Sekunden synchronisiert, im verbindlichen Tonsystem sauber intoniert, gemeinsam gefühlt und phrasiert, dabei kreiert im Fortlaufen der Zeit ohne rückwirkende Korrekturmöglichkeit.

Der erstaunlichste Effekt im Zusammenwirken dieser Glieder ist indessen, dass das Ganze dem Erlebenden mehr bedeuten kann als die Summe der Einzelbeiträge. Man verwendet in diesem Zusammenhang das Wort Synergie. Auch Dirigenten und Solisten haben nur Teil daran. Synergie hat kein Zentrum. Ihr Schauplatz ist die gesamte Ausdehnung des gemeinsam bewohnten Raums. Sogar die Akustik und Architektur dieses Raums und die Qualität der Instrumente spielen eine nicht unwichtige Rolle.

Der offensichtlichste synergetische Effekt ist dieser: aus Vielen wird Eins und das Eine evoziert wiederum seine kommunitäre Bewandtnis. Das ist in diesem Falle gattungsbedingt. Wie schon weiter oben angesprochen, hat auch noch der Zuhörer, bei dem sich das Erlebnis einstellt, in seinem Innersten kreativ-unschuldig teil an der Bedeutungsschöpfung – übrigens vielleicht besonders dann, wenn die Qualität der Darbietung einige Mängel aufweist.

Einen weiteren Effekt kann man nicht erzwingen, weder mit absichtsvollen Gesten des Taktstocks noch mit gutem Willen oder starkem Affekt aller Beteiligten. Wir sprechen von den ersehnten Momenten des Spiels, in denen sich aus dem Zusammenfluss günstig ausgerichteter einzelner Vitalitäten und aus dem erklingenden Werk heraus eine Woge von Kraft und Kohärenz aufbaut, auf deren Kamm die Ausführenden gemeinsam in Richtung Publikum fortgespült werden. Das vielbeschworeneMusikeregoder beteiligten Individuen verschwindet dann gänzlich. Es ist einem, als ob die Musik sich selber spiele. Alles glückt. Und nochmals sei bemerkt, dass ein empathisch mitgehendes Publikum geheimnisvoll mitwirkt. Es gibt eine vergleichbare Erfahrung in der Konversation, wenn die Eloquenz des Redners sich durch das Licht des Verstehens im Gesichtsausdruck seines Gegenübers erwärmt und verflüssigt.

Wenn Wollen und Können nicht der tiefste Ursprung des Phänomens von Synergie sind, dann muss es wohl das Leben selbst sein, das sich hier seinen Weg in den bedeutsamen Ausdruck bahnt. Der teilnehmenden Existenz gehen Ahnungen von möglicher mystischer Einheit unter den Menschen und von gemeinsamer Schöpfung aus den Tiefen des Unbenennbaren auf.

Künstlertum

Vortragskünstler wissen, dass die größte Herausforderung an ihre Person darin besteht, im Moment der Wahrheit psycho-physische Bedingungen bereitzustellen, die ermöglichen, dass jenes Unerzwingbare durch sie hindurch geschehen könne.

Das Publikum macht sich sicherlich nicht immer einen Begriff vom Grad der Selbstzucht, der sich ein angehender oder ausübender Berufsmusiker dafür unterwirft. Dennoch scheint eine allgemein menschliche Auffassungsgabe, die nicht nur Musikliebhabern vorbehalten ist, den künstlerischen Rang eines Werkes oder eines Interpreten erspüren zu können. Man weiß bald, bei wem man mit ausreichender Wahrscheinlichkeit mit großen Ereignissen rechnen kann und setzt sich gerne zu Füßen der Meister.

Blender haben hier nichts verloren. Ein Musiker, der eine Stellung bekleidet, die ihm nicht zukommt oder der sonstwie über längere Zeit nicht auf der Höhe der Umstände ist, bezahlt früher oder später mit seinem inneren Frieden und seiner Gesundheit.

Schöpfer und Nachschöpfer

In Debatten zum Thema der allgemeinen Musikrezeption, die die Forschung über historische Aufführungspraktiken begleiteten, wurde darauf hingewiesen, dass bis zur frühen romantischen Epoche das künstlerische Hauptereignis durchaus in der Erscheinung eines neuen (zeitgenössischen) Werkes bestand. Zu Zeiten Bachs, Mozarts und Beethovens fielen die Rollen des Komponisten und Spielers der eigenen Musik noch weitgehend zusammen. Als Komponisten und Improvisatoren boten diese Meister zunächst das Bild geistiger Beherrscher eines musikalischen Ideenfelds. Das Werk und seine Neuheit wirkten horizonteröffnend und weltstiftend.

Erst durch den dann einsetzenden Historismus mit seiner Pflege eines Repertoires von häufig wiederkehrenden Werken vergangener Epochen hat sich dann das Publikumsinteresse zunehmend auf den Faktor der Interpretation gerichtet, worunter im besten Fall das vertiefte Interesse und Verständnis des erfahrenen Konzertbesuchers für das Wie der Ausführung, die Phrasierung, dietempi, den Schönklang, die geschmäcklerische Gestaltung und dergleichen zu verstehen war. Die populärere Variante war allzumal das Bestaunen der seit dem Spätromantizismus blühenden Virtuosenakrobatik.

Diese ist aber wiederum – durch die extreme Ausformung einer praktischen Geschicklichkeit – als besonderes Hervorkommen einer stark ausgereizten Leiblichkeit1des Spielers zu verstehen. Heute kann man durchaus behaupten, dass die Entfaltung der leiblichen Anwesenheit2eines musizierenden Künstlers quasi durch sich selbst bereits als Kunstereignis wahrgenommen wird, das seinen eigenen Wahrheitswert hat, und zwar beinahe unabhängig vom Werk, das der Spieler gerade interpretiert.

Man könnte weiter an dieser Schraube drehen und den musikalischen Vortrag gesondert als Kommunikationsgeschehen unter Einhaltung eines höchstentwickelten Leiblichkeitskultus unter die Lupe nehmen, dessen Reize ja übrigens auch visuell aufgefasst werden können.

Video

Ein Symptom für die Ausbeutung der Optiklastigkeit der Musikrezeption im Medienzeitalter ist der Umstand, dass heutzutage vor allem junge und hübsche Menschen als Solisten hervortreten, wohl weil sich ihre Kunst im Verein mit ihrer Ansehnlichkeit vorteilhafter vermarkten lässt.

Nun darf man annehmen, dass rein statistisch auf soundsoviele jugendliche, schöne und künstlerisch hervorragende Interpreten mindestens ebenso viele künstlerisch hervorragende Interpreten kommen, die nicht ganz so fotogen sind, und die auch irgendwo bleiben müssen. Manche von denen landen dann vielleicht im Orchester (genau genommen bleiben auch noch für die Orchester ein paar hervorragend tüchtige und hochansehnliche Instrumentalisten übrig).

Dem erfahrenen Konzertbesucher bzw. Konsumenten edierter Videoaufzeichnungen wird jedenfalls heutzutage von den besseren, mediengestählten Orchestern ein Spektakel geboten, an dem er sich kaum sattsehen kann: das sichtbare reine Aufgehen kollektiver leiblicher Agitation in musikalischen Geist, und dies in einer Qualität, die wirklich ins Auge springt. Man kann das Sehen dieses Phänomens natürlich eigens entwickeln. Möglicherweise sind es musizierende Dilettanten oder selbst Berufsmusiker, die diesem Anblick das größte Entzücken abgewinnen können. Nicht ausgeschlossen übrigens, dass einzelne Figuren unter den Instrumentalisten oder hervortretende Gruppen durch die scharf definierte Bindung ihrer Aktion an konkrete Instrumente als Anblick dem Dirigenten durchaus den Rang ablaufen können.

Wenn die weiter oben erwähnte Symbolhaftigkeit und behauptete Sozialverbindlichkeit eines komplexen sinfonischen Geschehens sich immerhin ›initiierten‹ Hörern immer schon erschlossen hat, so hat diese selbe Angelegenheit im Zeitalter der behaupteten Optiklastigkeit der Kultur eine Chance, einem breiten Publikum augenfällig zu werden. Vor den brillant edierten Videoproduktionen sinfonischer Musik sitzt heutzutage jeder Fernsehzuschauer in der ersten Reihe. Die bewusste Auswahl von Perspektiven und Ausschnitten lenkt den Blick auf die Punkte, an denen die tragenden Ereignisse stattfinden, was nicht nur das strukturelle Hören und damit das Musikverständnis des Hörers, sondern auch dessen Verständnis,wie es gemacht wird, außerordentlich begünstigt.

Selbst der Ausdruck von Hingabe und sogar gelegentliche Ekstase von Interpreten sind dank der Nahaufnahmen in den Blick gerückt wie niemals zuvor.

Das ganze musikalische Weltkulturerbe kann nunmehr unter Multimediabedingungen nochmal neu aufgerollt werden, – eine große Herausforderung nicht nur an die Künstler, sondern auch an Medienmacher, Kulturpolitiker und Pädagogen.

Persönliche und gesellschaftliche Integration

Musikalische Kultur ist ohne Zweifel ein wirksames Mittel zu psycho-physischer Integration und spirituellem Wachstum von Menschen. Pädagogische Konzepte wie das eingangs erwähnte bauen auf diese Einsicht. Sinfonische Kultur ist außerdem ein mächtiges Mittel zur sozialen Integration von Bürgern, wie das venezolanische Experiment mit staatlichen Kinder- und Jugendorchestern eindrucksvoll vorführt.3

Die Fülle der Symbolbezüge zwischen Orchesterkultur und Staats- bzw. Gemeinwesen erlaubt, weitestgehende Parallelen zu ziehen. Wenn beispielsweise die Institution eines staatlichen Sinfonieorchesters ein lebendiges Symbol für die Idee des Nationalstaats überhaupt ist, dann wird man auch in der institutionellen und künstlerischen Verfassung des Orchesters, seiner Verwaltungsstruktur, seiner Programmplanung- und Durchführung, der internen Behandlung von Angestellten und Gastkünstlern, seinem Probenstil, seiner Probendisziplin, seinem sozialen Klima, seiner Repertoirestruktur, seinem Auftrittsstil, seinem Klang, seiner Phrasierung, seinem Geist des Hervorbringens und Gestaltens etc. viele Facetten des Nationalcharakters bzw. der umgebenden Gesellschaftskultur wiederfinden.

So könnte man beispielsweise einem gewissen Nord/Süd-Kontrast der Mentalitäten in Deutschland, der im Vergleich der globalen Hemisphären sogar noch charakteristischer hervortritt, eine eigene Abhandlung widmen.

Ein Orchester ist dermaßen repräsentativ, dass man umgekehrt aus einer Analyse der Institution und der Qualität seiner Produktion einige Rückschlüsse auf den Zustand der Nation und der Gesellschaft ziehen kann, von der es getragen ist. Daher sieht man in den wichtigen Kulturzentren immer wieder die besseren Orchester verschiedener Herkunftsländer als Tourneegäste. Alle teilen dasselbe internationale Repertoire musikalischen Weltkulturerbes, das auf einige hundert Jahre Kontinuität zurückweist, weitgehend als klassisch gilt – das heißt auf eine kurze Formel gebracht: mutmaßlich allen etwas Verbindliches zu sagen hat – und nicht nur ein vorzügliches Vehikel für Friedensbotschaften und zur Völkerverständigung abgibt, sondern obendrein von der kreativen Potenz, Kulturbewusstheit, institutionellen Leistungskraft und wirtschaftlichen Prosperität der aussendenden Gesellschaft glaubwürdig Zeugnis ablegt.

Druck

Das Probespiel für eine feste Arbeitsstelle ist in der Musikerkarriere die schärfste Konkurrenzsituation. Nach zehn bis zwanzig Jahren spezifischer Studien, einer der längsten4und – wegen des üblichen Einzelunterrichts – teuersten Ausbildungen des ganzen akademischen Milieus, tritt jeder Einzelne zuweilen gegen hunderte sehr qualifizierter Mitbewerber an. Der Lebenslauf spielt eine Rolle bei der Vorauswahl. Im ausgewählten Kreis der Probanden entscheidet dann eine halbe Stunde Vorspiel über künftige Stabilität oder fortdauernde Arbeitslosigkeit.

Doch auch der Beruf ist belastend. Alle ausübenden Musiker stehen heutzutage mit den erfolgreichsten Aufnahmen der größten Interpreten, die schon jedes Kind z.B. imInternetabrufen kann und bei deren Edition zunehmend die fortgeschrittensten Retuschierungstechnologien zum Einsatz kommen, in ständiger Konkurrenz.

Das Stressaufkommen in repertoirestarken Orchestern ist durch die erdrückende Menge des fast immer unter Zeitdruck zu erarbeitenden Materials kolossal. Zum Perfektionszwang, den die moderne Kommunikationstechnologie dem Spieler auferlegt, kommt noch der immanente Anspruch. Jeder Künstler weiß um die bereits weiter oben erörterte Welthaltigkeit und seelische Bedeutsamkeit, die der künstlerischen Kreation eigen ist, und deshalb wirkt mancher herausragende Musiker beim Spielen dann auch tatsächlich, als wenn es buchstäblich ums Leben ginge.

Solisten und Dirigenten können in gewissen Grenzen ihr Repertoire wählen, dessen Umfang dementsprechend organisch wächst und reift. Das Orchester muss alles spielen wasvorgelegtwird. Unter einem wirtschaftlichen Kalkül maximaler Ausbeutung von Arbeitskraft steht der Orchestermusiker in einem Dienst, in dem er alle paar Tage für ständig wechselnde Stücke, an denen ihm nicht immer unbedingt etwas liegt, sein Herzblut verströmen soll. Das laugt auch den kreatürlichsten Interpreten auf die Dauer aus.

Den Versicherungsanstalten für Krankheit und Arbeitsunfähigkeit gilt das Orchester als Berufsfeld mit hohem Versicherungsrisiko. Schleichende tätigkeitsspezifische Verschleißkrankheiten grassieren, man arbeitet zuweilen am Rande der Erschöpfung, manche exponierten Instrumentalisten haben ihr Leben lang Anwandlungen von Lampenfieber.

Man hört sogar gelegentlich von Drogenmissbrauch. Diverse Psychopharmaka, Betablocker und Alkohol sind die nächstliegenden Mittel.

Dampf ablassen

Natürlich blühen unter solchen Umständen alle erdenklichen Kompensationsstrategien.

Der Musikerhumor ist legendär. Aus einer Hundertschaft von kreativen Köpfen, die täglich gemeinsam unter Hochdruck eingekesselt sind, entweichen immer wieder Manifestationen von einmaliger Komik.

Dabei reicht die Palette vom schlagfertigen Wortwitz über spontane instrumentale Laut- und Geräuschkreationen auf den Instrumenten bis hin zu kollektiven Aktionen, die trotz ihrer Unvermitteltheit oft verblüffend konzertiert wirken. Dieser Humor ist natürlich häufig auf Kosten von etwas oder jemand. Hier reicht die Bandbreite von freundlich-spöttisch bis tintenschwarz-unbarmherzig. Manchmal amüsiert bereits die Mühelosigkeit des angewandten Zynismus.

Nicht alle Witze sind gut; auch gibt es ein paar ›Klassiker‹, die durch Wiederholung nicht besser werden. Wenn man das zweifelhafte Privileg hat, in der Nähe eines Orchesterkaspers zu sitzen (es kann deren mehrere geben), wird man oft Zeuge recht misslungener Eingebungen. Der nächste große Wurf kommt aber bestimmt und entschädigt für den vorher erlittenen Verdruss.

Nebenbeschäftigungen

Nicht selten pflegen Orchestermusiker Nebeninteressen oder Nebentätigkeiten. Manche spielen recht gut ein zweites Instrument, z.B. Klavier. Vereinzelt kann man teils oder komplett ausgebildeten Psychologen, Ärzten und Rechtsanwälten begegnen, Erfindern, Schachspielern von Turnierformat, Nahkampfexperten, Ex-Profifußballern, Komponisten und Arrangeuren, Informatikern, Unternehmern, Karikaturisten, Meisterköchen, Bibliophilen und Intellektuellen mit beeindruckendem Bildungshorizont. Das Gros hält sich indessen im Musizierbereich.

Unterrichtstätigkeit oder kammermusikalische bzw. solistische Aktivitäten herausragender Figuren erhöhen das Prestige des Orchesters und geben dem betreffenden Spieler die Gelegenheit zu einer persönlichen künstlerischen Entfaltung, die derDienstnaturgemäß nicht bietet. Dergleichen wird von der Obrigkeit gebilligt und mit Sonderlizenzen nach dem Reglement unterstützt.

Weniger im Rampenlicht, aber nicht weniger zum Berufsbild gehörig ist die Bereitschaft des Musikers, alle erdenklichen kleinerenMuckenanzunehmen. Diese Extraarbeiten sind nicht immer fördernd. Wer dennoch in ihnen einen Teil seiner Spannkraft aufbraucht, rechtfertigt sich mit dem meist berechtigten Hinweis auf die Tatsache, dass er an seiner festen Arbeitsstelle für seine Qualifikation heillos unterbezahlt sei.

Erfahrung

Die Summe aus Unerschöpflichkeit des Repertoires, der Unermesslichkeit der immanenten künstlerischen Ansprüche und ständigem Zeitdruck wird an erster Stelle von dem kompensiert, was ProfisErfahrungnennen.

Erfahrung ist das A und O des Berufs. Jeder junge Dirigent sollte sich darum bemühen, die Implikationen dieses Begriffs bis auf den Grund zu verstehen, bevor er sich vor ein Orchester stellt.

Erfahrung impliziert zunächst eine Abkühlung des Gefühls. Weiter oben wurde bereits darauf angespielt, dass kein Mensch ständig alles geben kann. Vitalitätsreserven werden deshalb gemessen eingesetzt. Ihr voller Einsatz bleibt Momenten vorbehalten, in denen sich aus dem Zusammenfluss gleichgerichteter Kräfte jener geheimnisvolle Schwell aufbaut, aus dem der sich verströmende Musiker seinen Einsatz doppelt zurückbekommt. Das passiert vornehmlich in Konzerten. Proben sind dagegen Phasen, in denen jeder Beteiligte je nach Vermögen und Vorbereitungsgrad Informationen verarbeitet, also Situationen der Einvernahme mehr als der Verausgabung. Trotzdem entfaltet sich natürlich auch in Proben jene synergetische Dynamik der kollektiven Selbstorganisation, die das Beispiel des Orchesters als symbolhaft bedeutsam für jede soziale Gemeinschaft erscheinen lässt. Nicht ohne Grund veranstalten Orchester gelegentlich öffentliche Proben. In der Probe schließt jeder einzelne Spieler aus der permanent erneuerten positiven Rückkopplungsschleife zwischen seinem Hervorgebrachten und seiner bewussten Wahrnehmung des klingenden Ganzen, was das Ensemble von ihm erwarten darf, und formt auf der Basis dieses Urteils fortlaufend an seinem Beitrag, damit dieser sich nahtlos ins Geschehen einfüge.

Die Probe ist das Spektakel eines idealtypischen gemeinschaftlichen Lernprozesses; das Konzert ist das Spektakel einer Utopie von gemeinsamem Leben aus dem Vollen.

Erfahrung und Repertoirekenntnis kommen mit den Jahren. Ein brillanter Studienabsolvent, der gestern ein Probespiel in ein großes Orchester bestanden hat und heute ohne Probe inTristan und Isoldemitwirken muss, kann sich lediglich vornehmen, bloß nichts kaputt zu machen. Die Masse des zu erarbeitenden Materials, dessen technischer Schwierigkeitsgrad in nichts hinter dem der Solostücke seiner Studienzeit zurückbleibt, gleicht einem auszutrinkenden Ozean. Jede persönliche Erstaufführung eines schwierigen Werkes ist ein stressreiches Unterfangen. Erst nach ein paar Jahren, wenn unserem Kandidaten die sich wiederholenden Werke des Kernrepertoires bereits motorisch vertraut sind und er nicht mehr jede Pause auszählen muss, weil er schon gelegentlich nach Gedächtnis einsetzen kann, lässt der Druck langsam nach.

Es ist eine schöne Bestätigung der Parallelität von Orchester und Gesellschaft, dass die gleichmäßige Generationendurchmischung des Ensembles und die geteilte Erfahrung des Zusammenspiels über Jahre und Jahrzehnte die höchste Produktivität und die ausgereiftesten Resultate gewährleisten. Den älteren Kollegen, die das meiste schon mal gespielt haben, ist zu verdanken, dass zu Beginn einer Produktion die Neuzugänge nicht nur durch Lektüre lernen, sondern auch nach Gehör, da das Werk in allen wesentlichen Zügen bereits ›steht‹.

Trotzdem muss auch die hart erworbene Erfahrung im Vom-Blatt-spielen und im Kompensieren erwähnt werden. Wenn die Zeit für individuelle Vorbereitung mal wieder nicht reicht, die Probenzahl zu knapp bemessen oder das Werk für alle neu ist, kommt ein weiterer synergetischer Faktor ins Spiel, der zum Teil auf einem akustischen Effekt beruht: die Summe etlicher leicht verpfuschter Einzelbeiträge kann sich eventuell immer noch zu einem Höreindruck vollkommener Gelungenheit mischen.

Es ist wohl das hervorstechendste Merkmal des Professionellen, dass er eine Schlacht (das ist von Fall zu Fall ein umständehalber mies vorbereitetes Konzert oder eine ›unspielbare‹ Passage), die er eigentlich verlieren müsste, nicht nur durchsteht, sondern sogar noch zu seinen Gunsten wenden kann. Die Lektüre, die blitzschnell aus dem Notentext das Gerippe der tragenden Faktoren herausschält, die musikalische Intuition, die Verarbeitung des jetzt Klingenden und die Obacht auf Dirigent, Konzertmeister und Gruppe werden von ihm in einen vielleicht nicht ganz astreinen aber dennoch tragfähigen klingenden Baustein verarbeitet, der den Umsitzenden nützliche Information, Vertrauen und Schubkraft gibt und, vom Parkett aus gesehen und gehört, harmonisch mit dem Ganzen verschmilzt.

Das Vermögen des ›korrigierenden Hörens‹ auf Seiten des Publikums tut ein Übriges. Es muss nicht immer alles perfekt sein. Die spürbare Sinnsuche, die Spiel- und Risikofreude und die Intensität des Kommunikationswunsches sind für den Zuhörer menschlich mindestens so verbindliche Faktoren wie die bloße technische Bewältigung einer Partitur.

Institutionalität

Man begegnet heutzutage gelegentlich Kulturpolitikern oder sogar ehrgeizigen Dirigenten, die davon träumen, die Arbeitswelt des Orchestermusikers zu flexibilisieren, z.B. durch die Einführung periodischer Probespiele für zeitlich befristete Anstellungen.

Eine solche Politik untergräbt denMythosOrchester und seine politisch konstitutive Kraft.

Ein Ensemble mit ständiger Personalfluktuation, bei dem die hübschesten, ausgeruhtesten und athletischsten Jungmusiker nach und nach das Bild bestimmten, wäre lediglich der Abklatsch einer jugendsüchtigen spätkapitalistischen Gesellschaft, in der die KonkurrenzkämpfeJeder gegen Jedenlangsam außer Rand und Band geraten. Dem Publikum aller Schichten und Altersstufen, das dem Orchester seines Lebensschauplatzes gern über Jahrzehnte treu bleibt und sich in ihm in künstlerischer Überhöhung reflektiert und gefeiert sehen will, wäre eine solche Institution eher eine Beunruhigung als eine Identifikationsmöglichkeit: menschlich fragwürdig, künstlerisch vergleichsweise steril und alles andere als demographisch repräsentativ.

Die Jugendorchester, die vielerorts gegründet und gelegentlich auf Tournee geschickt werden, sollten vor allem auf pädagogische Konzepte gegründet sein. Abgesehen davon, dass sich Jugendorchester für ihre Produktionen in der Regel mehr Zeit nehmen müssen, wissen Kenner der Gattung, dass die volle künstlerische Reife, der wahrhaft gesättigte Klang, die großen Abgefeimtheiten des Zusammenspiels und der überzeugendste Aplomb des Auftritts eher von einem traditionsverbundenen Berufsorchester ständiger Mitglieder zu erwarten sind.

Der Konzertgänger

Die Treue, die von manchen Konzertgängern einem Orchester entgegengebracht wird, ist nicht selten von rührender Intensität. Hier trifft sich fortgeschrittene Musikliebhaberei mit einem Identifikationswunsch, der sich auf Personen (höhere Wesen?) des eigenen Lebensumfelds richtet – Mitbürger der eigenen Stadt oder Region, Landsleute, Schicksalsgenossen, und dabei: MUSIKER.

Das Verfallensein an Musik kommt gattungsübergreifend vor. »Kannst du dir vorstellen, ohne Musik zu leben?«, hörte der Autor einen Bekannten, der vor allem Popmusik hörte, in einer Konversation vorbringen. »Ich nicht.«

Man halte sich vor Augen, was die alltägliche Geräuschkulisse dem bewussten Menschen zumutet: Verkehrs- und Maschinenlärm, Dauerberieselung mit »funktioneller« Musik auf etlichen öffentlichen Schauplätzen, Informationsschwall, Gerede aller Art, häufig in Allgemeinplätzen, – jeweils peinigend oder betäubend all dies, selten angenehm oder erhellend. Aber auch Stille, die heutzutage gar nicht mehr leicht zu finden ist, kann ihre Schrecken haben. Sensiblere Gemüter kennen jenes ›Ziehen‹ einer Furcht, in deren Bann man geraten kann, wenn die Frage auftaucht, ob die Stille einem über ein Vakuum, einNichtsAuskunft geben möchte, in das wir möglicherweise ausgesetzt sind, und das von jener betriebsamen Lärmmacherei nur vergessen gemacht werden soll.

Ein Stück ›guter‹ Musik dagegen, wenn ihr denn ein Hörer zu folgen geneigt ist, durchzittert diesen, lässt ihm im Mitvibrieren seine Leiblichkeit erscheinen, hebt ihn zu sich auf, birgt ihn in die Welt ihrer inneren Zusammenhänge und führt ihn durch einen lebendigen Geschehnisverlauf, in dem es Anfang, Entwicklung und Schluss gibt und in dem jede Note etwas bedeutet, sich auf etwas Anderes – Vorheriges oder Kommendes – innerhalb dieses Gefüges bezieht. Ein solches Geschehen gibt der Zeit wahrhaftig Sinn.

Anziehung

Über die typischen Kompositionen für ein großes Orchester kann man in der Regel sagen, dass die Anhäufung ihrer Mittel bereits auf einen umfangreichen Bedeutungs- und Differenzierungsreichtum schließen lässt. Die große Fülle des Klangs – der Schwell von reiner, konzertierter menschlicher Vitalität – kommt zudem noch nicht aus der Steckdose, und was schließlich die ausführenden Künstler anbelangt, mag festgehalten sein, dass man den besseren unter ihnen sehr wohl anmerkt, wenn sie denDienstals einen Liebesdienst an ihren Mitmenschen begreifen. Kein Wunder, dass Musiker und verschworene Ensembles ein Gefolge von Liebhabern gewinnen können. Sinnvolle klingende Welterzeugung macht hörig.

Die Leitfigur

Eine herausragende Künstlerpersönlichkeit kann als Dirigent einer Produktion durchaus einen eigenen Stempel aufdrücken und bei länger anhaltender Verpflichtung die Spielkultur eines Orchesters auf Jahre hinaus prägen. Darüber hinaus ist nicht ausgeschlossen, dass ein Dirigent kulturpolitisch tätig wird. Sein Verhandlungsgeschick und seine Medienpräsenz – manchmal kommt sogar Geschäftssinn ins Spiel – können zuweilen stark zur institutionellen Konsolidierung und gesellschaftlichen Verwurzelung des Ensembles beitragen. Kompetenz und bezeugte Persönlichkeitswirkung sind das zeitgemäße Rüstzeug, um einer solch komplexen Verantwortung gerecht werden zu können.

Unterströmungen

Die o.g. Wirkungen einer Leitfigur auf die Gruppe sind jedoch keine Einbahnstraße.

Große Ensembles sind, noch viel mehr als jede Einzelpersönlichkeit, gültige Repräsentanten einer Mentalität, besser noch: eines Zeit- und Ortsgeistes, der zwar ein künstlerisches Betätigungsfeld hat, aber dennoch breit in der Alltagskultur wurzelt.

Wie schon weiter oben angesprochen, muss dieser Kulturbegriff als sehr weitgefasst verstanden werden. Er bezieht sich auf die allgemeine gesellschaftlich vorherrschende Werteskala, soziale Rituale, Moralvorstellungen und Laster, die Weisen des alltäglichen Umgangs der Personen miteinander, die Verfasstheit der Institutionen, gängige Arbeitsweisen und vieles mehr. Diese grundlegenden Aspekte machen unter anderem die Popularitätsfähigkeit eines Orchesters aus; das Ortspublikum soll sich instinktiv im Ensemblestil wiedererkennen, das internationale Publikum hingegen eventuell regionale Prägungen als besonders typisch wahrnehmen.

Die personellen Mischungsverhältnisse können dabei sehr unterschiedlich sein, z.B. ein stark mit Immigranten durchmischtes Ensemble und ein Dirigent, der ein Kind der Kulturzone ist; oder umgekehrt, ein sehr bodenständiges Personal und ein exotischerMaestro, usf.

Gleichviel, der Dirigent mag außerordentliche Talente haben, eine starke Persönlichkeit, ein menschliches und künstlerisches Profil, das in unendlichen Stunden des Studiums, der Klausur, der Übung und der Versenkung herausgebildet wurde; zusätzlich wird er aber auch seinerseits jeweils von der ›Persönlichkeit‹ der Orchester geschliffen, mit denen er im Laufe seiner Karriere zu tun bekommt. Es wird wohl keinen bedeutendenMaestrogeben, der nicht zugeben würde, für sein Werden und seine künstlerische und menschliche Reifung diesem oder jenem Ensemble bedeutende Einflüsse zu verdanken.

Sind nicht eigentlich die möglichen Wechselwirkungen zwischen Individuen und der Menge eine Kultur- und Menschheitsfrage allererster Ordnung? Und ist nicht ein Orchesterbetrieb ein herausragender Kristallisationspunkt bzw. idealer Austragungsort dieses zivilisatorischen Spannungsverhältnisses?

Fürwahr, jedes kulturelle Ballungszentrum sollte eigene ständige Kulturorchester unterhalten.

Ein Dirigent sollte haben:

Umfangreiche Reserven an Vitalität; mächtige spirituelle und leibliche Präsenz; starke Lebenserfahrung; Begeisterungsfähigkeit; Begabung zur Empathie; glühendes Temperament, Leidenschaft, Liebesvermögen; die Fähigkeit, den Verstand abzuschalten; die Fähigkeit zu horchen; Begabung zur Ekstase; Stehvermögen wie eine Eiche; Engelsgeduld; Beharrlichkeit; Integrität und Integrationsvermögen; einen markanten Charakter; Entschiedenheit; eine nie nachlassende Bereitschaft zur Selbstzucht; wache Intelligenz; Urteilsvermögen; starkes Gerechtigkeitsempfinden; eine Aura von heiterer Würde und unangestrengter Siegesgewissheit; Sinn für Humor; menschliche Mitteilsamkeit; natürliche Herzenswärme; ein gerüttelt Maß an Herzensbildung; die Gabe der Einfachheit; Beherrschung höflicher Etikette; diplomatischen Schliff; politisches Gespür; Verhandlungsgeschick; gelassene Ausstrahlung; gleichbleibend gute Laune; fließende Bewegungen; sprechende Augen; ausreichend Koordinationsvermögen zum mehrgleisigen Aussenden von unabhängigen Botschaften durch Gesten, Blicke und Zurufe; stupende Repertoirekenntnis; umfangreiche musikalische Allgemeinbildung; exakte Klangvorstellung beim Lesen von Partituren; Stilempfinden; ein unbestechliches Gehör; unbestechlichen Rhythmus; Flexibilität; mitreißende Musikalität; exzeptionelle künstlerische ›Flughöhe‹; einen Schuss Genialität; eine nahezu unfehlbare Beherrschung des in Produktion befindlichen Werkes; eine gut vernehmbare Stimme und eine gepflegte Erscheinung. Er sollte mindestens ein Instrument auf professionellem Niveau spielen (zumal Klavier) und in einem Registerumfang von nicht weniger als anderthalb Oktaven intoniert und mit angenehmer Stimme singen können.

Eventuell darf das eine oder andere dieser Attribute leicht schwächeln, solange das Gesamtbild nicht zu sehr beeinträchtigt wird. Ehrgeiz wird akzeptiert, wenn er sich realistische Ziele setzt und sich nicht in den Mitteln vergreift.

1 Der Leiboder dieLeiblichkeitsind in der gesamten vorliegenden Abhandlung immer als Begriffe für ein ganzheitliches Konzept zu lesen, in denen Körper und Geist/Seele jeweils unauflöslich zusammengedacht sind.

2 Die als außerordentlich gelungen empfundene Begriffskombination »leibliche Anwesenheit« hat der Autor dieser Zeilen dankbar aus den »Darmstädter Vorlesungen« Gernot Böhmes übernommen – in der persönlichen Überzeugung, dass sie auf die Tätigkeit und das Wirken des musikalischen Interpreten schlagend anwendbar sei. Überhaupt sind von einigen Schriften Böhmes auf die vorliegende Arbeit wichtige Denkanstöße ausgegangen.

3»El Sistema« ist in Venezuela das landesweite Netzwerk von Kinder- und Jugendorchestern, Chören und musikalischen Lerngruppen, das hunderttausende von jungen Menschen – auch und zumal in urbanen Problemzonen – in sinnstiftende gemeinsame künstlerische Projekte einbindet.

4Ein komplettes Sinfonieorchester versammelt im Moment der konzertierten Aktion rund 1500 Jahre spezifischer Ausbildung auf engstem Raum, – eine Dichte von gleichgerichteter professioneller Kompetenz pro Quadratmeter, die im Vergleich mit allen anderen Branchen wohl einen einsamen Rekord darstellen dürfte.

ZWEITER ABSCHNITT – PRAKTISCHER TEIL

(Faktoren, Situationen, Fallstudien)

ALLGEMEINES

Dirigent und Orchester

Vitaler Schwung und beherrschter Affekt, Führung von Menschen und Eröffnung von klingenden Welten, individuelle und kollektive Sinnstiftung sind der Beruf des Orchesterdirigenten. In der Galavorstellung übt er ihn meist noch im feinsten Gesellschaftsanzug aus. Im festlichen Zeremoniell des Konzerts hält er den Ehrenplatz. Der Taktstock ist wie ein Zauberstab, – eine kleine Bewegung erzeugt große Wirkung. Rauschender Beifall des Publikums ist direkte und öffentliche Anerkennung der Darbietung.

Der Beifall gilt hier allerdings auch den beteiligten Musikern des Ensembles, ohne die schließlich nichts ginge. Sie haben ihre eigene Sicht auf den Dirigenten. Ihre Ansprüche an seine menschliche und künstlerische Kompetenz sind höher und wissender als die des Publikums. Sie wünschen rundheraus, dass der Dirigent in jeder Hinsicht besser sei als der Beste unter ihnen, zuallererst aus praktischen Gründen, außerdem, weil sie, wie jedermann, dankbar für eine Gelegenheit sind, das Außerordentliche zu bewundern, – und schließlich auch, weil sonst das ganze Beginnen mit seinen Glanzlichtern und der ungleichen Verteilung von Ehren und Privilegien in eine gefühlte Schieflage geriete.

Geheimnis

– Und es erfolgte zu Brangänens dunklem Habet-Acht-Gesange jener Aufstieg der Violinen, welcher höher ist als alle Vernunft. –

(AusTristanvon Thomas Mann)

Tatsächlich appelliert wohl der geringere Teil einer musikalischen Botschaft oder der Persönlichkeitswirkung bedeutender Interpreten an die Vernunft, den Verstand oder das bereits zur vollen Bewusstheit gehobene Wissen um die Dinge des Lebens.