Die Unbeirrbare - Barbara Kopp - E-Book

Die Unbeirrbare E-Book

Barbara Kopp

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Beschreibung

Ausgerechnet eine Schweizerin verlangte vom Zweiten Vatikanischen Konzil die Weihe von Priesterinnen. Im eigenen Land hatte Gertrud Heinzelmann nicht einmal das Frauenstimmrecht, gleichwohl erwartete sie vom Papst Gleichberechtigung. Damit brach sie 1962 ein religiöses Tabu und verursachte weltweit Schlagzeilen. Aufgewachsen in einer liberalen Kaufmannsfamilie, wollte sie schon in den 1930er Jahren zum Zürcher Frauenstimmrechtsverein. Sie wurde Bergsteigerin, Anwältin und erste Schweizer Ombudsfrau. Prägend waren die emanzipierte Mutter, die aristokratische Grosstante und der erfolgreiche Onkel in Brasilien. Ungewöhnlich war ihre Beziehung mit einem Priester, der einst ein amerikanischer Radiostar war, am Konzil als Berater teilnahm und für ihre Sache eintrat. Barbara Kopp lernte Gertrud Heinzelmann in ihren letzten Lebensjahren kennen. Mit Lust am Erzählen zeichnet die Autorin ein reichhaltiges Zeitbild und das farbige Porträt einer Vordenkerin von internationalem Format.

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Seitenzahl: 452

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Barbara Kopp, geboren 1964, studierte in Zürich Germanistik und Geschichte und arbeitete als Journalistin für Printmedien und das Schweizer Fernsehen. Heute ist sic Dozentin u.a. an der Schweizer Journalistenschule MAZ und leitet journalistische Schrcibwcrkstätten. Im Limmat Verlag veröffentlichte sie die Biografie «Die Unbeirrbare. Wie Gertrud Heinzelmann den Papst und die Schweiz das Fürchten lehrte».

Barbara Kopp

Die Unbeirrbare

Wie Gertrud Heinzelmann den Papst und die Schweiz das Fürchten lehrte

Inhalt

Mit Fenster gegen die Berge

Die Gymnasiastin geht ihren Vorlieben nach, die nicht dem entsprechen, was in Zeiten von Wirtschaftskrise und aufkommendem Faschismus von jungen Frauen erwartet wird.

Die Sippe und ihr Selbstbewusstsein

Eine katholische Familie demonstriert aristokratische Herkunft und liberale Gesinnung. Die Mutter erzieht ihre Älteste zu Enthaltsamkeit, zu kritischem Denken und Selbstbestimmung.

Revolutionäre Stimmung beim Kartoffelanbau

Die Doktorandin der Rechtswissenschaften ringt im Zweiten Weltkrieg mit der katholischen Kirche und verfasst ihre Grundsatzerklärung. Sie überschätzt ihre Kräfte und bricht zusammen.

Vom «Ochsen» zum «Hirschen»

Bedingungslos kämpft die Juristin für das Frauenstimmrecht, doch die Schweizer Männer sagen Nein zur Gleichberechtigung. Von der zweiten Heimat ihres Onkels verspricht sie sich das grosse Glück.

Im Jardim Botânico

Die brasilianische Utopie hält nicht stand. Beschieden ist der Schweizerin aber eine zukunftsweisende Begegnung mit einer Bernburgerin, die bei der Erklärung der Menschenrechte dabei war.

Der Bildersturm für die halbe Menschheit

Wieder in der Schweiz, fordert die Unbeirrbare vom Zweiten Vatikanischen Konzil die Zulassung von Frauen zum Priestertum. Ihre avantgardistischen Forderungen gehen um die Welt.

Eine Freundschaft mit Vorbehalten

Die Vordenkerin freundet sich mit dem Konzilsmitarbeiter der amerikanischen Bischöfe an, der in jungen Jahren ein Radiostar war. Die beiden streiten unversöhnlich und mögen sich trotzdem leiden.

Standfestigkeit im Gegenwind

Die Kirchenkritikerin findet in Deutschland endlich Gleichgesinnte, die mutig mit ihr weiterkämpfen. Im Petersdom versuchen die Konzilsväter, sich der lästigen Frauenfrage zu entledigen.

Eine leichte Verschiebung

Die Suffragette steht auf dem Höhepunkt ihrer beruflichen Laufbahn. Sie treibt die Frauenstimmrechtlerinnen weiter an, doch müde geworden, geht sie zu den jungen Feministinnen auf Distanz.

Geographie einer Behausung

Spät sieht die Pionierin die Frauen im Genuss des Stimmrechts. Die Diskriminierung durch die katholische Kirche kränkt sie weiterhin. Am Ende bleiben vier Buddhas und die Maria mit ihrem Kind.

Anmerkungen

Verzeichnis der Dialektwörter und fremdsprachigen Ausdrücke

Quellen und Literatur

Mit Fenster gegen die Berge

Die Gymnasiastin geht ihren Vorlieben nach, die nicht dem entsprechen, was in Zeiten von Wirtschaftskrise und aufkommendem Faschismus von jungen Frauen erwartet wird.

Zweierlei wünscht sich Gertrud Heinzelmann zum bevorstehenden Abschluss am Mädchengymnasium der Stadt Zürich. Von ihren Eltern will sie einen Eispickel und dazu bar auf die Hand vier Schweizer Franken, die sie selbst auf das Konto des Zürcher Frauenstimmrechtsvereins einzahlen will.

Zu Hause erregen die Wünsche keinen Widerstand, denn Mutter Bertha ist für das Frauenstimmrecht, und Vater Hans, als Kaufmann zwischen Oslo und Kairo unterwegs, beunruhigt es nicht, dass seine Tochter zu den Suffragetten will, wie die Stimmrechtlerinnen abschätzig genannt werden, und er stört sich ebenso wenig daran, dass sie zu den Alpinistinnen drängt. Diese gelten als Mannweiber, und die Bergsteiger verweigern ihnen missgünstig die Aufnahme in ihren Club, weil Klettern das beliebte Vergnügen von Städterinnen ist, denen Freiheit und Leistung mehr bedeuten als eine gute Partie.

Im Gegensatz zu diesen beiden Neigungen stößt im Elternhaus von römisch-katholischer Konfession eine andere Veranlagung der Tochter auf Ablehnung. Dieser Wesenszug wird von keinem Familienmitglied geteilt, auch nicht in der weiteren Verwandtschaft. Er trägt Gertrud Heinzelmann den Übernamen «Betblätz» ein, eine Bezeichnung für einen Stofflappen, den eifrige Kirchgänger zum Beten unter die Knie schieben, um Schmerzen zu vermeiden. Dieser Spottname bedeutet, dass da eine entgegen der liberalen Familientradition allzu fromm niederkniet. Religiöse Handlungen und Heiliges üben auf die Gymnasiastin einen starken Zauber aus; ihr Verhältnis zur katholischen Kirche ist jedoch zwiespältig.

Das Herzstück in ihrem Zimmer ist der kleine Schrank, in dem Bücher religiösen Inhalts neben staatstheoretischen Werken stehen. Zum Erstaunen ihrer Mitschülerinnen, die sich eine derartige Lektüre nur als Schulaufgaben zumuten würden, verschlingt sie in ihrer Freizeit Bücher wie «Der Staat: über die Gerechtigkeit» von Platon. Täglich liest sie die «Neue Zürcher Zeitung», Vaters Leibblatt, und schwärmt für den gewaltlosen Widerstand des indischen Freiheitskämpfers Mahatma Gandhi. In ihren Aufsätzen behandelt sie vorzugsweise theoretische Fragen, sodass eine Lehrerin findet, sie solle sich doch endlich einmal weniger abstrakten Themen zuwenden. Daneben ist sie eine leidenschaftliche Briefschreiberin, und der große Brieffreund, dem sie ein halbes Leben lang schreiben wird, ist Mutters jüngerer Bruder. Onkel Paul lebt in Rio de Janeiro, und überall in Brasilien gehen die Reichen und Schönen in Schuhen aus seiner Lederfabrik. Ihm schreibt Gertrud Heinzelmann im August 1933 in den letzten Sommerferien vor dem Abitur:

Lieber Päuk!

Federhalter kauend & Glace verdauend sitze ich in meiner Bude & warte auf eine Inspiration für einen Brasil-Fackel. Weisst Du überhaupt, dass ich eine eigene Bude habe? Ich sage Dir, sie ist fabelhaft. Erstens mal hat sie eine wunderbare Lage: Mansarde, mit Fenster gegen die Berge. Zweitens ist sie erstklassig in der Möblierung: In der neuen Stube fanden der Schreibtisch & das Bücherkästchen keinen Unterschlupf & und diese stehen jetzt hier oben, zu meiner Freude natürlich nebst einer Klappe & einem Kasten. Sonst ist nichts da, kein Helgen oder sowas, & ich freue mich täglich über diese erzsachliche Möblierung, in der man so fein wenig abstauben & aufräumen muss. –

Das Fenster ist permanent sperrangelweit geöffnet, so dass ich von meinem Kopfkissen aus nach Herzenslust in die Wolken oder den klaren Sternenhimmel oder eine sommerliche Vollmondlandschaft hineindösen kann. Dazu bin ich hier vor allen Ruhestörungen gesichert, wenn sich dennoch jemand in mein Juheh verirren sollte, so höre ich die Herrschaften von weitem die Estrichtreppe hinaufpoltern. Der Aufstieg ist ja weniger königlich, dagegen ist es aber die Bude umso mehr. –

Dies zur Illustration, damit Du, bis Du selbst Augenzeuge wirst, auf einem eventuellen Europabesuch per Zepp [Zeppelin] so ungefähr eine Ahnung hast, wo in der Welt meine Geistesprodukte wuchern & wo ab & zu mal ein Päukbrief entsteht. – (…)

Also, Tschau Päuk, mit 1000 Grüssen und Küssen, Deine Trut.1

Im unteren Stockwerk des Mehrfamilienhauses leben die Eltern, die jüngere Schwester Elisabeth und zeitweise auch ein Dienstmädchen. Anders als die Schwester hat die Gymnasiastin nichts für Handarbeiten oder Tier- und Blumenbilder übrig. Der Ausblick aus dem Fenster, ein Versprechen baldiger Freiheit, ohne das Kopfkissen unter dem elterlichen Dach aufgeben zu müssen, ist mehr nach ihrem Geschmack. Die Angabe, ihr Fenster gebe den Blick «gegen die Berge» frei, trifft zu – bei entsprechender Wetterlage. Denn Wallisellen, ihr Wohnort, grenzt an die Stadt Zürich und liegt inmitten ausgedehnter Felder und Wiesen. An der Glatt, einst ein mäandernder Fluss, der die Gegend überschwemmte und versumpfte, stehen die Fabriken, und hier befindet sich auch die Zwirnerei «Zwicky Nähseide und Nähgarn», deren Faden Hans Heinzelmann in der halben Welt verkauft. Auf Wallisellens Boden gibt es kaum Hügel, und der höchste erreicht keine fünfhundert Meter über Meer. Bei föhnigem Wetter ist es allerdings möglich, aus einem Dachfenster in weiter Ferne die weißen Spitzen der Glarner Alpen zu sehen.

Eine «Talschlange», wie die Gymnasiastin Spaziergänger bezeichnet, die ehrfürchtig zu den Bergspitzen hochblicken, will sie bestimmt nicht werden. Der gewünschte Eispickel hingegen verspricht Kitzel, Mutproben und Selbsterfahrung. Er ist das Initiationsobjekt zur Aufnahme in die Gemeinschaft der Alpinistinnen. Die Familienausflüge, die höchstens bis zur Passhöhe führen oder am Bergsee beim Picknick enden, sind ihr viel zu langweilig. In den letzten Sommerferien vor dem Abitur gibt Bertha Heinzelmann dem Drängen ihrer Ältesten nach, lässt sie erstmals ziehen, unter erschwerenden Bedingungen allerdings, sie muss Elisabeth mitnehmen. Die Schwestern setzen sich in den Kopf, dass diese Ferien anders werden müssen, und reisen nach Kandersteg im Berner Oberland. In der Obhut eines Bergführers stürmen sie sogleich das Balmhorn, den höchsten Gipfel der Region. Das Abenteuer schildert Gertrud ihrem Onkel in Brasilien auf sechs Briefseiten:

«Ich will Dir also mal verzapfen*, was so 2 unternehmungslustige Nichten eines Amerikaonkels alles selbständig zustande bringen. Hör & staune. (…) Um 2h morgens war Tagwache, 1/4 3h starteten wir für das Balmhorn, 3711 m mit Verlaub der höchste Kandersteger Berg! Nach sechs Stunden waren wir auf dem Gipfel, ruhten auf den Lorbeeren & tranken Tee & schauten uns die Welt mal wieder von dieser Höhe an.»

Vom Hotel Schwarenbach aus führt der Aufstieg zuerst der Bergflanke entlang, bis nach ausgiebigem Fussmarsch der Gletscher erreicht ist, dann geht es weiter über blankes Eis und zuoberst durch Firn. Die Anstrengung hält die Briefschreiberin nicht für erwähnenswert. Beim Abstieg ist sie vermutlich am Rand ihrer Kräfte, und sie kommt mit dem Schrecken davon, was sie ironisch bagatellisiert: «Nach 1h mittags trafen wir schon wieder im Schwarenbach ein, nachdem ich auf dem Rückweg zur Abwechslung mein rechtes Bein 2mal in eine Gletscherspalte gesteckt hatte. Beide waren aber nur schmal, so dass alles reibungslos abgelaufen ist.» Am späten Nachmittag schultern die beiden Schwestern bereits wieder ihre Rucksäcke, weil es auf dem Gemmipass zum Wallis hinüber bessere Unterkunft gibt. Tags darauf gönnen sie sich Ruhe, das heißt, sie steigen steil hinunter nach Leukerbad. In der Jugendherberge treffen sie auf zwei Burschen, der eine ist ein Handelsschüler, den Gertrud flüchtig kennt. Onkel Paul lässt sie wissen:

«Wir kochten uns zusammen ein fabelhaftes Nachtessen: 1 Pack Hörnli mit Tomaten, 1 Büchse Apfelmus, Waadtländerbratwürste & zwei Suppenschüsseln Tee. Bis der Frass bereit war, jagten wir den Herbergsleiter einige Male in Angst & Schrecken, weil wir nicht gut mit einem Holzherd kutschieren können & so die ganze Bude in einen undurchsichtigen Qualm setzten. Es geriet alles wunderbar & fand reissenden Absatz. – Um nicht einem langweiligen Aufwasch in der Küche anheimzufallen, packten wir das ganze Geschirr in einen Zuber & pilgerten zu einer heissen Leukerbadquelle, wo wir zusehen konnten, wie alles von selbst abgespült wurde.»

* Verzeichnis der Dialektwörter und fremdsprachigen Ausdrücke Seite 308

Am nächsten Morgen gibt es kein Verweilen, die Schwestern haben das Eggishorn im Kopf, wandern ins Tal hinunter nach Leuk und nehmen den Zug nach Brig. In den folgenden beiden Tagen wandern sie über die Belalp, Riederalp, Bettmeralp und hinauf auf das Eggishorn und hinunter nach Fiesch, auf dem Rücken trägt jede «15 Kg ohne Proviant», für solche, die keine «Talschlangen» sein wollen, eine Ehrensache – «Beth & ich wurden angestaunt wegen unseren Leistungen & unserm Schritt! & unserer Energie & Selbständigkeit, & der Tatsache, dass wir in unserem Alter zu zweit eine solche Tour machen konnten!» Unterwegs wird das Essen auf dem Spirituskocher selbst zubereitet, doch die Kost aus der eigenen Feldküche ist bald eintönig und das Erwachsensein etwas unbequem, sodass Gertrud und Elisabeth, trotz des Genusses allgemeiner Bewunderung, gerne in Berthas Nest zurückschlüpfen: «Allerdings haben wir jetzt für längere Zeit unseren Bedarf an Maggisuppen etc. gedeckt & füttern uns bei Muttern wieder voll.»

Ähnlich wie mit dem Eispickel verhält es sich mit den vier Schweizer Franken. Auch sie bedeuten eine Absage an den Lebensweg der Mutter und demonstrieren den Anspruch auf einen Platz in der Öffentlichkeit. Deutschland und Österreich führten das Frauenstimmrecht nach dem Ersten Weltkrieg ein, ebenso Großbritannien, Irland, Schweden, Dänemark und die Niederlande. Noch früher konnten bereits die Finninnen und Norwegerinnen abstimmen. Am Mädchengymnasium ist die politische Gleichberechtigung kein Thema, das Gertrud Klasse beschäftigt hätte, jedenfalls erinnern sich ehemalige Schulkolleginnen nicht daran. In den Jahren der Wirtschaftskrise und des aufkommenden Faschismus ist das Frauenstimmrecht für eine Gymnasiastin nicht das Gebiet, auf dem sich Lorbeeren holen ließen. Zu viel Widerstand von allen Seiten. Selbst ein Studium und der Wunsch nach späterer Berufstätigkeit haben bereits einen rebellischen Anstrich. Katholisch-Konservative führen Brandreden gegen den Zerfall der Familie und machen die Ansprüche der Suffragetten dafür verantwortlich. Bürgerliche hetzen vereint mit der faschistischen Nationalen Front gegen verheiratete Frauen in qualifizierten Berufen, solche Arbeitnehmerinnen seien schamlose Doppelverdienerinnen, die man durch arbeitslose Familienväter ersetzen müsse. Kaum eine junge Frau meldet sich bei den hundertdreißig, zumeist älteren Zürcher Stimmrechtlerinnen. Die Präsidentin blickt bereits zuversichtlich vorwärts, wenn im Vereinsjahr nicht mehr Todesfälle zu verzeichnen sind, als es Neueintritte gab. Aber auch unter den Kämpferinnen, so ihre Klage, mache sich «Müdigkeit und Verdrossenheit» bemerkbar: «Man beginnt auch bei uns, den Argumenten der Gegner Gehör zu schenken und die, ach so oft gehörte, aber im Grunde billige Phrase – in solch schweren Krisenzeiten hätten die Frauen statt einseitig ihre feministische Liebe zu verfolgen aufs Wohl des Ganzen bedacht zu sein – gedankenlos nachzusprechen.»2

Gertrud Heinzelmann protestierte zum ersten Mal, als sie noch in Wallisellen zur Schule ging, ein Backfisch im Faltenrock und mit langen Zöpfen. Frech marschierte sie an der Spitze der 1.-Mai-Kundgebung durch das Dorf, eine hoch aufgeschossene Gestalt, trotz jugendlich schlechter Körperhaltung überragte sie viele Erwachsene, und von weitem leuchteten ihre roten Haare, die sie vom Vater geerbt hatte. Wallisellens Bürgertum schauderte, die wohlhabende Kaufmannstochter unter den Sozialisten. Beim Vorbeimarsch wurde sie scharf zur Rede gestellt, ob sie mit den Roten nun gemeinsame Sache mache. Sie habe, sagt Gertrud Heinzelmann, geantwortet: «Ich bin hier die Frauenstimmrechtssektion.» Mit ihrem Beitritt zum Stimmrechtsverein erhält ihr Aufbegehren einen öffentlich anerkannten Ort, spielt sich fortan im Rahmen von Sitzung und Beschlussfassung ab und kann nicht mehr länger als jugendliche Flause abgetan werden.

Gertrud Heinzelmann um 1934.

Für ihre religiöse Veranlagung weiß die Gymnasiastin keinen Ort. Durch Wallisellen zieht sich ein unsichtbarer Graben zwischen der überwiegenden protestantischen Mehrheit und den Katholiken. Erstere schauen abschätzig auf die «Katholen» hinunter, die als ungelernte Arbeitskräfte in den Fabriken oder im Haushalt beschäftigt sind, im Dorf keine eigene Kirche haben und den Priester mit der Nachbargemeinde teilen müssen. Hin und wieder besucht Gertrud Heinzelmann die Sprechstunden des zuständigen Geistlichen und will Erklärungen, weshalb sie nicht ministrieren darf, weshalb eine Frau nicht wie ein Mann predigen, die Beichte abnehmen und das Abendmahl austeilen dürfe. Die Besuche führen zu heftigen Debatten, die der Geistliche mit dem Hinweis beendet, dass sie alles nachlesen könne bei Augustinus oder Thomas von Aquin, und mit einem theologischen Band aus der priesterlichen Bibliothek wird sie nach Hause geschickt. Was sie bekümmert, wofür der Priester kein Einsehen hat und was auch die Familie bei ihrem «Betblätz» nicht versteht, drückt sie in Gedichten aus. In ihrem Dachzimmer schreibt sie am 3. November 1933:

Die Himmlischen sehen,

sie fühlen, sie hören.

Der tiefe Abgrund meiner Seele

ist ihnen nah,

ist ihnen Licht.

Wem soll ich es klagen

das grosse Leid?

Den tiefen Schmerz?

Wem soll ich ihn klagen?

Überreif drückt mich das Leben,

mein Leben zu geben

euch Göttern des Lichts!

Ihr Götter brechet

die schwere reifende Frucht!

Sie sucht eine Aufgabe, eine religiöse Bestimmung, doch wer die Götter sind, die sie anruft, ist für sie nicht eindeutig. In ihrem Bücherschrank steht dickleibig die «Lehre des Buddha», damals vielleicht sogar ihr wichtigstes Buch. Sie entdeckte es auf ihrem Schulweg durch die Zürcher Altstadt in der Kirchgasse, wo die Antiquariate und Buchhandlungen bei gutem Wetter ihre Sonderangebote vor den Schaufenstern stapeln. Der violette Einband ist ihr sofort aufgefallen, aber es vergehen Tage, bis sie zugreift. Vom Inhalt kommt sie nicht mehr los. Die Schilderung des achtfachen Pfades, die Abbildungen von bärtigen, asketischen Mönchen beim Meditieren hinterlassen einen tiefen Eindruck, und sie nimmt sich vor, später in buddhistischen Ländern zu leben. Das Buch eröffnet ihr eine exotische Welt jenseits katholischer Zwänge, ist Zuflucht und Lebenshilfe. Nach den Zeichnungen von Yogastellungen beginnt sie zu meditieren und entdeckt, dass es Einkehr und spirituelle Versenkung außerhalb der katholischen Kirche gibt und dass es keinen Priester braucht, der zwischen Erde und Himmel vermittelt. Durch Yoga hat ihre religiöse Veranlagung zum ersten Mal einen Ausdruck gefunden. Als Siebzigjährige schreibt Gertrud Heinzelmann:

«Die Rückwendung der Reflexion auf das eigene Bewusstsein war schon in früher Kindheit ein spontanes, unauslöschliches Erlebnis gewesen. Nun fand ich einen Grossen, der es unternommen hatte, diesen Weg nach innen konsequent und folgerichtig bis zum Samadhi zu gehen. Die yogistischen Übungen, die ich nach den Beschreibungen betrieb, empfand ich als unerhört stärkend. Sie bauten mein Selbstbewusstsein auf und verliehen mir ein Selbstwertgefühl, das die vom Pfarrer verabreichte kirchliche Literatur nie zu vermitteln vermochte.»3

Möglicherweise wissen die Eltern über die Meditationsübungen ihres «Betblätzes» Bescheid, denkbar ist aber auch, dass Gertrud Heinzelmann ihre Erfahrung für sich behält, um dem familiären Unverständnis zu entgehen. Gegenüber ihrem Onkel, dem sie viel anvertraut, erwähnt sie nichts. Über sich sagt sie als alte Frau: «Ich habe einen religiösen Stich bekommen, den ich von einem anderen Ort als der Familie habe. Es ist eine Begabung für mich.»

Am Gymnasium sitzt Gertrud Heinzelmann in der hintersten Bankreihe. Regungslos wie eine Pflanze sei sie auf ihrem Stuhl gesessen und wegen ihrer Intelligenz und ihrem phänomenalen Gedächtnis aufgefallen, sagen ehemalige Mitschülerinnen. Belastbar sei sie gewesen. Die Städterinnen finden ihre langen Zöpfe gar ländlich, und Gertrud Heinzelmann lässt sich, nachdem der mütterliche Widerstand endlich gebrochen ist, in den oberen Klassen die Haare modisch kurz schneiden. In den letzten Wochen vor dem Abitur geht die Französischlehrerin den Bankreihen entlang mit der Frage, was jede Schülerin studieren werde. Pharmazie, Medizin, am liebsten Veterinärmedizin, ein Sprachstudium und anderes erhält sie zur Antwort, dazwischen auch verlegenes Zögern. Zu hinterst im Klassenzimmer gibt es keine Stockungen, die Antworten kommen bestimmt, und als Gertrud Heinzelmann an der Reihe ist, sagt sie, was schon zwei vor ihr gesagt hatten: ein Studium der Rechtswissenschaften. Onkel Paul schreibt sie zuversichtlich:

«Die Aussichten sind zwar nirgends rosig & wenn man dem allgemeinen Klagegeheul zuhören wollte, könnte man den Eindruck bekommen, es sei das Gescheiteste, in eine Schachtel zu kriechen & und den Deckel zu schliessen. – Ich hoffe aber, dass wenn ich einmal fertig bin, ich doch eine Stelle bekommen kann, & ich denke gar nicht zuletzt an Dich, dass Du mit Deinen vielen Beziehungen mich irgendwo platzieren könntest.»4

Beinahe drei Jahrzehnte später wird Gertrud Heinzelmann mit dieser Hoffnung, als sie in der Schweiz für sich keine Zukunft mehr sieht, zu ihrem Onkel reisen. In Rio de Janeiro lernt sie Bertha Lutz kennen, die in Brasilien für das Frauenstimmrecht gekämpft hatte und Gleichberechtigung als ein weltumspannendes Ziel versteht, das sie mit Hilfe der Erklärung der Allgemeinen Menschenrechte verwirklichen will. Beflügelt von dieser Begegnung, misst Gertrud Heinzelmann die katholische Kirche mit dem Maßstab der Menschenrechte. Zum Zweiten Vatikanischen Konzil fordert sie 1962 die Zulassung der Frauen zu Priestertum und höheren Kirchenämtern. Sie prangert die Jahrhunderte alte kirchliche Frauenverachtung an und verlangt die Modernisierung des theologischen Frauenbildes. Ihre Forderungen brechen mit religiösen Traditionen und sind in der Geschichte der römisch-katholischen Kirche ein Bildersturm. Sie stehen am Anfang der feministischen Theologie. In Europa, Amerika und Afrika gerät ihre Eingabe an das Vatikanische Konzil in die Schlagzeilen und Amerikas Katholiken greifen ihre Gedanken bald auf. In Rom wird, nach kurzem Aufschrecken und einer päpstlichen Gegendarstellung, geflissentlich geschwiegen. In der Schweiz ergeht es Gertrud Heinzelmann wie der jüngeren Gymnasiumskollegin Iris von Roten, die für ihr Emanzipationswerk «Frauen im Laufgitter» nichts als gehässige und ehrverletzende Kommentare erntete. Das einzige Land in Europa ohne Frauenstimmrecht reagiert auf seine Kirchenkitikerin mit der Wut der Durchschauten. Im selben Jahr, als Gertrud Heinzelmann katholische Priesterinnen verlangt und an die Einhaltung der Menschenrechte erinnert, betrachtet die Schweizer Regierung das fehlende Frauenstimmrecht nicht als Verstoss gegen die Menschenrechte.

Führungsbewusst stürmt Gertrud Heinzelmann vorwärts, risikobereit, streng mit sich und den anderen. Sie wird die erste Ombudsfrau der Schweiz und ragt als Frauenrechtlerin mit ihrem Scharfsinn und ihrem trocken Witz heraus. Unerschütterlich vertraut sie der Aufklärung und der menschlichen Vernunft und hofft gläubig auf ein Jenseits. Sie hätte gerne ein grundlegendes Buch zur Emanzipation verfasst, wie es in ihrer Generation die Französin Simone de Beauvoir und Iris von Roten veröffentlicht haben. Mehrmals beginnt sie ein Manuskript, gibt wieder auf und ordnet ihr Schreiben der praktischen Arbeit unter. Sie versteht sich nicht als Schriftstellerin, sondern als «Frau des Kampfes»5, die entschlossen mit juristischen Mitteln eingreift und in unzähligen Zeitungsartikeln die Missstände im «eidgenössischen Wartsaal»6 brandmarkt, in dem die Frauen «in schulmädchenhafter Bravheit» ihr Dasein als Unmündige fristen müssen. Die Schriftstellerin Laure Wyss beschreibt die Streitbare 1986 so:

«Sie hat seit jeher handfest und sprachlich träf gekämpft, diese Feministin Heinzelmann, eine der wenigen waschechten unseres Landes. Mit dem, was sie schrieb, konnten wir Frauen unmittelbar etwas anfangen. Die Männer übrigens auch, wenn sie es lasen, aber sie haben natürlich an der Entlarvung der für sie vorteilhaften Herrschaftsverhältnisse weniger Interesse als wir.»7

Bevor am Gymnasium die Abschlussprüfungen beginnen, lässt Gertrud Heinzelmann ihren Onkel in Brasilien wissen, er solle ihr die Daumen drücken – «wir denken auf d. 21. März flügge zu werden, & die ganze Bande freut sich entsetzlich auf die akademische Freiheit. »8 Sie besteht im Frühling 1934 das Abitur mit Leichtigkeit, und die Eltern schenken ihr den Eispickel und die vier Schweizer Franken. Uncle Frank, Mutters älterer Bruder, lädt die zukünftige Studentin in die Ferien nach London ein.

Der Onkel hatte bei seiner Ankunft in England das «z» in seinem Vornamen Franz durch ein «k» ersetzt und stieg in der «Reslaw Factory» zum Direktor auf. Die Londoner Fabrik wurde von einer Schweizer Hutgeflechtfirma aus Wohlen gegründet und stellt Hutstumpen und Geflecht aus Stroh her. Daraus werden für die Herren «Boater» genäht, wie der klassische Sommerhut auf Englisch heißt. In Wohlen, einem Flecken im aargauischen Freiamt, ist der «Boater» schlicht ein «Röhrlihut». Die Strohindustrie, wie das Dorf seinen Welthandel mit Hutgeflecht nennt, ließ nicht nur Franz auswandern, sondern sie trug auch Schuld daran, dass Bertha, geborene Zimmermann, und Hans Heinzelmann einst von der Arbeit aufsahen und schließlich gemeinsam die Zukunft planten.

Die Sippe und ihr Selbstbewusstsein

Eine katholische Familie demonstriert aristokratische Herkunft und liberale Gesinnung. Die Mutter erzieht ihre Älteste zu Enthaltsamkeit, zu kritischem Denken und Selbstbestimmung.

Während Fräulein Zimmermann an ihrem Stehpult Briefe schreibt, beobachtet sie heimlich den jungen Herrn Heinzelmann, und dieser wirft ihr beim Blättern im Kontobuch verlegene Blicke zu. Im Kontor der Strohfirma Oskar Bruggisser steht sein Pult dem ihren gegenüber, und die beiden können sich, beiläufig, auch geradewegs in die Augen schauen, das heißt, er muss leicht zum Fräulein emporblicken.

Zwischen ihren Stehpulten hängt von der Decke an einem langen Kabeldraht eine Glühbirne, deren Licht von einem schmucklosen Schirm gedämpft wird. Die Beleuchtung ist für beide Pulte gleich schlecht, und da zieht er die Lampe zu sich hinüber, kurz nur, scheinbar um im Kontobuch besser lesen zu können, freilich in der Absicht, dass die Beleuchtung am Kabeldraht zu ihr hinüber schwingt. Diese Lampe zupfen sie nun hin und her, er mittleres Kader mit kaufmännischer Ausbildung, sie Büroangestellte und Absolventin eines Töchterinstituts, er weltgewandt mit Sprachaufenthalten im Welschland und in Italien, in Brüssel und London, sie mit zusätzlichem Schliff aus der angesehenen Zürcher Koch- und Haushaltungsschule von Elisabeth Fülscher. Er wird, kaum volljährig, von der Firma auf Handelsreisen in den Nahen Osten geschickt, und sie ist im damals vorwiegend männlichen Bürobetrieb eine Ausnahmeerscheinung.

In Wohlen, dem einstigen Bauerndorf, das mit Stroh zu Reichtum kam, zupfen und schubsen die beiden so lange die Bürolampe, bis sie sich 1913 heiraten.

So oder ähnlich haben Familienmitglieder die Geschichte zum Besten gegeben, wie Bertha Zimmermann aus Wohlen und Hans Heinzelmann aus dem benachbarten Boswil einen Hausstand gründeten. Erzählt Gertrud Heinzelmann als Achtzigjährige die Geschichte ihrer Eltern, legt sie Wert darauf, dass die Lampe exakt in der Mitte zwischen den Pulten von der Decke hing und beide gleichermaßen daran zogen. Kein Wort, dass die Mutter den Vater um einen halben Kopf überragte. Bei der Heirat ist Franz Johann Heinzelmann, wie er mit ganzem Taufnamen heißt, 27 Jahre alt, Bertha Zimmermann ist ein Jahr älter und wird fortan Hausfrau sein. Für das Hochzeitsbild wählte der Fotograf den Bildausschnitt so, dass der Schemel nicht sichtbar ist, auf dem Hans gestanden haben muss. Von einem Brautschleier und ähnlicher Ausrüstung wollte Bertha nichts wissen. In hellem Kleid mit Spitzen und Rüschen steht sie Schulter an Schulter neben ihrem Mann, ihre ausladenden Achselpolster, die kunstvoll aufgesteckten Haare lassen ihn noch schmächtiger und vergeistigter wirken. Der Hochzeiter hat die Enden seines wilhelminischen Schnurrbarts sorgfältig gezwirbelt, doch sein Gesicht bestätigt nicht die Wehrhaftigkeit, die der Bart vorgibt.

Das junge Paar kauft sich schicke Möbel nach der damaligen Mode, Jugendstil, und nimmt sich im tonangebenden Neubauquartier am Dorfrand von Wohlen eine Wohnung. Es ist das Quartier des technischen Fortschritts und des neuen Reichtums, der Weltläufigkeit und Urbanität. In dessen Zentrum steht der Bahnhof, während die Kirche, der althergebrachte Mittelpunkt dörflichen Lebens, vom Bahnhof aus gesehen in die Ferne gerückt ist. Im Neubauquartier ragen die Türmchen der schmucken Villen der neuen Machthaber in den Himmel.

«Strohbarone» werden sie genannt. Ihren Aufstieg verdanken sie der Industrialisierung, die aus vifen Geflechthändlern global operierende Fabrikbesitzer und Unternehmer gemacht hatte. Im Freiamt, einem lang gezogenen Landstrich, der zur Innerschweiz hin verläuft, war Wohlen einst ein armes Bauernnest. In kinderreichen Familien wurden in Heimarbeit aus Stroh, Rosshaar und Hanf Verzierungen für Sommerhüte geflochten, und die Händler brachten das Geflecht in Kutschen bis nach Sankt Petersburg. Nach 1860 beginnt ein schneller wirtschaftlicher Aufstieg, dicht gedrängt entstehen Fabriken, in denen Stroh gebleicht, gefärbt, zu Bändern und Bordüren geflochten und zu Hüten zusammengenäht wird. Bald folgt Wohlens Anschluss an die Südbahn, die geflochtenen Bänder werden in Waggons verladen und andernorts weiterverarbeitet. Kein anderes Dorf im Aargau geht derart mit der neuen Zeit, und als Zeichen dieses Fortschritts lassen sich die «Strohbarone» links und rechts der Bahngeleise nieder, umgeben ihre Anwesen mit kleinen Parks und viel Schmiedeeisen, und sie sorgen dafür, dass Wohlen auch bald ein eigenes Elektrizitätswerk und Telefonanschlüsse erhält.

Mit den «Strohbaronen» ziehen ihre oberen Kader ins Nobelquartier, Prokuristen, Kassierer und Handelsvertreter, Aufsteiger oder besseres Bürgertum, das dank kaufmännischer Ausbildung, Manieren und Mehrsprachigkeit die nötigen Voraussetzungen mitbringt, um in den Kontoren den weltweiten Handel abzuwickeln. Man lebt mit den «Strohbaronen» Tür an Tür, doch diese achten auf die nötige Distanz. Ihre Anwesen öffnen die Bruggisser, Isler, Walser und Dreifuss vorzugsweise für ihre ausländischen Handelspartner. Mit unternehmerischem Blick für die Zukunft bahnen sie Ehen untereinander an, oder sie führen von ihren Reisen Amerikanerinnen und Kubanerinnen nach Hause, und diese wiederum bringen ihre schwarzen Dienstmädchen mit. Die Herren knattern mit den ersten Autos durchs Dorf, ihre Frauen zeigen sich in der neusten Garderobe, und ein Dienstmädchen soll seinen Affen ausgeführt haben. Dieses mondäne Treiben erscheint den Bauern in den umliegenden Dörfern und Höfen wie das Pariser Leben, und Wohlen erhält den Übernamen «Chly-Paris». Mit Genugtuung beobachtet man da und dort, wie dieses Klein-Paris alle modernen Begleiterscheinungen aufweist, die man selbst verteufelt: aufmüpfige Arbeiter und gewerkschaftliche Regungen, freisinnige Vorherrschaft statt wie allgemein im Freiamt katholisch-konservative Verhältnisse, Luxus und Vergnügen statt Demut und Kirchenbesuch.

Blicken Hans und Bertha Heinzelmann-Zimmermann aus den Stubenfenstern, sehen sie direkt zum Bahnhofsgebäude hinüber, und sommers, bei geöffneten Fenstern, hören sie den Maschinenlärm aus der Parallelstraße, wo die größte Wohler Hutgeflechtfabrik steht. Ihr Direktor residiert in seiner Villa im französischen Rohbaustil gleich hinter dem Heinzelmannschen Mietshaus. In aufrechter Haltung, stets piekfein gekleidet sei Hans Heinzelmann aus dem Haus getreten und die Straße zum nahen Geschäftshaus von Oskar Bruggisser hinunter gegangen. Eine respektable Persönlichkeit sei er gewesen, die man höflich zu grüßen hatte, sagt Guido Strebel, der einstige Nachbarsjunge im Alter von Gertrud. Die Firma Oskar Bruggisser ist klein und angesehen und hat sich auf Bleichen und Färben spezialisiert. In Dresden, Hamburg oder London wird billiges Strohgeflecht aus Asien erworben, in Wohlen veredelt und dann gewinnbringend weiterverkauft. Vor allem die «Diamant-Bleiche», die in ganz Wohlen nur Oskar Bruggisser beherrscht, ist sehr gefragt. Die Strohhalme, von Natur aus goldgelb glänzend, werden mit chemischen Bädern behandelt, bis sie silbern schimmern.

Wenige Wochen vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges kommt am 17. Juni 1914 Gertrud zur Welt, zwei Jahre später am 13. Juni Elisabeth. Die beiden Schwestern sind in mancher Hinsicht sehr verschieden, mit Gertrud Heinzelmanns Worten: «Es ist, als ob wir nicht aus demselben Kübel wären.» Gertrud ist die lebhaftere, die auf Bäume klettert, Pfeilbogen schießt, beim Puppenspielen den Männerpart übernimmt und sich auf dem Pausenplatz beschützend in der Nähe der Schwester aufhält. Die Gleichaltrigen nennen Gertrud «Heinz», und der männliche Vorname wird ihr die ganze Schulzeit hindurch bleiben. Obwohl sie wilder und kecker ist als viele, macht sie bei Streichen meist nicht als Anführerin mit, denn dazu ist sie wiederum zu pflichtbewusst und zu fleißig. Ihr Ehrgeiz gilt der Schule, und als 14-Jährige lässt sie den «lieben Onkel Päuli» in Brasilien wissen:

«Auf das Examen mussten wir immer sehr viel Hausaufgaben machen, so dass ich kaum an einem freien Nachmittag einige freie Stunden erbeuten konnte. (…) Beinahe hätte ich das Wichtigste vergessen nämlich: dass ich um 1 ganze Note das bessere Zeugnis habe als meine ärgste Nebenbuhlerin!»1

Die Mutter ist erleichtert, als sie von der Großmutter ein altes Lexikon bekommt, damit sie die Fragen ihrer Ältesten nachschlagen kann. Das «Trutli» ist anstrengend, will ständig argumentieren und noch mehr erklärt haben. Dagegen ist «Bethli», die Jüngere, ein pflegeleichtes Mädchen, dem Schulnoten und Wettkampf weniger bedeuten. Nach Brasilien schreibt Bertha: «Bethli ist eine gemütliche Seele – das Gegenteil von einem ‹Streberli›. Trutli muss gebremst werden & Beth gestossen – was Schulsachen sind!»2 Auch die Großtante bemerkt diesen Charakterunterschied, und obwohl sie im Aargau eine der ersten Volksschullehrerinnen ist, beobachtet sie Gertruds Streben mit Missbehagen und prophezeit ungute Folgen. Bertha an Paul: «Die Tante Lehreri in Boswil behauptete – s’Bethli sei viel s’Gescheitere – es bleibe gesund & die ander tüeg si gwüss nu überstudiere & werde krank – nei – mer wänds bei Gott nid hoffe!»

«Wenn man noch zwischen 20 + 30 steht, nimmt man s’Heiraten noch nicht schwer, & das ist schon ein Glück an sich.»

Bertha Heinzelmann-Zimmermann an Paul Zimmermann

Bertha, geborene Zimmermann, und Hans Heinzelmann, beide keine 30 Jahre alt, bei der Heirat 1913.

Für die Schulkolleginnen ist Elisabeth einfach das «Bethli», das man niemals «Heinz» gerufen hätte. Charakterlich sei sie die feinere gewesen und habe dem Vater geglichen, und Gertrud habe mehr der Mutter nachgeschlagen, sagt die Schul- und Spielkameradin Lotti Burri. Elisabeth ist ausgeglichener und anschmiegsamer, «von Morgen bis Abends lieb & gemütlich», und erfreut mit «goldenem Humor»3. Sie stickt und strickt und ist der älteren Schwester in traditionell weiblichen Arbeiten weit überlegen. Musisch begabt, fallen ihr Zeichnen und Malen leicht, später wird sie Landschaften aquarellieren und mit Kohle die Familienmitglieder porträtieren. Als sie mit 55 Jahren an Krebs stirbt, sagt Gertrud Heinzelmann an der Abdankungsfeier über ihre Schwester: «Als kleines Kind hatte sie schon eine besondere Liebe zu Käfern, Vögeln und Blumen, und ich erinnere mich, wie sie im weissen Sonntagsröckchen der damaligen Zeit sich am Sonntag morgen bäuchlings auf den Gartenweg legen konnte, weil ein goldschimmernder Käfer sie faszinierte. (…) Sie war ein Mensch des kultivierten künstlerischen Details.»

Elisabeth versucht körperlich mit der Ältern mitzuhalten, beginnt ebenfalls zu skifahren und zu klettern, ist aber auch hier weniger ehrgeizig. Am Klavier erteilt sie Gertrud, die eisern übt, böse Niederlagen, und Gertrud kontert mit Schulleistungen. Die schmerzhafteste Kränkung aber liegt für Gertrud auf weiblichem Gebiet. Sie sagt: «Ich hatte Schlitzäugli wie der Vater, ein wenig hängend, und meine Schwester hatte schöne, grosse Augen, die immer sehr bewundert wurden. Das war eigentlich ihr Schönheitszeichen. Ich musste aber zufrieden sein mit meinen Schlitzäugli, die mir aber gut gefallen haben.» Es demütigt sie, dass die jüngere Schwester überall wegen ihres Aussehens bewundert wird und wegen ihrer Liebenswürdigkeit wohlgelitten ist, hingegen sie selbst trotz ihrer Intelligenz weniger gilt, selbst bei der Mutter. In Gertruds Domäne behandelt Bertha ihre Töchter ungleich und bewertet die schlechteren Schulleistungen von Elisabeth besser: «Wenn mir die Kleine im Rechnen ein 5–6 heimbringt, so freut mich das mehr als Trutlis 6i, denn bei Trutli ist die beste Note selbstverständlich, – bei der Kleinen nicht, – die muss schuften bis alles eingeht!»4 Als Gertrud das beste Zeugnis ihrer Schulklasse nach Hause bringt, schreibt Bertha nach Brasilien: «Wir! bilden uns deshalb nichts ein, freuen uns aber dennoch am Erfolg.»5

Im traditionellen Bereich weiblicher Schönheit, Elisabeths Domäne, behandelt Bertha ihre Töchter hingegen gleich. Sie kauft für die Garderobe der Mädchen denselben Stoff, von bester Qualität an vornehmster Zürcher Adresse, und die Hausschneiderin Ida Rüegg näht daraus Kleider, für beide exakt dieselben. «Das hat mich wütend gemacht. So haben uns die Leute in Wohlen von Weitem gesehen. Dann hiess es, ‹ah Du bist also die Schwester von Beth›. Ganz schlimm war es an der Fastnacht. Ich wollte eine möglichst hässliche Maske anziehen, und meine Schwester wollte lediglich schön sein. Sie wollte keine Maske tragen oder höchstens bei den Augen. Und ich», so Gertrud Heinzelmann im Rückblick, «musste immer nachgeben. Immer war ich die Ältere, die vernünftig zu sein hatte.»

Ida Rüegg, die während vier Jahrzehnten die Sonntags- und Werktagsröcke, die Sommer- und Winterkleider der Familie Heinzelmann nähte, notiert als Rentnerin auf einem Blatt 1971 einige Erinnerungen. Warum sie dies tat, ob aus eigenem Antrieb oder auf Wunsch von Gertrud Heinzelmann, die als Gymnasiastin beginnen wird, die Familiengeschichte zu dokumentieren, das geht nicht aus dem Schreiben hervor. Die unterschiedlichen Charaktere der Schwestern skizziert Ida Rüegg so:

«Betli hatte von jung auf einen ausgesprochenen Schönheitssinn, es interessierte sich für die Königsfamilien, wie es dort zu- u. herging. Seine eigenen Bedürfnisse wählte es immer schön u. gut; es wählte den grossen Rahmen. Gertrud war dagegen sehr bescheiden in ihren Ansprüchen. Der Intellekt stand bei ihm im Vordergrund. Während ihren Studienjahren war sie sehr darauf bedacht, ihren Eltern nur die nötigsten Ausgaben zu machen.

Frau Heinzelmann sagte oft im Gespräch zu mir, Gertrud sei äußerst bescheiden für sich. Wenn es etwas Nötiges anschaffen müsse, suche es sich etwas im Ausverkauf, so dass sie ihm zu Hause ‹der billige Jakob› sagten.»

Die Zurücksetzung durch die unterschiedliche Bewertung von Intellekt und Schönheit, die Kränkung durch den familieninternen Spott, wenn sie beim Einkaufen das Billigangebot nutzte, schlägt bei Gertrud Heinzelmann manchmal in Geringschätzung gegenüber der Schwester um. Im hohen Alter sagt Gertrud Heinzelmann: «Meine Schwester war eine ‹Gluschteva›.» Damit meint sie eine Frau, die wie Eva zu verführen versteht und ihre Lust nicht beherrschen kann. Elisabeth sei am Tisch der Erwachsenen betteln gegangen und habe von den Tellern immer das Stück bekommen, das sie wollte. Für sie selbst dagegen sei Betteln unter jeder Würde gewesen. Um sich von der jüngeren Schwester abzugrenzen, demonstriert sie erst recht Eigenwilligkeit und Unabhängigkeit. Als betagte Frau sagt sie über sich: «Ich habe die Leute sehr gerne. Es gibt Leute, die ich schätze und so weiter, aber dieses Anlehnende von Elisabeth war bei mir nicht drin.»

Gertrud besucht die erste oder zweite Schulklasse, als sie, mit grüner Gärtnerschürze ausstaffiert, auf Wohlens Dorfstraßen Rossmist für den Garten einsammelt, sich zum Mist in den Leiterwagen setzt und den Kirchenrain hinunterrumpelt. Dies gehöre sich nicht für eine wohlanständige Bürgerstochter, findet die Großmutter Barbara Bertha Müller, verheiratete Zimmermann. Rossmistsammeln sei die Beschäftigung der «Fabrikler», die Enkelin solle ihre Zeit mit schicklicheren Tätigkeiten verbringen. Die so genannten «Fabrikler», Wohlens arme Leute, verdienen in den Strohfabriken oder in Heimarbeit zwölf Rappen auf die Stunde und müssen beim Bäcker für ein Pfund Brot den Lohn von zwei Stunden Flechtarbeit hinlegen. Mutter Bertha sieht nichts Unanständiges in Gertruds Vergnügen und lässt die Tochter gewähren. Soll sie den Kirchenrain, Wohlens steilste Abfahrt, hinunterkesseln, das will sie ihr nicht nehmen, allerdings, die Tochter hat rechtzeitig abzubremsen, bevor an der Bünzstraße das großelterliche Haus in Sicht kommt, und darf sich keinesfalls mit ihrer Wagenladung erwischen lassen.

«An Ostern hat uns der Osterhase wacker ‹gleit›: 1 grosser ‹Tschutball› (was schon lange unser sehnlichster Wunsch gewesen ist), ferner jedem ein Paar handgestrickte Strümpfe von der Grossmutter (die sie schon zu Weihnachten begonnen hat, sie waren aber so hart gestrickt, dass wir eine volle halbe Stunde brauchten, bis wir glücklich drin waren), dann jedem 1 Chocoladen- und ein Nougatei.»

Gertrud Heinzelmann an Paul Zimmermann

Elisabeth, die jüngere Schwester, und Gertrud Heinzelmann (ii), um 1922.

Die Großeltern mütterlicherseits sind Lehrersleute, nicht vermögend, auch nicht arm wie die «Fabrikler», mit bürgerlichem Klassenbewusstsein, das sich nach unten deutlich abzugrenzen weiß. Dabei reichte einst der Lohn von Lehrer Franz Josef Zimmermann nirgends hin, um seinen vier Kindern eine solide Ausbildung zu ermöglichen. Damit die Söhne Max, Franz und Paul eine kaufmännische Lehre machen konnten und Bertha nicht bis zur Verheiratung Kartoffeln schälen musste, arbeitete er, assistiert von seiner Frau, abends und am Wochenende als «Agent der Schweizerischen Mobiliar-Versicherungsgesellschaft». Die Kunden kamen zu ihm nach Hause und wurden ins Büro geleitet, wo schwarz gerahmt ein Pergament hing, auf dem eine Tiara mit zwei gekreuzten Schlüsseln prangte, und darunter stand: «Unterzeichneter Hauptmann Comandant der Schweizergarde Sr Päpstlichen Heiligkeit Pius IX. ertheilen hiemit dem unter Matrikel No 297 eingeschriebenen Halbardier Zimmermann Joseph seinen absoluten Abschied. Eingetreten als Halbardier den 1sten Weinmonat 1866. Ausgetreten den 1sten Herbstmonat 1868.» Unter dem Fluidum des päpstlichen Arbeitszeugnisses verkaufte der ehemalige «Halbardier», ein mit Hellebarde ausgerüsteter Schweizergardist, den Bauern und «Fabriklern» Lebensversicherungen und verhandelte Schadensfälle. Möglich, dass er dabei in der militärischen Haltung des einstigen Gardisten hinter seinem Pult saß. Auf dem Gruppenbild der Wohler Lehrerschaft präsentierte sich keiner derart stramm und energisch dem Fotografen wie er. Die päpstliche Urkunde vermerkte bei den Personalangaben: «Grösse: 5’5’’. Mund: klein. Haar: kastanienbraun. Kinn: spitzig. Stirne: mittel. Gesicht: oval. Augen: grau. Profession …» Josef Zimmermann war dem Papst gewissermaßen zugelaufen, Brotberuf hatte er keinen, denn er war aus dem Kloster ausgerissen, wo er nach dem Willen der Familie hätte Ordensbruder werden sollen.

Seine Frau Barbara Bertha hätte gerne ein Klavier gehabt, doch Josef Zimmermann stand der Sinn nicht nach Hausmusik, er fand, sie habe mit der Versicherung und den vier Kindern mehr als genug. Seine musikalischen Bedürfnisse gingen über Gardisten- und Trinklieder nicht hinaus. Auch im Alter, er ist längst im Ruhestand, singt er seiner Enkelin am liebsten den Reim von der bezahlten oder nicht bezahlten halben Maß Bier vor: «Garibaldi zahl mir eine Halbi, und zahlst Du mir die Halbi nicht, bist Du der Garibaldi nicht.» Er erzählt Gertrud abenteuerliche Geschichten aus seiner Italienzeit, auch, dass er für Papst Pius IX. ins Feld gezogen sei. Der Gegner war Giuseppe Garibaldi, der mit seinen Freischaren Rom stürmen wollte, weil sich der konservative Papst gegen einen selbständigen Nationalstaat wehrte und auf der Unterordnung unter seine Hoheit beharrte. Klein-Gertrud erzählt Josef, es seien bloß Scharmützel gewesen, die Schweizer hätten auf dem Schlachtfeld in die Luft geschossen. Im Herzen seien sie für den Fortschritt, für staatliche Souveränität und für Garibaldi gewesen, auch wenn sie den Sold beim Papst bezogen hätten. Trotz aller Liebe schlugen sie Garibaldis Truppen mit französischer Hilfe. Auf der Urkunde im Büro an der Wohler Bünzstraße stand unter «Bemerkung»: «Mit dem silbernen Kreuze vom Feldzug des Jahres 1867 decorirt.»

Seine Kinder erzog Josef Zimmermann mit vaterländischer Begeisterung, und den Söhnen pflanzte er männliche Wehrhaftigkeit ein. Ein Bild davon, wie Josef Zimmermann seine Knabenklassen unterrichtet haben mag, gibt der «Wohler Anzeiger» im Nachruf auf den redegewandten Dorflehrer: «Als urchigem Schweizer war ihm auch der Geschichtsunterricht Herzenssache. Da hingen Aug und Ohr an seinem Munde, es ballten sich insgeheim die jungen Schweizerfäuste, es blitzten die Augen, und erleichtert atmeten sie auf, wenn in der weiteren geschichtlichen Darbietung der Sieg sich an die Waffen der Eidgenossen heftete. Freudiger und trutziglicher klangen dann wieder die alten Schweizer Weisen.»6

Josefs Söhne Franz und Paul, der Jüngste, dienten im Ersten Weltkrieg in der Schweizer Armee, während Max, der Älteste, wegen zu kleinem Brustumfang als dienstuntauglich abgewiesen wurde. Er arbeitete für die Wohler Strohindustrie in Brüssel, und als seine Kollegen die belgische Hauptstadt verließen und zur Generalmobilmachung in die Schweiz zurückreisten, schrieb er nach Hause: «Es waren über 100 Schweizer, die via Lille & Paris der Heimat zu eilten. Heute gehen nochmals so viel fort. Nur die Alten, die Landstürmler und die Untauglichen bleiben da. Ich habe mich meiner Lebtagen noch nie so geschämt, wie gestern auf dem Bahnhof, als mir alle Kameraden zuriefen: Kommst Du nicht? und ich sagen musste, nein. Weiss ich, was für eine Ausrede ich gestammelt.»7

Noch am selben Tag besetzten deutsche Truppen das neutrale Belgien, und Max, in seinem Männerstolz verletzt, meldete sich als Freiwilliger bei der belgischen Armee. «Wir stammen vom Waldstätter See her, wo das Rütli grünt und haben den Geist, die Gesinnung dieses Landes von vielen Generationen her geerbt und bewahrt»8, schrieb ihm darauf sein Vater anerkennend, doch Josef Zimmermanns Brief erreichte ihn nicht mehr. Max, später als verschollen gemeldet, fiel im Kampf, möglicherweise ertrank er auch in den Feldern, die von den Belgiern überflutet worden waren, um die Deutschen am Vormarsch zu hindern. Nach dem Krieg ließ sich Franz in London nieder und passte seinen Vornamen an; Paul lernte das Ledergerben, ging für den Schweizer Schuhhersteller Bally zuerst nach Argentinien, dann nach Brasilien.

Der alte Mann mit seinem mächtigen, weißen Bart imponiert Gertrud, und sie ist ungemein stolz auf die päpstliche Urkunde, die in Wohlen einzig in der Stube ihres Großvaters hängt. Denkbar, dass er auch den Nationalstolz seiner Enkelin weckte, die später als Frauenstimmrechtlerin patriotische Gefühle zeigen und beim Kampf um politische Gleichberechtigung mit legalen Mitteln ihrem Land die Treue halten wird. Als Josef Zimmermann stirbt, ist sie zwölf Jahre alt. Sie habe es kaum ertragen, als man bei der Wohnungsräumung den schwarzen Bilderrahmen mit der Urkunde von der Wand genommen und das päpstliche Pergament herausgeschnitten habe, sagt sie.

«In der Ewigen Stadt trat er anno 1866 als Halbardier der Schweizergarde in den Dienst Papst Pius IX., machte anno 1867 den Feldzug gegen die Garibaldianer mit und verdiente sich das silberne Ehrenkreuz. Doch das fremde Soldatenleben, das einen Teil seiner Schaffenstriebe stillzulegen drohte, behagte ihm nicht, und damit reifte sein Entschluss: Er wollte Lehrer werden.»

«Wohler Anzeiger»

Grossvater Josef Zimmermann (1846-1926) mit Gertrud Heinzelmann, um 1918.

Gertrud Heinzelmanns Jugend im Wohler Bahnhofsquartier ist wohlbehütet. Vermutlich nimmt sie als Kind wenig von den Auseinandersetzungen zwischen den aufbegehrenden Arbeitern und den «Strohbaronen» wahr, die keine besseren Löhne zahlen und die Gewerkschaft nicht anerkennen wollen. Dieses historische Wissen wird sie sich erst später angeeignet haben oder die Eltern erzählen es ihr im Nachhinein. Sicher sind ihr aber die äußeren Unterschiede zwischen der eigenen Familie und den «Fabriklern» in ihren schäbigen Kleidern aufgefallen. Doch zu Hause orientiert man sich nach oben, die Eltern pflegen Kontakt mit dem einen oder anderen Familienmitglied der «Strohbarone» Bruggisser und sind mit Wohlens reichem Mühlebesitzer befreundet. Die Kontaktpflege geschieht im Bewusstsein, dass die väterliche Herkunft nobel ist. Was dies zu bedeuten hat, wird Gertrud und Elisabeth während der Schulferien im Nachbardorf bleibend vor Augen geführt.

Boswil liegt unterhalb des Lindenbergs, wo sich die Moore ausdehnen, durch die das Flüsschen Bünz nach Wohlen hinunter fließt. An klaren Tagen sieht man vom Dorfrand aus am Horizont die ersten Häuser von Wohlen, sehr zum Ärger von Gertrud, dennoch erscheint ihr der Ferienort unvergleichlich. Hier gehören die Heinzelmanns selbst zu den Landhausbesitzern, während sie in Wohlen von ihrer Mietswohnung aus zu den Villen der «Strohbarone» hinüberblicken. Zwar wirkt das Haus aus der Biedermeierzeit verglichen mit dem Eigentum der «Strohbarone» schlicht und unscheinbar, aber für Boswiler Verhältnisse ist es auch in Gertrud Heinzelmanns Kindheit ein feudaler Sitz. Im Dorf gibt es keine Fabrikschlote, keine schmucken Anwesen und keine Besuche ausländischer Unternehmer, stattdessen dominiert seit alters der Kirchturm über den Bauernhäusern, und aus der Ferne mahnt das Kloster Muri. Da fallen standesgemäße Extras ins Gewicht. Die Scheune, in der einst Pferde und Kutsche untergebracht waren, ist nicht wie bei einer Bauernbehausung an das Wohnhaus angebaut, sondern steht vornehm auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Zum weiteren Komfort des Hauses zählt in der Küche ein imitierter, antiker Brunnen mit fließendem Wasser. Auf dem Zwischenstock im Treppenhaus steht seit seiner Erfindung ein Wasserklosett. Hier gibt es keine dieser «senkrechten Kegelbahnen», wie Gertrud Heinzelmann die Holztoiletten nennt, die sich bei der Nachbarschaft im Hinterhof befinden. Im Frühling wachsen im Garten hinter Buchseinfassungen Spargeln, damals eine seltene und wenig bekannte Delikatesse. Im Herbst hängen in der Küche Rehe und Hasen aus der Jagd am Lindenberg, und im Glaskasten im oberen Stockwerk sind die Trophäen ausgestellt, besonders prächtige und seltene Vögel, die einst die Vorfahren in den Mooren geschossen hatten. – Soweit einige Annehmlichkeiten des gehobenen Lebensstils, der seinen Charme noch in Gertrud Heinzelmanns Jugend verbreitet.

Die Instanz im Boswiler Anwesen ist Großtante Salesia Rietschi. Auch im Alter von sechzig Jahren ist sie eine gepflegte Erscheinung von schlichter Eleganz, großgewachsen und schlank, mit stets sorgfältig hochgesteckten Haaren. Im Familienkreis heißt es viel sagend: «Sie hat das Dröhtli.» Das bedeutet, sie zeigt aristokratische Haltung und trägt den Kopf majestätisch erhoben, als hätte sie zur Verstärkung einen Draht im Hals. Kein Vergleich mit Babeli Christen von Hinterbüel, ihrer Magd, die bei ihr ein Leben lang dient, Haus und Garten bestellt und von der harten körperlichen Arbeit immer gebückter wird. Salesia Rietschi ist die leibhaftige Summe einer familiären Vergangenheit, die glanzvoller war als die Gegenwart, und dem Abstieg hält sie die geistigen Werte früherer Generationen entgegen.

«Haus Boswil mit Salesia Rietschi + Barbara Christen (‹Magd› lebenslänglich, ‹Familienstück›, sehr geliebt), Mitte Jagdhund ‹Herta›.»

Notiz von Gertrud Heinzelmann auf der Rückseite der Fotografie

Grosstante Salesia Rietschi (ii) vor dem Familiensitz im aargauischen Freiamt, um 1930.

Im Biedermeierhaus saßen im Salon einst die Vornehmen und Gebildeten aus der Region und tranken Tee aus feinem Porzellan. Im unteren Stockwerk befand sich die Praxis und die Apotheke des Hausherrn, des weltgewandten Bezirksarztes Johann Huber, der in der feuchten Umgebung der Moore und im nahen Kloster Muri viel zu kurieren hatte. Im Doktorhaus verkehrten die politisch Fortschrittlichen, Liberale und Freisinnige, die während des Machtkampfes zwischen modernem Staat und katholischer Kirche auf staatlicher Seite gekämpft hatten und wegen ihrer Gesinnung aus der Innerschweiz ins Freiamt flüchten mussten. Häufiger Gast war auch Niclaus Rietschi, ein Sprössling aus der Luzerner Stadtaristokratie, der zum Missfallen der Kirche das erste städtische Seminar für Töchter gegründet hatte und nach liberalen Vorstellungen leitete, bis er vertrieben wurde. Zurück ließ er Hab und Gut, in Kastanienbaum am Vierwaldstättersee die lauschige Villa Krämerstein, einst die Mitgift zu seiner Vermählung mit der florentinischen Aristokratin Salesia Falcini. Einer der Söhne fand im Boswiler Doktorhaus an einer Huber-Tochter Gefallen, und so heirateten sich Blaublütigkeit und der Name Rietschi ins Freiamt ein. Diese Ehe brachte zehn Kinder hervor, darunter Gertrud Heinzelmanns Großmutter Sophie und Großtante Salesia. Der wirtschaftliche Niedergang hatte mit der Vertreibung der Rietschi-Falcini begonnen, und die Tuberkulose, die im Doktorhaus wütete, tat ihr übriges.

Die Großtante und ihr älterer Bruder Theodor sind die letzten, die den Namen Rietschi tragen. Im Dorf verkehrt Salesia nicht mit Krethi und Plethi, und sie legt großen Wert darauf, dass im Kreuzgang der Luzerner Hofkirche die Grabplatte mit den Namen ihrer noblen Vorfahren gut lesbar bleibt. Sie heiratete nie und verdiente ihren Lebensunterhalt als Dorflehrerin. Auf dem Klassenfoto von 1910 erhebt sie ihr Kinn stolz über der Kinderschar, und an ihrer Seite hockt artig Jagdhündin Herta. «Mit etwas aristokratischem Einschlag»9 umschreibt die Boswiler Chronik das «Dröhtli», das nach dörflichem Verständnis als verstiegenes Gehabe erschienen sein mag. Die Dorfjugend setzte der ersten Gemeindelehrerin zu, und sie musste die mittleren Klassen aufgeben, übernahm die Schulanfänger, «wo sie ihre Autorität durchsetzen und wo ihr einwandfreier Unterricht Erfolg bringen konnte», so die Dorfchronik. Ihre Großnichten waren noch nicht auf der Welt, als sie vorzeitig vom Schuldienst zurücktrat. Boswil ernannte seine ehemalige Lehrerin zur Ehrenbürgerin, und die Chronik schilderte sie als «pflichtgetreu, edelgesinnt» und bei Not hilfsbereit.

Ihren Nichten erzählt Salesia aus dem Leben der Vorfahren, als wären es Märchen, und Gertrud bekommt vom Fragen nicht genug. Im Gymnasium oder in den ersten Studiensemestern beginnt sie sich politisch an den väterlichen Vorfahren zu orientieren, die mütterliche Seite interessiert sie kaum. Bei ihren Besuchen im Doktorhaus setzt sich Salesia im Salon auf die Bank des Kachelofens, kramt ein vergilbtes Foto der blaublütigen Falcini hervor, und die Nichte schreibt auf feine Bleistiftlinien in ihr Ahnenbuch: «Die Falcini. Florentiner-Aristokraten, entstammten einem Schloss der Toscana. Aus politischen Gründen mussten sie auswandern.» Dann wechselt sie von schwarzer Tinte zu roter und fügt hinzu: «Sie waren freisinnig.» Zum Foto von Salesia Falcinis Ehemann, dem liberalen Luzerner Stadtaristokraten, notiert sie (schwarze Tinte): «Niclaus Rietschi wirkte als Seminardirektor in Luzern.» Dann in roter Tinte: «Er war freisinnig.» Fortsetzung in Schwarz: «Als in Luzern die konservative Richtung die Oberhand gewann, musste er sein Amt niederlegen.»

Die «gütigen Augen» und das «Dröhtli» der Großtante, ihre aufrechte, distinguierte Haltung, hätten ihr am meisten Eindruck gemacht, sagt Gertrud Heinzelmann. Und weiter hält sie fest: «Mir persönlich hat dies sehr viel bedeutet. Immer. Man hatte ein Qualitätsbewusstsein. Wenn man materiell nicht wählerisch ist, dann fällt man auch im Geist auf eine tiefere Sphäre hinunter. Das lässt sich nicht trennen.» Über sie selber wird es später in Boswil heißen: «Frau Doktor hat es im Köpfli», also aufgepasst, die ist Juristin und die spricht nicht mit jedem. Die Schweizer Schriftstellerin Laure Wyss – sie hatte in den Sechzigerjahren als Journalistin mit Gertrud Heinzelmann oft beruflich zu tun – sagt: «In Boswil war Gertrud Heinzelmann kolossal, und wenn sie in der Gartenlaube ihres Hauses saß, wirkte sie wie eine Gutsherrin.» In der Manier einer Junkerin notiert Gertrud Heinzelmann auf ein altes Foto, auf dem das Haus ihrer Vorfahren zu sehen ist: «Haus Boswil mit Salesia Rietschi + Barbara Christen (‹Magd› lebenslänglich, ‹Familienstück›, sehr geliebt), Mitte Jagdhund ‹Herta›.»

An ihre Großmutter hat Gertrud Heinzelmann keine eigene Erinnerung. Am Arm der Mutter blickt sie als Dreijährige auf das Sterbebett der krebskranken Sophie Heinzelmann, geborene Rietschi. Der Vater wird ihren Nachlass bis auf zwei Fotografien und eine Postkarte aus Brüssel verbrennen, damit nichts an ihr Unglück und das ihrer Söhne erinnere. Eine der beiden Fotografien zeigt sie im mittleren Alter, mit demselben klaren und willensstarken Gesichtsausdruck wie ihre jüngere Schwester Salesia. Auch ihr Blick ist kein bürgerlicher, sondern einer, der von standesbewusster Höhe auf das Gegenüber hinab gerichtet ist. Im Gegensatz zu Salesia zeigen sich in Sophies Gesicht Härte, Resignation und verhaltener Spott.

Sophie Rietschi hatte Charles Maximilian Heinzelmann, einen Deutschen mit Genfer Bürgerrecht, geheiratet. Nach unglücklichen Ehejahren reichte sie als eine der ersten Schweizerinnen die zivile Scheidung ein. Für eine Frau im Jahr 1890 ein kühner Schritt, der mit gesellschaftlichem Abstieg und Ächtung verbunden war. Ihre Großmutter, so Gertrud Heinzelmann, habe es nicht hinnehmen wollen, von ihrem Mann geschlagen zu werden. Nach der Scheidung ließ sie ihre Kinder, Hans war drei und Karl ein Jahr alt, im Freiamt zurück, emigrierte nach Brüssel und arbeitete sich zur Gerantin der königlichen Confiserie hoch. Auf der Treppe zum Geschäft ließ sie sich mit Ladenmädchen und Kundinnen fotografieren und schickte das Bild als Postkarte ihrem ältesten Sohn nach Boswil. Hans wuchs bei Tante Salesia auf, die das Scheidungskind mit dem «Dröhtli» stärkte. Die finanziellen Mittel reichten gerade für eine kaufmännische Ausbildung, und in der königlichen Confiserie in Brüssel absolvierte er ein Praktikum, aber niemand durfte erfahren, dass die Gerantin seine Mutter war.

Karl hingegen traf das schlechtere Los des Zweitgeborenen. Er kommt in ein Kinderheim und ist seither sozial gezeichnet. Die Verwandtschaft bedauert ihn, denn er ist aus demselben Fleisch und Blut, doch gemessen an den familiären Wertvorstellungen schlägt er aus der Art. Er gehört nicht ganz dazu, weil er Liebesaffären hat, die nicht zu geordneten Verhältnissen führen, und weil er trotz Sprachbegabung als Kellner und Straßenwischer durchs Leben vagabundiert. «Er ist nicht ganz geraten, aber auch nicht gefehlt»,10 so Bertha an Bruder Paul. Die familienbewusste Gertrud Heinzelmann besitzt von diesem «armen Tropf» ein einziges Foto, über sein Leben weiß sie fast nichts. Er stirbt im Zweiten Weltkrieg verarmt im Bürgerasyl von Genf.

Im Studium reagiert Gertrud Heinzelmann mit «heisskochender Empörung»11 auf die Benachteiligung der Frauen im damaligen Eherecht. Sie verehrt zeitlebens die Großmutter für ihr Selbstbewusstsein und ihren Unabhängigkeitswillen. In einer ihrer letzten Veröffentlichungen schreibt sie 1991: «Ich bewundere Sophie Rietschi ausserordentlich. Sie hatte den Mut, damals, als es kaum Existenzmöglichkeiten für Frauen gab, sich von ihrem Mann zu befreien und selber für ihre beiden Kinder das Geld zu verdienen.»12 Die Heinzelmanns hätten gerne wieder Rietschi geheißen, aber der verhasste Name ließ sich nicht mehr abstreifen.

Ebenso prägend wie das «Dröhtli» ist in Gertrud Heinzelmanns Jugend die katholische Kirche. Pompöse Kirchenfeste und fromme Volksbräuche prägen ihre Schulzeit. Das Doktorhaus steht in Boswil am Kirchweg, wo die Prozessionen vorüberziehen, und wenn die Großtante mit ihren Nichten Einkäufe tätigt, kommen sie auf ihrem Weg an Bildstöcken und Kruzifixen vorbei. Im Merceriegeschäft, das von zwei Schwestern geführt wird, begutachtet Salesia mit der einen Ladenbesitzerin das Angebot an Stricknadeln, während die andere den Mädchen das kostbarste und selbstverständlich unverkäufliche Stück zeigt: ein langer Metallnagel, der einst im blutigen Fleisch des Gekreuzigten gesteckt haben soll. In ihrem «kindlichen Gemüt», so Gertrud Heinzelmann, habe dieser Nagel einen «unauslöschbaren Eindruck»13 hinterlassen. In Wohlen besucht die Mutter mit ihren Töchtern die Messe, in der an hohen Feiertagen ein Schauspiel geboten wird. An Karsamstagen stehen in der Kirche Felskulissen mit einer Grabnische, und hinter Glaskugeln, die mit gefärbtem Wasser gefüllt sind, brennen Kerzen. Dank Theaterbühnentechnik verschwindet während der Messe Christus mit Getöse in der Grabnische und erscheint wieder von der Kirchendecke hängend als Auferstandener.

Im liberalen Milieu der Heinzelmannschen Familie ist der Umgang mit der Kirche, der Gertrud und Elisabeth vermittelt wird, widersprüchlich. Die Eltern verstehen sich als Katholiken und somit zur Kirche zugehörig, aber ins Private dreinreden lassen sie sich von keinem Geistlichen, am katholischen Vereinsleben nehmen sie nicht teil, von der Konservativen Volkspartei14 distanzieren sie sich, schließlich halten sie es mit den freisinnigen Unternehmern und Industriellen aus dem Wohler Bahnhofsquartier. Wie jeder Rietschi verweigert Hans Heinzelmann den Kirchenbesuch, Bertha hingegen geht wie manche Frau aus liberalen Verhältnissen dennoch zur Messe. Ihr Abseitsstehen demonstrieren die Eltern dem Dorf während der Prozession an Fronleichnam. Die Route führt am großelterlichen Wohnhaus vorbei, der Festumzug hält hier an, der Priester betet an einem eigens aufgestellten Altar, und ein Chor singt. Die Eltern und Großeltern mischen sich nicht unter die Schaulustigen, sondern schließen, für alle sichtbar, die Fensterläden und verschanzen sich im Haus. Trotz dieser Distanzierung setzen die Eltern ihre Tochter der Kirche aus und lassen sie mit ihren Gefühlen allein. Gertrud Heinzelmann beschreibt diese Erfahrung als Erwachsene so:

«Es gehört wohl zu meinen ältesten frühkindlichen Erinnerungen, dass ich am damaligen Wohnsitz meiner Grosseltern zusammen mit dem alten gelähmten Hauseigentümer an einem Fronleichnamstag in den Garten gesetzt wurde, in dem alljährlich ein Altar als Station der volksreichen Prozession aufgebaut war. Die Kunde vom ‹Heiland› (wer hatte mir davon erzählt?) hatte schon lange zuvor mein kindliches Sinnen beschäftigt. Dann – über dem Gartenweg Monstranz, Baldachin, Weihrauch, nie gesehene Gewänder. Allein mit dem gelähmten Greis sass ich in einem von Gebüsch umhegten Chor, einem Geschehen mit überwältigenden Eindrücken preisgegeben, von denen ich nur das Wort ‹Heiland› verstand. Aber diesen mit ungeheurer Gefühlsintensität Erwarteten sah ich nicht trotz aller Anstrengung, aus einer seelischen Spannung fiel ich hoffnungslos in eine nicht zu bewältigende Enttäuschung. Schliesslich löste ein Strom von Tränen Überwältigung und Anspannung. Meine Mutter kam, trug mich in das Haus zurück, in dem die Erwachsenen sich hinter geschlossenen Fensterläden versammelt hatten.»15