Die Ullsteinfrauen und das Haus der Bücher - Beate Rygiert - E-Book
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Beate Rygiert

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Beschreibung

Einer der bedeutendsten deutschen Verlage und seine heimlichen Heldinnen Berlin in den goldenen 20ern: Auf einem Bankett lernt die schillernde Rosalie Gräfenberg den Generaldirektor des Ullsteinverlags Franz Ullstein kennen. Die junge Frau ist geschieden, erfolgreiche Journalistin und die beste Freundin von Verlagsredakteurin und Autorin Vicki Baum. Um Franz Ullstein ist es sofort geschehen. Er verliebt sich in Rosalie und macht ihr kurz darauf einen Antrag.  Doch seinen vier Brüdern ist sie ein Dorn im Auge, zu unangepasst ist ihnen die junge Frau. Durch eine Intrige versuchen sie, Rosalie von Franz zu trennen. Aber Vicki Baum und ihr aufgewecktes Tippfräulein Lilli lassen nicht zu, dass nur die Männer die Regeln diktieren und Rosalies Ruf ruinieren. Ab jetzt entscheiden die Frauen selbst, was Erfolg ist und wie jede von ihnen ihr Glück finden wird.

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Die Ullsteinfrauen und das Haus der Bücher

Der Autor

BEATE RYGIERT studierte Theater-, Musik- und Literaturwissenschaft in München und Florenz und war danach als Dramaturgin an verschiedenen Theatern engagiert. Im Jahr 2000 legte sie mit Bronjas Erbe ihren ersten Roman vor, 2001 folgte Die Fälscherin. 2020 eroberte sie mit Die Pianistin und 2021 mit Frau von Goethe die Spiegel-Online-Bestsellerliste. Ihre Romane werden außerdem in zahlreiche Sprachen übersetzt. Beate Rygiert lebt und arbeitet im Schwarzwald.

Das Buch

»Du hast eine Eroberung gemacht«, sagte Vicki Baum, als sie am nächsten Tag die Friedrichstraße hinuntergingen. »Der ganze Verlag spricht von dir und Dr. Franz.«»Du liebe Güte«, entgegnete Rosalie. »Wir hatten einen angenehmen Abend miteinander. Das ist schon alles.«»Und er hat dir drei Dutzend Rosen geschickt.«»Zwei Dutzend. Immer diese Übertreibungen!« Rosalie fühlte, wie ihre Freundin sie feixend von der Seite betrachtete.»Nun erzähl schon. Oder soll ich Dr. Franz selbst fragen?«»Das würdest du niemals wagen«, antwortete Rosalie lachend und war sich trotzdem nicht ganz sicher. Vicki war allerhand zuzutrauen.

Beate Rygiert

Die Ullsteinfrauen und das Haus der Bücher

Roman

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2021Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, MünchenTitelabbildung: www.buerosued.de (Rahmen, Details); Circa Images /Bridgeman Images (Straßenszene); Arcangel Images © Lee Avison(Frau)Autorinnenfoto: © Ulrike KlumppE-Book-Konvertierung powered by pepyrus.comISBN 978-3-8437-2580-4

Emojis werden bereitgestellt von openmoji.org unter der Lizenz CC BY-SA 4.0.

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Inhalt

Der Autor / Das Buch

Titelseite

Impressum

1

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Epilog

Nachwort

Danksagung

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

1

Widmung

Dieses Buch widme ich allen mutigen Frauen,die in ihrer Zeit Großartiges geleistet habenund heute vergessen sind.

1

Der Taxifahrer trat fluchend auf die Bremse und riss das Steuer herum, um die Pferdedroschke zu überholen, die den Weg versperrte.

»Immer mit der Ruhe«, rief Rosalie durch das Schiebefenster hindurch nach vorn und hielt sich an der Lederschlaufe über der Kabinentür fest. »Ich würde gerne in einem Stück beim Verlag ankommen.«

Der Fahrer brummte etwas Unverständliches und bog endlich in die Kochstraße ein. Vor dem prächtigen dreigeschossigen Eckgebäude zur Charlottenstraße mit der Nummer 23 kam er zum Stehen.

»In einem Stück, das Frollein«, erklärte er frech und schob sein Käppi in den Nacken, hielt ihr den Schlag auf und starrte auf ihre seidenbestrumpften Füße in den hochhackigen Riemchensandalen, während sie ausstieg. Gott, dachte Rosalie, wie anders das Leben doch in Paris war. Jedes Mal, wenn sie von dort nach Berlin zurückkam, brauchte sie mindestens einen Tag, um sich an die Umgangsformen hier zu gewöhnen. Sie drückte dem Mann einen Geldschein in die Hand und trat durch die Drehkreuztür des Portals, über dem eine große, in Stein gemeißelte Eule wachte.

Wie immer, wenn sie diese Schwelle überschritt, begann ihr Herz auch jetzt in einem anderen Rhythmus zu schlagen. Hier waren die Heimat des gedruckten Wortes und das größte Verlagsimperium Europas. Sicher: Paris hatte mehr Charme, mehr Klasse und Eleganz, da mochte ihre Freundin Vicki Baum sagen, was sie wollte. Das Ullstein-Haus allerdings stand in Berlin, und so etwas gab es sonst nirgendwo.

»Herzlich willkommen, Frau Dr. Gräfenberg«, sagte der Pförtner, und Rosalie strahlte ihn an.

»Danke, Herr Tomaschke«, antwortete sie. »Wie schön, mit meinem Namen begrüßt zu werden.«

»Das ist doch selbstverständlich, gnädige Frau«, erklärte Tomaschke mit verhohlenem Stolz. »Ich kenne jeden beim Namen, der hier aus- und eingeht.«

»Herr Bernhard erwartet mich«, sagte Rosalie, und der Pförtner hob den Apparat ab, um sie anzukündigen.

»Gehen Sie nur«, sagte er. »Ich sag oben Bescheid.«

Emsige Geschäftigkeit empfing sie in der Eingangshalle. Botenjungen mit oder ohne Rollwagen voller Akten flitzten die Flure entlang. Eine Tür flog auf, und Rosalie erhaschte einen kurzen Blick in die riesige Setzerei, wo in scheinbar endlosen Reihen Männer Bleibuchstaben aus halb aufgerichteten Setzkästen nahmen und sie mit flinken Fingern zu Wörtern und Sätzen zusammensetzten, die man am folgenden Tag in einer der Zeitschriften oder Zeitungen des Hauses lesen würde. Georg Bernhards Büro befand sich im zweiten Stock, und Rosalie beschloss, statt der zentralen Treppe den Paternoster zu nehmen.

Seit ihrer Scheidung lebte sie in Paris und schickte von dort Artikel und Reiseberichte an viele verschiedene deutsche Zeitungsredaktionen. Vor allem jedoch schrieb sie für den Ullstein Verlag, wo ihre Beiträge in der Unterhaltungszeitschrift Uhu, in der Berliner Illustrirten Zeitung, kurz BIZ genannt, und vor allem in der Vossischen Zeitung veröffentlicht wurden, deren Chefredakteur der berühmte Georg Bernhard war, ein Mann Ende vierzig mit einem riesenhaften Mund, der, wenn er lächelte, buchstäblich von einem Ohr bis zum anderen zu reichen schien. Rosalie mochte ihn, er war klug und hatte einen beißenden Humor, und obwohl jeder wusste, dass die Vossische, wie sie in Berlin liebevoll genannt wurde, ein Zuschussgeschäft für die Gebrüder Ullstein bedeutete, galt Bernhard als eine der wichtigsten Größen innerhalb der komplizierten Personalstruktur des Presseimperiums. Außerdem hatte er einen Sitz im Reichstag, und das war für alle Beteiligten ein großer Vorteil.

»Wie geht es Ihnen, Frau Henschke?«, fragte Rosalie Bernhards Vorzimmerdame, eine Dame um die fünfzig mit strenger Steckfrisur und einer Schwäche für ausgefallene Parfums. Aus diesem Grund hatte Rosalie ihr auch dieses Mal ein kleines Präsent aus dem Hause Houbigant mitgebracht, das seine Wirkung nicht verfehlte. »Haben Sie das schon?«, fragte Rosalie und deutete auf das Etikett, auf dem der mit Blüten umrankte Name Quelques Fleurs stand. »Es ist das erste Parfüm der Welt, in dem mehrere Blütendüfte vereinigt wurden.«

»Wie nett von Ihnen!« Irmtraut Henschke öffnete vorsichtig den Flacon, um an ihm zu schnuppern. »Einfach hinreißend! Frau Dr. Gräfenberg, das werde ich Ihnen nie vergessen. Und wie elegant Sie wieder sind. Diese Frisur …« Ihr Blick wanderte von Rosalies kess geschnittenem dunklen Bubikopf zu ihrem leichten Sommermantel und dem dazu passenden Kleid in der Farbe von Rosenholz. »Ist das Seide?«

Noch ehe Rosalie antworten konnte, flog die Tür zum Büro des Chefredakteurs auf, und Bernhard stand auf der Schwelle.

»Na, da ist sie ja«, begrüßte er Rosalie und winkte sie herein. »Frisch aus der Weltstadt Paris importiert.« Er beugte sich über ihre Hand und deutete einen Handkuss an, was Rosalie überraschte. Ansonsten gab einer wie Bernhard nicht viel auf solche Förmlichkeiten, außer man begegnete sich auf dem Presseball oder bei einem offiziellen Empfang. »Was macht unser Erzfeind?« Er lachte scheppernd, nachdem er die Tür hinter ihnen geschlossen hatte. »Nein, natürlich will ich sagen: Was macht das zarte junge Pflänzchen der deutsch-französischen Freundschaft?«

»Es wächst und gedeiht, und ich hoffe, es wird einmal aufs Schönste erblühen«, gab Rosalie zurück. »Ich kenne niemanden in Paris, der sich das nicht ebenfalls wünscht.«

Bernhard bat sie nicht wie üblich, auf dem Besucherstuhl an seinem Schreibtisch Platz zu nehmen, sondern führte sie zu der kleinen Sitzgruppe in der Ecke, die er für Ehrengäste bereithielt, wie Frau Henschke Rosalie einmal verraten hatte.

»Ihre Reportage aus Westafrika war recht hübsch«, eröffnete er nun das Gespräch. »Sie kam gut an. Was haben Sie uns dieses Mal Schönes mitgebracht?«

»Ein Interview mit Aristide Briand«, antwortete Rosalie und bemühte sich, nicht allzu stolz zu klingen. Dass es ihr gelungen war, einen ganzen Nachmittag lang mit dem früheren französischen Premier- und gegenwärtigen Außenminister, der gemeinsam mit Gustav Stresemann für die Annäherung der beiden Länder den Friedensnobelpreis erhalten hatte, über die Zukunft Europas zu sprechen, war tatsächlich eine journalistische Meisterleistung und verdankte sich Rosalies Gabe, Kontakte nicht nur zu knüpfen, sondern auch zu pflegen. Sie kannte Kollegen, die hätten gemordet, um einen Termin bei Briand zu bekommen, und prompt entgleisten ihrem Gegenüber für einen Augenblick die Gesichtszüge. Von wegen »recht hübsch«, dachte Rosalie voller Genugtuung, ließ jedoch nichts von ihrem Triumphgefühl merken. Stattdessen holte sie den Artikel aus ihrer Rindsledertasche und reichte ihn Bernhard. »Selbstverständlich ist es ein Exklusiv-Interview«, fügte sie sachlich hinzu.

Bernhard griff nach den von ihr sauber getippten Blättern und begann zu lesen. Rosalie schlug ein Bein über das andere und lehnte sich in die Lederpolster zurück. Zu gern hätte sie sich eine Zigarette angezündet, doch sie ließ es sein. Zwar rauchten die Redakteure im Allgemeinen wie die Schlote, bei einer Frau fand sie selbst das jedoch wenig attraktiv.

»Nicht schlecht«, meinte Bernhard und legte den Artikel zurück auf den Tisch und musterte sie aus seinen dunklen Augen hinter den runden Gläsern seiner Hornbrille. »Wie kommt es eigentlich«, sagte er dann, und sein Mund zog sich wieder in die Breite, »dass eine elegante Dame wie Sie sich so für Politik interessiert?«

Rosalie blieb einen Moment lang die Luft weg. Waren denn Politik und Eleganz in seinen Augen unvereinbar?

»Vermutlich fasziniert mich die Eleganz politischer Lösungen«, antwortete sie und wünschte sich nun noch sehnlicher eine Zigarette. »Und die Politik eleganter Menschen.«

»Was werden Sie als Nächstes Elegantes für uns schreiben?«

»Im September würde ich gern zur Völkerbundversammlung nach Genf fahren und über die Verhandlungen zur Räumung des Rheinlands berichten.«

Bernhards Augen wurden schmaler. »Tut mir leid«, sagte er, und jede Jovialität war aus seiner Stimme gewichen. »Das ist Aufgabe des Chefredakteurs.«

»Oh«, machte Rosalie. »Sie fahren selbst?« Es war, soweit sie informiert war, schon lange nicht mehr vorgekommen, dass Bernhard sich höchstpersönlich auf eine solche Pressereise begeben hatte.

»So ist es.« Er warf ihr einen lauernden Blick zu. »Allerdings … Wie wäre es, wenn wir gemeinsam fahren würden?«

»Nach Genf?« Rosalie musste kurz blinzeln und versuchte zu verstehen, was er ihr wirklich sagen wollte. Doch natürlich war es nur allzu offensichtlich.

»Ja, nach Genf«, wiederholte er und lehnte sich nun ebenfalls entspannt in seinem Sessel zurück. »Und außerdem … Was halten Sie davon, mit mir heute Abend auszugehen? Ich könnte einen Tisch im Eden reservieren. Und danach … Ich würde sagen, da lassen wir uns einfach ein wenig durch das Berliner Nachtleben treiben. Wie klingt das für Sie?«

Wie das für mich klingt, du lüsterner alter Bock, dachte Rosalie empört, das willst du lieber gar nicht wissen.

»Das klingt nach einem bemerkenswerten Abend«, antwortete sie stattdessen mit einem entwaffnenden Lächeln. »Bedauerlicherweise habe ich heute schon andere Pläne.« Sie erhob sich. »Es freut mich, dass wir so gut zusammenarbeiten, Herr Bernhard«, sagte sie. »Und vor allem, dass Ihnen mein Exklusiv-Interview mit Monsieur Briand gefällt.«

Im Flur musste sie kurz tief durchatmen. Hatte sie sich das eben nur eingebildet? Nein. Der Chefredakteur der Vossischen Zeitung hatte ihr unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass er ihre Beziehungen über das Geschäftliche hinaus gerne ausbauen würde. Sie stöhnte innerlich auf, dann machte sie sich auf den Weg zu Vicki Baums Büro.

Hinter den verglasten Wänden der Redaktionsbüros saß ein ganzes Heer von Tippfräulein an ihren Maschinen, die meisten von ihnen junge Frauen in knielangen Röcken und luftigen, locker über den Bund fallenden Schluppenblusen. Rasch ging sie ins dritte Stockwerk, wo die Mitarbeiter der Frauenzeitschrift Die Dame untergebracht waren. Auf dem Flur traf sie Anita, die für die beliebte Zeitschrift Modewelt zuständig war und von der kein Mensch wusste, wie sie mit Nachnamen hieß, denn sie unterschrieb auch ihre Artikel stets nur mit dem Vornamen. Rosalie beantwortete geduldig ihre Fragen nach den neuesten Trends in Paris und diskutierte mit ihr die Vorzüge der »neuen Taille«, die künftig nicht mehr auf Hüfthöhe hängen würde wie in den vergangenen beiden Jahren, sondern wieder dort sitzen würden, wo sie hingehörte. Außerdem würde die Abendmode wieder bodenlang sein, was man seit Jahren für ausgeschlossen gehalten hatte.

»Madeleine Vionnet ist bei dieser neuen Linie mal wieder ganz vorne mit dabei«, berichtete Rosalie. »Ich war bei ihrer Modeschau, und ich muss sagen, ihre aktuellen Modelle sind schlicht hinreißend. Sie sind so raffiniert geschnitten, dass ihr Faltenwurf wirkt wie bei den antiken Statuen. In Paris nennt man sie die Bildhauerin des Stoffes. Natürlich verwendet sie hauptsächlich Seide.«

»Sie hat den Diagonalschnitt erfunden«, schwärmte Anita. »Man schneidet den Stoff diagonal zum Fadenlauf, das macht die Kleider anschmiegsam und elastisch, sodass man sich darin fabelhaft bewegen kann, selbst wenn das Modell auf Figur geschnitten ist. Isadora Duncan ist in Kleidern von ihr aufgetreten.« Anitas Augen glänzten. »Du hast nicht zufällig einen Katalog von Vionnets neuester Kollektion mitgebracht?«

»Nein, tut mir leid, für Mode interessiere ich mich nur privat. Mit euren Beziehungen kannst du dir das Material doch über Nacht schicken lassen, oder? Ich bin sicher, Dr. Stahl tut dir den Gefallen.«

»Dr. Stahl wird mir was husten.« Anita brach bei dem Gedanken, den seriösen Pariser Korrespondenten der Ullsteins um so etwas Profanes wie den Katalog einer neuen Modekollektion zu bitten, in Gelächter aus. »Keine Sorge, ich hab meine Quellen. Willst du den Andruck der neuen Modeseiten sehen?«

»Liebend gern, Anita, aber heute nicht«, wehrte Rosalie freundlich ab. »Ich möchte noch bei Vicki vorbeischauen.« Sie sah auf ihre Armbanduhr.

»Da ist sie.« Anita wies in Richtung Treppe und schüttelte grinsend den Kopf. »Schau sie dir an. Garantiert kommt sie gerade von ihrem Training. Na dann, ich muss los.«

Rosalie sah ihrer Freundin entgegen und traute ihren Augen nicht. Die berühmte Schriftstellerin Vicki Baum trug weiße Tennisschuhe und einen lilafarbenen Sportanzug aus einem seltsamen irisierenden Stoff. Über ihrer Schulter hingen Boxhandschuhe. Ein weißes Stirnband hielt ihr die blonden Locken aus dem Gesicht. Dass sie in diesem Frühjahr vierzig geworden war, sah man ihr kein bisschen an.

»Du warst doch nicht etwa boxen?«, fragte Rosalie mit einem ungläubigen Lachen, nachdem sie sich herzlich begrüßt hatten.

»Natürlich war ich das.« Vickis Augen glitzerten vor Vergnügen. »Du solltest das auch mal ausprobieren, Rosalie. Das hält jung und fit.« Sie nahm die Handschuhe von ihrer Schulter und boxte damit spielerisch gegen die Schulter ihrer Freundin. »Natürlich hast du das noch lange nicht nötig«, fügte sie hinzu. »Du siehst fabelhaft aus, Rosalie. Na ja, du bist ja zwanzig Jahre jünger als ich. Fast könntest du meine Tochter sein.«

»Du übertreibst maßlos«, gab Rosalie lachend zurück. »Als meine Mutter gehst du nirgendwo durch.« Tatsächlich war sie fast zehn Jahre jünger als die Schriftstellerin. »Aber sag mal, meinst du das wirklich ernst mit dem Training? Oder hast du dir die hier nur für einen Artikel ausgeliehen?« Misstrauisch beäugte sie die Boxhandschuhe.

»Nein, natürlich trainiere ich wirklich. Und zwar bei Sabri Mahir höchstpersönlich.«

»Entschuldige – bei wem?«

»Na bei diesem Türken, bei dem Franz Diener trainiert. Das ist der Boxer, der um ein Haar Max Schmeling besiegt hätte. Und wenn du die kleinen Leute fragst, dann hat er das auch. Nur die Punktrichter waren anderer Meinung.«

»Ich versteh kein Wort …«

»Weißt du was? Morgen nehm ich dich mit. Doch, doch, keine Widerrede. Jeder geht zu Sabri zum Trainieren, jeder! Auch Frauen. Carola Neher zum Beispiel und Marlene Dietrich. Ja, schau nicht so. Mich hat er leider auf Diät gesetzt.«

Sie hatten Vickis geräumiges Büro erreicht, das zur Kochstraße hinausging, was ihren hohen Stellenwert im Unternehmen ausdrückte, anfangs hatte sie nämlich mit einer Art Besenkammer vorliebnehmen müssen, inzwischen hatte die Geschäftsleitung allerdings erkannt, was man an Vicki Baum hatte. Überall stapelten sich Bücher, Rezensionsexemplare, denn Vicki Baum war für die Literaturbeilage der Frauenzeitschrift Die Dame zuständig, die sogenannten »Losen Blätter«, und war damit sozusagen die Vermittlerin zwischen dem »Haus der Bücher« und dem »Haus der Presse«, denn für beides war Ullstein auf der ganzen Welt berühmt. Es roch nach Mokka, bedrucktem Papier und reifen Äpfeln, Vicki hatte stets mindestens einen auf ihrem Schreibtisch liegen – Rosalie liebte diese Melange.

Amüsiert sah sie zu, wie ihre Freundin die Boxhandschuhe im Aktenschrank verstaute, so als wären sie die ganz alltäglichen Accessoires einer Dame von Welt, wie ein Schirm oder eine Handtasche. Ach, wie sehr hatte sie ihre extravagante Freundin vermisst.

»Hat du unser Blümchen schon kennengelernt?« Vicki wies auf eine dünne junge Frau mit dem hübschen Gesicht einer Füchsin, die in eine Schreibmaschine tippte, als wollte sie Funken aus ihr schlagen. Ihr langes rötliches Haar hatte sie im Nacken zusammengesteckt, ein paar widerspenstige Löckchen hatten sich allerdings daraus gelöst und umspielten ihr Gesicht wie kleine Flämmchen. »Fräulein Blume ist seit einem Monat mein Tippfräulein. Darf ich Ihnen Frau Dr. Gräfenberg vorstellen, eine sehr gute alte Freundin von mir.«

Das Schreibmaschinengeklapper verstummte, und das Tippfräulein starrte Rosalie ehrfurchtsvoll aus großen grüngoldenen Augen an.

»Sehr erfreut, Frau Doktor.« Dann zog sie ihre hübsche Stirn kraus. »Gräfenberg?«, fragte sie nach. »So wie der berühmte Frauenarzt?«

Rosalie verzog das Gesicht und hob zu einer Erklärung an, doch Vicki kam ihr zuvor.

»Lassen Sie es gut sein, Fräulein Blume. Rosalie ist eine unserer besten Journalistinnen. Sie hat diesen famosen Reisebericht über Westafrika geschrieben, der Ihnen so gut gefallen hat. Der gute Frauenarzt ist längst passé, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

»So ist es«, warf Rosalie ein und lächelte das Tippfräulein aufmunternd an, denn die junge Frau hatte vor Verlegenheit rote Flecken im Gesicht bekommen. »Der Name ist das Einzige, was mir von dieser Ehe geblieben ist.« Und zu Vicki gewandt fügte sie hinzu: »Ach, ich hatte so gehofft, mit dir zu Mittag zu essen. Aber wenn dieser boxende Türke dich auf Diät gesetzt hat …«

»Er hat nicht gesagt, dass ich verhungern soll«, unterbrach Vicki sie entschlossen und sah auf ihre Armbanduhr. »Und ich hab einen Bärenhunger.«

2

Statt ins Casino im Obergeschoss des Ullstein-Hauses gingen die Freundinnen lieber um die Ecke in das Café im ersten Stock an der Friedrichstraße Ecke Leipziger Straße, wohin sich normalerweise keiner ihrer Kollegen verirrte und wo sie hoffen konnten, ungestört zu plaudern. Sie bestellten beide das Tagesessen, Toast mit Setzei, und zündeten sich im Schein der altmodischen Stehlampen mit Schirmen aus farbigen Glasperlen Zigaretten an.

»Wenn Sabri mich sehen könnte«, schmunzelte Vicki und nahm einen tiefen Zug. »Er würde mich glatt rauswerfen.«

»Du redest ja schon, als wärt ihr verheiratet«, spottete Rosalie.

Vicki blies den Rauch aus und lachte. »Oh nein«, antwortete sie. »Da läuft gar nichts. Außerdem kommen Hans und die Jungs bald nach Berlin.«

»Tatsächlich? Dein Mann will seinen Posten in Mannheim wirklich aufgeben?«

Eigentlich hieß Vickis Ehemann Richard Lert, doch alle, die ihm nahestanden, nannten ihn bei seinem zweiten Vornamen Hans. »Ja, mich hat es ehrlich gesagt auch gewundert.« Vicki nahm einen Schluck von ihrer Brause. Alkohol lehnte sie während des Tages strikt ab. »Er meinte, die Familie sei ihm wichtiger als sein Posten als Generalmusikdirektor, und hat gekündigt. Aber keine Bange, er wird hier in der Philharmonie Gastverträge bekommen. Und an der Staatsoper ebenfalls. Er verhandelt gerade die Konditionen.«

Das Essen wurde gebracht, und Rosalie bestellte einen trockenen Weißwein, wie sie es sich in Paris angewöhnt hatte. Es reichte, wenn Vicki darauf verzichtete, fand sie.

»Weißt du«, sagte sie zu ihrer Freundin, die sich über den Toast hermachte, »dass ich euch kolossal bewundere, dich und Hans?«

Vicki warf ihr einen erstaunten Blick zu. »So? Und wofür?«

»Ich kenne kein glücklicheres Paar als euch beide«, erklärte Rosalie und tunkte Weißbrot in das Gelbe des Eis. »Wie lang seid ihr schon verheiratet?«

»Viel zu lange«, spottete Vicki und tupfte sich den Mund ab. »Und glaub mir, wenn die Jungen nicht wären … Ich hätte mich vermutlich schon vor einer Weile scheiden lassen. Stattdessen bin ich nach Berlin gegangen.« Sie sah Rosalie nachdenklich an. »Vielleicht hättest du auch erst nach Paris gehen sollen, statt dich gleich scheiden zu lassen. Womöglich wäre alles anders gekommen? So ein bisschen Abstand tut jeder Ehe gut.«

Rosalie schüttelte heftig den Kopf. »Vergiss es«, entgegnete sie entschlossen. »Mit Ernst und mir – das wäre nichts mehr geworden. Es sei denn, er hätte seine Praxis aufgegeben. Und das wird er niemals tun.«

»Er ist eine Koryphäe in seinem Fach«, wandte Vicki ein. »Du kannst einem Mann nicht das wegnehmen, woran ihm am meisten liegt.«

»So ist es. Und da Dr. Gräfenberg am Unterleib der gesamten weiblichen Einwohnerschaft Berlins so unendlich viel gelegen ist …«

»Ach komm«, unterbrach Vicki sie. »So sind die Männer eben. Hans’ Liebschaften mit den Ballett- und Chormädchen sind Legende. Ich habe aufgehört zu zählen und meine Mannheimer Freunde gebeten, mich nicht mehr über seine Amouren auf dem Laufenden zu halten. Das ist besser für unsere Ehe und für meine Nerven.«

Rosalie schwieg. Wie konnte Vicki nur so abgeklärt sein? Gut, sie hatte zwei wundervolle Söhne, das mochte die Untreue ihres Mannes irgendwie ausgleichen. Und sie musste auch nicht in der Praxis eines Gynäkologen leben, wo zu Stoßzeiten selbst das private Esszimmer und der Salon von wartenden Patientinnen belagert wurden. Sie musste nicht den Geruch nach Äther und Desinfektionsmittel in ihren eigenen vier Wänden ertragen und nicht die Blicke der jüngeren, attraktiven Patientinnen, an denen der Herr Doktor mehr durchführte als reine Routineuntersuchungen …

»Ehrlich gesagt ist mir bei aller Freude auch ein wenig mulmig zumute bei dem Gedanken, dass ich meine Berliner Freiheit dem Familienleben zuliebe wieder aufgeben muss«, gestand Vicki.

Rosalie nickte. Das konnte sie nur zu gut verstehen. Drei Jahre lang hatte ihre Freundin das Leben in dieser vibrierenden Stadt allein genossen, war oftmals noch spätabends mit ihr und anderen Freunden ausgegangen und hatte auf niemanden außer sich selbst Rücksicht nehmen müssen. Auch Rosalie genoss diese Unabhängigkeit seit ihrer Scheidung in vollen Zügen.

»Aber was ist mit dir?« Vicki sah sie neugierig an. »Gibt es einen neuen Mann in deinem Leben?« Vicki schob den letzten Bissen ihres Toasts in den Mund und betrachtete sie aufmerksam.

»Nun … ja«, gab Rosalie widerstrebend zu. »Es ist ein Geheimnis.«

Vicki nickte. »Natürlich ist es das. Das ist es doch immer.«

»Nein, du verstehst nicht«, warf Rosalie lebhaft ein, »es muss wirklich ganz und gar geheim gehalten werden.«

»Eine geheime Mission also«, räumte ihre Freundin amüsiert ein. »Und wie heißt er?«

Rosalie biss sich auf die Unterlippe. Sie kannte Vicki schon so viele Jahre. Sie war in Mannheim aufgewachsen, und die Lerts gingen in ihrem Elternhaus ein und aus. Auf Vicki war Verlass. Trotzdem zögerte sie. Je weniger Menschen von dieser Affäre wussten, desto besser. Auf der anderen Seite brannte sie darauf, mit jemandem darüber zu sprechen.

»Lebt er in Paris oder hier in Berlin?«, half Vicki nach.

»In Berlin.« Rosalie sah ein, dass ihre Zurückhaltung die Freundin nur noch neugieriger machte. »Ich habe ihn in Genf kennengelernt, während des Weltwirtschaftsgipfels. Er arbeitet in den höchsten Regierungskreisen, deshalb …«

»Verstehe«, unterbrach Vicki sie. »Und das Letzte, was ich möchte, ist dich in Schwierigkeiten bringen, das weißt du. Also … warum finden wir nicht einen Tarnnamen für diesen Herrn? Wie wäre es mit … Kobra?«

Rosalie lachte. »Das klingt ja wie aus einem Spionageroman«, kicherte sie.

»Vielleicht sollte ich mal einen schreiben«, stimmte Vicki ihr zu. »Und dieser Kobra hat also dein Herz erobert.«

»Im Sturm.«

»So leidenschaftlich?«

»Na ja, zunächst nicht.« Rosalie legte endgültig ihr Besteck auf den Teller. Außer ein wenig von dem Eidotter mit Weißbrot hatte sie nichts gegessen. Sie war viel zu aufgeregt dafür und hatte den Bauch ohnehin voller Schmetterlinge. Denn an diesem Abend würde sie ihn endlich wiedersehen.

»Jetzt erzähl mal von ganz vorn«, bat Vicki sie und lehnte sich zurück.

»Da gibt es gar nicht so viel zu erzählen.« Rosalie sah über die voll besetzten Tische hinweg aus dem Fenster, doch statt des Berliner Himmels sah sie wieder die große Fontäne im Genfer See vor sich und das trübe Grau eines regnerischen Februarmorgens. »Wir standen alle in der Vorhalle des Sitzungssaals und warteten darauf, dass es losging. Da fiel mir ein Mann auf, der lässig in einem der Polsterstühle mehr lag als saß, die Beine weit von sich gestreckt und die Hände in den Taschen vergraben. Ich sah ihn nur von der Seite, und ich schwöre dir, ich hab mich auf der Stelle in diesen Mann verliebt.«

»Wie?«, fragte Vicki verständnislos nach. »Einfach so? Was hat er gemacht?«

»Er hat gegähnt.«

Vicki starrte sie an, dann fing sie an zu lachen. »Du willst mich wohl auf den Arm nehmen!«

»Nein«, beteuerte Rosalie. »Vicki, noch nie zuvor habe ich einen Mann so hinreißend und so ausdauernd gähnen sehen. Ich wollte natürlich herausfinden, wer er ist, und habe einen befreundeten Journalisten gefragt, ob er ihn kennt. In dem Moment hat eine Delegation für kurze Zeit die Sicht auf ihn versperrt, und danach war er verschwunden, so als hätte er nie existiert.«

»Hört sich so an, als sollten wir ihn lieber den ›Großen Gähner‹ nennen statt Kobra?«, schlug Vicki vor. Sie lachten. »Und wie ging es weiter?«

»Tagelang hab ich nach ihm gesucht«, gestand Rosalie. »Die ganze verdammte Woche lang – der Mann war wie vom Erdboden verschluckt. Ich ging zu jedem Pressetermin und zu jedem Empfang, der mir einigermaßen wichtig erschien, und knüpfte dabei jede Menge Kontakte. Doch im Grunde war ich die ganze Zeit nur auf der Suche nach ihm. Vergeblich.«

»Eine kurze Lovestory«, konnte Vicki sich nicht verkneifen zu sagen. »Einer Autorin würde man so was nicht durchgehen lassen. Der Geschichte fehlen eindeutig der zweite und der dritte Akt.«

»Ich bin noch nicht fertig«, erklärte Rosalie. »Am allerletzten Abend – ich hatte die Hoffnung schon aufgegeben – fand der Abschlussempfang statt. Ich hatte einen Platz am Tisch von Robert Weismann persönlich …«

»Natürlich«, warf Vicki ironisch ein. »Ich hab mich oft gefragt, wie du zu deinen glänzenden Kontakten in die höchsten Regierungskreise kommst.«

»Na hör mal, das gehört halt zur Arbeit einer guten Journalistin. Also. Der Stuhl neben mir blieb frei. Wir waren schon beim Dessert, als auf einmal die Tür aufging. Und rate mal, wer auf der Schwelle stand?«

»Kobra.«

»Genau. Ich hätte mich beinahe an meinem Erdbeerparfait verschluckt. Er sah sich kurz um und steuerte dann direkt auf unseren Tisch zu …«

»Aha, also einer aus Weismanns Stab«, folgerte Vicki glasklar. »Ein Geheimdienstler. Jetzt versteh ich deine Zurückhaltung.«

Rosalie beschloss, diese Bemerkung zu ignorieren.

»Und weißt du was?«, fuhr sie fort, als hätte sie nichts gehört. »Im nächsten Moment küsste er mir die Hand und nahm neben mir Platz. ›Na endlich‹, sagte ich nur. ›Ich hab Sie überall gesucht. Aber jetzt ist alles gut.‹«

Sie schwieg. Wenn sie an jenen Abend zurückdachte, konnte sie selbst nicht glauben, welche Wendung ihr Leben von da an genommen hatte.

»Ich hoffe«, sagte Vicki nach einer Weile, »er hat wenigstens an diesem Abend nicht gegähnt.«

Sie lachten beide, und Rosalie war ihrer Freundin dankbar für die Bemerkung.

»Nein«, sagte sie. »Das hat er den ganzen Abend nicht getan und auch während der Nacht nicht. Ob du es glaubst oder nicht – ich war fast ein bisschen enttäuscht darüber.«

Der Kellner kam, räumte die Teller ab und fragte nach weiteren Wünschen. Sie bestellten Kaffee und warteten, bis der junge Mann außer Hörweite war.

»Das war also der Anfang«, nahm Vicki den Faden wieder auf, und Rosalie wurde klar, dass ihre Freundin sie nicht mehr so leicht von der Angel lassen würde. Wenn jemand wie Vicki Baum eine gute Geschichte witterte, dann gab es kein Halten. »Und wie geht es nun weiter? Höre ich schon Hochzeitsglocken in der Ferne läuten, oder ist das nur die Tram?«

Wieder lachten die beiden. Dann schüttelte Rosalie ernst den Kopf.

»An so etwas ist nicht zu denken.«

»Wieso? Ist er schon verheiratet?«

»Nein, das nicht. Aber …« Sie kaute auf ihrer Unterlippe herum. »Ach weißt du, Vicki, die Ehe ist eine seltsame Einrichtung, und ich bin mir nicht sicher, ob ich dafür gemacht bin. Sieh mal, mit Ernst war es vor unserer Heirat auch ganz wunderbar, es war so … so aufregend, unsere Liebe erschien mir wie ein immerwährendes Fest. Kaum waren wir verheiratet …«

»Du warst einfach viel zu jung«, fand Vicki. »Einundzwanzig, nicht wahr? In diesem Alter macht man nichts als Dummheiten. Bei mir war es genauso. Ich war im selben Alter, als ich den Max geheiratet habe. Max Prels, im Nachhinein ein riesengroßer Fehler. Obwohl. Er war es, der mich zum Schreiben gebracht hat, denn er war zwar Journalist und hat sogar eine Zeitschrift gegründet, war allerdings meist viel zu beschäftigt, um seine Artikel rechtzeitig zu verfassen. Das hab dann ich für ihn getan.« Sie lachte leise in sich hinein. »Na ja, ich sollte ihm dankbar sein, denn ohne ihn würde ich vielleicht heute noch die Harfe in irgendeinem Orchester spielen. Du siehst also. Für etwas war es gut.«

»Bei mir nicht«, widersprach Rosalie. »Wie ich deinem Tippfräulein vorhin schon gesagt habe – das Einzige, was mir von der Ehe blieb, ist der Name.«

»Bis zu deiner nächsten Heirat«, gab Vicki amüsiert zurück. »Wobei mir Gräfenberg besser gefällt als Kobra. Nun, vielleicht sorgt diese Liebe wenigstens dafür, dass wir dich hier in Berlin in Zukunft öfter zu sehen bekommen. Mich würde es freuen.«

Rosalie begleitete ihre Freundin zurück zum Verlag, und auf dem Weg dorthin berichtete sie ihr von der seltsamen Wendung, die ihr Gespräch mit Georg Bernhard gegen Ende genommen hatte.

»Du glaubst wirklich, er will mit dir anbandeln?«

»Er wollte mich heute Abend zum Essen ausführen. Ins Eden! Und sich anschließend mit mir durchs Berliner Nachtleben treiben lassen.«

Vicki pfiff wenig damenhaft durch die Zähne. In diesem Moment hielt eine Maybach-Limousine vor dem Verlagshaus. Ein zierlicher älterer Herr entstieg ihr. Er hatte feine Gesichtszüge, eine spitze Nase und einen schön geformten Mund.

»Franz Ullstein, der mächtigste der fünf Brüder«, flüsterte Vicki ihrer Freundin zu. »Alle nennen ihn nur Dr. Franz.« Rosalie nickte.

»Ich weiß«, entgegnete sie leise. »Wir sind uns schon einmal begegnet. Ist eine Weile her.«

»Stimmt. Ich hab vergessen, dass du einfach jeden kennst.«

»Nun ja, kennen ist wohl zu viel gesagt. Ich bin mir nicht sicher, ob er sich an mich erinnert.«

Der Generaldirektor warf den Damen einen abwesend wirkenden Blick zu, hob höflich den Hut, und die Sonne ließ sein spärliches Haar rotgolden aufleuchten. Dann ging er ohne weiteren Gruß an ihnen vorbei.

»Er hat uns nicht erkannt«, erklärte Vicki. »Dr. Franz ist unglaublich kurzsichtig. Ohne seinen Kneifer ist er blind wie ein Maulwurf. Ganz bestimmt erinnert er sich an dich. Denn dich vergisst kein Mann so schnell wieder.«

Rosalie musste lachen. »Du übertreibst wie immer, liebste Vicki.«

»Um auf Bernhard zurückzukommen: Willst du weiter für die Vossische schreiben?«, fragte Vicki, die niemals ein Thema, das sie wichtig fand, aus den Augen verlor.

»Natürlich möchte ich das. Ich verkaufe meine Artikel zwar auch an viele andere Blätter. Aber die Vossische ist die Königsklasse.«

»Dann solltest du seine Einladung besser annehmen«, riet ihr Vicki.

»Was sagst du?« Rosalie war fassungslos.

»Nun, du bist geschickt genug, um dich nach dem Essen auf eine Weise zu verabschieden, die seine Ehre nicht kränkt«, erklärte Vicki.

»Ich kann heute Abend nicht«, entgegnete Rosalie trotzig.

Vicki hob die Brauen und sah ihr tief in die Augen. »Aha«, meinte sie. »Herr Kobra wartet.«

»Ach, Vicki«, stöhnte Rosalie und ließ sich von der Älteren in die Arme schließen. »Ich hab ihn zwei Monate nicht gesehen. Ich schwöre dir, ich halte es keinen Tag länger aus.«

»Pass auf dich auf«, flüsterte ihr Vicki ins Ohr, solange sie sich umarmt hielten. »Und denk daran: Kobras sind gefährlich.«

3

Dr. Franz Ullstein saß am Konferenztisch und blickte in die Runde. Durch die starken Gläser seines Zwickers sah er sie nur allzu deutlich vor sich: seine Brüder Louis, Rudolf und Hermann, jeder von ihnen mit einer besonderen Begabung und seinem eigenen Dickkopf. Seit Hans, der Älteste und Ruhigste der fünf, aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr an den Sitzungen teilnehmen konnte und den Posten des Generaldirektors an Franz abgegeben hatte, waren die Differenzen mehr und mehr zutage getreten. Hermann zum Beispiel, der Jüngste, ein wahres Marketinggenie, verkehrte normalerweise mit seinen Brüdern nur noch schriftlich, und auch jetzt stellte er eine Leidensmiene zur Schau, als wäre es eine Zumutung, mit ihnen an einem Tisch zu sitzen.

Franz blätterte lustlos in den Bilanzen, die jeder vor sich liegen hatte. Sie sahen gut aus, sogar ausgezeichnet, und sie waren es nicht, die ihm die Laune verdarben. Was ihm Sorge bereitete, war, dass das Direktorium von Jahr zu Jahr wuchs. Sein Vater Leopold hatte bestimmt, dass jeder der fünf Brüder einen Direktorenposten in dem von ihm gegründeten Unternehmen erhielt, was schon kompliziert genug war. Damit waren sie irgendwie klargekommen. Es waren nicht die Chefredakteure, die Franz in der Runde störten, vor allem nicht Georg Bernhard, einer seiner wenigen Freunde, oder Kurt Korff, der die Geschicke der Berliner Illustrirten Zeitung leitete. Auch Emil Herz, der brillante Leiter der Buchverlage, verdiente seinen Platz am Besprechungstisch.

Doch seit die nächste Generation ins Führungsgremium drängte, glich es einer Herkulesaufgabe, zwischen all den unterschiedlichen Interessen das Schiff auf Erfolgskurs zu halten. Für Hans saßen gleich zwei Repräsentanten am Tisch: sein Schwiegersohn Fritz Ross und sein Sohn Karl. Außerdem hatte Louis darauf bestanden, seinen Sohn Heinz mit ins Boot zu holen, nachdem dessen Karriere als Schauspieler eher glanzlos verlaufen war. Franz hielt nicht besonders viel von dem jungen Mann, der sich außerdem als Filmproduzent versucht hatte und auch darin gescheitert war. Jetzt schien Heinz das Ullstein-Direktorium mit der Bühne eines Schmierentheaters zu verwechseln und machte ihm das Leben schwer. Dieser Grünschnabel hatte zwar keine Ahnung, wusste jedoch alles besser.

So wie jetzt. Gerade wies er vollkommen überflüssigerweise darauf hin, welche hohen Verluste die Vossische Zeitung jeden Monat machte. Georg Bernhard wurde ganz bleich um die Nase, und das vor Ärger, nicht aus Angst. Bernhard wusste, dass Franz die Hand über ihn hielt.

»Das ist allgemein bekannt, Heinz«, antwortete er nun. »Wir müssen nicht Monat für Monat aufs Neue darüber diskutieren.«

»Wenn wir die Vossische ein wenig moderner anpacken würden …«

»Ich will diesen Unsinn nicht mehr hören«, unterbrach Franz ihn scharf. »Du solltest verstehen, dass es zwei Arten von Verlust gibt: pekuniären und den des Ansehens. Letzterer lässt sich durch Geld nicht aufwiegen. Und die Vossische Zeitung hebt das Renommee unseres gesamten Hauses. Nicht wahr, Hermann?« Er wartete die Reaktion seines jüngsten Bruders, der für Marketing und Strategie zuständig war, erst gar nicht ab. »Die Zahlen sind insgesamt unverändert zufriedenstellend«, sagte er und klopfte auf die Bilanz vor ihm auf dem Tisch. »Die BIZ hat sogar fast 200.000 Abonnenten hinzugewonnen. Zweihunderttausend«, wiederholte er eindringlich und fixierte seinen Neffen. »Falls du ermessen kannst, was das heißt.«

»Das haben wir Frau Baum zu verdanken«, erklärte Kurt Korff, der Chefredakteur der Berliner Illustrirten Zeitung, noch ehe Heinz etwas entgegnen konnte. »Ihr neuer Fortsetzungsroman sprengt alle Erwartungen.«

»Und dabei hatten Sie zuerst die Hosen voll, ob das Thema nicht zu gewagt sei«, spottete Heinz und erntete dafür einen tadelnden Blick seines Vaters. »Wir hätten eine Menge Geld gespart, wenn Sie nicht …«

»Ich kann diese Art von Rüpeleien nicht dulden«, schrie Franz, dem der Kragen platzte, und hieb mit der Faust auf den Tisch. »Entweder du sprichst respektvoll mit unseren Chefredakteuren, oder du kannst gleich nach Hause gehen!«

»Die Wahrheit wird man ja wohl noch sagen dürfen«, gab Heinz kämpferisch zurück. »Aber bitte, wenn ihr das Geld aus dem Fenster werfen wollt …«

»Ist gut, Heinz«, bremste Louis seinen Sohn aus, ehe Franz einen seiner gefürchteten Tobsuchtsanfälle bekam. »Das Thema müssen wir wirklich nicht nochmals durchkauen.«

Jeder der Anwesenden wusste, dass Vicki Baum auf diese Weise hatte doppelt bezahlt werden müssen. Zuerst hatte man den Roman angekauft, dann sich entschlossen, ihn aufgrund einiger pikanter Details nicht zu veröffentlichen, woraufhin die Rechte an die Autorin zurückgegangen waren. Ein Vierteljahr später hatte Korff sich anders besonnen. Vicki Baum war und blieb ein Garant für Umsatz. Um das Buch also doch herausbringen zu können, hatte man ihr die Rechte erneut abkaufen müssen, und das zu einem wirklich stattlichen Preis. Da sollte einer sagen, Frauen seien nicht geschäftstüchtig.

»Nun ja«, räumte Korff verärgert ein, »eine Chemiestudentin, die abtreiben will … Ich war nicht der Einzige, der da gezögert hat. Aber offenbar ist unsere Leserschaft bereit für solch moderne Themen.«

»Das ist sie«, warf Emil Herz ein, der Leiter der Ullstein Buchverlage, bei dem der Roman nach der Vorveröffentlichung in der BIZ jetzt bald erscheinen würde. »Und ich würde mich nicht wundern, wenn wir die Filmrechte in Kürze verkauft hätten. Keine Angst, das doppelte Honorar holen wir dreifach zurück.«

Kinderkram, dachte Franz ungeduldig und sah zu Hermann hinüber, der dasselbe zu denken schien, die Arme vor der Brust verschränkte und sich gelangweilt zurücklehnte. Obwohl Franz und Hermann nie einen engeren Draht zueinander gefunden hatten – der Altersunterschied war von Anfang an einfach zu groß gewesen –, fühlte er in solchen Momenten eine Art Einvernehmen mit seinem jüngsten Bruder.

»Genug jetzt«, unterbrach er die fruchtlose Diskussion um längst Vergangenes und bemühte sich, seinen Zorn zu zügeln. »Wir haben genügend Themen heute, die die Zukunft betreffen. Rudolf. Du hast ein paar Vorschläge zur Optimierung der Druckerei eingereicht. Dabei haben wir die teuerste und modernste Anlage ganz Europas. Ich habe keine Zweifel, dass deine Eingabe notwendig ist. Erklär uns bitte trotzdem in aller Kürze, warum wir schon wieder so viel Geld zum Fenster hinauswerfen sollen.« Dabei warf er Heinz einen vernichtenden Blick zu. Und wenn es allein deswegen ist, damit das Jungvolk es auch begreift und wegen der hohen Investitionen nicht stundenlange Diskussionen vom Zaun bricht, fügte er in Gedanken hinzu.

Es war schon nach fünf, als er endlich in sein Büro zurückkam, frustriert und erschöpft. Was hätte man in der Zwischenzeit nicht alles erledigen können. Stattdessen kam er sich bei den Direktionssitzungen mehr und mehr vor wie in den Disputen des Reichstags, wo auch nur gestritten wurde, statt die Republik auf ordentliche Beine zu stellen.

»Sie haben Besuch«, verkündete Hilde Trautwein, seine Vorzimmerdame. »Frau Fleischmann wartet auf Sie.«

»Die kleine Toni?« Seine jüngste Schwester hatte Franz seit Lottes Beerdigung nicht mehr gesehen. »Was will sie von mir?«

Es gab zwei Antonies in der Familie: seine jüngste Schwester, klein und rundlich, weshalb man sie die »kleine Toni« nannte, zur besseren Unterscheidung von der Frau seines ältesten Bruders, die groß und schlank und deswegen für alle nur die »große Toni« war.

»Das weiß ich nicht, Herr Generaldirektor«, flüsterte Hilde mit Blick auf die Tür. »Ich hab ihr Kaffee gemacht und ein paar Zeitschriften hingelegt.«

Franz brummte etwas, was ein Dankeschön heißen sollte, und betrat sein Büro. Es war mit Abstand das größte im Haus, mit Möbeln aus Nussbaumholz des Firmengründers gediegen eingerichtet, mehrere kostbare Perserteppiche dämpften den Schritt. In der Nähe der Fenster saß eine kleine, untersetzte Gestalt, der man schon von Weitem die Entschlossenheit und Tatkraft ansah, die seiner jüngsten Schwester zu eigen war.

»Da bist du ja«, sagte sie freundlich und sah von einem Magazin auf.

»Ich hatte keine Ahnung, dass du kommen wolltest«, entgegnete Franz. »Es wäre mir ein willkommener Anlass gewesen, die Sitzung früher zu beenden. Wartest du schon lange?«

Er zögerte kurz, dann ließ er sich ihr gegenüber auf einen der Besucherstühle fallen und betrachtete von da aus seinen Schreibtisch. Es war eine Ewigkeit her, dass er hier Platz genommen hatte, und die veränderte Perspektive brachte ihn aus dem Konzept.

»Ach, vielleicht ein halbes Stündchen«, antwortete Toni leichthin und legte das Heft weg, in dem sie gelesen hatte. Es war die neueste Ausgabe der Dame. »Nicht der Rede wert. Wie geht es dir, Franz?«

Von all seinen Geschwistern war ihm Toni die Liebste. Obwohl auch sie bereits einundfünfzig Jahre zählte, hatte sie noch immer den leicht aufgeworfenen Mund und die kindliche Stupsnase, wegen der er sie schon als Kind oft aufgezogen hatte. »Unsere Pekinesenlöwin«, hatte er sie genannt, wenn sie sich einmal wieder für eines ihrer Geschwister gegenüber dem strengen, aufbrausenden Vater ins Zeug gelegt hatte, weil sie fand, dass die verhängte Strafe ungerecht war. Und obwohl der Vater längst tot war und sie inzwischen die Frau des angesehenen Möbelfabrikanten Siegfried Fleischmann und Mutter dreier bereits erwachsener Kinder, steckte noch immer dieselbe Energie in ihr, wenn es galt, die Familie zusammenzuhalten. Vermutlich litt sie am meisten unter der Entfremdung, die zwischen den Brüdern Einzug gehalten hatte. Franz begann es zu dämmern, dass dies der Grund ihres Besuchs sein könnte. Warum sonst sollte sich die »kleine Toni« an diesem herrlichen Sommertag zu ihm bemühen?

»Was verschafft mir die Ehre?«, fragte er unumwunden.

»Ich wollte sehen, wie es dir geht«, antwortete seine Schwester, und ihr traute er tatsächlich zu, dass sie das ehrlich meinte.

»Jetzt siehst du es: Mir geht es gut«, gab er zurück und begann sich nach seinem Schreibtisch zu sehnen. Denn am besten, das wusste er, ging es ihm doch immer bei der Arbeit.

»Das ist schön«, antwortete Toni. »Seit Lottes Beerdigung hab ich dich nicht mehr wiedergesehen«, fügte sie hinzu. »Wir alle machen uns Gedanken um dich …«

»… was vollkommen überflüssig ist«, schnitt er ihr das Wort ab. Das fehlte noch, dass man sich um ihn Sorgen machte. Er hatte nicht vor, über den Tod seiner Frau zu sprechen. Nicht einmal mit der kleinen Toni.

Er nahm den Zwicker ab und rieb sich die Augen. Und obwohl die Gestalt seiner Schwester nur noch eine verschwommene Silhouette für ihn war, fühlte er, wie sie ihn aufmerksam musterte.

»Ich möchte, dass du am Sonntag zu unserem Familientee kommst«, sagte sie freundlich, aber bestimmt. »Es geht nicht, dass du dich weiterhin so zurückziehst. Deine Familie ist für dich da, vor allem jetzt.« Und als er etwas erwidern wollte, kam sie ihm zuvor. »Keine Widerrede, lieber Franz. Und bring deine Tochter mit. Soviel ich höre, ist auch die Lisbeth nicht ganz glücklich …«

»Was soll das heißen, ›auch‹?«, entgegnete Franz barsch. »Ich erlaube dir nicht, über meinen Gemütszustand zu urteilen, Toni, Schwester hin oder her. Wie ich mich fühle? Das geht nur mich alleine etwas an.«

»Lotte hat sich das Leben genommen«, fuhr Toni ungerührt fort. »Weil sie sich und dir ihr langes Leiden ersparen wollte, so rücksichtsvoll war sie. Kein Mensch, Franz, nicht einmal du, steckt so etwas einfach weg.« Franz setzte den Zwicker wieder auf, und das Gesicht seiner Schwester gewann an Kontur. Ihre großen, dunklen Augen waren sorgenvoll auf ihn gerichtet. »Komm am Sonntag zum Tee. Um fünf. Ich bitte dich. Und wenn du es nicht für dich tun willst, dann tu’s für das Betriebsklima.«

»Das Betriebsklima?«, fuhr Franz auf. »Soweit ich weiß, ist es warm genug in den Büros, und wem zu heiß ist, dem stehen Ventilatoren zur Verfügung.« Zornig funkelte er seine Schwester an. »Jetzt wird mir langsam klar, warum du wirklich gekommen bist. Wer hat dich geschickt? Heinz? Oder Karl?«

»Keiner hat mich geschickt«, erwiderte Toni, und ihre Augen funkelten entrüstet. »Du solltest mich gut genug kennen, Franz. Ich brauche keinen von den Herren Neffen, um zu sehen, wie ihr euch gegenseitig das Arbeiten schwer macht. Glaubst du, wir Ullsteinfrauen kriegen nicht mit, dass ihr kaum noch normal miteinander umgeht? Was ist das mit Hermann, der nur noch schriftliche Notizen herumschickt, statt mit euch zu reden? Wieso enden Besprechungen unter euch Direktoren fast immer in einer Schreierei? Denkst du, das war es, was unser Vater im Sinn hatte, als er euch allen fünfen die Verantwortung für das Ullstein-Imperium übertragen hat?«

Darauf wusste Franz nichts zu antworten. Toni hatte recht. Und doch …

»Das ist nicht meine Schuld …«, wollte er nach einer Weile erklären, wobei Toni ihn sofort unterbrach.

»Das sagen die anderen auch. Keiner hat Schuld. Ihr seid wie Kinder, Franz. Schlimmer noch. Die streiten um ein paar Spielsachen. Bei euch jedoch geht es um …«

»Toni, lass gut sein«, bat Franz. »Ich weiß, worum es geht. Und ich sage dir, wo das Problem liegt. Statt einer Direktion haben wir so etwas wie ein Parlament im Haus mit all den Söhnchen und Neffen, Schwiegersöhnen und bald auch Enkeln. So geht das nicht, Toni. So kann man kein Unternehmen führen.«

»Die Jungen sind unsere Zukunft«, wandte Toni sanft ein.

»Ein Zeitungsimperium ist kein Seifengeschäft, das man einfach an den leiblichen Nachwuchs weitervererben kann«, brauste Franz auf. »Dazu ist die Aufgabe der Medien für das Bewusstsein einer Gesellschaft viel zu bedeutsam. Die Kinder müssen erst beweisen, dass sie dieser großen Aufgabe überhaupt gewachsen sind.«

»Aber Franz«, gab Toni freundlich zu bedenken. »Die ›Kinder‹ sind erwachsene Männer, sie stehen in ihren Dreißigern und haben einen Krieg überlebt.« Sie betrachtete ihn mitfühlend. »Ich weiß«, fügte sie hinzu. »So ein Generationswechsel ist nicht einfach …«

»So weit sind wir noch lange nicht«, fiel ihr Franz scharf ins Wort und erhob sich. Alles, was recht war. Diese Unterredung war das Letzte, was er im Augenblick brauchte.

»Komm am Sonntag zum Fünfuhrtee«, wiederholte Toni und erhob sich ebenfalls. »Stell dir vor, die Anni kommt aus Dessau mit ihrem Mann. Bring die Lisbeth mit, sie soll ihren Ehemann zu Hause lassen.«

»Aha«, machte Franz unzufrieden. »Jeder andere meiner Brüder trumpft mit seinem Schwiegersohn auf. Nur mein eigener ist nicht erwünscht? Weißt du eigentlich, dass Dr. Kurt Saalfeld im Verlag eine äußerst wichtige Position innehat? Er ist für den Einkauf von Papier zuständig, Papier, liebe Toni, damit hat unser Vater einst angefangen, und Saalfeld erledigt seine Aufgabe ausgezeichnet, im Gegensatz zu manch anderen Direktorensöhnchen und …«

»Darum geht es gar nicht«, stoppte Toni seinen Redefluss. »Gegen seine Qualitäten ist überhaupt nichts einzuwenden.«

»Worum geht es dann?«

»Dass er deine Tochter nicht glücklich macht«, erklärte Toni ihm mit der Geduld einer Mutter, die ihrem Kind etwas nahebringen will. »Darum geht es.« Sie ergriff ihre Handtasche und klemmte sich Die Dame unter den Arm. »Also, Franz. Bis Sonntag. Ich zähle auf dich.«

Was sie nur alle mit dem Alter haben, fragte sich Franz, als er sich wieder über seine Arbeit beugte. Dabei war er im vergangenen Jahr erst sechzig geworden. Sechzig. Das war doch kein Alter, um ans Aufhören zu denken. Dennoch schienen alle genau das im Sinn zu haben. Vor allem Heinz. Und jetzt fing auch noch die kleine Toni damit an. Generationswechsel. Wenn er das schon hörte. Nicht einmal Louis hatte im Sinn, sich zurückzuziehen. Und der war immerhin fünf Jahre älter als er.

Er schob seinen Stuhl zurück und erhob sich. Ehe er darüber nachdenken konnte, was er da tat, hatte er sich von Hilde Mantel und Hut geben lassen und das Gebäude verlassen. Auf die Frage seiner Sekretärin, ob sie Herrn Wohlrabe, seinen Fahrer, rufen sollte, hatte er gesagt, dass er sich ein wenig die Beine vertreten wollte.

Draußen auf dem Gehsteig blendete ihn die tiefstehende Spätnachmittagssonne. Erstaunt sah er sich um, es war Sommer, und die Stunde des Flanierens hatte begonnen. Elegante Damen in Nachmittagskleidern und verrückten Hüten, die wie Hauben auf ihren Kurzhaarfrisuren saßen, strebten den Cafés in der Friedrichstraße zu. Eine junge Frau, die Lotte ähnlich sah, ging nah an ihm vorbei und streifte ihn mit einem freundlichen Blick.

Und auf einmal war der Schmerz da, dort, an der Stelle, wo sein Herz saß.

Er blieb stehen und atmete tief durch. Mit seinem Herzen hatte das nichts zu tun, er war beim Arzt gewesen, das war geklärt. Es war, weil seine Schwester Lotte erwähnt hatte. Warum hatte Toni ihm das angetan? Es hatte keinen Sinn, darüber nachzugrübeln, was geschehen wäre, wenn seine Frau sich ihm anvertraut hätte, statt sich auf die Schienen zu legen und sich von einem Nachmittagszug zwischen Berlin und Potsdam totfahren zu lassen. Dass ihr Gynäkologe ihr mitgeteilt hatte, dass sie unheilbar an Krebs erkrankt war, hatte er erst hinterher erfahren. Die Vermutung, dass sie sich mit ihrem Freitod vieles erspart hatte, machte es jedoch nicht besser.

Franz Ullstein schwitzte, er war zu warm angezogen für diesen Sommertag. Was war nur in ihn gefahren, als er es abgelehnt hatte, seinen Wagen rufen zu lassen?

»He, Alter, kannste nich mehr loofen?« Eine Schar Halbwüchsiger rauschte von hinten an ihm vorüber, einer rempelte ihn sacht an der Schulter an, und sogleich fuhr Franz’ Hand in seine Manteltasche. Die Brieftasche war noch da. Der Junge drehte sich um und grinste ihm frech ins Gesicht.

Dass er auch einmal so gewesen sein könnte, jung, übermütig, immer einen kessen Spruch auf den Lippen – daran konnte er sich kaum noch erinnern. Es waren andere Zeiten gewesen, sagte er sich. Alles war anders gewesen. Und da wurde ihm bewusst, dass das früher immer die Alten gesagt hatten.

Seufzend ging er zurück ins Ullstein-Haus und bat Tomaschke, seinen Chauffeur herzubestellen. Und da er nun schon mal umgekehrt war, ging er hoch ins Büro, um einen Stapel Akten mit nach Hause zu nehmen. Denn was sollte er tun, den ganzen langen Abend, wenn nicht arbeiten?

Als er wieder zur Pforte kam, stand ein schlaksiger junger Mann vom Typ Botenjunge bei Tomaschke, eine Mappe unter dem Arm. Franz Ullstein hätte ihn glatt übersehen, wenn nicht plötzlich ein hübsches rothaariges Fräulein an ihm vorbeigesaust und dem Jungen direkt um den Hals gefallen wäre.

»Und?«, fragte die junge Frau erwartungsvoll. »Was hat er gesagt?«

»Nüscht«, antwortete ihr Verehrer niedergeschlagen. »Alles für die Katz.«

»Ihr Wagen ist da«, hörte Franz den Pförtner sagen. Doch er konnte die Augen nicht von dem jungen Paar wenden.

»Wirklich?« Das rothaarige Fräulein wirkte am Boden zerstört. Tränen standen in den hinreißenden grüngoldenen Augen. »Dabei sind deine Fotografien so wunderschön, Emil.«

4

Während sie in die Markgrafenstraße in Richtung Landwehrkanal einbogen, gab sich Lili alle Mühe, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Wochenlang hatte sich Emil auf diesen Tag vorbereitet. Jede freie Minute hatten sie damit verbracht, die Fotografien zu sortieren, die er mit der alten Boxkamera seines Großvaters geschossen hatte. Unermüdlich hatten sie darüber diskutiert, welche Aufnahme besser war als die andere. Und sein ganzes Geld samt den Groschen, die sie von ihrem schmalen Verdienst erübrigen konnte, war in die Anschaffung von Belichtungsplatten, Fotopapier und Chemikalien für die Entwicklung geflossen. Und nun sollte alles umsonst gewesen sein?

»Er hat gesagt, so was hätte er schon tausendmal gesehen.« Seine Stimme klang gepresst. »Und dass sie solche Amateurbilder nicht gebrauchen können.«

Lili war klar, welch harten Schlag dies für Emils Selbstbewusstsein bedeutete. Ihr Verlobter mochte auf andere zwar recht forsch wirken, in Wirklichkeit war er jedoch eine zartbesaitete Künstlerseele.

»Hast du ihn denn gefragt, was genau er an den Bildern auszusetzen hat?«

»Ich bin ja kaum zu Wort gekommen«, schimpfte Emil los. »Die haben ja keine Zeit für einen. In zwei Minuten war ich wieder draußen. Die Fotografien hat er nur rasch durchgeblättert. Nicht mal richtig hingeschaut hat er.« Lili schwieg. Da fiel selbst ihr nichts Tröstliches mehr ein. »Das war’s dann«, schloss er. »Die alte Box kommt in den Müll.«

»Nein, auf keinen Fall«, widersprach sie energisch. »Wir werden neue Belichtungsplatten kaufen, und du beginnst von vorn.«

»Ach, Lili«, sagte Emil und blieb stehen. »So kann es nicht weitergehen. Ich brauch endlich eine anständige Stelle. Sonst können wir niemals heiraten, das weißt du doch. Und von den Gelegenheitsaufträgen für Herrn Brandstetter kann ich kaum mich selbst ernähren. Die Konkurrenz ist groß, alle wollen sie Hochzeitspaare und Kommunionskinder fotografieren. Und viele haben modernere Apparate als ich.«

»Trotzdem sind deine Bilder besser«, erwiderte Lili. »Auch wenn deine Boxkamera nicht die neueste ist. Und Fotografieren ist nun mal das, was du am liebsten tust«, fügte sie rasch hinzu und hakte sich bei Emil unter. »Seit ich dich kenne, sprichst du von nichts anderem. Nur weil dich dieser olle Paschke …«

»Päschke«, korrigierte Emil sie.

»Ist doch egal. Nur weil ihm deine Bilder nicht gefallen, muss das noch lange nicht heißen, dass …«

»Lili, es ist die Ullstein-Bildredaktion, die verstehen was davon. Wenn die es Kacke finden, dann …«

»Ach was, die kochen auch nur mit Wasser«, beharrte Lili. Sie war zornig. Auf diesen Päschke und wie sie alle hießen, diese eingebildeten Fatzken. Nur weil sie auf der Lohnliste der Ullsteins standen, glaubten sie, die Nase höher tragen zu dürfen als andere. Sie hatte großes Glück, dass Vicki Baum sie aus dem riesigen Schreibsaal geholt hatte, wo unter den strengen Augen einer Aufseherin dreißig Tippfräulein dicht an dicht ihre Schreibmaschinen traktierten und irgendwelche Texte abschrieben, die gerade hereingereicht wurden. Dass sie ausgerechnet bei der berühmten Schriftstellerin gelandet war, war besser als ein Hauptgewinn in der Lotterie gewesen, dessen war sie sich durchaus bewusst. Ihre Freundinnen hatten es ungleich schlechter getroffen. Fritzi aus der Lohnbuchhaltung und Anna, die im Großraumbüro der Eilmeldungen arbeitete, konnten ein Lied davon singen, wie geringschätzig so manches Tippfräulein in diesem ehrwürdigen Haus behandelt wurde. Und mussten sich zudem noch auf Schritt und Tritt vorsehen, um den Grapschehänden der Laufburschen und Redakteure auszuweichen. Vicki Baum dagegen war eine großartige Frau und Lilis Idol. Und sie hatte vor, eine Menge bei ihr zu lernen. Denn auch Lili hatte ihre heimliche Leidenschaft … »Ich hab eine Idee«, sagte sie plötzlich und hielt Emil am Ärmel fest. »Wir zeigen deine Fotos Frau Baum.«

Emil sah sie unwirsch an und wischte sich die vorwitzige Locke aus der Stirn, die sie so liebte.

»Frau Baum?«, fragte er genervt. »Die schreibt doch Romane! Was versteht die schon von Fotografie?«

»Frau Baum versteht von allem etwas«, behauptete Lili. »Vielleicht kann sie dir sagen, was deinen Bildern fehlt.«

»Meinen Bildern fehlt gar nüscht«, fuhr er zornig auf, und Lili begriff, dass sie die Sache vorerst ruhen lassen musste. Wenn Emil in dieser Stimmung war, war er für keine vernünftigen Überlegungen zu haben.

Inzwischen waren sie in ihrem Kiez in Kreuzberg angelangt.

»Ich muss nach Hause«, sagte sie und gab ihm einen Kuss. »Die andern warten mit dem Abendbrot. Holst du mich später ab? So um zehn?«

»Klar«, machte Emil. Seine Laune war noch immer ganz am Boden.

»Komm schon«, schmeichelte Lili und zog ihn an sich. »Nicht so. Gib mir einen richtigen Kuss. Ich versprech dir auch, alles wird gut.«

»Ach, Lili«, sagte er wieder, doch seine Mundwinkel hoben sich zu einem zärtlichen Lächeln. »Ich hab dich so lieb, meine Süße. Also um zehn.« Und dann gab er ihr einen Kuss, sodass ihr Hören und Sehen verging.

Zu Hause herrschte große Aufregung. Lilis fünfzehnjährige Schwester Gundi saß mit leuchtend roten Wangen am gedeckten Tisch und erzählte etwas von Paris, Schüleraustausch und deutsch-französischer Verständigung. Ihre Mutter hantierte am Herd und füllte Pellkartoffeln in die Porzellanschüssel mit dem Blümchenmuster, während Gotthilf Blume mit skeptisch zusammengezogenen Brauen seiner Jüngsten zuhörte.

»… und wenn ich die Prüfung bestehe, wird es überhaupt nichts kosten, sagt Fräulein Schönthaler«, erklärte Gundi gerade. »Das bezahlt alles diese … warte mal«, sie blätterte in ihrem Heft, bis sie die Stelle gefunden hatte, »die Deutsche Liga für Menschenrechte.«

»Nur, dass hinterher so ʻne Franzosen-Krabbe dann bei uns wohnen soll«, gab der Vater zu bedenken. Er war im Krieg gewesen, wie jeder seines Jahrgangs, und hatte vor Verdun gelegen. Ein glückliches Schicksal hatte ihm jedoch eine Fleischwunde am Bein zugedacht, die zwar lange gebraucht hatte, um zu verheilen, ihm letztlich aber das Leben an vorderster Front gerettet hatte. Dass die Franzosen nun allerdings ihre Freunde sein sollten, daran hatte er noch schwer zu knabbern. »Und wo bringen wir das Mädchen unter? Wir haben doch keinen Platz.«

Das war ein berechtigter Einwand. Familie Blume lebte in einer Zweiraumwohnung plus Küche. In der einen Kammer schliefen Vater und Mutter, während Gundi sich mit Lili das andere Zimmer teilte. Die Küche war Wohn- und Esszimmer in einem. Und dabei hatten sie es noch gut. Sie kannten Familien, da lebten sieben Personen in einem einzigen Zimmer.

»Na … bei mir im Bett«, erklärte Gundi nach kurzem Zögern mit deutlich gebremster Begeisterung. »Außer …«, sie warf ihrer älteren Schwester einen fragenden Blick zu, »Lili, sag mal, wann wollt ihr eigentlich heiraten, du und Emil?«

Lili lachte. »Du willst mich wohl loswerden, wie?« Sie nahm ihrer Mutter die Schüssel ab und stellte sie samt dem Salzfässchen auf den Tisch.

»Mutti, was sagst du dazu?«, fragte Gundi flehentlich.

Hedwig Blume nahm die Schürze ab und warf einen kurzen Blick in den kleinen Spiegel über dem Waschtisch. Niemals würde sie sich zerzaust oder sonst irgendwie derangiert an den Tisch setzen, sie war der Meinung, dass man, auch ohne viel Geld auszugeben, auf sich achten sollte, und hatte dies an ihre Töchter weitergegeben.

»Ich finde, das ist eine ausgezeichnete Idee«, sagte sie, nachdem alle Platz genommen hatten.

»Meinst du das im Ernst?«, fragte ihr Mann überrascht.

»Ja, warum denn nicht«, erwiderte Hedwig. »Reisen bildet. Und eine andere Sprache lernen kann nützlich sein. Was meinst du, Lili? Ein Tippfräulein mit Französischkenntnissen findet sicher einmal eine gute Stellung. Oder?«

»Bestimmt«, sagte Lili. »Jetzt erzähl noch mal von vorn, Gundi. Du willst nach Paris?«

»Im August«, verkündete ihre Schwester. »Fräulein Schönthaler meint, dass ich den Test bestehen kann, wenn ich noch fleißig lerne. Dann komme ich für drei Monate in Paris bei einer Familie unter. Und die Tochter der Gastfamilie kommt genauso lang zu uns. So kann sie Deutsch lernen und ich Französisch.«

»Und die Schule?«, fragte der Vater. Dass Gundi das Gymnasium besuchte, war sein ganzer Stolz.

»Ich geh dort zur Schule«, antwortete Gundi triumphierend.

»Das klingt wirklich fabelhaft«, erklärte Lili. »Und das mit dem Bett, das kriegen wir schon hin. Auch wenn das mit dem Heiraten so schnell nicht klappen wird, kann ich sicherlich für einige Zeit bei Fritzi unterkommen. Oder bei Anna. Ich finde, du solltest dich unbedingt bewerben und …«

»Aber Paris«, warf ihr Vater ein, und Lili begriff, dass er sich jetzt schon Sorgen um sein »Küken« machte. »Das ist eine große, gefährliche Stadt …«

»Vermutlich nicht gefährlicher als Berlin«, erklärte Lili und dachte an die schöne Frau Dr. Gräfenberg, die zwischen Paris und Berlin hin- und herpendelte, wie es ihr gefiel. Ach, sie stellte sich das einfach himmlisch vor. Zu gern würde auch sie ein solches Leben führen. Doch daran war natürlich nicht zu denken. Zuerst brauchte Emil ganz dringend eine Anstellung. Und zwar als Fotograf. Alles andere würde ihn nur unglücklich machen.

Als könnte ihre Mutter Gedanken lesen, fragte sie plötzlich: »Wie lief das eigentlich heute mit Emils Bewerbung?«

Aller Augen waren nun auf Lili gerichtet. Das Stück Kartoffel in ihrem Mund fühlte sich plötzlich an wie Blei.

»Nicht so gut«, räumte sie ein, nachdem es ihr gelungen war, es hinunterzuschlucken.

»Er hat also nicht …«

»Ist schon gut, Gundi«, unterbrach die Mutter sie. »Es war ja schließlich sein erster Versuch, nicht wahr?«

Lili nickte tapfer.