Laure Wyss - Barbara Kopp - E-Book

Laure Wyss E-Book

Barbara Kopp

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Beschreibung

Laure Wyss (1913-2002) führte das Leben einer alleinerziehenden, berufstätigen Frau zu einer Zeit, als dieser Lebensentwurf nicht vorgesehen war. Sie wehrte sich gegen die Benachteiligung als Mutter eines außerehelichen Kindes, als Journalistin kämpfte sie für die Selbstbestimmung und Gleichberechtigung der Frauen. Sie wurde zu einer Medienpionierin und Wegbereiterin der heutigen Gesellschaft. Verheiratet mit dem deutschen Architekten Ernst Zietzschmann, übersetzte sie während des Zweiten Weltkriegs in Stockholm kirchliche Widerstandsschriften. Nach dem Krieg folgten die Scheidung, die Geburt ihres Sohnes und die Berufstätigkeit in Zürich: Für freisinnige Tageszeitungen gab sie eine Frauenbeilage heraus, für das Schweizer Fernsehen entwickelte sie das "Magazin der Frau" sowie die erste Diskussionssendung, und 1970 war sie Mitbegründerin des "Tages-Anzeiger Magazins". Sie förderte junge Autoren wie Niklaus Meienberg, Jürg Federspiel, Hugo Loetscher, Peter Bichsel, Isolde Schaad, Mariella Mehr. Privat stand ihr der Publizist und Literaturwissenschaftler Karl Schmid nahe. Nach ihrer Berufskarriere entstand ihr umfangreiches schriftstellerisches Werk. In ihren Büchern beschäftigte sie sich mit Lebensentwürfen von Frauen, mit biografischen Umbrüchen und dem Altwerden. Sie schrieb Gedichte und griff aktuelle gesellschaftliche Themen auf. Brillant erzählt Barbara Kopp den Werdegang dieser leidenschaftlichen Frau, die durchlebte, worüber sie schrieb. Ihre Biografie zeigt ein exemplarisches Frauenleben und zugleich ein Stück Schweizer Medien- und Mentalitätsgeschichte seit dem Zweiten Weltkrieg.

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Seitenzahl: 451

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LOR

WYSS

ICH

Zeittafel

Nachtrag

Dank

Quellen

Literatur

Überblick

LOR

Mit einer Silbe war die Kindheit abgetrennt. Sie nannte sich Lor, seit sie fortwollte, weg von den Eltern, weg von der Schwester, die ihr immer eine Schuhgröße voraus gewesen war. Die Eltern hatten für sie die Taufnamen Laure Elisabeth gewählt, zwei praktische Namen in einer Gegend, die von der Sprachgrenze zweigeteilt wurde. Er ging Französischsprachigen wie Deutschsprachigen gleichermaßen über die Lippen. Die Schwester, zwei Jahre vor ihr geboren, hieß Hilde und wurde von den Eltern, von Tanten und Onkeln Hildi genannt. Zu ihr sagten alle Lorli.

Nichts erinnerte an den Singsang eines Kinderreims, seit sie die Verkleinerung am Namensende verweigerte. Der neue Name gab wieder, wie Laure auf Französisch ausgesprochen wurde. Auf dem Einwohneramt bestand sie auf der Ausstellung eines Reisepasses in französischer Sprache. Sie studierte in Zürich, wohnte während der Semesterferien bei den Eltern im Dorf, das für die einen Leubringen hieß, für die anderen Évilard. Sie beharrte auf einem Passeport, partout, obwohl Französisch nicht ihre Muttersprache war. Zu Hause sprach man breiten Berner Dialekt mit bielerischer Färbung – Biudütsch.

Das Dorf mit den zwei Namen thronte oberhalb der Stadt Biel auf einer Sonnenterrasse des Jura, es gab ein Feuerwehrhaus und ein Schulhaus, aber keine Kirche, dafür Gaststätten, die «Beaulieu», «Beausite» oder «De la Gare» hießen und von Biel aus bequem mit der Drahtseilbahn zu erreichen waren. Zwischen Bauernhäusern standen Bürgerhäuser, manche im Alpenstil gebaut und umgeben von Zedern und Tannen.

Ich, Lor-Elisabeth Wyss, wurde am 20. Juni 1913 in Biel (Kt. Bern, Schweiz) geboren. Hier besuchte ich die städtischen Schulen und bestand im Herbst 1932 die Maturität am städtischen Gymnasium. Den folgenden Winter verbrachte ich in Paris, wo ich die Sorbonne besuchte. Während des Sommers 1933 machte ich eine halbjährige Lehrzeit auf dem Notariatsbureau meines Vaters in Biel. Im Herbst 1933 immatrikulierte ich mich an der Universität Zürich, wo ich zwei Semester neue Philologie studiert habe.

Den Lebenslauf schickte sie nach Berlin an die Kanzlei der Friedrich-Wilhelms-Universität mit der Bitte, für das Wintersemester 1934/35 zum Studium zugelassen zu werden. Sie fügte die Bestätigung der Universität Zürich bei, dass sie die Fächer Französisch und Deutsch belegt hatte, und von der Université de Paris die Bescheinigung vorzüglicher Sprachkenntnisse.

Auch in Zürich war ihr Biel zu nah, um von der Welt loskommen zu können, in die sie hineingewachsen war. Immer blieb sie die jüngere Tochter des hoch angesehenen Notars Werner Wyss, der als Freisinniger im Stadtrat politisiert hatte, nun im Kanton Bern Großrat war. Und stets war sie die Enkelin des hoch geachteten Jakob Wyss, der das Gymnasium in Biel wiedergegründet und die Elite der Stadt geschliffen hatte, Jahrgang für Jahrgang. In seinem Gymnasium hatten sie und ihre Schwester in den Bänken gesessen, entgegen seinem Willen, die Ausbildung hielt er für Mädchen zu streng. Aber der Vater hatte sich widersetzt und die Töchter in das Schulhaus geschickt, an dessen Giebel stand: «Die Erziehung der Jünglinge ist die Basis des Gemeinwesens.»

In Leubringen waltete Anna Berta Wyss und sah zu, wie die Töchter ein Leben führten, das sie sich womöglich auch gewünscht hätte, das ihr jedoch verwehrt geblieben war bis auf ihre Saison, diesen einzigen Sommer vor der Ehe, in dem sie auf dem Gornergrat im Wallis die Ausflügler bedient hatte.

Aber auch sie hatte einen Überblick. Sie war eine geborene Uhlmann aus der «Épicerie fine et Bonneterie Uhlmann», einem Geschäft, das in Biel an bester Lage die Waren eines Frauenlebens im Angebot hatte. Knöpfe, Nadeln, Nähfaden und Garn, Strümpfe und Unterwäsche, dann Kaffee und andere Genüsse aus Übersee. Nach der Schule hatte sie im Laden mitgehört, wie ihre Mutter die Kundschaft bedient und mit der Ware immer auch Neuigkeiten ins Packpapier eingewickelt hatte. Die Schwester und sie hatten Bestellungen auszuliefern, und mit dem Geld hatten sie auch dieses und jenes zurückgebracht, das sie gerade aufgeschnappt hatten. Ihre Kenntnisse über das weibliche Biel hatte sich Anna Berta Wyss seit Kindsbeinen erlaufen. Später hatte sie am Ladentisch Päckchen geschnürt.

Lor-Elisabeth Wyss, die mit dem Wort «ich» ihren Lebenslauf begonnen hatte, als gelte es, Hindernisse zu durchstoßen, um fortzukommen, schickte ihre Bewerbung in sicherer Entfernung von zu Hause, aus Hannover, ab.

Hanni, die Studienfreundin, kam aus Hannover und besaß einen seltenen norddeutschen Familiennamen, Zietzschmann, Johanna. Der Bruder nannte sie Hanne, wie in Deutschland üblich, aber sie hielt am schweizerischen «i» am Namensende fest. Sie wollte die Hanni sein, die in Zürich geboren worden war und die Schule besucht hatte, bis der Vater, ein Professor für Tieranatomie, an die Tierärztliche Hochschule Hannover berufen wurde. Gegen den Willen ihrer Mutter hatte sie sich nach Zürich zurückgekämpft und ein Studium der Rechtswissenschaften begonnen.

Für Hanni war eine, die auf den Skiern durch den Wald nach Biel ins Gymnasium gefahren war und die mit einem Ruderboot umzugehen verstand, eine passende Kameradin. Hanni war Mitglied im Deutschen Ruderclub, und am ersten Sonnentag im Frühling setzte sie sich ins Boot, ruderte den Zürichsee hinauf bis zur Halbinsel Au und wieder hinunter. Zu Beginn jeder Saison notierte sie in ihre Taschenagenda eine ähnliche Feststellung: «Schwer verbrannt! O jeh.» Sie sog alles auf, was sie für schweizerisch hielt. «Bärnedütsch vorlesen. Köstlich.»

Die Familie Zietzschmann pflegte einen Lebensstil, der so anders war als das, was Lor Wyss von ihrer eigenen Familie kannte. Die Freundin fuhr mit dem Auto ihres Vaters herum und gab Geld aus für Musik. In den Literaturstunden am Bieler Gymnasium war in Lor ein Idealbild von Deutschland entstanden, geprägt von den Epochen der Romantik und Klassik. Zeitgenössische Lyrik gab ihrem Lebensgefühl eine Form, diese Gedichtzeile von Rainer Maria Rilke: «... denn da ist keine Stelle, / die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern.» Ein unerhörter Zuruf einer Autorität, die sie verehrte und die ihr das Recht gab, sich von den Eltern loszusagen. Die Freundschaft mit Hanni verhieß eine Verlängerung der Freiheit über den letzten Semestertag hinaus. Die Unabhängigkeit endete jeweils, wenn sie im Studentenwohnheim das Zimmer räumen und nach Leubringen zurückkehren musste. Mit Hanni reiste sie im Sommer durch Holland, dann anerbot es sich, auf der Rückreise in Hannover einen Zwischenhalt einzulegen, den sie so lange ausdehnte, bis die Ermahnung kam. Hanni notierte in ihre Taschenagenda: «Brief aus B: Lor geht heim.» Vor der Rückkehr aber beschlossen die beiden, in Berlin zu studieren.

EINFÄRBUNGEN

Das Kleid, dessen Farbe und die Frau, die diese Farbe und dieses Kleid trug, waren für ihn ein Ganzes. Wie keine andere gehörte für ihn die Farbe des Kleides zu ihr, als wäre es der Farbton ihres Wesens. Er schrieb im Dezember 1933 in seinen Taschenkalender:

«Lor mit dem blauen Kleid. Und ich bin unsinnig verliebt.» Am Abend saß er mit ihr am Tisch, und sie, die Freundin seiner Schwester, prüfte ihn in Biudütsch. Ein kehliges Kratzen, das in einen breiten Doppellaut überging und rollend zu Ende kam: Chlouser, Samichlous. Sie saßen beim Chlouser-Höck, tranken Wein, es waren noch Freunde dabei, für Ernst Zietzschmann saß am Tisch nur eine.

Weihnachten und Neujahr verbrachte er mit der Schwester bei den Eltern in Hannover. Die Entfernung kühlte seine Gefühle nicht ab, im Januar, als die Vorlesungen wieder begannen, hatte er genug Gründe, ihr an die Universität wiederzubegegnen. Er hatte sein Architekturstudium an der Eidgenössischen Technischen Hochschule abgeschlossen und besuchte seither an der Universität Vorlesungen in Germanistik, Französisch, Italienisch und Kunstgeschichte. Seinen Lebensunterhalt verdiente er mit Gelegenheitsarbeiten.

«In der Mensa spiele ich den dummen Jungen gegenüber Lor, die sich aufspielt + interessant macht. Hanne sitzt auf glühenden Kohlen.»

Eine Partie zu dritt. Er tat, als wäre alles Zufall, als wüsste er nicht, wen er über Mittag antreffen würde, dabei hatte er vor kurzem seine Verlobung in Hannover aufgelöst, und er sprach sich mit seiner Schwester ab. Die Schwester trieb das Spiel der Zwischenhändlerin, die dem Bruder half und zur Freundin hielt, auf beide Seiten Vertrauliches streute und fortwährend den Zufall inszenierte, eine gemeinsame Zugfahrt zuerst, wie ohne Absicht, dann die Einladung zum Chlouser-Abend, weitere Zusammentreffen hier und da, zu dritt schließlich eine Winterwanderung, die auf dem Albisgrat unversehens in einen heftigen Schneesturm führte, bei dem kein vernünftiger Wanderer sich auf den Weg gemacht hätte. Lor Wyss ließ sich alles gefallen, zog ihren Vorteil aus den Bemühungen der beiden, lockte und wies zurück im Bewusstsein, dass er nicht der Einzige war, der um sie warb.

«Hanne erzählt, dass sie wie eine große Dame bei Globus Wimpernfixativ + Lippenstift gekauft habe. Ich gerate in einige Unruhe angesichts der Auspizien.»

Ernst Zietzschmann war ein Genussmensch und hochempfindlich, zugleich seinen Gefühlen ausgeliefert. Eine Bemerkung seiner Schwester oder von Lor konnte ihn derart verunsichern, dass er sich kaum mehr auf seine Arbeit konzentrieren konnte und der Tag für ihn verloren war. Eine Bestätigung ließ ihn euphorisch werden und gab ihm Selbstvertrauen, das er augenblicklich wieder verlieren konnte. Die Schwester schürte seine Gefühle, ließ ihn groß und klein werden.

«Hanne ist gar nicht zufrieden mit mir + meinem Verhalten. Ich bin halt doch zu lammlig. C’est ça.»

Er schrieb auf, was sie ihm zutrug, was sie ihm riet und an ihm kritisierte. Ansonsten hielt er fest, ob er an diesem Tag viel oder wenig geleistet, mit wem er zu Mittag gegessen und mit wem er den Abend verbracht hatte. Er schwärmte von Landschaften und schönen Frauen, unterstrich Worte mit Nachdruck und sparte nicht an Ausrufezeichen. Für seine Tagesnotizen verwendete er Taschenkalender, preiswerte Pappausstattung ohne Goldschnitt, eine linierte Seite pro Tag, ein Vierteljahr pro Heft.

Der Zwischenhändlerin wurde das Doppelspiel mit der Zeit zu viel, und sie legte ihrem Bruder nahe, mit Lor endlich allein etwas zu unternehmen. An einem Nachmittag, an dem er sich langweilte, ging er zu Lor, dann suchten sie Hanni, und zu dritt gingen sie an die Bahnhofstraße. An Zürichs vornehmster Geschäftslage gab Lor aus, was sie aufbieten konnte, kaufte meterweise sirrendes Blau und beauftragte eine Schneiderin, ihr ein Abendkleid zu nähen. Anschließend tranken die drei in der Confiserie Sprüngli Kaffee. Daraufhin bewies er den beiden Frauen, dass ein Gentleman nicht «lammlig» war. Er leistete sich einen Smoking.

Hanni kaufte sich nichts.

Wochen vergingen, dann kam der Tag, an dem Ernst einen zusätzlichen Zettel benötigte, weil ihm die vorgesehene Seite im Taschenkalender nicht mehr ausreichte.

«Wir gehen heute abend tanzen. Tempo Vorbereitg. mit der Fliege. zu LOR. KURSAAL. In strahlender Schönheit schenkt sich mir diese liebe einzige Frau. Ihr Kleid, das neue, einst selbst ausgewählte, ist als ein Wunder um das Wunder ihres Körpers gelegt. Das strahlende Hellblau mit ganz wenig Silber steht ihr herrlich + einzig. Es fällt in einer weiten leichten Glockenbewegung, die Ärmelansätze sind glänzend, leuchtend blau gerafft. Kleine silberne Schmuckhalter über den Schultern. Der Rücken weit ausgeschnitten mit einem strahligen Netz von blauen Streifen, die zusammengehalten werden mit einem kl. Clip. [...]

Soll ich hier niederschreiben, von welcher Vollendetheit dieser Körper ist? Und wie weich er sich zu neigen weiß? Und welche ganze Anbetung er verdient?

Das Tanzen geht gut, nur sollte ich halt 10 cm größer sein, tant pis. Lieb hab ich sie doch.»

Er umwarb «sein junges Lieb» am Klavier mit Schubert und Mozart, Bach, Brahms, Beethoven und drückte seinen Überschwang in die Tasten. Er wäre gerne Pianist geworden und hatte sich für Architektur entschieden. Sie saß still neben ihm auf dem Bett, in dem Hanni schlief, seit sie vom Studentinnenheim zum Bruder gezogen war. Er rauchte Pfeife, wie seine Kollegen auch, und war sechs Jahre älter als sie.

«Sie hat ihr lb. blaues Kleid an, das ihre Gestalt so fest umschließt. Sie liest mir den einen Leopardi, ich ihr ein paar Eichendorffs vor. Dabei sitzt sie, ein schlankes herrliches Wesen, auf dem Sofa neben mir. Eichendorffs stille weite Landschaften klingen zu uns ins Zimmer. Dann soll sie lesen und legt dann mit einem Aufatmen das Buch weg: Lass uns aufhören, lass uns aufhören. Lass uns etwas anderes tun!

Dann wird das kleine Kerzenlicht weggestellt + sie bettet sich fest in meine Arme, ganz ganz fest und tausend Mal wird ihr Mund mein, tausend Mal. Und jedes Mal anders, und jedes Mal neu. Und dies selige Gefühl: Du bist bei mir.»

Er bewunderte ihr Wissen über Literatur, ihr Urteilsvermögen und ihre Eloquenz, vielleicht auch ihren Widerspruchsgeist. Ihm pflegte seine Mutter zu sagen: «Junge, Junge, du bist mundfaul.»

Und immer dieses Blau. Ein Sog, ein Rausch, eine nie gestillte Sehnsucht. Wie wenn er einen Bergsee beschriebe, kam ihm ihr Wesen vor: «frisch» und «hell», ihre Art «klar», ihre Gestalt «unberührt».

«Wie ich froh bin um ihre wunderbare Jugend, ihre eben 20 Jahre, ihr ganzes starkes Jungsein, das sich mir schenkt, unbeschränkt + froh.»

Zugleich aber erschien sie ihm abweisend, kühl und «undurchdringlich».

«Ob ich sie werde festhalten können?»

Das Erste, was Ernst Zietzschmann tat, als er 1931 in die Schweiz zurückkehrte, er suchte das Blau seiner Jugendzeit. An der Eidgenössischen Technischen Hochschule wollte er sein Architekturstudium abschließen. Am Tag nach der Ankunft in Zürich fuhr er mit einem Schulfreund in die Innerschweiz an den Vierwaldstättersee.

«Es ist ein Gang im Elysium. Die Maderaner Gipfel, die Riemenstalderberge + der Urirotstock. Unglaublich schöne Blicke. Weiter der Gang z. Seelisbergsee. Crocuswiesen mit Schnee. [...] Kaffee ob dem Rütli droben in der wunderwunderbaren Landschaft. Auf dem See wachsen die Schatten.

[...] Dampferfahrt üb. Gersau, Beckenried (200 Skiläufer) u. Vitznau, Sonnenuntergang. Ein weiteres non plus ultra. Der blauviolette Bürgenstock. Und rotgolden rollt d. Sonne am Pilatus hinab.»

Am nächsten Tag nahmen sie das Kursschiff nach Flüelen, mieteten ein Ruderboot, erreichten Isleten und schulterten die Rucksäcke.

«Es lässt sich nicht beschreiben, wie die weißen Berge über dem blauen See stehen.»

Ernst Zietzschmann war kein Glückseliger im Elysium, ihm fehlten die Niederlassungsbewilligung und das Schweizer Bürgerrecht. Nach seinem Architekturstudium schrieb er sich an der Philosophischen Fakultät der Universität ein, um seine Aufenthaltsbewilligung zu verlängern. Seine Gelegenheitsarbeit war Schwarzarbeit als Bauleiter oder Aushilfszeichner, das Honorar abhängig vom Geschäftsgang des Arbeitgebers und vom allfälligen Preisgeld aus Architekturwettbewerben. Die Fremdenpolizei war hinter ihm her, nachdem er wegen seiner Schwarzarbeit anonym angezeigt worden war. Er wurde ausgewiesen, einflussreiche Bekannte halfen ihm beim Verfassen des Einbürgerungsgesuchs, und ein Architekturprofessor vermittelte ihm ein Reisestipendium, sodass er für einige Monate nach Italien verschwinden konnte. Wieder in der Schweiz, hatte sich an seiner Situation nichts geändert, das Einbürgerungsgesuch war nicht entschieden, für die Aufenthaltsbewilligung gab er sich als Student aus, und für seinen Lebensunterhalt arbeitete er unerlaubt. Aber seine Schwester studierte inzwischen in Zürich, und er war Lor im blauen Kleid begegnet.

An eine Rückkehr nach Deutschland dachte er nicht, auch wenn ihn zuweilen das Heimweh plagte. Politischer Weitblick war es nicht. Als im März 1933 in Deutschland der Reichstag gewählt wurde und die Nationalsozialistische Partei große Gewinne erzielte, notierte er:

«Die Wahlen bringen einen tollen Sieg Hitlers.»

Seine Hochstimmung stieß bei den Freunden aus dem Gymnasium auf keine Gegenliebe, provozierte vielmehr angespannte Diskussionen und wurde zum wiederkehrenden Ärgernis. Er erwartete Anerkennung für seine Nation, die nach dem verhassten Friedensvertrag von Versailles verlumpt und verhungert war, die aber nun die auferlegten Schadenszahlungen für den Krieg hinter sich gebracht hatte und mit jeder Wahl bestätigte, dass in Zukunft mit ihr zu rechnen war. Er rieb sich besonders an Karl Schmid, einst der Klassenbeste, der sich für Politik interessierte, in der Schweizer Armee Leutnant war und Deutschlehrer am Gymnasium werden wollte.

«Tango [Karl Schmid] schimpft wieder auf Deutschland + tut düpiert über meine Begeisterungszumutung.»

Ernsts Cousin, mit dem er in München die Studentenwohnung geteilt hatte, hätte ihn gerne für die Partei gewonnen und hatte ihn in den Bürgerbräukeller zum Auftritt Hitlers mitgenommen.

In der Schweiz konnte sich Ernst Zietzschmann am Aufstieg der Nationalsozialisten begeistern, doch wenn ihm bei Besuchen in Hannover ein Aufmarsch begegnete, widerte ihn das Brüllen, Hackenzusammenschlagen und Salutieren an. Die politische Stärke bejubelte er, aber die Ästhetik dieser neuen Kraft stieß ihn ab.

«Niedergeschlagen durch den furchtbaren Betrieb. Blasse, hässliche Menschen. Fahnen. Schilder. Alles erscheint wie Manie. Mittags Kampfes Stimmung.»

In seinen Aufzeichnungen machte er nie eine Bemerkung, ob Lor über seine politische Schwärmerei hinwegging, ihr womöglich keine Bedeutung gab, oder ob sie ihn kritisierte wie Karl Schmid. Hingegen vermerkte er nach einem Fest siegesgewiss, dass er sich mit ihr bei seinen Freunden zeigen konnte.

«Und in allem ist das Licht + das Liebhaben meiner herrlichen Frau, meiner Lor. Stolz bin ich auf sie, wie sie als das schlankste + schönste Mädel Mittelpunkt ist. Rote weite Hosen über nackten Beinen. Am Fußgelenk eine rote Kette, Sandalen; ein herziges rot-weiß kariertes Blüsle. Nach Mitternacht wird sie ganz ganz lieb zu mir + schenkt mir ihren Mund.»

Er schätzte auch ihre Sportlichkeit, obwohl er einstecken musste, wenn sie auf ihren Skiern elegant davonstob.

«Beim 1. Schuss großer Sturz, dito beim 2. Ich in sinnloser Wut, Lor fährt alles sturzfrei, in herrl. Beherrschung ihres wunderbaren Körpers.»

In seinem Freundeskreis gab es ein weiteres Paar, ein heimliches: seine Schwester und Karl Schmid. Die Liebschaft war allerdings nicht von langer Dauer.

Eines Tages erschien in Zürich Anna Berta Wyss, um sich vor Ort ein Bild zu machen von den Vorgängen, die ihr in Leubringen zu Ohren gekommen waren und deren Tragweite ihr mütterlicher Instinkt sofort erfasst hatte. Ernst Zietzschmann notierte: «Frau Wyss ist sehr sehr lieb.» Auch wenn er sich die Liebenswürdigkeit der Besucherin glauben machte, wusste auch er, dass ein solcher Besuch kurz vor Semesterende nichts Gutes verhieß, dass die Ferien genutzt werden würden, der Tochter die Flausen auszutreiben, ihr den Kopf wieder geradezusetzen, damit sie sich fortan aufs Studieren konzentriere. Die Liebschaft zog sich erst über wenige Wochen hin, und unversehens wurde die unbeschwerte Annäherung für ihn zur Nötigung. Ans Heiraten dachte er nicht in erster Linie.

«Es fallen meinerseits die ersten Worte wegen später. Ich werde dazu gedrängt durch die Entwicklung in Bern. Hätt sonst noch lange warten mögen.»

Bald darauf absolvierte er in den Semesterferien seinen Antrittsbesuch.

«Fahrt nach Biel. Ich horche manchesmal in mich hinein + mein Blut singt! Wonach? Auf dem Bhf. ist niemand. Warum? Telefon. Komm hinauf, Bueb. Die lb. dunkle Stimme ist’s. Die Fahrt durch Biel, das Warten am Bähnli + die Fahrt hinauf ist das Wahnsinnigste, was ich erlebt habe. Es bleibt nichts mehr in mir. Die Freude + Erwartung höhlen mich ganz ganz aus, und die Minuten sind von einer fast unertragbaren Schwere + Fülle. Oben ist sie: hell, lachend, lieb. Ja, sie ists, mein Meitschi. Im Schneegestöber mit ihr zu ihrem Haus, das groß + breit + hell auf weiter Wiesenfläche steht. Schnell Herr Wyss. Er ist kleiner als alle 3; Essen, ein wenig schwerer Anfang. Helle weite Zimmer. Lor zu Hause. In grünem Jumper + mit frisch geschnittenem Bubikopf. Und braun braun! Und dann ist sie auch lieb zum Bueb, einen kurzen Augenblick auf ihrem Zimmerle.

Und das Musizieren will nicht recht gelingen, weil in mir keine Ruhe ist. Und sie merkt das + will nichts mehr hören. Nach dem Tee (Unterhaltg. nach dem Essen ist Vater Hausmann, voyage au bout ... eh, wobei Lor natürlich opponiert.) hinauf in ihr Zimmerle. Wie wunderbar muss von hier oben der Blick sein auf das weite weite Land + die Berge. [...]

Abendbrot. Es geht nicht recht, das Essen. Abfahrt. Wieder mit dem Bähnli hinab. Mit dem Bähnli. Es wird still + stiller in mir. Und etwas würgt + würgt, bis der entsetzliche Zug endlich abfährt.

Ihre helle liebe Gestalt verschwindet.

Und eine dunkle dunkle Fahrt ins Nichts beginnt.»

Er sah Weite und Helligkeit, obwohl tatsächlich in Leubringen Himmel und Landschaft verhangen waren. Sein Antrittsbesuch war genau genommen misslungen, die Rückfahrt ernüchternd. Die Wortlosigkeit am Esstisch zwischen ihm und den potenziellen Schwiegereltern umging er, als er die Seite im Taschenkalender füllte und auf der nächsten weiterschrieb. Sein Interesse galt Vater Wyss, von Mann zu Mann. Mit Genugtuung stellte er fest, dass das Familienoberhaupt von geringerer Körpergröße war als Frau und Töchter, so wie er selbst eine Handbreit kleiner war als sein «Meitschi». Träumend sah er sich anstelle von Vater Wyss, und wieder leuchtete ihm dieses Blau.

«So früh aufstehen wie mein Lieb. Daran denken, wie sie aufwacht, aufsteht, das schöne junge Wesen, wie sie hinausschaut ins weite helle Land – sind Menschen in solch weiter Landschaft nicht von innenher anders, heller, klarer als andere, als jene Armen, deren ganzes Leben in den Steinschluchten einer Großstadt verdämmert? Dann geht mein Meitschi hinunter, um dem Vater das Morgenmahl zu richten.»

Mutter Wyss war ihm bereits in Zürich begegnet, «sehr sehr lieb». Gemessen an der Beachtung, die er ihr in seinem Tagebucheintrag schenkte, musste er sie nicht für maßgebend gehalten haben. Ihre Macht im Hintergrund schien ihm entgangen zu sein.

Das neue Semester begann, die Eltern Wyss beobachteten die Liebschaft eine Weile, dann rief frühmorgens Vater Wyss an und bestellte den Störenfried sogleich nach Leubringen.

«Dort wird mir die gr. gr. Vertrauensfrage gestellt, nachdem Frau Wyss in Zch. die schlimmsten Dinge gehört hat. Eine hübsche Zusammenstellung von Anschuldigung.»

Viel konnten die Eltern befürchten: eine Schwangerschaft und eine Pflichtehe, einen Deutschen als Schwiegersohn, ohne Niederlassungsbewilligung und Arbeitserlaubnis, aber auch ohne Willen, nach Deutschland zurückzukehren und dort die beruflichen Sporen zu verdienen. Die Tochter verloren. Das Schweizer Bürgerrecht würde ihr bei der Heirat aberkannt. Kein abgeschlossenes Studium. Was Vater Wyss vielleicht auch abwägte: die undemokratische Entwicklung Deutschlands im vergangenen Jahr, seit Adolf Hitler an der Macht war.

Die Eltern drohten ihrer Tochter, sie an die kurze Leine zu nehmen und ab sofort an der Universität Bern studieren zu lassen. Hilde, die Ältere, hatte sich dort vorbildlich ihrem Anglistik- und Germanistikstudium gewidmet und arbeitete nun an ihrer Dissertation.

«Mit Hanne. Die Buchen haben ihr Grün aufgetan. Und auf den Wiesen leuchten Lor’s Söiblueme! Wir sind in negativer Stimmung. Ob wir uns nicht falsch um dies Mädel bemüht haben? Ob alles Liebhaben nicht immer nur Egoismus war?»

Zur Beantwortung der Fragen reichte die Seite im Taschenkalender nicht, außerdem klingelte das Telefon. Nach dem Gespräch war Ernst Zietzschmann wieder beruhigt.

«Ihr Telefon: Alles in Ordnung, schafft wieder klaren Himmel!»

WOLLEN DÜRFEN

Eine Bieler Tochter aus bürgerlichem Haus durfte eine Heirat und einen eigenen Hausstand wollen. Sie durfte nach den obligatorischen Schuljahren die Pflegerinnenschule oder die Schule für Soziale Arbeit besuchen wollen oder die Handelsschule zur Vorbereitung auf die neuen Büroberufe, sofern Mitte der 1930er-Jahre die familiären Verhältnisse eine solche Ausbildung erlaubten. Eine Tochter, deren Großvater die Elite der Stadt geschliffen hatte, deren Vater ein Freisinniger war und eine einträgliche Kanzlei führte, durfte mehr wollen, als gemeinhin für Bieler Töchter zu wollen war. Sie hatte die Wahl: Sie konnte studieren nach ihren Neigungen und das Erbe des Vaters oder Großvaters antreten. Entschied sie sich für Rechtswissenschaften, durfte sie die Anstellung im väterlichen Notariat erwarten, entschied sie sich für ein anderes Studium und für den Lehrberuf, durfte sie bei der Stellensuche auf das großväterliche Ansehen bauen. Wollte sie doch nicht ledig bleiben und sich auf dem Gebiet der Väter vorwagen, blieb ihr der Weg der Mutter, eine Heirat, einen Hausstand und freie Stunden für den Frauenverein und für wohltätige Zwecke.

Vater Wyss hatte von seiner jüngeren Tochter verlangt, dass sie während eines halben Jahres in seiner Kanzlei Maschineschreiben und den erforderlichen Aufbau von Geschäftsbriefen erlernte, und wäre es nach seinem Willen gegangen, hätte sie sich auch die Schnellschrift aneignen sollen, für Diktate und Protokolle war Stenographie im Geschäftsleben so unabdingbar wie Maschineschreiben. Aber die Tochter hatte sich seinem Ansinnen verweigert, war nie zum Stenographiekurs erschienen, hatte statt Rechtswissenschaften ein Kurzstudium gewählt und beteuert, Sekundarlehrerin werden zu wollen. Hilde hatte eine spätere Anstellung am Gymnasium im Sinn.

Was für Lor zu wollen gewesen war, entsprach nicht dem, was sie wollte. Sie wusste, was sie keinesfalls wollte, bestimmt nicht, was die Mutter erwartete, sicher nicht, was der Vater wünschte, nie und nimmer, was die Schwester beherzigte.

Aber wusste sie, was sie denn sonst wollte? Ins Ausland sicher, ein Geliebter gewiss, ein Studium vielleicht.

In Briefen wäre nachzulesen gewesen, was sie gewollt hatte, aber Briefe existieren nicht mehr. Ernst Zietzschmann bewahrte einzelne Sätze von ihr auf. Wie Insekten im Harz sind ihre Äußerungen zwischen seinen Tagesnotizen eingeschlossen, ein Satz, den sie ihm beim Spaziergang gesagt hatte, ein Satz, als sie zum Semesterende im Studentinnenheim ihr Zimmer geräumt hatte, ein erster Satz am Telefon, als sie sich unerwartet aus Leubringen gemeldet hatte.

«Telefon. Wie geht’s Dir, Bueb? Mir geht’s gut!»

«Ich möchte wohl jetzt zu Dir kommen, Bueb!!»

«Gell, es war ein Traum, Bueb?»

«Ich bin doch zu jung, Bueb, um an solche Dinge zu denken.»

«Es wird schon gut werden, Bueb.»

«Bueb, wir können nie heiraten.»

Lor war hin- und hergerissen zwischen Vorsätzen und Verlangen. Dass sie noch zu jung sei, um an Heirat, Haushalt und Kinder zu denken, hieß nicht, dass sie sich nie verheiraten wollte, sie verlangte einen Aufschub der Entscheidung, um auskosten zu können, was lange den jungen Männern vorbehalten war. Das Studieren bedeutete gewonnene Zeit, zugestandene Freiheit, die ihre Mutter und ihre Großmütter vor der Heirat nicht hatten. Als Studentin konnte sie sich so viel vom Leben herausnehmen, wie für eine Notarstochter nur möglich war. Dass die erste Liebschaft ein Traum gewesen sei und dass sie ihn niemals heiraten könne, diese Sätze sagte sie möglicherweise unter dem Druck der Eltern und vielleicht auch, weil sie nicht länger von ihm bedrängt sein wollte.

Er schrieb ihre Sätze als Belege ihrer Liebe oder ihrer entzogenen Liebe auf, sie ließen ihn hoffen oder zweifeln. Ein Satz hatte ihn vermutlich mehr getroffen als alle anderen Sätze, die er von ihr zwischen seinen einschloss. Dieser Satz war ihm nicht nur unbegreiflich, sondern musste sein Inneres erschüttert haben.

«Eine eben gewonnene Klarheit zerstiebt an Deinem neuen Brief, der sehr hart ist + neue Rätsel bringt. ‹Ich werde nur einem Manne gehören, auf den ich auch verzichten kann.› Hilflos bin ich. Pfui.»

Sie hatte ihm mitgeteilt, dass er oder ein anderer nie ihr Ein und Alles sein werde. Den Grund, weshalb sie sich ihm nicht mit Haut und Haaren ausliefern wollte, weshalb sie auf Abstand und Unabhängigkeit pochte, verrät der aufbewahrte Satz allerdings nicht. Sie könnte ihn wirtschaftlich gemeint haben. Bei dieser Lesart würde das Verzichten-Können bedeuten, dass sie nicht einfach in Anspruch nehmen wollte, was ein Mann als Ernährer seiner Frau zu bieten hatte. Ihr Satz beanspruchte die Freiheit, eigene Entscheidungen treffen und Verantwortung für sich übernehmen zu können. Sie dachte womöglich an einen Broterwerb, der ihr neben Haushalt und Kindern Unabhängigkeit verschaffen konnte. Eine Kusine des Vaters und mütterlicherseits die Großmutter waren in der weiteren Familie die beiden Ausnahmen, sie verdienten ihr eigenes Geld und trugen mit ihrer Arbeit mindestens ebenso viel zum Familieneinkommen bei wie ihre Männer. Die Kusine bewirtschaftete in Twann einen Rebberg und nähte für Kundschaft. Die Großmutter hatte mit Geschäftssinn die «Épicerie fine et Bonneterie Uhlmann» geführt. Wirtschaftlich verstanden wäre der Satz von Lor Wyss auch ein generelles Aufbegehren gegen die Rechtlosigkeit und gesellschaftliche Zurückbindung der Frau, sobald sie heiratete. Das Schweizerische Zivilgesetzbuch erhob den Mann zum Haupt der Familie, stattete ihn mit dem Vorrecht aus, über den gemeinsamen Wohnsitz, über die Berufstätigkeit und das Vermögen seiner Frau zu bestimmen. Ihre Entscheidungsmacht dagegen lag einzig im Haushalt.

Lor Wyss könnte ihren Satz auch persönlich gemeint haben. Das Verzichten wäre ein Verzichten aus Nicht-Können. Der Satz enthielte die Botschaft, dass sie nicht mit Haut und Haaren lieben, sich nicht auf Gedeih und Verderb hingeben kann. Sie hätte eine Scheu vor fester Bindung zugegeben und die Angst, von seiner Heftigkeit erstickt zu werden.

Ernst Zietzschmann holte sich Rat bei der Schwester, und sie, die angehende Juristin, gab ihm eine Antwort, die rechtlich verstanden werden kann.

«Lange noch mit Hanne sprechen. Sie schilt mich, dass ich wieder gefragt habe. Lor will frei sein, will sich nicht beugen.»

Hin und wieder kam Mutter Zietzschmann nach Zürich, besuchte Verwandte und schaute beim Sohn nach dem Rechten, kochte ihm mittags, stopfte und flickte, was schadhaft und löchrig geworden war. Er vermerkte im Kalender:

«Mittags sehr sehr lieb sehr ruhig mit dem Muttel essen. Ein bissel musizieren. Das schmeckt. Du solltest halt doch immer hierbleiben. Dein Junge könnte Dich schon gebrauchen.»

Vor der Abreise nach Berlin schickte ihm Lor keine hausmütterliche Botschaft. In ihrem letzten Brief zitierte sie die berühmte Gedichtzeile von Hans Carossa:

«Verhänge die Spiegel! Weihe dich einer Gefahr!»

FESTSTELLUNGEN I, JEAN-PAUL MARCHAND

«Ich bin 1933 geboren und genau zwanzig Jahre jünger als Lor. Ihre Mutter Anna Berta Wyss-Uhlmann war die jüngere Schwester meiner Großmutter Marie Marchand-Uhlmann. Für mich war Lors Mutter einfach das Tanti Berti und ihr Vater der Onkel Werner. Als ich ein Kind war, fuhren wir im Winter bei Magglingen Ski, und gelegentlich besuchten wir auf dem Heimweg das Ehepaar Wyss zum Tee. Lor war damals verheiratet und bei ihren Eltern manchmal auf Besuch. Einmal nahm sie mich als Neunjährigen zwischen ihre Skier und raste im Karacho von Magglingen nach Leubringen und auf den letzten Schneeflecken hinunter bis in die Stadt.

Meine Großmutter war immer in Geldnöten, sie war als Verschwenderin bekannt und hat immer allen alles geschenkt. Sie war eine sehr stattliche Frau, behäbig, kochte sehr gut, aß auch gerne gut, trank gerne und redete gerne viel. Tante Berti dagegen war hochgewachsen und wurde nicht fest wie ihre Schwester. Sie gab auch nie so viel auf gutes Essen. Sie war eckiger, intellektueller in der Art, zurückhaltend und voller Vorbehalte. Zuweilen war sie auch verbeustigt, also sie wusste, was sie hatte, und das hielt sie zusammen. Tante Berti hatte etwas Sparsames, auch etwas Karges an sich, so wie Gotthelf einen bestimmten Typus von Bäuerinnen darstellte. Beide Schwestern spielten Klavier und liebten Chopin. Meine Großmutter war ausladend, wenn sie Chopin spielte. Bevor sie zwanzig waren, ließen sich die beiden Schwestern alle Zähne ausreißen und ein Gebiss einsetzen, weil es Mode war. Als Bub fragte ich mich immer, weshalb meine Großmutter so regelmäßige Zähne hatte. Das wirkte nicht natürlich, weil damals alle krumme Zähne hatten. Bei Tante Berti war es auch so, obschon die beiden sonst in ihrer Art sehr konträr waren. Etwas hatten sie gemeinsam. Sie waren gwunderig wie alle Uhlmanns, die ein großes Interesse an der äußeren Welt hatten. Sie wussten einfach alles, was in Biel passierte und was über andere Leute gesprochen wurde. Meine Großmutter kolportierte auch Gerüchte. Das tat Tante Berti nicht. Sie war disziplinierter, dadurch war sie als Mutter auch effizienter. Lor opponierte gegen den mütterlichen Gwunder und gegen die Bevormundung. Indem sie ins Ausland ging, kam sie ein wenig aus dem Fokus der Mutter und ihrer Tutel.

Bei unseren Besuchen saß Lors Vater, Onkel Werner, im Lehnstuhl, lächelte ein wenig und sagte nicht viel. Ein Stiller. Er hatte eine fliehende Stirn und ein Glatze. Körperlich war er sehr fest, von gedrungener Gestalt. Er glich äußerlich den Advokaten, wie sie Honoré Daumier gemalt hatte. Er hatte etwas Geschliffenes an sich, aber ihm fehlte das Flamboyante, das Schaupielerische und die Freude, in der Öffentlichkeit zu paradieren. Ich glaube nicht, dass er sich so gerne in der Öffentlichkeit bewegt hatte, obwohl er Stadtrat und Großrat gewesen war. Lor hingegen hatte diese Eigenschaften, dieses Auffällige, Schillernde und sehr Bewusste. Der Vater war softspoken, seine Tochter outspoken.

Der verehrteste Mann in der Familie war Lors Großvater, der Rektor des Bieler Gymnasiums. Jakob Wyss war ein sehr gestrenger Herr. Mein Vater kletterte einmal als Kind aus Übermut die Kletterstange hoch und rüttelte oben übermütig am Gerüst. Der Rektor holte ihn herunter und gab ihm eine Watsche, links und rechts. Voilà. Der Schriftsteller Robert Walser ging bei ihm in den Unterricht und schrieb über ihn, dass er seine Prügel vorschriftsgemäß und gerecht verteilt habe.

Jakob Wyss bewunderte das alte Rom sehr, vielleicht sogar mehr als Griechenland. In der Familie erzählte man sich, dass er sich mit 75 Jahren die Venen aufgeschnitten habe, in der höchsten Blüte seines Daseins, weil er der Welt das Schauspiel von seinem körperlichen Nachlassen habe ersparen wollen. Er habe verhindern wollen, dass andere über ihn bestimmen können, wenn er gebrechlich werde. Man erzählte sich auch, er habe sich die Venen beinahe auf altrömische Art geöffnet, im Freundeskreis, bei gutem Wein und Rezitationen von Horaz und anderen römischen Dichtern. Sein Herzleiden und der Selbstmord sind Tatsachen, der Rest ist Ausschmückung und Kolportage. Man erzählte sich diese Geschichte immer mit Bewunderung und Furcht, weil man Jakob Wyss für fähig hielt, in diesem Sinne den Klassizismus und die Selbstdisziplin auf die Spitze zu treiben.

Eigentlich hatte Jakob Wyss wie ein römischer Republikaner die Haltung, dass es zur Bestimmung und zur Aufgabe eines Menschen gehöre, sich für die Gemeinschaft einzusetzen. Etwas von dieser Haltung vererbte sich in der Familie, ein Pflichtgefühl, ein Verantwortungsbewusstsein. Lorli musste sich irgendwie durch diesen Großvater verpflichtet gefühlt haben. Die Art, sich zu versagen, war jedoch ihrer Schwester fast angeboren. Hildi war zurückhaltend, im Denken sehr sachlich und nüchtern. Sie hatte etwas Trockenes, selbst ihre Stimme war verwundert trocken. Lor dagegen war energisch, heftig, getrieben von Widersprüchen und Ressentiments. Die Willensanstrengung, sich zurückzunehmen, gelang ihr nur bedingt. Aber Lor hatte einen selbstgestalterischen, objektiven Willen, und diesen Willen hatte auch Rektor Wyss.»

BERLINER WEGE

Mitte Oktober 1934 fuhr Lor Wyss mit ihrem «Passeport de la Confédération Suisse» über die deutsche Reichsgrenze, Hanni Zietzschmann reiste aus Hannover mit ihrer neuen Klingenthaler Geige im Gepäck nach Berlin.

Am Fehrbelliner Platz, wo die beiden Studentinnen täglich vorbeikamen, hielt die U-Bahn in einer braunen Säulenhalle, und auf den Schildern der Haltestelle saßen Käuzchen aus Email, als stiegen die Fahrgäste im Eichenwald ein und aus. An den Wänden prangten Darstellungen von Pferdeomnibussen und Dampfstraßenbahnen und adelten die Errungenschaft des unterirdischen Transports. Beim Kassenhäuschen gingen die Fahrgäste unter der Pforte des kriegerischen Fortschritts durch viel Schmiedeisernes mit Kurfürstenkrone, Lorbeer und Eichenlaub. Fehrbellin, so hieß die Ortschaft, wo der Kurfürst Friedrich Wilhelm mit einem Sieg den Dreißigjährigen Krieg beendet hatte und Preußen dank der Erfindung eines stehenden Heeres zur gefürchteten Macht aufgestiegen war. Die Bauherrschaft sah nicht vor, dass durch dieses Tor die Arbeiterschaft zog. Im roten Wedding wurde bei den Haltestellen auf jeglichen Schmuck verzichtet. Am Fehrbelliner Platz aber, im Westen Berlins, sollte der Mittelstand sein Kreuz gerade richten, gestärkt in seiner Untertanentreue und fortschrittsgläubig zur Arbeit gehen.

Die Ausgestaltung des Fehrbelliner Platzes hätte dem preußischen Aufstieg huldigen sollen, die unterirdische Halle wäre der Auftakt zum oberirdischen Pomp gewesen, hätten nicht ein Weltkrieg und die Abdankung des letzten deutschen Kaisers und preußischen Königs die Pläne versanden lassen. Im Herbst ernteten die Laubenpieper zwischen den Chausseen Kohl und Kürbisse, Fußballclubs spielten auf mindestens vier Feldern, und bevor der Zirkus im Winter gastierte, wurde auf dem Gelände wie immer um diese Zeit kräftig Bier gezapft.

Die nationalsozialistische Regierung bereitete nun die Durchgestaltung der Brache vor. Nach den Plänen sollten, im Halbrund angeordnet, Verwaltungsgebäude entstehen, dazwischen ein Triumphbogen, durch den dreißigtausend zur Platzmitte strömen und beim Ehrenmal Aufstellung nehmen sollten. Das Ehrenmal zum «Gedenken unserer für die deutsche Freiheitsbewegung gefallenen Kameraden» stand bereits. Nahe beim Eingang zur U-Bahn-Station ragte zwischen Fahnenstangen ein riesiger Findling aus dem Boden.

Das Maß der Zukunft setzte am Rand der Brache ein Bau mit gleißenden Fensterfluchten und einem Flachdach, das sich in den Himmel schob. Die Deutsche Lebensversicherung. Nicht weit davon ein langgestreckter Komplex mit dem ersten Bürohochhaus von Berlin. Die Reichsversicherungsanstalt der Angestellten. Dazwischen befand sich ein Häuserblock, dem anstelle des Dachs die Zwiebeltürme einer russischen Kirche aufgesetzt worden waren.

Beim Fehrbelliner Platz fanden die beiden Studentinnen an der Mansfelderstraße ein Zimmer in Untermiete. Die Mansfelderstraße führte hinter der Deutschen Lebensversicherung an Landhäusern und weiß gestrichenen Holzzäunen vorbei und endete bei den Garagen, in denen für die nahe gelegene «Automobil-Verkehrs-Übungs-Strecke» AVUS geschweißt und geschmiert wurde. Zwischen den Landhäusern entstanden die ersten Mietshäuser, als am Fehrbelliner Platz die Versicherungen bauten. Wer in einem der neuen Häuser zur Miete wohnte, besaß Geld für Annehmlichkeiten, jedoch nur für das Zweckmäßige. Das Treppenhaus war eng und schmucklos, verfügte jedoch über einen Personenaufzug. In der Beletage erstreckten sich die Wohnungen über vier, fünf Zimmer, besaßen ein Entrée mit angrenzendem Ankleideraum und ein Bad mit Wanne und eigenem Wasserklosett.

«Herrlich», notierte Hanni in ihrer Taschenagenda und fügte den Namen «Frau van der Polle» hinzu. Der Bruder schrieb in seinen Tagesnotizen «Madame v. d. Poll». Sicher ist, dass die Vermieterin Jüdin war, womöglich war sie die soeben verlassene Ehefrau des berühmten holländischen Fotojournalisten Willem van de Poll, der für das «Berliner Tageblatt» und die «Berliner Illustrierte» arbeitete. Allerdings führt das jüdische Adressbuch von Groß-Berlin keinen so oder ähnlich geschriebenen Namen auf.

Der Fehrbelliner Platz gehörte zum ländlichen Teil des Bezirkes Wilmersdorf. Die U-Bahn führte direkt zum Kurfürstendamm, und bis zum Grunewald war es nicht weit. Ärzte und Rechtsanwälte, Studienräte und Staatsbeamte, ferner die Angestellten aus den nahen Versicherungen hatten sich hier niedergelassen. Die Zimmerwahl der beiden Studentinnen war keine Absage an die bürgerliche Welt der Eltern. Sie hatten sich in Berlin einen Stadtteil gesucht, der in manchem den Orten ihrer Herkunft ähnelte.

Die Friedrich-Wilhelms-Universität befand sich Unter den Linden, an der Prachtstraße, die das Brandenburger Tor mit dem Stadtschloss, mit dem Lustgarten und dem Dom verband. Das Hauptgebäude war im einstigen Palais des Prinzen Heinrich von Preußen untergebracht. Im Vorhof hatte die Verwaltung gerade erst den verwilderten Garten gerodet und die frei gewordene Fläche für Aufmärsche gepflastert.

Die Studienbewerber mit deutschem Pass hatten für die Immatrikulation den «Fragebogen zur Feststellung der Abstammung» auszufüllen. Die Konfession des Vaters, der Mutter, der Großeltern väterlicher- wie mütterlicherseits musste nachgewiesen und ein allfälliger Konfessionswechsel offengelegt werden. Weiter prüfte der Fragebogen die Gesinnung.

«Welchen politischen Parteien haben Sie bisher angehört?»

«Welchen sonstigen Vereinigungen irgendwelcher Art haben Sie angehört?»

«Haben Ihr Vater oder Sie selbst im Weltkrieg an der Front für das Deutsche Reich oder für seine Verbündeten gekämpft?»

Für den «Nachweis über engere Beziehungen zum Deutschtum» stand ein ganzes Seitendrittel zur Verfügung. Manche hoben die väterliche Parteizugehörigkeit hervor, beteuerten, eine strenge, vaterländische Erziehung genossen zu haben, und schimpften zum Beweis auf die Weimarer Republik. Andere unterstrichen ihre heimatliche Verbundenheit mit der Uckermark oder dem Erzgebirge, nur unter Deutschen seien sie aufgewachsen, folglich mit jeder Faser ihres Daseins deutscher Denkungsart, deutscher Sitte und deutscher Kultur verpflichtet. Etliche verwiesen auf ihren Bruder oder ihren Cousin bei der SA, viele beteuerten, später dem Vaterland dienen zu wollen, und gelte es mit der Waffe in der Hand. Es gab auch solche, die ihre Unterschrift unter leeres Papier setzten.

Hanni Zietzschmanns Fragebogen ist wie der Großteil aller Fragebögen im Universitätsarchiv unauffindbar. «Möglicher Kriegsverlust», so die Umschreibung des Archivs für Akten, die einst existiert hatten.

Seit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler verschärfte das Rektorat fortwährend die Kontrollmaßnahmen. Zuerst hatten die Studienanfänger das Formular auszufüllen, später auch die Studierenden der höheren Semester. Zur Bewältigung der neuen administrativen Arbeit beauftragte das Rektorat Studierende, die sich im «Nationalsozialistischen Studentenbund» hervorgetan hatten. Der «Ausschuss zur Prüfung für das Studium von Nichtariern» begutachtete die Fragebogen, errechnete den Prozentsatz der «rassischen Abstammung» und entschied über Aufnahme oder Ablehnung, über Fortsetzung oder Abbruch eines Studiums. Der Studentenführer überprüfte den Entscheid und stempelte zur Legitimation den passenden Paragraphen eines kürzlich eingeführten Erlasses auf das Formular. Die Auswirkungen dieser Maßnahmen beschrieb der Rektoratsbericht der Jahre 1935 bis 1937 so:

«Mit solchen Handhaben ist es schon in verhältnismäßig kurzer Zeit gelungen, einen großen Teil der unsauberen Elemente in der Studentenschaft, die sich bei einer Großuniversität wie Berlin erfahrungsgemäß immer einschleichen und die die unklaren Führungsverhältnisse als außerordentlich bequem und angenehm für sich empfanden, zu fassen und zu eliminieren oder zu verdrängen.»

Lor Wyss musste als Ausländerin noch keinen Fragebogen ausfüllen, ein Bewerbungsschreiben reichte. Am selben Tag, als ihr Schreiben mit der Post eintraf, genehmigte der Stellvertreter des Rektors die Zulassung zur Immatrikulation. Danach ging die Akte durch etliche Hände, die überprüften, erfassten, ordneten. Jemand vertiefte sich stillschweigend in die Akte, nachdem der Stellvertreter des Rektors die Genehmigung erteilt hatte. Es mag am Ypsilon im Familiennamen gelegen haben oder am Vornamen, der beim heimlich Prüfenden einen Verdacht weckte. Der Umstand, dass die Antragsstellerin nirgends ihre Konfession angab, auch nichts über ihr Verhältnis zur deutschen Kultur geschrieben hatte, konnte als Indiz gedeutet werden. Jemand setzte auf ihre Bewerbung ein großes Fragezeichen neben den Genehmigungsstempel und fügte hinzu: «mos.?»

Jeder Beamte, jede Sekretärin kannte die Bedeutung der Abkürzung. In den drei Buchstaben manifestierte sich der Verdacht, dass es sich um den Antrag einer Studentin mosaischen Glaubens handeln könnte, einer Jüdin. Der «Ausschuss zur Prüfung für das Studium von Nichtariern» sah möglicherweise ohne Auftrag auch die Bewerbungen aus dem Ausland durch. Nationalsozialistisch gesinnte Studenten machten sich einen Sport daraus, Namen von jüdischen und kommunistischen Kommilitonen zu sammeln und ans Rektorat weiterzuleiten. Auch Universitätsangestellte, denen die offiziellen Maßnahmen zu wenig weit gingen, bespitzelten und denunzierten. Der Verdacht wurde mit feinem Bleistiftstrich auf der Akte hinterlassen, sodass er allenfalls leicht zu entfernen war, ohne auf dem Papier Spuren zu verursachen.

Bei der Immatrikulation gab Lor Wyss auf der Kanzlei ihre Studentenkarte ab. Die Silbe der Kindheit hatte sie vom Namen abgetrennt, aber als sie die Karte ausfüllen musste, endete die Weitläufigkeit wieder bei Biel. Was galt in der deutschen Reichshauptstadt ein Dorf, dessen Außerordentlichkeit sich darin erschöpfte, dass es zwei Ortsnamen besaß? Die ganze Wohnbevölkerung der Schweiz hätte Platz gefunden in den Mietshäusern von Groß-Berlin.

Familienname: Wyss

Rufname: Lor

Wohnung in Groß-Berlin: Wilmersdorf

Wohnort der Eltern: Leubringen

Straße Nr.: ob Biel

Mit dem Wort ob für oberhalb band sie das Dorf an die Stadt, deren Uhrmacherkunst auch in Berlin bekannt sein musste.

Die Akte mit der Verdächtigung lag bei der Immatrikulation auf dem Tisch. Was sich bei der Einschreibung abspielte, hinterließ auf Papier keinen Hinweis, der auf ein außerordentliches Geschehen schließen lässt. Auf dem Bewerbungsschreiben von Lor-Elisabeth Wyss befinden sich oben links der Genehmigungsstempel und die Unterschrift des stellvertretenden Rektors, daneben das Fragezeichen und die drei Buchstaben, rechts davon steht der Datumsstempel der erfolgten Immatrikulation. Danach ging die Akte wiederum durch etliche Hände, die überprüften, erfassten, ordneten. Denkbar ist auch, dass die drei Buchstaben und das Fragezeichen erst nach der Immatrikulation auf die Akte geschrieben wurden, allerdings stellt sich die Frage, weshalb das Fragezeichen nur beim Genehmigungsstempel und nicht auch beim Immatrikulationsstempel hingesetzt wurde.

Hanni Zietzschmann schrieb wie ihr Bruder Tagesnotizen in die Taschenagenda.

Als ersten Eindruck der Berliner Hochschule notierte sie: «Uni – trostlos». Dann: «Uni noch trostloser». Zur Immatrikulation bemerkte sie: «Mo von 9–½ 1 stehen. Anmeldg. zur Immatr. Furchtbar.» Am ersten Semestertag nahm sie das Deprimierende nicht mehr wahr. «Die Hörsäle sind hell + vornehm.» Am zweiten Semestertag musste sich etwas für sie Außerordentliches ereignet haben, denn sie notierte: «Martin Wolff!» An der juristischen Fakultät lehrte Martin Wolff bürgerliches Recht und Rechtsgeschichte. Im Jahr zuvor, als nationalsozialistische Studenten auf dem Opernplatz Bücher verbrannt hatten, waren der jüdische Rechtsprofessor wiederholt schikaniert und seine Vorlesungen gestört worden. Denkbar, dass nationalsozialistisch gesinnte Studenten vor den Studienanfängern ein Exempel statuierten und am zweiten Semestertag gegen den jüdischen Professor hetzten. Immer war irgendwo Geschrei und ergab sich eine Rempelei, rechtsgerichtete Studenten provozierten auf dem Vorhof zur Universität Korpsstudenten, bis irgendeiner zuschlug, Nationalsozialisten hinderten vor den Vorlesungssälen die verbleibenden jüdischen Kommilitonen am Eintreten, politisch unerwünschte Dozenten wurden mit Sprechchören niedergeschrien, kommunistische Studenten zündeten am Jahrestag der russischen Revolution Zettelbomben und ließen Aufrufe zum Sturz Hitlers durch die Luft wirbeln. Hanni notierte nach ihrem Eintrag zum zweiten Semestertag nichts mehr zu den Vorkommnissen an der Universität. Sie wurde von etwas anderem in Beschlag genommen.

Kurz vor ihrem zwanzigsten Geburtstag hatte sie in der Philharmonie gesessen und gesehen, wie Elly Ney zum Konzertflügel schritt, mit unbändiger Mähne, die ihr Gesicht halb verdeckte, und in wallendem Abendkleid, das nur die Unterarme freigab, ihre Nacktheit geradezu hervorhob. Und wie sie spielte:

«Brahms f-moll Sonate!! I. Satz + Scherzo!! Bach Choralkantate (22) + Präludien + Fugen; Beethoven Sonate op. 110 As-Dur!! Schumann Carneval. Toll, phantastisch, mitreißend. Zugaben: Chopin Walzer Nr. 2; As-Dur Polonaise!! Haarig! Kraft, Dämonie! Brahmswalzer + Wiegenlied.

Das größte mitreißendste Konzert!! Eine Frau!! Gewaltigstes Musikerlebnis – sie verfolgt mich mit ihrem Spiel.»

Die Musik war so überwältigend wie der Anblick dieser Frau. Elly Ney hätte ihre Mutter sein können, aber was sie darstellte, war etwas anderes, als die Generation ihrer Mutter vorlebte. Elly Ney hatte eine Tochter, und sie war die Frau, die nicht nur Beethoven spielte, sondern neben diesem Titanen thronte. Musikkritiker beschwörten unermüdlich eine Übereinstimmung zwischen Komponist und Interpretin. So Carl von Pidoll:

«Es zeigt sich eine erschütternde Ähnlichkeit dieses Künstlergesichtes mit einem anderen, das uns allen tief vertraut ist – eine Ähnlichkeit, die sich nicht nur in äußeren Zügen aufzwingt, in Nase, Stirn, Augen, Schädelform, eine Ähnlichkeit, die noch stärker überzeugt durch das innere, verschleiert lodernde Feuer, das hier wie dort das Wesen des Ausdrucks bestimmt. [...]

Jenes Feuer, dessen Inhalt Trotz ist: nämlich für Glaube, Schönheit, Harmonie, Gerechtigkeit, Güte und Sauberkeit zu leben, zu kämpfen, zu sterben.»

Früh hatte sich Elly Ney auf das Werk von Beethoven konzentriert und begonnen, eine ähnliche Lockenfrisur zu tragen. Sie war längst eine bekannte Pianistin, als Hitler an die Macht kam.

Dank der nationalsozialistischen Kulturpolitik stieg ihr Ansehen und ihre Verehrung weiter. Sie war bald die Einzige, die Beethoven interpretierte, als jüdische Pianisten sein Werk nicht mehr spielen und nicht mehr auftreten durften. Im Dienst der nationalsozialistischen Organisation «Kraft durch Freude» gab sie überall Volkskonzerte und spielte mit Vorliebe vor Jugendlichen. Adolf Hitler, den sie verehrte, teilte sie mit, dass Kunst für sie «keine Profession, kein Handel, sondern Religion» sei. An Konzerten führte sie weihevoll in Beethovens Werk ein oder las aus seinem Heiligenstädter Testament vor, bevor sie zu spielen begann. Zum Beethovenfest 1938 verkündete sie der Hitlerjugend:

«Dieser große deutsche Meister erschüttert die Seelen durch das unfassbare Wunder seines Werkes. Schwer bedrängten ihn Gewalten und Mächte – doch er schuf sich Erlösung im Kunstwerk. Er bannte seine übermächtigen Erlebnisse, das schwerste Schicksal in die Form. [...]

So wird er uns zum Vorbild, zur Forderung und Verpflichtung.»

Elly Ney versprach ein Mysterium, das sich durch Beethovens Musik vollziehe, und redete gerne von «Erschütterung», von «Ergriffensein» und vom «Strömen der Seelenkräfte». Sie verhieß große Gefühle und den Glauben an die Formbarkeit des eigenen Lebens. Ihre Auftritte rührten bei Hanni Zietzschmann an eine Sehnsucht nach Hingabe und Bedeutung. Elly Ney wurde ihr weibliches Idol, dem sie wie ein Teenager erlag.

In Berlin nahm sie Geigenstunden bei Agnes Ritter, einer Nachwuchsmusikerin aus Hannover, die von Elly Ney zum Kaffee empfangen wurde. Am 18. Dezember schrieb sie in ihre Taschenagenda:

«Vielleicht – heute Abend – –? Stumpf geschlafen. ½ 7 im Funkhaus. Und dann saß ich neben ihr + blätterte um. Ich!!»

Als Erstes wurde im Radiostudio geprüft, ob sie die Noten zum richtigen Zeitpunkt zu wenden wusste, während Elly Ney spielte. Später wurde ihre Eignung zur Erledigung von Korrespondenz getestet. Daraufhin entschloss sich Hanni, ihr Studium aufzugeben oder zumindest zurückzustellen, um den Dienst bei ihrem Idol anzutreten. Der Bruder dachte an familiäre Erwartungen. Er kommentierte: «Einigermaßen verrückt. Arme Mutt.»

Ernst Zietzschmann zog seit dem Tag, an dem seine Schwester und seine Geliebte nach Berlin abgereist waren, über die Seiten seines Taschenkalenders einen Querstrich. Über dem Strich notierte er, was er aus Lors Briefen für erwähnenswert hielt, unter dem Strich wandte er sich seinem eigenen Leben zu. Vor Semesteranfang steht über dem Strich:

«Du bist in Potsdam + Sanssouci den ganzen Tag. Allein.»

«Du bist im Deutschen Museum.»

«Universität. Warten mittags in der überfüllten Mensa. Ekel im Hals.»

Bei Semesterbeginn blieb der Platz über dem Strich die ersten Tage leer. Am 8. November 1934 notierte er:

«Bekenntniskirche. Kaiserdamm. 15 000 Menschen. Dann nachts Funkturm.»

An diesem Abend sprach auf dem Gelände der Messe beim Kaiserdamm der Berliner Pfarrer Martin Niemöller. Er war einer der Anführer der Bekennenden Kirche, ein Bündnis, in dem sich soeben evangelische Theologen und Laien gegen die nationalsozialistisch gesinnten Deutschen Christen zusammengeschlossen hatten und sich Hitlers Kirchenpolitik widersetzten. Adolf Kurtz, Pfarrer in Berlin-Schöneberg, hielt ebenfalls eine Ansprache und schrieb in seinen Erinnerungen über diesen Abend:

«Zehn Tage danach [nach den Reformationsfeiern] fanden wiederum in den Ausstellungshallen am Kaiserdamm etwa 16 000 Menschen zusammen, in denen Niemöller, Präses [vermutl. Karl] Koch, [Thomas] Breit und Kurtz sprachen. Obwohl Parallelversammlungen in den Stadtmissionskirchen eingerichtet waren, in denen dieselben Redner sprachen, mussten wiederum Tausende wegen Überfüllung umkehren. Es bleibt unvergesslich, dass in dem Augenblick, als Niemöller das Wort sprach: ‹Die Pforten der Hölle werden die Kirche nicht überwältigen›, Gegner dazwischenriefen: ‹Aber Adolf Hitler wird es tun!›»

Hitler hatte nach seiner Ernennung zum Reichskanzler Kirchenwahlen angeordnet, die den Deutschen Christen im ganzen Land die Mehrheit in den Synoden brachten. Die Synoden beschlossen, dass der staatliche Arierparagraph auch in der Kirche gelte, und wer jüdische Vorfahren hatte oder mit einer Jüdin verheiratet war, verlor sein Kirchenamt. Auch hatten die Deutschen Christen gefordert, dass alles, was mit dem Judentum zusammenhänge, aus der Bibel zu entfernen sei. Martin Niemöller war ihnen verhasst, weil er zusammen mit anderen den Pfarrernotbund gegründet hatte, der den Ariernachweis ablehnte und Betroffene unterstützte. Daraus entstand die Bewegung der Bekennenden Kirche, die sich auf die Bibel als einzig verpflichtende Lehre und auf das Ideengut der Reformation berief.

Lor Wyss stand im Gedränge und hörte erstmals Martin Niemöller sprechen. Was sie nach den Reden nachts beim Funkturm tat, ist ungeklärt. Einmal warf sie in der Nacht für die Bekennende Kirche Nachrichten in Briefkästen und hätte, wäre sie dabei aufgegriffen worden, Beschimpfungen, Schläge und Fußtritte riskiert, je nach Lust des Uniformierten. Sie setzte ihr Leben nicht aufs Spiel, die Bekennende Kirche war nicht verboten wie die Sozialdemokratische Partei und die Kommunistische Partei. Aber die Versammlung in den Ausstellungshallen war die letzte von der Regierung erlaubte. Danach konnte die widerständische Bewegung nur noch in Kirchen geschlossene Zusammenkünfte abhalten.

In den ersten Wochen besuchte Lor Wyss in Berlin häufig die Familie des Studienrates Blankenburg. «Lebhafte Familie», notierte Hanni Zietzschmann, und ihr Bruder vermerkte, dass die Familie über eine «Hausorgel» verfüge. Diese Bekanntschaft war vielleicht Zufall, das bildungsbürgerliche protestantische Milieu hingegen war Lor aus Biel vertraut. Die Familie Blankenburg vertrat die Haltung der Bekennenden Kirche und bot ihr Erklärungen zu den Vorkommnissen. Die Bekennende Kirche kämpfte gegen die staatliche Einmischung und für kirchliche Selbstbestimmung. Sie leistete keinen politischen Widerstand gegen den nationalsozialistischen Staat, noch bezog sie Stellung für die Juden. Ihr Kämpfen galt allein der eigenen Sache. Den Menschen bot die Bekennende Kirche einen Ort, an dem eine Botschaft verkündet wurde, die nicht der offiziellen entsprach. Es war ein Ort der individuellen Verweigerung, des persönlichen Protests. In den Ausstellungshallen erlebte Lor Wyss die Kraft einer Menschenmasse, beim nächtlichen Verteilen von Nachrichten machte sie die Erfahrung der eigenen Handlungsfähigkeit.

An der Universität suchte sie sich Nischen und besuchte die Pädagogikvorlesungen der altgedienten Professoren Eduard Spranger und Nicolai Hartmann, beide waren Konservative, aber keine Nationalsozialisten. Im Gutachten zur Aufnahme in den NSD-Dozentenbund steht über Nicolai Harmann: «Dem Nationalsozialismus gegenüber hat er sich zwar frei gehalten von der Überheblichkeit, der die Bewegung vor 1933 vielfach begegnete, aber er ist auch von sich aus nicht zum Nationalsozialismus gekommen.» Begeistert hörte sie die öffentliche Vorlesung «Glaube und Frömmigkeit Friedrich Hölderlins» von Romano Guardini, der als Gastprofessor für Katholische Weltanschauung eine Sonderstellung an der Universität hatte.

Kein Interesse hatte sie für die Vorlesungen Emil Dovifats, der an der Universität das neue Fach Zeitungswissenschaft und Allgemeine Publizistik lehrte und seinen Studenten eine praxisbezogene Einführung in den Journalismus bot.

Am Abend, als Lor Wyss auf dem Messegelände unter den Aufbegehrenden stand, saß Hanni Zietzschmann im Theater und sah das Drama «Spielereien einer Kaiserin» von Max Dauthendey, der im nationalsozialistischen Kulturbetrieb wegen seiner Themen zunehmend an den Rand gedrängt wurde. Die «Sekretärin von Frau Ney», wie sie sich selbst nannte, arbeitete auf Abruf und zu jeder Tages- und Nachtzeit, wenn Elly Ney gerade zwischen zwei Konzertreisen in Berlin weilte oder wenn sie jemanden brauchte, der an einem Konzert die Notenblätter wendete.

«8.00 Uhr auf. Zur Ney. Helfen. Einräumen. Sortieren. ½ 12 zu Baronin Arnim. Ney übt op. 111!!! (2. Satz) Ich ordne Korrespondenz – puh.

½ 1 geht sie fort.

Ich heim.

Schlimmes Halsweh. [...]

Zurück ins Hotel Victoria. Sie ½ 5 zurück. Arbeit – Schufterei bis Abends.»

Und am nächsten Tag:

«Nicht geschlafen: Halsweh. Schlimm – Fieber.

½ 9 bei der Ney.

Helfen. Diktieren an Chefredakteur des Dresdner Anzeigers wegen mieser distanzloser Kritik.

Sie ½ 11 ab nach Wien.

Geld –

Hotel. Frierend.

Taxi. Für Tippeuse.»

Sie vertrat die Interessen einer ambitionierten Pianistin, die sich sehnlich wünschte, für den Führer spielen zu dürfen, verhandelte mit Walter Stang, einem Abteilungsleiter mit Einfluss im Amt des «Beauftragten des Führers für die gesamte geistige und weltanschauliche Erziehung der NSDAP», besprach sich mit Friedrich W. Herzog, dem Leiter der Musikabteilung der Nationalsozialistischen Kulturgemeinde, telefonierte mit Funk und Presse.

Hanni Zietzschmanns Kulturgenuss war bürgerlich, für Modernes und Avantgardistisches interessierte sie sich weniger. Aber sie begleitete einen kunstverständigen Verehrer zu Ausstellungen von Käthe Kollwitz oder Otto Dix, deren Werke wenige Jahre später als «Entartete Kunst» galten. Sie saß auch mit Lor in der Singakademie unter aufgebrachten Studenten und hörte die Musik des avantgardistischen Komponisten Paul Hindemith. Nach der Aufführung klatschten und stampften die Studenten aus Protest. Soeben war Hindemith an der Hochschule für Musik zum unerwünschten Professor erklärt worden, und Propagandaminister Joseph Goebbels hatte ihn öffentlich als «Scharlatan» und «atonalen Geräuschmacher» verleumdet. Für Hanni war das Gehörte nicht «herrlich herrlich herrlich» wie die Konzerte von Elly Ney, doch sie schrieb: «Hindemith gut! Ovationen.»

Bewegte Hanni Zietzschmann die Hetzjagd auf jüdische Kommilitonen und Professoren, oder nahm sie die Vorfälle an der Universität ungerührt hin, schaute weg? Brachte ihr Wille, im Leben von Elly Ney eine Rolle zu spielen, ihr Unrechtsbewusstsein zum Schweigen? Mit der Geigenlehrerin Agnes Ritter sprach sie über Paul Hindemith und über Wilhelm Furtwängler, der sein Amt als Dirigent der Berliner Philharmoniker aus Protest wegen Hindemith vorübergehend niederlegte. Danach notierte sie: «Traurig am Abend.»

In ihren Tagesnotizen fühlte sie mit Elly Ney, demonstrierte Arbeitseifer. Konzerte von Pianisten wie Frederic Lamond oder Walter Gieseking maß sie stets an den Interpretationen ihres Idols, und niemand konnte nach ihrem Verständnis ebenso großartig spielen. Zur nationalsozialistischen Kulturpolitik äußerte sie sich in ihren Einträgen weder begeistert noch ablehnend. Sie verriet auch keinen Stolz, dass sie nun mit Regierungsvertretern verhandelte. Stolz war sie aber auf ihre Nation, als die Saarländer am 13. Januar 1935 für die Eingliederung ins Deutsche Reich stimmten. Mit drei Ausrufezeichen kommentierte sie das Abstimmungsresultat. Einmal erlaubte sie sich eine negative Bemerkung. «Unangenehme Bekanntschaft», notierte sie über den Musikabteilungsleiter der Nationalsozialistischen Kulturgemeinde Friedrich W. Herzog.

Am Ende eines Arbeitstages bei Elly Ney notierte sie ab und zu: «müde», «todmüde». Dann: «Schöner Sonntag mit der Lor. Endlich wieder einmal. Gemütlich essen zu Haus.»

Lor begleitete ihre Freundin nach der Abstimmung im Saarland zum Konzert von Elly Ney in Dresden. An diesem Abend wurde ihr möglicherweise erstmals bewusst, in welchem Milieu sich Hanni bewegte. Elly Ney wallte in Abendrobe durch den Saal, setzte sich einer Hohepriesterin gleich an den Flügel und stimmte zur «Heimkehr der Saar» das Horst-Wessel-Lied an. Ein Schmettern und Brummen aus allen Stuhlreihen. Danach, als wieder still war, spielte sie Beethoven.

Drei Wochen nach diesem Konzert notierte Hanni in ihrer Taschenagenda: