Schäfchensommer - Beate Rygiert - E-Book

Schäfchensommer E-Book

Beate Rygiert

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Beschreibung

Ein idyllischer Schwarzwaldhof. Eine Familie, die zusammenhält. Eine Geschichte über Freundschaft, starke Frauen und viele flauschige Schafe!

Nie ist Elke so glücklich wie im Frühjahr, zu Beginn der Weidesaison, wenn sie morgens auf der Schwarzwaldhöhe steht und auf die Lichter der fernen Dörfer in der Rheinebene hinabschaut. Elke ist Schäferin und führt – wie ihre Mutter und Großmutter vor ihr – den „Lämmerhof“. Einziger Wermutstropfen sind die zunehmenden finanziellen Schwierigkeiten des Familienbetriebs. Doch dann kehrt nicht nur Elkes große Liebe überraschend zurück in die Heimat – Chris, der ihr vor vielen Jahren das Herz gebrochen hat –, sondern auch ihre Schwester Julia steht plötzlich vor der Tür, im Schlepptau die widerwillige Zoe. Das Mädchen ist in die falschen Kreise geraten, und Sozialarbeiterin Julia will, dass Elke Zoe bei sich auf dem abgelegenen Hof aufnimmt – gegen Bezahlung. Nein danke, denken sowohl Elke als auch Zoe. Doch bald stellt sich heraus, dass die beiden ungleichen Frauen sich vielleicht gar nicht so unähnlich sind, wie sie glauben …

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Buch

Nie ist Elke so glücklich wie im Frühjahr, zu Beginn der Weidesaison, wenn sie morgens auf der Schwarzwaldhöhe steht und auf die Lichter der fernen Dörfer in der Rheinebene hinabschaut. Elke ist Schäferin und führt – wie ihre Mutter und Großmutter vor ihr – den »Lämmerhof«. Einziger Wermutstropfen sind die zunehmenden finanziellen Schwierigkeiten des Familienbetriebs. Doch dann kehrt nicht nur Elkes große Liebe überraschend zurück in die Heimat – Chris, der ihr vor vielen Jahren das Herz gebrochen hat – , sondern auch ihre Schwester Julia steht plötzlich vor der Tür, im Schlepptau die widerwillige Zoe. Das Mädchen ist in die falschen Kreise geraten, und Sozialarbeiterin Julia will, dass Elke Zoe bei sich auf dem abgelegenen Hof aufnimmt – gegen Bezahlung. Nein danke, denken sowohl Elke als auch Zoe. Doch bald stellt sich heraus, dass die beiden ungleichen Frauen sich vielleicht gar nicht so unähnlich sind, wie sie glauben …

Autorin

Beate Rygiert studierte Theater-, Musikwissenschaft und Italienische Literatur in München und Florenz und arbeitete anschließend als Theaterdramaturgin, ehe sie den Sprung in die künstlerische Selbstständigkeit wagte. Nach Studien an der Kunstakademie Stuttgart, der Filmakademie Ludwigsburg und der New York Film Academy schrieb sie Bücher und Drehbücher, für die sie renommierte Preise wie den Würth-Literaturpreis und den Thomas-Strittmatter-Drehbuchpreis erhielt. Beate Rygiert reist gern und viel und hat eine Leidenschaft für gute Geschichten. Zu Hause ist sie in einem idyllischen Dorf im Schwarzwald.

VonBeate Rygiertbereits erschienen

Herzensräuber

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Beate Rygiert

SCHÄFCHENSOMMER

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.Copyright © 2020 by Beate Rygiert by Blanvalet Verlag, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenRedaktion: Angela KuepperUmschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com (llaszlo; 1st Gallery; Saulich Elena; Funny Solution Studio)AF · Herstellung: samSatz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, MünchenISBN978-3-641-23286-3V001www.blanvalet.de

Für meine Freunde vom Alberstein, Maria, Bernd und Max, und ihre Schafe

Prolog

Zoe wusste, dass es ein Fehler war. Dem vernünftigen Teil in ihr war vollkommen klar, dass nicht gut gehen konnte, was Leander von ihr verlangte. Sie war schon einmal geschnappt worden, ein zweites Mal durfte das nicht passieren.

»Sie traut sich nicht.« Chantal musterte sie mit einem provozierenden Grinsen. »Gib mir den Stoff. Ich hab keine Angst.«

Doch Leander beachtete Chantal gar nicht. Seine Augen, das eine braun, das andere blau wie das Eismeer, ruhten auf Zoe. Er sah sie auf eine Weise an, wie es sonst keiner je getan hatte. Seine Augen sagten: Du und ich, wir gehören zusammen. Du und ich gegen den Rest der Welt. Sie sagten: Ich zähle auf dich. So wie du auf mich zählen kannst. Ganz egal, was passiert.

Zoe nahm das Döschen aus Leanders Hand. Es fühlte sich warm an, und es schien ihr, als würde diese Wärme durch ihren Körper fließen. Du und ich. Gegen den Rest der Welt.

»Woran erkenne ich den Typen?«, fragte sie.

»Er wird dich ansprechen«, antwortete Leander. »Du musst dich um gar nichts kümmern. Er wird dich fragen, ob du Leanders Freundin bist. Und du musst nicht mal lügen, wenn du Ja sagst.«

Er zog sie in seine Arme und küsste sie, als wollte er ihre Lippen verschlingen. Seine Zunge füllte ihren Mund vollständig aus, und obwohl ihr das immer ein wenig zu viel war, fühlte sie erneut, wie sich ihr Unterleib vor Begehren schmerzhaft zusammenzog. Er ist die Liebe meines Lebens, hatte sie gestern in ihr Tagebuch geschrieben. So war es. Und so würde es für immer bleiben.

»Der Zug geht in einer Stunde«, hörte sie Leander nah an ihrem Ohr flüstern.

»Bringst du mich hin?«

Er schüttelte den Kopf.

»Das wäre viel zu auffällig. Du weißt doch …«

Ja, sie wusste. Leander hatte bei der Polizei eine Akte. Deswegen konnte er nicht selbst fahren. Deshalb brauchte er sie. Der Haken war nur, auch sie hatte eine.

»Lass mich das machen«, brachte sich Chantal schmollend in Erinnerung. »Für dich würde ich alles tun.«

Leanders Hand fuhr geschmeidig unter Zoes T-Shirt und streifte kurz ihre Brustwarzen. Von Chantal nahm er überhaupt keine Notiz.

Auf der Bahnhofstoilette schloss Zoe sich in eine Kabine ein und öffnete die Metalldose. Vierundzwanzig goldene Pillen ruhten darin, schön in Watte gepackt. Zoe überlegte. Mit genau so einem Döschen war sie schon einmal erwischt worden – dass Leander nicht daran gedacht hatte! Sie brauchte etwas Unauffälligeres, etwas, das die Zöllner nicht öffnen würden. Sie stöberte in ihrer Handtasche, fand ihr Pfefferspray und schließlich die angebrochene Notfallpackung Minitampons. Rasch füllte sie die goldenen Pillen in das Pappschächtelchen um. Den Zöllner wollte sie erleben, der seine Nase dort hineinsteckte.

Im ICE fand sie ein leeres Abteil. Für die Strecke zwischen Freiburg und Basel Badischer Bahnhof auf der deutschen Seite der Grenze brauchte der Zug dreiunddreißig Minuten, dort wartete man unerträgliche Minuten lang, ehe er die Schweizer Grenze passierte. Um sich zu beruhigen, beschloss Zoe, von tausend rückwärtszuzählen. Sie war gerade bei achthundertvierundsiebzig angelangt, als die Abteiltür geöffnet wurde.

Der Grenzpolizist musterte sie, sein Blick verharrte missbilligend auf ihren Haaren. Rechts fielen sie lang hinab bis zu ihrem Ellbogen. Auf die Farbe war sie besonders stolz, an den Spitzen fliederfarben mit einem Verlauf zu Dunkelviolett hinauf zum Ansatz. Auf der linken Seite trug sie einen millimeterkurzen Undercut. Zoe gefiel es, zwei Seiten zu haben: die eine langhaarig und die andere abrasiert.

Der Polizist schloss die Abteiltür wieder, und Zoe atmete auf. Dann hörte sie irgendwo Hundegebell. Erschrocken sprang sie vom Sitz auf und sah aus dem Fenster. Ein paar Uniformierte mit einem Schäferhund an der Leine kamen den Bahnsteig entlang. Zoes Alarmglocken schlugen grell an. Sie liebte Hunde. Aber nicht in diesem Zusammenhang. Nicht mit dem, was sie in ihrer Handtasche hatte. Das Abteil war ihr plötzlich viel zu eng, und sie stürmte hinaus. Am Ende des Gangs drehte sich der Grenzpolizist nach ihr um. Panisch rannte sie in die entgegengesetzte Richtung und sprang aus dem Zug. Auf dem Bahnsteig stolperte sie, stürzte, rappelte sich wieder auf. Sie sah einen Müllcontainer und riss ihre Handtasche auf. Wühlte nach dem Schächtelchen mit den Tampons und hatte stattdessen das Pfefferspray in der Hand.

Und dann ging auf einmal alles ganz schnell. Sie sah die Polizistin mit dem Schäferhund auf sich zukommen und drehte sich um, wäre beinahe gegen den Grenzpolizisten geprallt, der ihr aus dem Zug gefolgt war. Ihre Hand hob sich wie von selbst, löste das Spray aus.

Es war ein Fehler. Ein ganz verdammter, schrecklicher Fehler. Der vernünftige Teil in ihr wusste es. Doch es war zu spät. Mit einem markerschütternden Brüllen ging der Mann in die Knie.

1. Kapitel

Erwachen

Als Elke in den Stall kam, war das Lämmchen schon geboren.

Wie so oft war sie mitten in der Nacht mit dem Gefühl wach geworden, dass ihre Tiere sie brauchten. Doch Moira, das dunkelbraune Mutterschaf mit den sanften Augen, hatte es wieder einmal ganz allein geschafft. Hingebungsvoll leckte sie ihrem Kleinen das Bäuchlein sauber, während sich Elke davon überzeugte, dass keine Schleimpfropfen seine Atemwege verstopften und auch mit Moira alles in Ordnung war. Mit geübten Griffen nabelte sie das Lämmchen ab und desinfizierte die Wunde.

Es war still in der Mutter-Kind-Station, wie Elke diesen Teil des Stalls nannte, in dem sie jedes Frühjahr die trächtigen Tiere unterbrachte, damit sie ungestört ihre Kleinen zur Welt bringen konnten. Nur Moiras Atmen war zu hören und hin und wieder das Rascheln der anderen Schafe im Stroh. Das Lämmchen hatte die Farbe von dunkler Schokolade, genau wie seine Mutter, und der feuchte Flaum, der dessen Körper bedeckte, begann, sich unter Moiras eifriger Zunge leicht zu ringeln. Jetzt öffnete es die Augen, blickte sich erstaunt um und ließ einen feinen, hohen Laut hören. Dann raffte es all seine Kraft zusammen und versuchte, sich auf den wackligen Beinchen aufzurichten.

Schon so viele Male hatte Elke das miterlebt, und doch schien es ihr immer wieder aufs Neue wie ein Wunder. Es war das dreizehnte Lamm in dieser Woche, und Elke überlegte sich gerade einen passenden Namen, als sich die Stalltür leise öffnete und wieder schloss.

»Ist die Nachgeburt schon raus?«

»Alles bestens«, antwortete Elke und bedachte Bärbel mit einem liebevollen und doch auch vorwurfsvollen Blick. »Warum bleibst du nicht im Bett, Mama? Die Kälte tut deiner Hüfte überhaupt nicht gut.«

»Ach was«, gab Bärbel zurück und ging leise ächzend in die Hocke, um das Lamm zu begutachten. »Im Bett sterben die Leute, hat dein Vater immer gesagt.«

Er ist aber nicht im Bett gestorben, wollte Elke antworten, doch sie biss sich auf die Zunge. Ihr Vater war im Wald beim Fällen einer Fichte ums Leben gekommen, und das im besten Alter. Acht Jahre war dieser Unfall nun her. Er hatte eine Lücke hinterlassen, die nicht zu schließen war.

Elke erhob sich und überließ ihrer Mutter den Platz an der Seite des Mutterschafs. Sie wusste, wie sehr Bärbel an der Herde hing und dass sie sich nur schwer damit abfinden konnte, aufgrund ihres Hüftleidens zu Hause bleiben zu müssen, wenn Elke die Herde gemeinsam mit ihrem Lehrling Pascal und ihren Hunden über die Hochweiden des Schwarzwalds führte. Lange würde es nicht mehr dauern, der Frühling war schon zu erahnen. Sobald die Lämmer kräftig genug waren, würden sie aufbrechen. Elkes Herz schlug höher bei dem Gedanken.

»Ein Maidle, schau an. Hast du schon einen Namen für die Kleine?«, fragte Bärbel, während sie das Lamm vorsichtig an Moiras Zitzen heranführte, damit es die wertvolle erste Milch zu trinken bekam, die sogenannte Biestmilch, die so wichtig für das Immunsystem des Neugeborenen war.

»Was hältst du von Miri?«, schlug Elke vor.

»Das klingt schön.« Bärbel strahlte sie glücklich an. »Nun trink mal ordentlich, Miri. Damit du groß und stark wirst, genau wie deine Mama.«

Elke ging hinüber zu den anderen trächtigen Schafen. Tula ruhte auf ihrem Lager aus frischem Stroh, ihr aufgeblähter Leib hob und senkte sich in gleichmäßigen Zügen. Nette und Briggi jedoch wirkten unruhig, ein deutliches Zeichen dafür, dass ihre Niederkunft nicht mehr lange auf sich warten ließ.

»Lass uns wieder schlafen gehen«, schlug Elke ihrer Mutter vor und half ihr, sich aufzurichten. »Moira kommt allein zurecht.«

Die kleine Miri hatte die Zitzen gefunden und trank gierig. Elke versorgte Moira noch mit frischem Wasser und Kraftfutter, aber das Mutterschaf hatte nur Augen für ihr Junges.

Draußen fegte ein kühler und doch schon frühlingshafter Wind über den Lämmerhof, ließ die Plane über dem sauber gestapelten Holz knattern und zerrte an einer Dachrinne, die sich ein wenig aus der Verankerung gelöst hatte. Er riss Elke den Schäferhut vom Kopf, sodass sich ihre lange goldbraune Lockenmähne über ihren Rücken ergoss. Vielerlei Düfte nach Erde und dem Sprießen der ersten Frühjahrskräuter trug der Wind mit sich, und Elke hob schnuppernd den Kopf.

Sie hörte, wie ihre Mutter die knarzende Holztreppe zu ihrem Schlafzimmer hinaufging, und stellte sich einen Augenblick lang unschlüssig vor die offene Haustür. Sollte auch sie noch mal unter die Bettdecke schlüpfen?

Es war kurz nach fünf Uhr, die Morgendämmerung färbte den Himmel über der Schwarzwaldhöhe, auf welcher der Lämmerhof mit dem Giebel dem Westhang zugeneigt saß wie ein Löwe kurz vor dem Sprung, tiefblau. Unter ihm fächerten sich die westlichen Ausläufer des Mittelgebirges auf, fielen über Kämme und Hügel ab bis zur Rheinebene, in der unter dem frühmorgendlichen Dunst die Lichter der Dörfer und Städte diesseits und jenseits des großen Flusses glommen. Hinter sich fühlte Elke den enormen Korpus des Lämmerhofs, hörte das vertraute Knarren und Knacken des uralten Ständerbaus aus nun bald vierhundert Jahre alten, miteinander verzapften Eichenbalken. Ihr war, als dehnte und reckte sich das riesige Haus mit seinen vielen Zimmern und Kammern und erwachte in der unmerklich voranschreitenden Morgendämmerung zu neuem Leben. Seit Generationen hatte dieses Gehäuse ihre Ahnen beherbergt, deren Familien einst zahlreich gewesen waren und außerdem Platz benötigt hatten für Knechte und Mägde.

Heute bewohnten es Elke und Bärbel allein. Nur Pascal, der das Schäferhandwerk bei ihnen gelernt hatte und schon bald ein geschickter, umsichtiger Tierwirt sein würde, wie ihr Beruf offiziell hieß, hatte sich im Leibgedingehaus auf der anderen Seite des ehemaligen Dreschplatzes ein gemütliches Nest eingerichtet. In den vergangenen Wochen hatte er die Gesellenprüfung abgelegt, und Elke zweifelte nicht daran, dass er als einer der Besten seines Jahrgangs abschneiden würde. Sie verstanden sich blind, Pascal war für Elke der Bruder, den sie nie gehabt hatte, und eines Tages, so hoffte sie, würde er eine Frau finden, der das Leben hier oben nicht zu abgelegen war, würde eine Familie gründen und den Hof und die Herde irgendwann einmal ganz übernehmen. Denn wer sollte das sonst tun?

Sie wollte sich gerade umwenden und in die Küche gehen, um Kaffee zu machen, als in der Stille des Morgens ein Vogelruf erklang, unterbrochen von kleinen melodischen Trillern. Elke lauschte. Kein Zweifel, es war die erste Heckenbraunelle dieses Jahres, die von ihrer Winterreise aus Afrika zurückgekehrt war. Elkes Herz machte einen Sprung, sie verschob den Kaffee auf später, schlang ihr Haar um die Hand, drehte es zu einem Dutt und verstaute es wieder unter ihrem Hut. Dann zog sie ihre Jacke fester um sich. Sie wollte dem Vogel nachgehen, wollte dabei sein, wenn sich der Wandel vom ausgehenden Winter in den Frühling vollzog.

Auf der Wiese über der Tenne hielt sie kurz inne. Ein Zaunkönig hatte sich der Heckenbraunelle angeschlossen, und während Elke den Pfad einschlug, der hinter dem Haus den Hang hinauf zum Waldrand führte, stimmte ein Rotkehlchen in den morgendlichen Gesang mit ein.

Der Weg führte an Bärbels Bienenstöcken vorbei und hinauf zu einer bewaldeten Kuppe, die ihre Familie seit Menschengedenken Hasenkopf nannte, auch wenn dieser Name auf keiner Flurkarte verzeichnet war. Mit leichten Schritten nahm die Schäferin den steilen Aufstieg. Noch ehe sie die höchste Stelle erreicht hatte, sah sie, wie der Himmel die Farbe von wilden Heckenrosen annahm, dann immer leuchtender wurde, bis schließlich die ersten Strahlen der Sonne durch die Tannen fielen und dabei Myriaden von Wassertropfen zum Glitzern brachten. Dort, wo die Bäume am dichtesten standen, lagen noch Reste von verharschtem Schnee, doch an den Stellen, wo das Licht im Laufe der länger werdenden Tage den Grund bereits erreichen konnte, schoben sich erste Triebe von Pfeifengras, Huflattich und Rasenbinse aus der nassen Erde.

Der Chor der Singvögel schwoll an. Rings um Elke rieselte und tropfte das Wasser von den Zweigen, quoll aus dem Moos und bildete Pfützen und Tümpel, lief an den Stämmen der Fichten und Buchen, der Eichen und Kiefern herab, sammelte sich gurgelnd in Rinnsalen und vereinigte sich in plätschernden Bächlein. Vom Waldboden stieg der unverkennbar frische Duft nach Frühling auf, würzig und voller Süße.

Kein Zweifel, der Winter war endgültig vorüber, die Zeit des Erwachens hatte begonnen.

Elke erreichte den Hochsitz und kletterte hinauf. Von hier oben bot sich ein weiter Blick in alle vier Himmelsrichtungen. Der Hof selbst lag an der nach Südwesten geneigten Seite, und wer sich aus dem Tal zu ihm hinauf verirrte, dem verschlug es die Sprache angesichts der Aussicht über die Rheinebene bis hinüber nach Straßburg und auf die dahinter aufragenden Vogesen. Vom Hochsitz aus jedoch sah man auch in die entgegengesetzte Richtung weit über die Höhenzüge des Schwarzwalds hinweg nach Osten, wo Elke hinter rötlichem Dunst die Schwäbische Alb nur erahnen konnte, geblendet vom gleißenden Licht der aufgehenden Sonne.

Es geht wieder los, dachte sie und ließ den Blick über die weich gerundeten Höhenzüge im Süden gleiten, die sogenannten Grinden, baumlose Flächen voller Heidekraut und horstig wachsender Süßgräser, zahlloser Kräuter und Beerensträucher.

Über diese Hochweiden würde sie in den folgenden Monaten ihre Tiere führen, immer im Wettlauf mit dem Wetter und dem unerbittlichen Wechsel der Jahreszeiten. Das tat sie Jahr für Jahr im Auftrag der Naturschutzbehörde, denn ohne die Beweidung durch Schafe würden diese Freiflächen, die seltenen Pflanzen und Tieren eine Heimat boten, innerhalb kürzester Zeit vom Wald verschlungen werden. Die Grinden bildeten eine eigentümlich verzauberte Landschaft wie aus den alten Überlieferungen, und Elke konnte es nicht erwarten, dorthin zurückzukehren. Es wurde Zeit. Das Stallfutter ging zu Ende, die meisten Lämmer waren geboren, ihre Herde befand sich in einem guten Zustand, was nicht selbstverständlich war nach einem harten Winter.

Elke lehnte sich auf der schmalen Holzbank des Hochstands zurück. Ihr Blick fiel auf das abgerundete Brett, das mit zwei Messingscharnieren an der Seitenlehne befestigt war. Wenn man es hochklappte und mit einem Stützkeil fixierte, hatte man einen kleinen Tisch vor sich, auf dem man eine Thermoskanne abstellen oder ein paar Sätze in ein Notizbuch schreiben konnte. In all den Jahren seit dem Tod ihres Vaters funktionierte das Scharnier noch immer, ohne zu klemmen, so wie alles Bestand hatte, was von seiner Hand stammte. Und von Elke immer wieder gewartet und gepflegt wurde, so wie sie Brett und Scharnier regelmäßig mit Leinöl einrieb und jedes schadhafte Rundholz ersetzte.

Elke vermisste ihren Vater. Sie wusste, dass es ihrer Schwester ebenso erging, von ihrer Mutter ganz zu schweigen. Um den Verlust ertragen zu können, sprachen sie nicht darüber, wie sehr er ihnen fehlte, jede von ihnen machte das mit sich allein aus. Doch das Schweigen linderte den Schmerz nicht. Und immer wieder kehrten Elkes Gedanken zurück zu dem Mann, der ihrer Meinung nach den Tod ihres Vaters verschuldet hatte.

Er hätte die Fichte besser sichern müssen.

Dieser Satz hatte sich in Elkes Gehirn gefressen und war nicht mehr daraus zu vertreiben. Jeder wusste, dass man einen so mächtigen Baum in einer derart steilen Lage sorgfältig sichern musste. Alles andere war lebensgefährlich. War fahrlässig. Und damit unverzeihlich. Elke verstand nicht, wie ihre Mutter es fertigbrachte, noch immer genauso liebenswürdig zum Meinhardtsbauern zu sein wie früher. Sie selbst schaffte es nicht. Stattdessen schlug sie einen großen Bogen um den Mann, der ihrer Meinung nach schuld daran war, dass ihr Vater von der alten Fichte erschlagen worden war, auch wenn sie wusste, dass er sich das selbst nicht verzieh. Doch was nützte seine Reue? Sie machte ihren Vater auch nicht mehr lebendig.

Elke rieb sich die Augen. Um sie herum erstrahlte die Landschaft in grüngoldenem Licht. Die Nebel in den Niederungen rissen auf, wurden von den Aufwinden wie Zuckerwattefäden verwirbelt und nach oben gezogen, wo sie sich in der erwärmenden Luft nach und nach auflösten. Das Leben ist zu kurz, um sich zu grämen, hatte ihr Vater oft gesagt. Schon als Kleinkind war sie das erste Mal von ihm hierher mitgenommen worden, und als sie nur wenig größer gewesen war, hatte sie still und andächtig den geheimnisvollen Übergang von der Nacht zum Tag an seiner Seite erlebt, hatte Rehe und Hirsche aus dem Wald treten sehen, Hasenfamilien beobachtet, die im Morgendämmern aus ihren Bauten kamen, um die Sonne zu begrüßen. Nie würde sie das erste Mal vergessen, als sie gemeinsam dem charakteristischen Ruf der Auerhähne gelauscht hatten und Zeugen ihrer merkwürdigen Balztänze geworden waren, dieser prächtigen, riesengroßen Hähne mit den feuerroten Flecken um die Schnäbel, die ihre blaugrün glänzenden Schwanzfedern wie einen Fächer ausbreiteten, auf ihren kurzen Krallenfüßen herumhüpften, und das alles nur, um den Weibchen zu gefallen.

Als Förster hatte ihr Vater alle Geheimnisse des Waldes und seiner Bewohner gekannt, und auch wenn er ihr eine Menge beigebracht hatte, so war sich Elke doch sicher, dass er viel zu viele davon mit in sein Grab genommen hatte.

Vom Hof weit unter sich hörte sie Gebell, dann das Geklapper von Metallkannen. Es musste sechs Uhr sein, denn um diese Zeit versorgte ihre Mutter die Hunde und ging in den Ziegenstall, um die Milch für ihren berühmten Käse zu melken. Die Ziegen hatte sich Bärbel vor vier Jahren angeschafft, als abzusehen gewesen war, dass sie nicht mehr wochenlang auf den Hochweiden unterwegs sein konnte.

Es war nicht ihre Art, sich länger als nötig gegen das Unvermeidliche zu stemmen, und deshalb hatte sie ihre schier unerschöpfliche Energie in neue Bahnen gelenkt. Elkes Großmutter Theresia hatte bereits Ziegen gehalten, und als junges Mädchen hatte Bärbel von ihr das Käsemachen gelernt. Nach einer Phase des Experimentierens und einiger Besuche von Käsereien in der Schweiz und dem Allgäu gelang es ihr, dermaßen delikate Laibchen zu produzieren, außen fest und innen cremig, dass die Sterneköche der Gegend sie ihr nur so aus der Hand rissen. Bärbel war nicht wenig stolz auf diesen Erfolg, und wenn sie an diesem Morgen die vollen Kannen mithilfe des Rollwagens, den Elke für sie konstruiert hatte, in die Kühlkammer schob, würde sie vermutlich überschlagen, wie viele Ziegen sie haben müsste, um alle Anfragen zu erfüllen. Andere Bauern nahmen den Muttertieren die gesamte Milch für ihren Käse weg und ernährten die Ziegenkinder mit Kuh- oder Kunstmilch, doch Bärbel wollte das nicht. Ihre Zicklein sollten die Milch ihrer Mütter erhalten, nur das, was sie übrig ließen, verarbeitete sie. Auch wenn die feinen Leute, die sich in den sündteuren Restaurants nach einem üppigen Menü noch ein Stück von ihrem Käse in den Mund schoben, das möglicherweise nicht zu würdigen wussten: Für Bärbels Käse musste kein Tier Mangel leiden, das wäre ja noch schöner. Und Elke liebte ihre Mutter dafür.

Es dauerte nicht lange, und Elke hörte das vertraute Hecheln ihres Hütehundes Victor, der Bärbel einmal mehr entwischt war, um Elkes Fährte zu folgen. Mit freudig wedelnder Rute erschien er wenig später unter dem Hochsitz und sah zu ihr empor. Dann kontrollierte er die Umgebung, markierte zwei, drei Bäume und setzte sich in Habtachtstellung vor die Leiter, den Blick aufmerksam auf den Pfad gerichtet. So wartete er geduldig, bis sie zu ihm hinunterstieg, und als sie sich auf den Heimweg machte, schlug er vor Freude beinahe Purzelbäume.

An diesem Morgen kamen noch drei weitere Lämmer zur Welt, und so wurde es halb elf, bis Elke und ihre Mutter sich ein ordentliches Frühstück gönnen konnten. Bärbel schlug Eier von ihren Hühnern in die Pfanne und schnitt vom im eigenen Holzofen gebackenen Bauernbrot einige Scheiben ab.

»Ist noch etwas von der Heidelbeermarmelade da?«, fragte Elke.

»Nur noch ein Glas«, antwortete Bärbel. »Und das hab ich für deine Schwester beiseitegetan. Nimm doch von dem Brombeergelee. Oder vom Honig.«

Der Duft von frisch gebrühtem Kaffee erfüllte die Küche, auf dem Tisch stand ein Brett mit Schwarzwälder Rauchfleisch, ein regelmäßiges Geschenk vom Meinhardtsbauern, das Elke schon allein deshalb nie anrühren würde, weil sie seit vielen Jahren Vegetarierin war. Wie konnte man sein Leben mit Tieren verbringen, um sie am Ende aufzuessen? Ihre Mutter hielt diese Haltung zwar für ein wenig überspannt, hatte aber nie versucht, sie ihr auszureden.

Bärbel hatte ihnen beiden die knusprigen Spiegeleier eben auf die gebutterten Brotscheiben gelegt, als es draußen hupte. Es war Lena, die junge Postbotin, die seit einem halben Jahr eingeteilt war, die Bergbauernhöfe anzufahren, und sich, davon war Bärbel überzeugt, in Pascal verguckt hatte.

»Komm rein! Kaffee ist fertig.«

Mit einem Packen Briefsendungen und der Tageszeitung im Arm stürmte die junge Frau in die Küche und ließ sich auf einen Stuhl fallen.

»Hm«, sagte sie und schnupperte. »Das riecht aber gut bei euch.«

»Möchtest du auch ein Ei?«

Lena schüttelte den Kopf, griff aber dankbar nach dem Henkelbecher mit Kaffee, in den Bärbel einen großzügigen Schuss Sahne getan hatte. Der gemeinsame Kaffee mit der Postbotin war ein kleines Ritual und deren Vorlieben längst in Bärbels Kopf gespeichert. Vielleicht gehörte sie ja bald zum Haushalt, man wusste nie.

»So spätes Frühstück?«, erkundigte sich Lena und ließ den blonden Pferdeschwanz wippen, als sie von Elke zu Bärbel sah.

»Vier Lämmergeburten«, antwortete Elke und machte sich über ihr Spiegeleibrot her.

»Oh, wie süß, darf ich sie sehen?«

»Klar«, grinste Bärbel.

»Ist Pascal nicht da?«, fragte Lena.

»Der ist noch in der Stadt«, gab Bärbel zurück und warf Elke einen bedeutsamen Blick zu. Siehst du? Wusste ich es doch, schien sie sagen zu wollen. »Nach den Prüfungen hat er sich freigenommen und ist zu seinen Eltern gefahren. Morgen kommt er zurück, nicht wahr, Elke? Und ich sag dir eines, Lena. Wenn sein Gesellenzeugnis erst einmal da ist, gibt es ein Fest auf dem Lämmerhof.«

»Es ist … Ich hab nämlich zwei Briefe für ihn«, sagte Lena und kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe herum. »Und der eine ist aus Neuseeland.«

»Seit wann schaust du dir die Post anderer Leute an?«, fragte Elke mit einem Augenzwinkern, und doch konnte auch sie nicht den Blick von dem kleinen Stapel abwenden, der am anderen Ende des Tisches lag. Ein Brief aus Neuseeland kam nicht alle Tage.

»Hat er nicht einmal erzählt, dass er dort Verwandte hat?«, sagte Bärbel leichthin. Sie schob ihr Besteck zusammen und erhob sich. »Möchtest du jetzt die Lämmer sehen?«

Die beiden verschwanden in Richtung Stall, während Elke den Tisch abräumte. Dann sah sie rasch die Post durch, wobei sie es tunlichst vermied, die beiden an ihren Lehrling adressierten Umschläge einer näheren Prüfung zu unterziehen. Das tat man einfach nicht. Außerdem beschäftigte ihre eigene Post sie weit mehr, als ihr lieb war. Der Kontoauszug war wie immer ernüchternd. Und dann waren da noch die Rechnung für die neuen Infrarotstrahler und die vom Tierarzt für die Entwurmung der Herde. Elke verschob es auf später, sie zu öffnen.

Draußen hupte es zweimal, dann brauste Lena in ihrem Postauto wieder davon.

»Neuseeland«, sagte Bärbel nachdenklich vor sich hin, als sie wieder in der Küche war. Die Post auf der Kommode, auf der Elke sie wie immer abgelegt hatte, schien sie magisch anzuziehen. Entschlossen griff sie nach einem größeren Umschlag, der in keine DIN-Norm passte, und wog ihn in der Hand.

»Mama!«, sagte Elke mahnend.

»Du meinst, wir sollten nicht nachsehen, wer der Absender ist?«

»Nein, das sollten wir nicht. Das nennt man Privatsphäre. Und … und Briefgeheimnis. Das weißt du doch.«

»Na gut«, gab Bärbel zurück, doch dann fiel ihr Blick auf den zweiten Brief, und ein Strahlen flog über ihr Gesicht.

»Der da ist vom Prüfungsamt!«, rief sie freudig aus. »Sieh mich nicht so an«, fügte sie mit unschuldiger Miene hinzu. »Der Stempel ist so groß, wie sollte man den übersehen?« Elke lachte und schüttelte den Kopf. Doch Bärbel war noch nicht fertig. »Was hältst du davon, wenn wir eine Überraschungsparty organisieren?«, schlug sie vor. »Wir laden natürlich Lena ein, die verständigt die anderen, mit denen er so gern abhängt. Und Jule. Und …«

»Bist du dir sicher, dass er sich darüber freuen wird?«, wandte Elke ein. Bei diesen jungen Menschen wusste man nie.

»Natürlich freut er sich!«, behauptete Bärbel. »Wir können auch seine Eltern einladen. Sie dürfen natürlich nichts verraten, wenn er noch dort ist. Und Karl von der Naturschutzbehörde. Und unsere Nachbarn natürlich.«

»Auch den Meinhardtsbauern?«

»Den auch. Selbstverständlich.« Bärbel warf Elke einen strengen Blick zu. »Du darfst nicht so nachtragend sein. Deinem Vater wäre das nicht recht.«

Doch Elke war bereits aus der Tür.

Wenn Bärbel etwas in die Hand nahm, dann gelang es auch. Sie telefonierte den halben Nachmittag durch die Gegend, und am nächsten Vormittag füllte sich der Hof mit Helfern. Die große Scheune wurde ausgeräumt und gefegt, Tische und Bänke aufgestellt und festlich gedeckt, der Meinhardtsbauer stiftete ein Fässchen Bier, und Karl Hauser vom Naturschutzzentrum, in dessen Auftrag die Schäferei seit Jahren die Grinden abweidete, hatte noch eine Kiste selbst gemachten Apfelwein übrig. Die Fridolinsbäuerin versprach, einen ihrer legendären riesigen Hefezöpfe zu backen, und Bärbel setzte in ihrer Rührmaschine, in der sie normalerweise Brot knetete, Teig für Flammkuchen an. Von Pascals Eltern hatte sie in Erfahrung gebracht, dass ihr Sohn vorhatte, gegen sechs Uhr abends auf dem Lämmerhof einzutreffen.

Um diese Zeit kam auch Lena mit Pascals Freunden aus dem Tal. Sie steckten noch Wachsfackeln rund um den Hof in die Erde, dann war alles für das Überraschungsfest bereit.

»Und wenn er durchgefallen ist?«, wagte die Fridolinsbäuerin zu fragen, die schon am Nachmittag gekommen war, um bei der Vorbereitung der Flammkuchen zu helfen.

»Durchgefallen? Pascal? Nie im Leben«, entgegnete Bärbel empört. Immer wieder sah sie unruhig nach dem Zufahrtsweg. »Wo Jule nur bleibt?«, fragte sie halb laut.

»Bist du sicher, dass sie es schaffen wird?«, erkundigte sich Elke. Es würde sie nicht wundern, wenn einer der schwierigen Jugendlichen, um die sich ihre Schwester kümmerte, ihnen einen Strich durch die Rechnung machen würde.

»Sie hat es versprochen«, brummelte Bärbel. Auch sie wusste, dass jederzeit ein Notfall dazwischenkommen konnte. »Vielleicht wird es ja ein bisschen später.«

Denn das wurde es nämlich meistens.

Es ging auf sieben Uhr zu, und die Gäste wurden langsam ungeduldig, als Pascal endlich in seinem alten VW-Käfer auf dem Lämmerhof eintraf. Sein überraschtes Gesicht angesichts des beleuchteten Hofs und der Menschenmenge, die ihn erwartete, brachte Bärbel zum Lachen.

»Hab ich was verpasst?«, fragte er, nachdem er den Wagen neben dem Traktor abgestellt hatte. Verwirrt blinzelte er in das Licht der vielen Fackeln. »Hat jemand Geburtstag?«

»Willkommen zu Hause!«, rief Bärbel.

»Herzlichen Glückwunsch«, tönte es von allen Seiten. Bärbel drückte ihm einen Umschlag in die Hand.

»Hier«, sagte sie bestimmt. »Dein Prüfungsergebnis. Und wir wollen jetzt alle wissen, was da drinsteht.«

Pascal blickte auf und direkt in Elkes Gesicht, die ihm verschwörerisch zublinzelte und leicht mit dem Kopf nickte. Er starrte auf den Brief und begriff endlich, riss ihn auf und zog das Blatt hervor. Es war mucksmäuschenstill geworden, alle sahen ihn erwartungsvoll an. Er schluckte, wirkte auf einmal ziemlich nervös.

»Gib her«, raunte Bärbel, die es nicht mehr aushielt.

»Mama«, fuhr Elke warnend dazwischen. »Lass ihn.«

Pascal faltete den Brief auf, und einen schrecklichen Augenblick lang befürchtete Elke, er könnte tatsächlich durchgefallen sein. Aber nein, rief sie sich zur Ordnung, das ist unmöglich. Und da erscholl auch schon sein Jubelschrei; seine Hand, die das Prüfungsergebnis hielt, schnellte nach oben.

»Ihr könnt das Bier anzapfen«, rief er und reichte das Schreiben an Bärbel weiter. »Vor euch steht ein diplomierter Schäfermeister, auch Tierwirt genannt.«

»Ich hab es gewusst«, jubelte Bärbel und wedelte mit dem Brief durch die Luft. »Eine glatte Eins! Junge, ich bin stolz auf dich!«

Die erste Ofenladung Flammkuchen war bereits verteilt, als Julia in ihrem Golf auf dem Lämmerhof eintraf.

»Du siehst müde aus«, sagte Elke, die ihrer Schwester entgegengegangen war, um sie zu begrüßen. »Welcher jugendliche Schwerverbrecher hat dich diesmal aufgehalten?«

»Kein Schwerverbrecher«, widersprach Julia und löste sich mit einer lustigen Grimasse aus Elkes Umarmung. »Eher ein dummes, verzogenes, unglückliches Gör, das sich mal wieder mit bunten Pillen im Handtäschchen erwischen ließ. Und dann auch noch mit Pfefferspray herumfuchtelte.«

»Du bist zu gutmütig«, erklärte Elke, während sie zu den anderen hinübergingen.

»Dafür kann ich über Nacht bleiben. Ich hab mir morgen freigenommen. Zu viele Überstunden.«

»Ach, wie schön! Bist du hungrig?«

»Und wie!«, antwortete Julia. »Na, da ist ja unser Superstar. Herzlichen Glückwunsch, Pascal.« Lena rückte ein wenig zur Seite, sodass sich Julia zu ihnen setzen konnte. »Ich bin ja so froh, dass du hier auf dem Hof bist«, fuhr Julia fort. »Allein könnte Elke das alles ja überhaupt nicht schaffen.«

Pascal antwortete nicht. Für einen, der gerade seinen Abschluss feierte, wirkte er nachdenklich und in sich gekehrt, fand Elke. Verlegen lächelte er ihrer Schwester zu, dann wandte er rasch den Blick ab. Wahrscheinlich war ihm der Rummel einfach peinlich. Pascal machte ohnehin nie viele Worte, er war ein ruhiger junger Mann, und es war kein Wunder, dass er sich zum Schäferberuf hingezogen fühlte.

»Wir sind alle froh, dass du hier bist, Pascal«, erklärte Lena und strahlte den frischgebackenen Tierwirt an.

»Möchtest du ein Bier?«, fragte Pascal in Richtung Julia und stand auf. »Ich hol dir eines.«

»Ja, das wäre nett«, antwortete Julia überrascht.

Lief der Junge dieser Unterhaltung etwa davon?, überlegte Elke und ging nachsehen, ob die zweite Ofenladung Flammkuchen schon fertig war.

Jeder der Gäste hatte seinen eigenen weiten Heimweg, und so waren gegen elf Uhr alle aufgebrochen. Nur Lena schob den Abschied hinaus, half mit, Gläser und Geschirr in die Küche zu tragen, und spülte sogar noch ab. Doch als Pascal sich zurückzog, ohne sie einzuladen zu bleiben, fuhr auch sie, sichtlich enttäuscht, hinunter ins Tal.

Elke, die immer wieder nach ihren Schafen gesehen hatte, überzeugte sich ein weiteres Mal davon, dass in der Mutter-Kind-Station alles in Ordnung war. Dann zog sie sich mit ihrer Schwester in die »Mädchenkammern« zurück, wie sie ihre beiden Zimmer neben dem gemeinsamen Bad im ausgebauten Heuschober immer noch nannten. Dabei war besonders Elkes Zimmer mit seinen fast dreißig Quadratmetern geräumig. Das ein Meter vierzig breite Bett hatte sie sich während des Studiums angeschafft, und auch ihr Schreibpult aus dem Holz eines alten Kirschbaums stammte noch aus dieser Zeit. Und da sie hier hauptsächlich in der kalten Jahreszeit lebte, war es mit einem modernen Schwedenofen ausgestattet.

»Vielleicht könntest du einen meiner Jugendlichen hier aufnehmen«, meinte Julia, nachdem sie beide geduscht hatten und in ihren Schlafanzügen, so wie früher, in Elkes Zimmer beisammensaßen. »Wir suchen ständig nach Betreuungsplätzen.«

»Auf keinen Fall«, entgegnete Elke und gähnte herzhaft. Es war ein langer Tag gewesen. »Mir reichen sechshundert Schafe. Ich kann nicht auch noch auf einen jugendlichen Straftäter aufpassen.«

»Wie sich das anhört«, beschwerte sich Julia. »Jugendliche Straftäter. Das sind ganz normale Kinder, die Blödsinn gemacht haben. Wir haben auch Blödsinn gemacht, als wir jung waren. Weißt du nicht mehr?«

»Aber doch nicht so«, widersprach Elke und zog die Knie an. In ihrem hellblauen Pyjama und mit der langen Lockenpracht, um die ihre Schwester sie von klein auf beneidet hatte, wirkte sie wie Mitte zwanzig, dabei war sie schon zweiunddreißig.

»Als du damals den Trecker genommen hast, um zu deiner Freundin ins Tal hinunterzufahren, wie alt warst du da? Fünfzehn?« Julia strich sich eine Strähne ihres dünnen blonden Haares, das sie von ihrer Mutter geerbt hatte, hinters Ohr.

»Zwölf. Aber das war etwas ganz anderes …«

»Das sagen sie alle. Du hattest einfach Glück, als du vom Weg abgekommen bist, dass da ein paar kräftige Tannen standen. Ansonsten wärst du …«

»Ja, ja, ich weiß«, unterbrach Elke sie mit einem schiefen Grinsen. »Papa hat es oft genug wiederholt. Ich wäre den Abhang runter und dem Fridolinshof ins Scheunendach gestürzt. Aber ich hätte keinem mehr Ärger gemacht, weil ich mir dabei das Genick gebrochen hätte.«

Julia zog die Augenbrauen hoch und versuchte, dabei streng auszusehen.

»Und falls nicht, wärst du vors Jugendgericht gekommen. Soll ich dir die Delikte aufzählen, die du in deiner Jugend alle verbrochen hast?«

»Danke, nein«, lachte Elke. Dann wurde sie ernst. »Ich finde es toll, dass du das machst, das weißt du. Mit deinen beiden Examen könntest du weiß Gott einen bequemeren Job haben.«

»So wie du«, konterte Julia. »Du könntest in einem Zuchtbetrieb arbeiten oder einen Hightech-Hof leiten. Aber nein, meine Schwester will wie vor hundert Jahren mit ihrer Herde über die Berge ziehen. Verstehe das, wer will.«

Elke sah ihre Schwester erschrocken an.

»Aber du, du verstehst das doch, oder?«

»Natürlich versteh ich dich. Und du mich auch, hoffe ich.«

Elke tat so, als müsste sie schwer nachdenken. Doch als Julia sie in die Seite knuffte und dann Anstalten machte, sie wie in alten Zeiten durchzukitzeln, beeilte sie sich, kichernd zu versichern: »Klar versteh ich dich, Jule. Das weißt du doch.«

In dieser Nacht schlief Elke tief und fest, und als sie aufwachte, war es kurz nach sechs. Sie hörte Bärbels Milchkannen auf dem Wagen leise scheppern, dann das Geräusch, mit dem die Tür zum Ziegenstall wieder zufiel, und drehte sich ausnahmsweise noch einmal im Bett um. Bärbel hatte sicher nach den Lämmern gesehen, fünf Minuten durfte sich Elke noch gönnen.

Als sie eine halbe Stunde später die Stalltür öffnete, schlugen ihr Wärme entgegen und der vertraute Geruch nach den Leibern und dem Wollfett der Schafe. Pascal hatte bereits ausgemistet und schob gerade den letzten Schubkarren hinaus. Elke ließ Wasser in die Tränken laufen und verteilte frische Streu. Die Eimer mit dem Kraftfutter hatte Pascal auch schon vorbereitet und trug sie nun zu den verschiedenen Trögen.

»Nächste Woche gehen wir mit ihnen raus«, sagte Elke. »Auf die Hausweide. Damit sie sich daran gewöhnen.«

Pascal nickte, während er die neugierige Fabiola liebevoll von sich schob und sich Annabell zuwandte, um deren Klauen zu kontrollieren.

»Ja«, antwortete er, »es wird Zeit«, und half der schüchternen einjährigen Gretel, sich ihren Weg durch die massigen Leiber der anderen Schafe zur Tränke zu bahnen. Elke hatte schon mehrere junge Menschen zum Tierwirt ausgebildet, doch Pascal war mit Abstand der Begabteste. Sie war so unsagbar froh, ihn bei sich zu haben.

Elke war Schäferin in der fünften Generation auf dem Lämmerhof. Obwohl das Schafehüten traditionell als Männersache galt, waren in ihrer Familie stets die Frauen dieser Aufgabe nachgegangen und hatten die Linie an ihre Töchter weitergegeben. So hatte Elke die Schäferei vor einigen Jahren von Bärbel übernommen, diese von ihrer Mutter Theresia, und davor war es Elkes Urgroßmutter Anna gewesen, die von einem entfernten Onkel eine kleine Herde von etwa hundert Tieren geerbt hatte. Elke war stolz auf ihre Ahninnen, die nach und nach den Bestand vergrößert und sich in dieser Männerwelt einen guten Namen erarbeitet hatten. Auch Elke war eine viel geachtete Schäferin und gewann mit ihrer Herde regelmäßig Preise.

Der einzige Unterschied zwischen Elke und ihren Ahninnen war jedoch, dass jede von ihnen einen tüchtigen Mann an ihrer Seite gehabt hatte, während Elke noch immer Single war. Sie hasste es, darauf angesprochen zu werden. Und bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen ihre Mutter sagte: »Ohne Männer hätte es keine von uns geschafft. Sieh dich nach einem passenden um, solange es noch Zeit ist«, stürmte Elke regelmäßig aus der guten Stube des Lämmerhofs, riss ihre Jacke vom Haken im Flur und verließ das Haus.

Ich brauche niemanden, sagte sie sich dann, und das tat sie auch an diesem Morgen, als sie sah, wie Pascal den reizbaren Caruso beruhigte und sich danach Al Capones Klauen widmete, indem er die verhornten Stellen fachmännisch mit seinem Klappmesser wegschnitt. Zum Glück, dachte Elke, haben wir Pascal.

Beim Mittagessen war der frischgebackene Schäfer jedoch noch stiller als sonst. Bärbel hatte Julia zuliebe Dampfnudeln mit echter Vanillesoße zubereitet, und sie waren ihr wunderbar gelungen. Alle langten kräftig zu, nur Pascal schien heute weniger Appetit zu haben als sonst.

»Was ist los«, fragte Bärbel mit gerunzelter Stirn, während er die beiden Dampfnudeln auf seinem Teller hin- und herschob. »Schmeckt es dir heute nicht?«

»Ich muss euch etwas sagen«, erklärte er und legte sein Besteck auf den Tisch. Dabei wurde er über und über rot. Auf einmal hatte Elke ein flaues Gefühl im Bauch.

»Was hast du auf dem Herzen?«, fragte Bärbel herzlich wie immer und warf Elke einen bedeutungsvollen Blick zu. »Sicher geht es um dein Gehalt, nicht wahr? Als ausgelernter Schäfer werden wir dir natürlich …«

»Nein«, unterbrach Pascal sie. »Darum geht es nicht. Es ist …« Er schluckte und warf Elke einen kurzen, scheuen Blick zu. »Ich werde weggehen. Nach Neuseeland.« Er stieß geradezu erleichtert den Atem aus und biss sich auf die Unterlippe.

»Du tust … was?« Es war Bärbel, die ihren Ohren nicht trauen wollte.

»Mein Onkel hat mir eine Stelle besorgt«, erklärte Pascal und starrte auf eine Stelle vor sich auf dem Tisch. »Und … ja, ich … ich habe schon zugesagt.«

2. Kapitel

Abschied

Es war ganz still in der großen Bauernküche. Nur das Summen einer entnervten Stubenfliege war zu hören, die nicht begreifen konnte, warum die Fensterscheibe ein so hartes, kaltes Hindernis zur Freiheit darstellte. Elke fühlte sich benommen, ganz als hätte ihr jemand einen Schlag gegen den Kopf versetzt.

»Du meinst … du willst uns im Herbst verlassen? Wenn die Saison zu Ende ist?« Sie wollte es noch immer nicht glauben.

Doch Pascal presste die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf. Er zog den Umschlag, der in keine DIN-Norm passte, aus der Innentasche seiner Schäferweste und legte ihn behutsam vor sich auf den Tisch. »Hier ist ein Arbeitsvertrag drin«, sagte er bedächtig. »Und ein Flugticket.«

»Wann?«, fragte Julia mit Empörung in der Stimme.

»Nächste Woche.«

Der Stuhl krachte zu Boden, als Elke aufsprang und die Küche verließ. Sie hörte nicht, wie die Tür hinter ihr ins Schloss fiel. In ihrem Kopf hallten die Worte nach. Ein Flugticket. Nächste Woche. Das hatte Chris auch gesagt, damals. Ehe er aus ihrem Leben verschwunden war.

Ihre Hunde sprangen kläffend am Gitter des Zwingers empor und jagten begeistert heraus, als sie die Tür öffnete, allen voran der kluge Victor. Schon Elkes Großmutter hatte diesen eigenwilligen Schlag Altdeutscher Hütehunde gezüchtet, die sogenannten Strobel. Es waren struppige Kerle, die nicht gerade einfach zu erziehen waren, das Fell grau, rehbraun und schwarz gescheckt, die gelben Augen hellwach. Doch genau diese Hunde hatten es auch Elke angetan, und das nicht nur, weil sie mit ihnen aufgewachsen war. Sie schätzte den starken und treuen Charakter, das Temperament und die Ausdauer ihrer Gefährten.

Victor, Achill und Strega gehorchten sofort auf ihren Pfiff, während der sechs Monate alte Tim und seine Schwester Tara eine Extraeinladung brauchten, ehe sie ihr folgten. Tara sollte eigentlich Pascals erster eigener Hütehund werden, sie hatten sie bislang gemeinsam erzogen. Daraus würde wohl nichts werden. Nach Neuseeland konnte er die hübsche, grau-schwarz getigerte Hündin kaum mitnehmen, und Elke hatte auch keine Lust mehr, sie ihm zu überlassen. Auch Tara würde mit dem Verlust fertigwerden müssen …

Bevor die Verzweiflung über sie herfallen konnte, hatte Elke mit energischen Schritten den Weg in Richtung Vogelskopf eingeschlagen. Es wurde höchste Zeit, die Hunde auf die Saison vorzubereiten, viel zu lange hatten sie auf der faulen Haut gelegen. Bald würden sie täglich achtzig bis hundert Kilometer zurücklegen müssen, wenn es galt, die Herde zu leiten und an ihren Flanken unermüdlich auf und ab zu patrouillieren. Noch ehe ihr jemand folgen konnte, war Elke aus Sicht- und Rufweite des Hofs und stieg in raschem Tempo den Berghang hinauf, so schnell, dass sie nicht zum Nachdenken kam.

Eine Dreiviertelstunde später hielt sie auf einer Lichtung an, durchgeschwitzt und außer Atem. Sie hatte die Schleppleinen mitgenommen und trainierte nun mit den Hunden die einfachen Befehle. Was bei den älteren tadellos klappte, war für Tim und Tara eine Herausforderung, zu groß war ihre Begeisterung, endlich unterwegs zu sein und einander über die Wiese zu jagen.

In kleinen Einheiten übte Elke mit den Jungspunden die einfachsten Befehle. Wie immer belohnte sie mit nichts weiter als ihrem Lob und Streicheleinheiten, als Tadel genügten der strenge Klang ihrer Stimme und Nichtbeachtung. Es galt, ein Band aus Emotionen und Gedanken zwischen ihr und jedem einzelnen Hund aufzubauen, dazu bedurfte es Konzentration und Selbstkontrolle. In den besten Fällen war es ihr, als lenkten ihre Gedanken den Hund, ohne dass sie die Befehle auch nur aussprechen musste. Das waren Momente schieren Glücks und der absoluten Einheit zwischen ihr und ihren Tieren, und dieser Harmonie schlossen sich meist auch die Leitschafe an. Dann schien es ein Leichtes, die sechshundert Tiere selbst über unwegsame, schmale Korridore zu leiten, so als wäre die Herde die Verlängerung ihres eigenen Körpers und die Hunde so etwas wie ihre ausgelagerten Hände. Doch an diesem wunderschönen Frühlingstag war Elke von dieser Harmonie weiter entfernt als Neuseeland vom Lämmerhof. Und kaum dass sie den Gedanken an Pascals Pläne zuließ, stürmten Tim und Tara auch schon, so als hätte sie eine unsichtbare Leine gelöst, auf und davon in den Wald.

Es bedurfte all ihrer Konzentration, um die jungen Hunde zurückzurufen. Die wussten genau, was sich eigentlich gehörte, und schlichen endlich mit eingezogenen Schwänzen und angelegten Ohren fast auf ihren Bäuchen kriechend zu ihr heran. Tara versuchte, ihr die Hand zu lecken, um sie freundlich zu stimmen, doch Elke entzog sich ihr streng. Sie leinte die beiden an und zwang sich dazu, sie keines Blickes zu würdigen, während sie den Rückweg antrat.

Pascal, dieser Verräter, ging also nach Neuseeland, und das ausgerechnet jetzt, direkt bevor die Wanderschaft begann. Die Enttäuschung darüber, wie wenig Rücksicht ihr Mitarbeiter, dem sie drei Jahre lang alles beigebracht hatte, was sie selbst wusste, auf sie und ihren Betrieb nahm, brannte wie Feuer in ihrem Herzen. Dass er überhaupt ging, wo sie ihm doch längst die Nachfolge auf dem Hof in Aussicht gestellt hatte, war schlimm genug. Aber ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt war es geradezu unanständig von ihm. Den Gedanken, was um alles in der Welt sie ohne ihn tun sollte, schob Elke noch immer von sich. Es war ohnehin klar, dass sie keinen Ersatz finden würde, schon gar nicht so kurzfristig. Bärbel würde zwar tagelang herumtelefonieren, doch es würde zu nichts führen. Elke kannte jeden einzelnen Schäfer nicht nur hier im Schwarzwald, sondern in ganz Deutschland, schließlich gehörte sie einer aussterbenden Zunft an. Sie war nicht die Einzige, die dringend einen Helfer benötigte. Außerdem wollte sie für die Weidesaison nicht irgendjemanden, sondern einen Partner, auf den sie sich verlassen konnte. Alles andere hatte überhaupt keinen Zweck.

Sie machte einen großen Umweg, um den Hunden ausreichend Auslauf zu verschaffen und ihrem inneren Aufruhr ein Ventil zu geben. Es dämmerte bereits, als sie erschöpft zum Lämmerhof zurückkehrte. In der Küche brannte Licht. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie einen der raren gemeinsamen Nachmittage mit ihrer Schwester versäumt hatte, und zu ihrer Verzweiflung und Enttäuschung gesellte sich noch die Reue darüber, einfach davongerannt zu sein. Es kam so selten vor, dass sie und Julia Zeit miteinander verbringen konnten. Vielleicht war sie schon wieder aufgebrochen?

Zu ihrer Erleichterung fand sie Schwester und Mutter am Küchentisch, ein Brett mit hausgemachtem Käse, Butter und Brot vor sich. So als hätten sie die Dampfnudeln gegen die Vesper eingetauscht. Erst jetzt merkte Elke, wie hungrig sie war.

»Wo ist Pascal?«, fragte sie.

»Weg«, antwortete Bärbel kurz und bündig, erhob sich und legte ein Gedeck für Elke auf.

»Unsere Mutter hat ihn rausgeworfen«, erklärte Julia und verzog das Gesicht. »Sie hat gesagt, wenn er es richtig findet, uns derart im Stich zu lassen, dann könne er gleich seine Sachen packen. Ja. Und das hat er dann auch getan, der Dickschädel.«

Elke stöhnte, ließ sich auf den Stuhl fallen und zog ihre schweren Schuhe aus. Dann stand sie auf, um sich die Hände am Spülstein zu waschen, der noch aus dem vorigen Jahrhundert stammte und aus Terrazzo gegossen worden war.

»Ist doch wahr«, schimpfte Bärbel und warf ihrer Tochter einen prüfenden Blick zu. Eigentlich wäre es Elkes Sache gewesen, das zu entscheiden, schließlich war sie seine Ausbilderin gewesen. »Oder hättest du ihn etwa noch behalten wollen?«

»Ach, ist jetzt auch schon egal«, murmelte Elke tonlos und trocknete ihre Hände ab. Über dem Spülstein hing ein kleiner Rasierspiegel. Ihr Vater hatte ihn dort vor vielen Jahren aufgehängt und niemand ihn seither entfernt. Sie musterte sich kurz in dem kleinen Rechteck. Was sie sah, kam ihr fremd vor. Auf einmal war sie entsetzlich müde.

Sie setzte sich zu Tisch, aß ein Käsebrot und trank ein großes Glas Wasser. Der Lämmerhof verfügte über eine eigene Quelle bester Qualität. Und doch schien es heute schal zu schmecken.

»Was willst du jetzt machen?«, fragte Julia in die lastende Stille hinein.

Elke zuckte mit den Schultern. »Was ich machen will? Weiter, was sonst?«

»Ganz allein?« Julia sah sie mit ihren großen blauen Augen besorgt an. »Das geht doch gar nicht. Wie willst du die Passagen bewältigen?«

Julia hatte lange genug auf dem Lämmerhof mitgeholfen, um die Gefahren zu kennen. Befand sich die Herde einmal auf einer Weide, konnte sie ein einziger Schäfer mit erfahrenen Hunden wohl hüten. Doch die Hochweiden der Grinden bildeten keine zusammenhängende Fläche. Um von einer auf die nächste zu gelangen, musste Elke mit sechshundert Schafen mitunter schmale Wanderwege nehmen, die bei so vielen Tieren rasch zu Nadelöhren wurden. Ganz besonders an solchen Stellen musste ein zweiter Schäfer die Nachhut sichern.

»Ich hab ja die Hunde«, erklärte Elke trotzig und sah an ihrer Schwester vorbei.

»Und wie willst du den Pferch transportieren?«

Elke zuckte mit den Schultern. Nachts brauchte sie einen mobilen Weidezaun, der aus leichten Kunststoffpfählen und einem Netz bestand, damit die Herde beisammenblieb. Der war zwar rasch aufzubauen und wog nicht viel, doch tragen konnte sie ihn schlecht allein. Zu zweit war das kein Problem. Wanderten sie weiter, fuhr üblicherweise einer der Schäfer den Zaun zur nächsten Weide und baute ihn dort gleich auf, während der andere bei der Herde blieb. Auch zu zweit war das eine recht komplizierte Logistik, doch Elke hatte sich bereits eine Lösung ausgedacht.

»Ich nehm wieder Papas alten Camper mit«, sagte sie. »Wenn wir die Weide wechseln müssen, fahr ich damit schon am Abend vorher zum neuen Weideplatz und bau dort den Pferch auf. Und je nachdem, wie fit ich noch bin und wie das Wetter ist, gehe ich am selben Abend zurück zur Herde oder lass sie dort in der Obhut der Hunde und kehr am nächsten Morgen früh zu ihr zurück. Das hat den Vorteil, dass ich den aktuellen Zustand des Wegs schon kenne und weiß, worauf ich dann mit der Herde achten muss.«

Zufrieden lehnte sie sich zurück. Sowohl Bärbel als auch Julia starrten sie zweifelnd an.

»Ist dir da nicht ein kleiner Denkfehler unterlaufen …«, begann Julia, doch Bärbel unterbrach sie.

»Nein, zwei Denkfehler, und zwar keine kleinen«, erklärte sie. »Erstens: Wie willst du den Pferch umziehen, wenn die Herde ihn noch auf der alten Weide braucht? Zweitens: Willst du wirklich an einem Tag die doppelte Wegstrecke zurücklegen?«

Elke seufzte. Die vergangenen Stunden hatten sie erschöpft.

»Beim Ausräumen der Scheune hab ich unseren alten Zaun wiedergefunden. Wenn ich ein paar Segmente ersetze, ist er noch gut zu gebrauchen. Und was deine zweite Frage anbelangt: Ja, warum nicht? Wie hat Papa immer so schön gesagt? Ein bisschen Bewegung bringt uns nicht um.«

»Und der alte Camper«, melde sich Julia zu Wort. »Hat der überhaupt noch TÜV?«

»Nein«, antwortete Elke ungerührt. »Trotzdem fährt er tadellos.«

»Aber …«

»Was?«, unterbrach Elke sie ungeduldig. »Denkst du, auf den Grinden kommt eine Politesse vorbei und hängt mir einen Strafzettel hinter die Scheibenwischer?«

»Darum geht es doch nicht«, widersprach Julia.

»Worum dann?«

»Um deine Sicherheit.«

»Das seh ich auch so«, warf Bärbel ein. »Auf alle Fälle ruf ich morgen den Anton an, dass er vorbeikommt und sich die alte Karre ansieht. Wenn schon kein TÜV, dann sollten wir wenigstens wissen, dass du mit ihm nicht irgendwo da draußen liegen bleibst.«

»Mama!«, rief Julia empört. »Du unterstützt das auch noch?«

»Was, bitte, sollen wir denn sonst tun, Jule?«, rief Elke entnervt.