Die Unbußfertigen - Elina Penner - E-Book

Die Unbußfertigen E-Book

Elina Penner

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Beschreibung

Das Netz als Echokammer, die Sichtbarkeit als Währung, das Schweigen als Strafe. 

Zehn Menschen, wie sie das Netz hervorgebracht hat, folgen einer Einladung in ein abgelegenes Herrenhaus. Ein Event? Auf jeden Fall, nur ohne Empfang. Darunter eine Mutter, die ihre Kinder zur Marke gemacht hat. Eine Busfahrerin zwischen Heilstein und Hassrede. Eine Influencerin mit dem berühmtesten Arsch des Landes. Drei Frauen mit Followerzahlen wie Aktienkurse. Sieben Männer im Kommentarbereich. Doch plötzlich ist alles real. Offline. Immer mehr von ihnen verschwinden. Und jemand sieht zu ... 

»Ein Roman wie eine Kommentarspalte: gnadenlos, laut und schwer wegzulegen." Kathrin Weßling.

»Zehn Menschen, die das Internet hervorgebracht hat: Elina Penner bringt sie an ihre Grenzen. Und uns alle gleich mit. Ein Roman wie ein digitaler Autounfall, der nachhallt.« MdB Ricarda Lang.

»Elina Penner ist die neue Capote. Lässig kreiert sie eine rauschhafte Erzählung, deren Protagonisten an den Absurditäten unserer egozentrischen Gesellschaft zerbrechen.« Ninia LaGrande.

»Elina Penner, die Stimme unserer überforderten Frauen-Generation, hält uns lachend den Spiegel vors Gesicht, bringt uns zum Heulen und zum Verstehen. Das kann nur sie so gut.« Caroline Rosales.

»Das Internet ist endlich kein Neuland mehr: Denn Elina Penner hat es verstanden und auch die Menschen, die darin herumgeistern. Und sie erklärt es uns in rasantem Tempo und mit einzigartigem Humor.« Dana Vowinckel.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 388

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über das Buch

Haɪmlɪk ist die App der Stunde – exklusiv, rätselhaft und alles andere als harmlos. Zehn Menschen mit dem höchstmöglichen Rank 10 bekommen eine Einladung für ein Wochenende in einem abgelegenen Herrenhaus. Dort gibt es keinen Empfang, nur sie selbst und das Wissen, dass Haɪmlɪk alles weiß, was sie zu verbergen versuchen.

Was als Influencer-Feriencamp beginnt, entwickelt sich zum Kammerspiel über Macht, Schuld, Sichtbarkeit und Selbstinszenierung. Die Welt, die hier aufscheint, kennt jede*r– als Feed, als Kommentar, als Algorithmus. Doch was geschieht, wenn sie sich verlangsamt, verdichtet, gegen dich richtet?

Ein glitzerndes Spektakel vor dem Absturz – und wir schauen zu.

Über Elina Penner

Elina Penner, 1987 noch gerade so als Sowjet-Bürgerin geboren, erklärt seit über 30 Jahren, wieso sie mennonitisch-plautdietsche Deutsche und nicht Russin ist. Dank ihres 2022 erschienenen Debütromans »Nachtbeeren« wird das mit dem Erklären weniger. Da sie Gegensätzliches liebt, hat sie sowohl in Bayern als auch in Berlin studiert. Sie lebt seit Jahren wieder in der ostwestfälischen Heimat, von wo aus sie das Online-Magazin »Hauptstadtmutti« betreibt. Texte von ihr erschienen bei Der Spiegel, Vogue, 11 Freunde. Im Aufbau Verlag liegt ebenfalls von ihr »Migrantenmutti« vor.

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Elina Penner

Die Unbußfertigen

Roman

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Widmung

Zitat

Ein Jahr später

TEIL I

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

TEIL II

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Epilog

Danksagung

Impressum

Für alle, die aus dem Internet rausmussten, weil irgendwer telefonieren wollte

My secrets guard themselves – will yours do the same?

Peter S. Beagle, The Last Unicorn

If it’s a camera up in here Then it’s gonna leave with me when I do

Mariah Carey, Touch My Body

In another dimension With voyeuristic intention

Richard O’Brien, Time Warp

Ein Jahr später

»Herzlich willkommen zur offiziellen Haɪmlɪk-TV-Reunion!« Die Moderatorin strahlt und freut sich, zurück an dem historisch denkwürdigen Ort zu sein. »Seid ihr auch so aufgeregt wie ich? Wir können es selbst kaum glauben, aber vor genau einem Jahr startete Haɪmlɪk-TV auf eine extrem kuriose, wenn nicht gewöhnungsbedürftige Art und Weise. Mit euch zusammen gehen wir heute noch einmal auf die Memory Lane, landen in Eichbrück, flirten mit unseren Idolen, streiten und fetzen uns, beschuldigen uns und versuchen auszubrechen.«

Das Publikum im Saal tobt. Die Moderatorin legt die Hände auf ihren Brustkorb, presst die Lippen aufeinander und nickt gerührt den Menschen zu. Sie wischt sich links und rechts imaginäre Tränen weg und fährt fort: »Ihr habt unsere Haɪmlɪk-Babes genauso vermisst wie ich, deshalb sollt ihr nicht länger warten. Denn wir wissen alle, was ihr braucht! Heute bricht er weder Herzen noch Bankkonten, unser Lieblingsfuckboi a. D., Justin, komm her!«

Schüchtern betritt ein junger Mann Ende 20, vielleicht schon Anfang 30, die Bühne. Er trägt einen gut geschnittenen cremefarbenen Leinenanzug, jede einzelne seiner blonden Locken sitzt perfekt. Ein junger Ryan Phillippe, ein hübscher Matthias Schweighöfer. Das Publikum johlt, Hunderte Frauen schreien immer wieder JUSTIN!

Justin setzt sich auf das goldglänzende Sofa. Die Moderatorin wartet, bis sich das Publikum beruhigt hat. Das wird sie bei allen Gästen so machen – und da kommt auch schon der Nächste.

»Vor ihm könnt ihr euch nicht verstecken, er wird euch überall finden, hier kommt Max!«

Ein freundlich aussehender Mann Mitte 40 kommt auf die Bühne. Er ist unaufdringlich farblos, einer, den man schnell vergisst. Man denkt nur, das war dieser Dicke, wie hieß der noch mal?

»Bitte give it up für unseren einzig wahren Girl Dad, der heute seinen Senf nur noch dazugibt, wenn es Bratwurst gibt! Hier ist euer Klaus!«

Ein sportlicher Mann um die 70 mit vollem weißem Haar, in heller Jeans und weißem Hemd geht zügig auf die Bühne. Typ Hausarzt, der gerne golft. Oder Geschichtslehrer, der gerade von der Romfahrt mit dem Geschichte-Leistungskurs kommt. Tiefenentspannt, ihm fehlt nur der Espresso in der Hand und eine Pilotensonnenbrille auf der Nase.

»Mensch Klaus, dich erkennt man ja gar nicht wieder, steht dir gut, so frisch!«, begrüßt ihn die Moderatorin.

Klaus setzt sich und grüßt mit einem Nicken das Publikum.

»Ladys, holt eure Persos raus, denn unser folgender Gast kontrolliert mehr als nur eure Facecard, hier ist Basti!«

Basti schüttelt den Kopf und kann kaum glauben, dass die Moderatorin das wirklich gerade gesagt hat, doch er verdreht spielerisch die Augen und lacht sie an. Er sieht älter aus als noch vor einem Jahr, er ist erwachsen geworden. Leichte Stoppeln im Bubi-Gesicht runden seinen Look ab, die Haare lässt er wohl lang wachsen. Oder er hat Nick Carter für sich entdeckt. Ansonsten sieht er aus wie jeder andere Dude Mitte 20, wie einer, der eigentlich noch gar nicht weiß, was er will, braucht oder tun sollte.

»Mamma Mia!«, ruft die Moderatorin jetzt. »Wir verneigen uns vor dem einzig wahren King of Verständnis, hier kommt sie, unsere Lieblings-Green-Flag live und in Farbe, unsere Marco-Maus!«

Ehrfürchtiger Applaus, andächtig nicken ihm die Leute im Saal zu. Sie mögen den jungen Mann, der wie eine lebendig gewordene Jupiter-Statue auf die Bühne schwebt. Alles an ihm strahlt Selbstbewusstsein aus, Marco ist die Ruhe selbst. Er trägt einen pinken Pullover und eine blaue Hose mit einem lila Gürtel. Die Farben scheinen bewusst gewählt zu sein. Marco kann sie tragen.

»Keine Sorge, liebes Publikum, ihr müsst jetzt nicht strammstehen, Yannik kennt nur noch eine Hymne und die will, dass wir uns vorstellen, dass es keine Länder mehr gibt. Hier ist er, unser Träumer, und er ist nicht der Einzige!«

Ein junger Mann eilt auf die Bühne, der noch als schlaksiger Teenager durchgehen könnte. Wie ein frisch geschlüpftes Küken, sehr schüchtern. Man merkt, dass Yannik sich Sorgen macht, vielleicht ein bisschen Angst hat. Auch wenn er wirkt wie jemand, dem sein Style wichtig ist, erkennt man, dass er sich erst noch genau an diesen Style gewöhnen muss. Die Haare waren mal blondiert, jetzt wächst die Farbe fast schon zottelig raus. Er umarmt die Moderatorin etwas unbeholfen.

»Und als Nächster der unfreiwilligste Sexiest Man Alive, den es je gegeben hat, aber wird er heute mit uns reden? Oder wird er nur sagen Kein Kommentar? Finden wir es heraus – mit Sergej!«

Das Publikum verstummt. Für die meisten ist es das erste Mal, dass sie Sergej live sehen. Er trägt ein weißes T-Shirt und eine eng sitzende graue Jogginghose. Jeder einzelne Muskel ist mehr als prominent, doch selbst die Oberarme können kaum von seinen durchdringenden Augen und den kantigen Zügen ablenken. Einer Frau in der ersten Reihe steht der Mund offen. Ihr Sitznachbar knufft sie in die Seite.

»Wirklich Sergej, die graue Jogginghose?« Die Moderatorin rollt die Augen, doch erhascht mit einem Blick alles, was durch das Outfit betont wird. »Es ist plötzlich heiß geworden hier«, fährt sie fort, »und ich glaube, unser nächster Gast wird da leider nicht für Abkühlung sorgen. Sie braucht keine Vorstellung, denn es gibt nur eine Natasch!«

Niemand kann sich mehr beherrschen. Alle springen auf, applaudieren, schreien. Eine junge Frau tanzt auf die Bühne zu, twerkt strahlend auf den letzten Metern. Auch sie trägt einen pinken Pullover, allerdings mit einer hellblauen Hose und einem gelben Gürtel. Die Moderatorin und Natasch begrüßen sich mit Küsschen rechts, Küsschen links. Die beiden sind fast gleichauf, größentechnisch. Natasch flüstert der Moderatorin etwas ins Ohr, die daraufhin lauthals lachen muss.

»Wisst ihr, wie viel Sternlein stehen? Nein? Aber Jutta kann es uns sagen!«

Eine Frau um die 60 hebt die Arme hoch, während sie hastig zur Bühne geht. Sie winkt enthusiastisch in alle Richtungen und lacht. Sie klimpert. An Juttas Handgelenken reihen sich unzählige Reifen und Bänder und Kettchen. Die Ohrringe und Ohrstecker glitzern, ihr Outfit ist eine Mischung aus Hosenrock, Jumpsuit und Mittelaltermarkt. Das stark geschminkte Gesicht glüht förmlich vor Stolz. Sie macht einen glücklichen Eindruck.

»Und zum Schluss, ihr Lieben da draußen und ihr Glücklichen im Publikum, hier ist unsere Lieblingsmutti, hier ist Anny!«

Eine Frau Anfang 40 schreitet langsam Richtung Bühne. Sie wirkt entspannt, aber unsicher. Hübsch ist sie, könnte auch als durchschnittliche Mutti durchgehen, doch das Make-up und die gemachten Haare lassen sie mondän aussehen.

Die Moderatorin wendet sich an die gesamte Gruppe: »Also, ich freu mich sehr, euch zu sehen! Und ich bin richtig froh, dass ich nicht entscheiden muss, mit wem wir anfangen, denn das hat zum Glück das Publikum entschieden. Sergej, von dir wollen alle nur eins wissen: Bist du Single?«

Es ertönen Pfiffe. Sergej steht auf und verbeugt sich. Dann beginnt er die Single-Ladies-Choreografie von Beyoncé, dreht die rechte Hand immer wieder vor und zurück. Es ist ein schlichter Ehering zu erkennen. »Nope, sorry!«

»Wer hätte gedacht, dass du der Erste von uns sein wirst, der heiratet«, sagt einer der jüngeren Männer auf der Couch.

»Ich nicht, glaub mir!« Sergej lacht. »Ich bin sehr glücklich und dankbar dafür, was dieses Experiment für mich getan hat.«

»Ob du mit deiner Meinung allein auf diesem Sofa sitzt und was die anderen über ihre Zeit im Haɪmlɪk-Herrenhaus denken, erfahren wir heute Abend«, ergreift die Moderatorin wieder das Wort. »Bleibt dran für diese Reunion, die knallen wird! Doch vorher starten wir mit einem Rückblick und schauen uns an, welche rechtsetzenden Konsequenzen Haɪmlɪk-TV weltweit hatte.«

Alle gucken zu dem Monitor hoch, an den sie sich noch gut erinnern können. In dem Clip wird nichts Neues gezeigt: Die meisten Länder leben in einem neuen Zeitalter. Ähnlich wie der 11. September war Haɪmlɪk-TV ein Katalysator für eine strengere Gesetzgebung. Vor allem Kinder und Jugendliche sollten geschützt werden. Haɪmlɪk-TV hat wie Corona einen zeitlichen Pfosten in die Menschheitsgeschichte geschlagen. Fünf europäische Staaten haben die männliche Einsamkeitsepidemie zur höchsten gesundheitspolitischen Priorität erklärt, das Social-Media-Eintrittsalter wurde in vielen Ländern auf 18 Jahre angehoben, die Schweiz hat alle sozialen Netzwerke verbannt. Deutschland hat Kinderbilder und -videos im kommerziellen Kontext und das Anlegen von Accounts im Namen von Kindern und Jugendlichen verboten.

»Natasch«, die Moderatorin wendet sich nun der attraktiven jungen Frau zu, »ich habe gehört, dass du tatsächlich den weltweit ersten Lehrstuhl für radikale Ehrlichkeit innehast. Wie kam es dazu und was lernen die Studierenden bei dir?«

»Die Band spielt bis zuletzt!«

TEIL I

1

»Scheiß Pinterest Bitches«, dachte Sergej und hielt den schweren Briefumschlag mit dem Wachssiegel in der Hand. Zur Sicherheit hatte er ihn mit in den Zug genommen; haben war besser als brauchen. Die Einladung war mit der Post gekommen, die Adresse in einer beeindruckenden Handschrift geschrieben. Sie wirkte wie mit einem Pinsel gemalt. Jeder Großbuchstabe ein eigener Grabstein, eine eigene Geschichte innerhalb eines Bogens. Es war eine Einladung von Haɪmlɪk. Sergej gefiel das überhaupt nicht. Sein Körper spannte sich an und er schlug mit der flachen Hand auf die Lehne des Sitzes vor ihm.

Das Wachssiegel war schwarz. Sergej leuchtete es mit der Handykamera an. Um das zu entziffern, müsste er auch so einen Kalligrafie-Workshop machen. Seine Ex hatte einen belegt, für ihre Hochzeit damals. Er hatte ihr gesagt, wie selten dämlich er das fand. Als ob es einen Unterschied machen würde. Das Geld und die Zeit könne man für das Essen verwenden. Es war eine gute Hochzeit gewesen. Zum Glück war ihr klar, wo sie da reinheiratete, und er musste keine Kartoffelzeremonie ertragen. Sergej war auf genug deutschen Hochzeiten gewesen, er kannte den Ablauf. Vormittags Standesamt oder Kirche, dann passierte stundenlang nichts, dann gab es Kaffee und Kuchen mit Sekt für alle. Ein paar Kerle verlangten Bier, die trauten sich nach etwas zu fragen, was nicht angeboten wurde. Dann passierte wieder stundenlang nichts, alle hatten Hunger, niemand war betrunken, der Blutzuckerspiegel sank. Um 19 Uhr Abendessen, dann Wein und Bier, irgendwann gönnten sich die Ersten einen Gin Tonic und um Mitternacht waren die meisten im Bett. »So nicht«, dachte sich Sergej, »so nicht.«

Aber das war auch alles egal. Die Hochzeit war gut, die Ehe eigentlich auch, aber er war kein guter Ehemann, das konnte er zugeben, da hatte er kein Problem mit. Jetzt war sie weg und hoffentlich glücklicher als mit ihm. Würde sie ihn einladen, falls sie noch einmal heiratete? Er verkniff sich weitere Ablenkung, wollte nicht einen Gedanken mehr an das »hätte, hätte« verschwenden. Er konzentrierte sich auf das Jetzt, wie er es gelernt hatte. Und jetzt saß er im Zug, der eigentlich schon vor zehn Minuten hätte abfahren sollen, und war auf dem Weg nach Eichbrück.

Anny war immer pünktlich, wirklich immer. Nur heute wollte nichts so wie es sein sollte. Sie war sich so sicher, dass sie den Zug verpassen würde, und hetzte mit ihrer riesigen Designer Tote Bag und dem großen Koffer den Bahnsteig entlang, aber wie durch ein Wunder stand er noch da, als sie ankam. Als hätte er nur auf sie gewartet. Sie ließ sich auf ihren Platz fallen und wunderte sich, dass beim Rennen nichts aus ihrer Tasche gefallen war. Rucksäcke waren was für Teenager und Sprayer.

Auch wenn Anny die Schlepperei mehr als alles andere hasste, sie würde nicht eine von denen werden. Das bisschen Würde wollte sie sich bewahren. Schlimm genug, dass Birkenstocks inzwischen gesellschaftlich akzeptiert waren, Jogger auch seit Corona, und dass die ganze drecksverfickte Stadt immer ungeschminkt herumlief und aussah, als hätte sie noch nie ihre acht Stunden Schlaf gekriegt. Sie rieb ihre verspannten Schultern, versehen mit knallroten Striemen von teuren BH- und billigen Beutel-Trägern und betrachtete sie als Preis, den sie zu zahlen bereit war.

Anny schleppte Kram und Zeug und Gedöns. Schließlich hatte sie Kinder. Und ein Leben, das jetzt für ein Wochenende mit weiteren Rank-10-Usern unterbrochen werden sollte. Mit der Bitte, niemandem davon zu erzählen und auf keinen Fall darüber zu posten. Nichts posten war fett gedruckt und unterstrichen. Anny rollte mit den Augen.

Seiner Mutter hatte er gesagt, dass es eine Hochzeitseinladung war. Yannik wusste, was seine Mutter von Haɪmlɪk hielt. Er hatte sie alle ausgehalten, die endlosen Diskussionen mit ihr. Er war davon überzeugt, dass sie seinen Beitritt in die PfD tolerierte oder ignorierte, aber nicht guthieß. Sie hoffte einfach, dass diese Partei nur eine Phase war. Aber Haɪmlɪk, das war doch wieder so ein Ami-Ding, die klauten doch nur unsere Daten. Er wusste vorher, was sie dazu sagen würde, und er hatte ihr nie erzählt, dass er sogar Rank 10 war. Sie wusste eh nicht, was das bedeutete. Sie war seit Jahren auf einer veralteten Social-Media-Plattform, aber kam auch damit kaum klar. Statt in das Suchfeld, schrieb sie in den Status und postete es. Es war fast unmöglich, Rank 10 zu erreichen. Es war wesentlich einfacher, in die Partei für Deutsche einzutreten.

Die Einladung von Haɪmlɪk zu einem exklusiven Wochenende verwirrte ihn. Er kannte den Text auswendig. Wie sich das anhörte, mit allem Pipapo, bezahlt und schnieke. Er sollte nur mit dem Zug zu diesem Bahnhof in Mecklenburg-Vorpommern reisen und das tat er jetzt. Der Zug verließ mit zehn Minuten Verspätung den Bahnhof.

Jutta war richtig aufgeregt. Hach, sie freute sich einfach von Herzen, dass mal etwas passierte, dass sie Urlaub einreichen musste, dass es eine Einladung gab. Wohin war egal, sie konnte raus, jemand hatte sie eingeladen! Sie musste sich Gedanken machen, was sie mitnehmen würde. Denn natürlich war Jutta eine kleine Fashion-Maus. So tief im alternativen Sumpf war sie doch noch lange nicht, dass sie sich in naturbelassenen Hanf- und Leinengewändern blicken lassen würde. Um Himmels Willen! Bunt sollte es sein! Und Schmuck überall, Ketten über Ketten, Ohrringe aus gefärbtem Holz, viele Armbänder, Jutta liebte die neuen Plastikperlen-Freundschaftsarmbänder, da hatte sie auch welche mit Affirmations oder, wie Jutta sagen würde, Äfömeschens. Es raschelte und klimperte, Jutta hörte man schon von Weitem. Sie hatte sich Mühe gegeben beim Packen, ein Outfit pro Mahlzeit, das musste schon sein. So ein doofes Klischee, aber Vorfreude war doch wirklich die schönste Freude.

Jutta hatte einige Jobs in ihrem Leben gehabt, aber dass sie mal Bus fahren würde, das hätte sie selbst nicht geglaubt. Nachdem ihr Mann früh verstorben war, musste sie arbeiten gehen, da half nichts. Sie war zu alt, als dass sie noch schnell jemand Neues gefunden hätte. Und zu arm, als dass sie nur hätte rumsitzen können. Hatte sie vorher auch nicht. Aber ohne Kinder im Haus fragten die Leute dann schon, was man denn den ganzen Tag so machte. Alles hatte sie gemacht. Im kleinen Laden gestanden, in großen Märkten an der Kasse gesessen, bisschen geputzt, bisschen verkauft, aber das war alles nichts. Bis sie die Anzeige sah, dass Busfahrer gesucht wurden, gerne auch Frauen. Seitdem fuhr sie Bus. Sie war ein Busfahrer, niemals würde sie sich selbst gendern, dass sie eine Frau war, das sah man doch. Und sie wollte ernst genommen werden von den Kollegen. Ihre feste Tour waren die Schulkinder morgens, aber sie sprang auch ein. Zu Hause war keiner, der auf sie wartete. Da war es ruhig. Sie dachte viel nach beim Fahren, sie schnappte viel auf. Und wenn sie Pause hatte, hing sie am Handy.

Keiner wusste, dass sie jetzt so viele Follower hatte. Ihr Gesicht zeigte sie ja nicht richtig. Ihren Namen verwendete sie nicht, das hatte sie früher mal. Aber da ging es dann so schnell, dass aus den ersten Hundert Tausende wurden und dann, ein kleines Skandälchen nach dem anderen, waren es Hunderttausende. Jetzt waren es über 340K und Jutta hatte gelernt, wie man sie nicht nur unterhielt, sondern auch noch mehr gewann. Niemand konnte so überzeugend wirken wie sie. Zuerst war ihr nur langweilig gewesen, sie hatte so viel Zeit während Corona. Aber dann wurde das immer interessanter und die Leute sehnten sich förmlich nach ihren Gedanken. Sie wollten auf Jutta hören. Auf Lady Wisdom. Das war schon richtig so, dass Haɪmlɪk sie bei dem Wochenende dabeihaben wollte. Weniger hätte sie nicht verdient.

Ein bittersüßer Beigeschmack blieb, schließlich durfte sie niemandem von der Einladung erzählen, obwohl es ihre Stärke war, immer alles zu erzählen. Doch das sollte nun erst einmal nicht so wichtig sein und ihr auf keinen Fall die Stimmung vermiesen. Vielleicht würde sie nach dem Wochenende allen davon erzählen können, wo sie war?

Justin freute sich. Genau an dem Wochenende hatte er nichts vorgehabt, aber mega Bock, einfach mal wieder rumzugeiern. Die letzten Aktionen waren schon brenzlig gewesen. Tat ihm vielleicht gut, der Stadt ein bisschen den Rücken zu kehren. Sei’s drum, auch wenn nur für drei Tage. Abtauchen! Passte ihm außerdem sehr gut in den Kram, dass er niemandem sagen durfte, wo er hinfuhr. Er hatte sich eine Zeitschrift am Bahnhof gekauft, aber nicht reingeguckt. Stattdessen war er direkt bei der neuen Staffel einer Datingshow eingestiegen, die er sich für die Fahrt runtergeladen hat. Auf das Netz im Zug war nie Verlass. Das Konzept war nicht neu. Menschen wurden auf eine Insel oder ein Anwesen gepackt, sollten sich verlieben, irgendwelche Spiele gewinnen, sympathisch sein, damit sie nicht rausgewählt wurden. Mal entschied das Publikum, mal eine ominöse gottgleiche Instanz. In diesem Fall gingen Ex-Partner gemeinsam auf einen Bauernhof und die Kerle suchten neue Kerle für ihre Frauen und andersrum. Justin kannte das. Er hatte sich oft genug beworben. Es war gut, dass er am Ende nie genommen worden war. Er zog sein Ding lieber so durch, dass es keiner mitkriegte.

Max hätte gerne vorher gewusst, was genau ihn hier erwartete. Getraut hatte er der Einladung nicht eine Sekunde. Und eigentlich, ja eigentlich war er vollkommen davon überzeugt gewesen, dass er ihr nicht Folge leisten würde. Warum sollte er auch. Das mit Haɪmlɪk war nie seine Idee gewesen. Er hatte es nur gemacht, weil sie es erwähnt hatte, und er dachte, dann würde er sie da treffen. Aber so lief das nicht bei Haɪmlɪk. Er kannte ihren Rank nicht. Wusste nicht, wie er es herausfinden sollte, dabei hatte er alles andere über sie herausfinden können. Nur nicht, wie sie bei ihm bleiben könnte.

Er dachte, wenn er nur immer da wäre, immer an ihrer Seite bliebe, ihr genau das geben würde, was die Frauen doch alle wollten, dann würde sie schon auch wollen. Max hatte den Tiefpunkt erreicht und vielleicht würde dieses Wochenende etwas verändern in ihm.

Natasch und Marco hatten sich ganz vorne in den Vierer gesetzt, damit Marco ein paar gute Videos von Natasch während der Fahrt machen konnte. Sie hielt ihren Blick mit den weit geöffneten Augen und dem großen Lächeln, während sie behutsam durch die Nase ein- und ausatmete. Sie war wütend auf Marco, das wusste er. Am Morgen hatten sie noch schnell einen Teaser für ein Trainingsvideo abdrehen wollen, was im Streit endete.

Normalerweise kriegten sie das beim zweiten oder dritten Anlauf hin. Rückenübungen im Stehen, ohne Gewichte, nur mit Eigengewicht. Das klickte immer gut. Alles, wovon die Zuschauenden dachten, dass es super schnell und super einfach war und super gute Resultate brachte. Oder wenn Natasch besonders häufig von hinten oder auf allen vieren zu sehen war. In einem abgerissenen Crop Top und mit dem Rücken zur Kamera lehnte sie an Marco, während er auf ihren unteren Rücken deutete und die Wichtigkeit des Core-Trainings betonte. Er sprach langsam und überdeutlich. Dann hielt er inne.

»Du musst den Arsch mehr rausstrecken, geh stärker ins Hohlkreuz.«

»Marco, ich kann mich auch einfach über einen Bumsbock legen, soll ich?« Natasch war genervt, sie war müde, sie hatte Hunger, eigentlich wollte sie aufs Sofa und in Ruhe Vintage-Folgen der Kardashians gucken, aber sie musste noch zu Ende packen. »Reicht das jetzt nicht? Du kannst doch auch einfach ein Voice-over wie beim letzten Mal machen, es ist doch alles drin.«

Den Arsch hatte sie sich antrainiert, auch wenn es ihr im Internet niemand glauben wollte. Eigentlich hatte sie Glück. Vor 20 Jahren hätte sie noch richtig hungern und sich die Brüste operieren lassen müssen, um im Fitnessbereich irgendetwas zu erreichen. Jetzt reichte ein übertrieben großer Hintern und extrem viel Disziplin, aber sie konnte essen. Brüste konnte man sich nicht an-, nur abtrainieren.

Zu diesem Wochenende waren sie gemeinsam eingeladen worden, was Natasch zunächst überrascht hatte. Sie hatte nicht gewusst, dass Marco ebenfalls Rank 10 war, und konnte sich schon denken, welches Geheimnis er offenbart hatte, um reinzukommen. Aber um so weit aufzusteigen? Er musste etwas über sie erzählt haben, denn er war längst nicht so vernetzt wie sie. Der kannte doch echt niemanden. Nun stand die Tatsache, dass sie beide Rank 10 waren und es vorher nicht voneinander gewusst hatten, zwischen ihnen. Eigentlich wussten sie alles voneinander, sie kannten sich schon so lange, dass es keine Geheimnisse geben konnte, es wäre den Aufwand nicht wert gewesen.

Natasch war verunsichert, sollte sie eine Szene machen? Doch sie wusste, dass er nicht erzählen konnte, wie er Rank 10 erreicht hatte. Genauso wenig wie sie ihm jemals erzählen würde, wie sie es geschafft hatte.

Basti war so nervös, dass sein linkes Bein zitterte. Er saß mit Sonnenbrille im Zug und daddelte auf dem Handy, um sich abzulenken. Er hatte immer Angst. Er wartete einfach darauf, dass er eines Tages auffliegen würde. Eines Tages würde etwas Bedrohliches im Briefkasten sein, etwas Anklagendes, etwas, womit er rechnete. Aber er wusste, dass es nicht kommen würde. Er hatte sich abgesichert, mit Ersatzhandys, mit zig Telefonnummern, die er regelmäßig wechselte. Er ging nur unter seinen Alias-Accounts online, hatte gar keinen regulären Account mit Klarnamen mehr. Was er tat, war nicht verboten. Und was, wenn doch? Wenn eine Vorladung im Briefkasten wäre? Eine Anzeige? Unmöglich. Niemals. Er musste sich keine Gedanken machen. Außer natürlich über Haɪmlɪk.

Haɪmlɪk wusste Bescheid. Sein Eintritt war teuer bezahlt, mit dem größten Geheimnis, das er preisgeben konnte. Wenn diese Einladung wirklich von Haɪmlɪk kam, wovon Basti ausging, dann musste er hin. Er hatte keine Wahl. Haɪmlɪk wusste, was er gerne machte. Ein Wochenende, um zusammenzukommen, um ihnen zu danken und sie zu ehren. Was konnte da schon passieren?

Basti wollte noch einmal mit dem Hund gehen und schaute in den Briefkasten, als die Leine, die er locker ums linke Handgelenk gebunden hatte, anfing zu spannen. Sie schnitt deutlich in die Haut. Den Brief nahm er mit. Basti grüßte die anderen Herrchen und Frauchen. Jedes Mal dachte er, wenn er besondere Vorlieben hatte, mussten andere das doch auch haben. Nett sah er aus, der Basti. Immer freundlich am Grüßen, immer zuvorkommend. Ein Netter.

Klaus hatte etwas Ruhiges oder Autoritäres an sich. Auch wenn er kein Manager oder Chef gewesen war, hatte er doch Macht besessen, bekam eine ordentliche Rente. Nichts an seiner Kleidung kniff, der Pulli aus Kaschmir, am Kragen vorne dieser Reißverschluss, darunter ein weißes Hemd. Wohlstand bedeutete für ihn ruhiges Geld und solider Lifestyle. Er war gut angezogen, sah gesund aus, fühlte sich wohl in seiner Kleidung, denn alles saß wie bei Goldlöckchen genau richtig. Er wirkte freundlich und vernünftig, ein guter Mann, ein junger Opa. Rüstig!

2

Der Zug bestand aus nur einem Waggon und Sergej begann, sich zu langweilen. Normalerweise wäre er jetzt ins Bordbistro gegangen, um sich abzulenken, stattdessen guckte er sich um. Dieser Zug war brandneu, Sergej hätte schwören können, dass vorher noch nie jemand auf diesen Polsterbezügen gesessen hatte.

Sergej beobachtete einen anderen Mann. Er saß im Gegensatz zu vielen anderen gerne entgegen der Fahrtrichtung und deshalb in einem der Vierer. So konnte er die Beine langmachen, sich den Platz nehmen, den er brauchte. Und er wollte den Überblick haben, wer da noch so mitfuhr. Damit er sich vergleichen konnte, sicher sein konnte, wo er stand, wie er war.

Normalerweise fuhr Sergej nicht mit dem Zug. Nicht nur, weil er wusste, dass die Deutsche Bahn im besten Fall ein unzuverlässiger Witz war, nein, er liebte sein Auto. Sein Auto konnte ihn überall hinbringen, und er konnte jederzeit wieder weg, musste auf niemanden warten. Doch die Vorgaben waren klar und deutlich. Er musste mit dem Zug fahren und er musste diese Verbindung nehmen. Hieß das, der Typ könnte ebenfalls von Haɪmlɪk eingeladen worden sein?

Sergej checkte die App, aber nichts, kein Empfang, kein WLAN, er steckte fest. Dieser Mann musste älter sein. Älter als er zumindest. Sergej war jetzt etwas über 40. Es war sein kleines Hobby, das genaue Alter von Menschen zu erraten. Sergej nannte ihn Tolstjak, auch wenn das übertrieben war. Tolstjak trug keinen Bart, die gut gefüllten Backen und das weiche Kinn täuschten darüber hinweg, dass da eigentlich Falten sein sollten. Alles wirkte glatt, fast schon glänzend. Aber Sergej wusste es besser. Das eingesteckte karierte kurzärmlige Hemd, mindestens zwei Nummern zu klein, die Socken, die unterhalb des Knöchels endeten, die kurze Hose. Der Typ war mindestens so alt wie er. Kein Ehering. Könnte frisch geschieden sein.

Ein Handy klingelte, der Klingelton identisch mit Sergejs Wecker. »Max hier. Nein, ich bin heute nicht vor Ort, probier es mal direkt bei der Buchhaltung. Ja, muss, ne. Ok, viel Erfolg.«

Da Justins Aufmerksamkeitsspanne nicht für eine Zeitschrift reichte, klemmte er sie in die Ablage. Waren Zeitschriften mal besser gewesen? Oder war das alles irgendwie redundant, wenn man auf dem Handy Stunde um Stunde vergeuden konnte? In dem Moment, in dem die Druckdatei die Redaktion verließ, waren die Inhalte schon veraltet. Er wusste selbst nicht, warum er die 6,80 Euro dafür ausgeben wollte. Früher hatte das Sinn ergeben, um etwas zu erfahren, um zu blättern. Interviews mit echten Rockstars und Fotostrecken mit gut gekleideten, nun, gestylten Schauspielern. Print sei tot, sagten sie. Nein, Print war unwichtig, das war schlimmer.

Lustlos öffnete er diverse Dating Apps und gab auf. Nichts funktionierte mehr. Ihm blieb nur die Zeitschrift oder aus dem Fenster gucken.

Das Pärchen im Vierer am Ende des Abteils kam Justin bekannt vor. Aber er wusste nicht, woher. Das Problem hatte er regelmäßig. Eine Zeit lang sahen Ischen alle aus wie Toni Garrn, bevor sie aussahen wie Kylie Jenner, war aber auch schon ein paar Jahr her. Jetzt sahen alle gleich aus. Nein wirklich, er sagte das nicht nur, weil er ein self-proclaimed Fuckboi war, sie sahen wirklich alle gleich aus, sozialen Netzwerken sei Dank. Augenbrauen wie Schablonen, Lippen nach Maß, Zähne gebleicht, wer konnte. Und die Wimpern waren doch alle aufgefüllt und angeklebt? Nur die Brüste waren natürlicher geworden. Die ließen sie sich kaum noch groß machen. Manchmal sah er also eine auf der Straße oder im Café und musste innehalten. Kannte er sie? Hatten sie sich schon mal getroffen? Oder hatte er nur über sie drübergewischt? Oder war sie fame?

Justin blickte wieder zum Vierer, denn sie stand auf und streckte sich, reckte beide Arme in die Höhe, beugte den Oberkörper seitlich, erst rechts, dann links, da sah er es. Das kleine Herz an ihrem Hüftknochen, der Arsch, Natasch! Wie hatte er sie nicht sofort erkennen können. Wie er diese Frau seit Jahren vergötterte, wie viele unzählige Male er sie angeschrieben und die Nachricht zurückgezogen hatte. Wie er stundenlang überlegt hatte, was er kommentieren könnte, um Natasch auf ihn aufmerksam zu machen.

There you were, wild and free. In Justins Kopf plötzlich die Backstreet Boys, denn er wusste, er war The One für sie. You need me like I need you. In diesem gotthaften Video kann man Justin kurz sehen. Er war als Kind auf der Into the Millenium Tour, was so ziemlich das einzige Highlight in den acht Monaten USA war, zu denen er gezwungen wurde, weil seine Mutter mal wieder wegen der Arbeit in ein wahlloses Land ziehen musste. Er wusste, dass er Natasch von der Darkness zum Light führen könnte, sie musste ihm nur ihre Hand geben.

Sie war sein Heiliger Gral. Besser noch, seine Rihanna, und dieser ehrenlose Marco, der seit Jahren an ihr dranhing und sie verwaltete und nicht glücklich machte, der war Drake und den galt es loszuwerden. Justin zweifelte keine Sekunde daran, dass er der A$AP Rocky zu seiner Robyn Fenty war.

Für eine einzige Frau würde Justin instant monogam werden. In der ersten Minute mit dieser Frau würde er ihr einen Heiratsantrag machen, direkt nachdem er sie geschwängert hätte. Da stand sie, die zukünftige Mutter seiner Söhne, und wusste nicht, dass Justin in seinem Kopf mehrere Möglichkeiten durchging, wie er Marco loswerden könnte. Jedes Szenario endete nur unglücklicherweise damit, dass Justin vom gottlosen Ochsen persönlich durchs Fenster geschmissen wurde.

»Ist das dein beschissener Ernst, Marco? Du kannst nicht ernsthaft vergessen haben, die Powerbanks aufzuladen! Ich hab den ganzen Scheiß gepackt, und du solltest nur eine einzige Sache erledigen? Wir sitzen in einem Regionalzug, hier sind keine Steckdosen, Digga! Toll, ganz toll, dass dein Handy noch voll ist.«

Justin grinste. Showtime.

»Hey, ich hab gerade mitgekriegt, dass du eine Powerbank brauchst. Ich hab noch eine, falls das hilft? Ich bin Justin, hi.«

Er stand ungelenk am Vierer, etwas schüchtern, strich sich langsam durch das perfekt sitzende Haar, tat so, als würde er nicht stören wollen, nur helfen, versteht sich, aber alles, was er sah, war das Gesicht eines Engels, und alles, was er hörte, waren engelsgleiche Glöckchen, denn er, Justin, war gerade durch die Himmelspforte gegangen. Im Herzen voller Dankbarkeit und im Hirn nur noch Brei, es würde an ein Wunder grenzen, wenn er auch nur einen weiteren vollständigen Satz rausbekäme.

Doch neben der himmlischen Erscheinung seiner wildesten Träume saß der Troll Marco und ließ ihn nicht die Brücke passieren. Aber konnte es sein? Wenn Justin mit seinen Berechnungen nicht vollkommen falsch lag, dann war Marco zwar ein muskelbepackter Dwayne Johnson. Aber er, Justin, der maximal von Timothée Chalamet gespielt werden könnte, er schien größer zu sein. Viel größer. Anderthalb Köpfe, mindestens. Natürlich sah man das auf den Videos nicht, weil Natasch so unfassbar klein war. Oh, oh. Natasch selbst checkte es nicht, weil sie maximal 1,60 groß war. Für die war alles ab 1,75 groß. Aber Justin war größer als Marco. Das war das Zeichen, direkt von Gott, alles vorgegeben. Innerlich ballte er die Faust. Hehe, kein Dwayne, ein Kevin Hart, wenn überhaupt.

Justin konnte sich Muskeln antrainieren, wenn auch bisher erfolglos. Aber Marco wurde nicht mehr größer. Zaghaft lächelte Justin, gab sich Mühe, Ryan Philippes Charakter Sebastian aus Eiskalte Engel so perfekt wie möglich nachzuahmen. Ein Trick seines persönlichen Fuckboi-Coaches – und seiner Stiefschwester.

Fuckboi war schon lange keine unerwünschte Beschimpfung mehr, es war wirklich mehr ein Lifestyle – und Justin lebte ihn. Er stellte sich oft vor, dass er nach dem ultimativen Fuckboi der Weltgeschichte benannt worden war. Sagte seinen Auserkorenen, dass er noch nach seiner Britney suchte. Selbst die war größer als Natasch. Aber Reese Witherspoon, die kam nah dran, die dachte auch, dass Ryan Philippe mit seinen 1,75 groß war. Bis Jim Toth kam.

Justin war Jim, er war Rocky, er war The Rock – nur ohne die Muskeln.

Es funktionierte. Marco rastete gleich aus. Die Nasenflügel hoben ab, nichts hielt sie am Boden, sahen lila Wolken, wurden auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt, erst von einer pulsierenden Schlagader, dann von Natasch.

»OH-EM-GEE, ist das dein Ernst? Ey, das ist so krass lieb, danke! Ich bin Natalja, aber alle sagen Natasch. Also zu Hause auch, bisschen kompliziert. Das ist Marco, wir müssen noch mindestens eine Stunde hier versauern und mein Handy ist grad ausgegangen, ey, du bist einfach mein Retter, voll. Du bist die Rettung!«

Marco atmete tief ein und aus. Sein Chakra hatte er noch nicht gefunden. Schade eigentlich, wo er doch gerade erst ein Video hochgeladen hatte zu mehr innerer Ruhe.

»Ach krass, aber sag mal, fahrt ihr auch nach Eichbrück, zu dem, uhm, Event?«, sagte Justin.

»Bingo Bingo, Ringo Starr!« Natasch lachte, oh, wie sie lachte, sie freute sich so sehr über die Powerbank. Ihre Augen strahlten, diese Grübchen. Wenn er könnte, er würde sie am liebsten auf den Arm nehmen oder Huckepack mit ihr durch eine Wiese laufen. Dem lieben Gott, egal, allen Göttern könnte er danken! Das hier war Kismet, das war der Wille des Universums. Justin hatte es manifestiert. In Gedanken arbeitete er schon an seiner Hochzeitsrede, in der er diesen Moment erwähnen würde, und gab sich Mühe, sich jedes Detail zu merken.

»Setz dich doch zu uns, wenn wir eh zusammen aussteigen müssen?«, sagte Natasch.

Justin hätte kotzen können vor Freude, direkt in Marcos Gesicht. »Ach, ich will euch wirklich nicht stören.«

»Tust du doch gar nicht, oder Marco?«

Nataschs Blick fror ein, während sie Marco direkt ins Gesicht guckte. Da waren keine Grübchen mehr, nur noch Verachtung. Stimmten die Gerüchte? Lebten die beiden schon längst in Trennung?

»Natürlich nicht. Danke Mann, ich bin Marco, hi.«

Justin blickte Marco tief in die Augen. Sie wäre nicht die erste Freundin, die er jemandem ausspannte, aber die hier würde die letzte sein. Endgame.

Basti hörte, dass der Kerl telefonierte. Wie unnötig. Musste das wirklich sein? War es immer ein Notfall? Wenn Frauen im Zug telefonierten, flüsterten sie und gaben sich Mühe, nicht gehört zu werden. Männer nicht. Basti fiel so etwas auf, weil er es unangenehm fand, wenn Männer laut redeten. Alles daran erinnerte ihn an seinen Vater. Wie wichtig der sich selbst nahm, den Raum, den er durch sein lautes Auftreten an sich riss, nicht flehend, nicht bittend, dass ihm zugehört würde, sondern die Einlösung einer Selbstverständlichkeit. Wie ein Kind an der Wursttheke, das weiß, jetzt kommt gleich die Mortadellascheibe.

Dass sie in einem Zug saßen, war dem Telefonierer egal. Er könnte später zurückrufen, er wollte nur nicht. Es war die Immanenz der unbekannten Dringlichkeit. Es war die Generation, die noch dachte, es könnte wichtig sein. Nicht wie Basti, der bei jedem Ping genervt seufzte und davon ausging, dass es sowieso nicht wichtig war. Nicht, weil Basti sich selbst zu wichtig nahm, ganz im Gegenteil. Basti fand sich selbst sehr unwichtig. Er war noch nirgends angekommen. Schwamm in seinen 20ern wie in einem trüben Naturteich, hatte keine Ahnung, was da noch alles war. Manchmal sagte er Leuten, er sei 18, dann antworteten sie: »Hach ja, jetzt geht das Leben los.« Sie wussten nicht, dass Bastis Leben schon lange losgegangen war, nur ohne eine Richtung. Wer würde Basti schon anrufen außer seine Eltern? Sein Vermieter?

»Da geh ich mal besser ran, wer weiß, was der will.« So dachten Männer, wie der, der jetzt im Zug telefonierte. Sie dachten, ich werde kontaktiert, weil ich wichtig bin, ich bin der Einzige, der jetzt den Unterschied machen kann. So war Basti nicht, Basti setzte sich mit seiner Männlichkeit auseinander. Er wollte nicht toxisch sein, fand sexistische Witze nicht lustig, er hörte vollkommen unironisch Taylor Swift. Deshalb sah er herab auf Menschen wie den Typen, der im Zug telefonierte. Und wegen der Socken. Ugh, Millennials und ihre Sneakersocken.

Max fühlte sich nicht wohl, er saß nicht gerne länger. Als er noch regelmäßig geflogen war, musste er alle 20 Minuten aufstehen, sofern er durfte. Er wurde unruhig, es zwickte und er wäre gerne auf und ab gegangen, aber dieser Zug war so kurz, er wollte keine unnötige Aufmerksamkeit von den wenigen Menschen an Bord.

Er war einer dieser Männer, die schon verstanden hatten, dass sie etwas zugenommen hatten. Zumindest im Vergleich zu früher. Aber er kriegte den Knopf noch zu. Der Gürtel saß fest. Er wusste auch nicht, was es war. Eigentlich müsste er einfach mal den ganzen Schrank austauschen. Vielleicht wäre das gut, vielleicht würde ihr das gefallen. Oder er ging wieder trainieren, das hatte funktioniert. Als er noch mit der anderen zusammen war, die dort gearbeitet hatte. Er konnte einfach alle ihre Kurse besuchen, sie sehen, Zeit mit ihr verbringen. Viele der Kurse waren abends, manche frühmorgens. Er sah gut aus. Er fühlte sich fantastisch. Doch das war ein paar Jahre her. In dem Fitnessstudio hatte er Hausverbot.

Marco gefiel das alles überhaupt nicht. Zuerst dachte er, dieser Justin sei einfach ein bisschen hohl, aber dreist traf es wohl eher. Marco war es gewohnt, dass Natasch auch in seinem Beisein permanent von Männern angesprochen wurde. Sie kannten sie meistens nicht, sie waren keine Fans, sie kamen lediglich nicht drauf klar, wie gut sie aussah. Ihre Körpergröße allein ließ erwachsene Männer dahinschmelzen. Sie war einfach süß, was sollte man machen. Sie war jung und sah noch viel jünger aus, vor allem, wenn sie kein Make-up trug. Je jünger sie aussah, desto öfter wurde sie angesprochen. Was einiges über die Männer aussagte. Es ärgerte Natasch, dass sie grundsätzlich nach dem Ausweis gefragt wurde.

Echte Fans waren auf der anderen Seite normalerweise super, die wollten tatsächlich nur ein Selfie. Nun, ein Natasch-Selfie, also von hinten, sodass man den Hintern sehen konnte. Was auch super war, denn sie waren alle Multiplikatoren. Jedes Mal, wenn einer von ihnen ein Foto von Natasch hochlud, erzählte, wie nett sie war und wie gut sie aussah, funktionierte das Geschäftsmodell Nahbarkeit. Jeder Post brachte Engagement, jede Erwähnung war wie ein Price Tag, Hauptsache Ka-Ching. Was man so machte, für den Erfolg. Oder mit sich machen ließ, im Fall von Natasch. Denn sie sagte nie Nein, sie hatte für alle ein Lächeln übrig.

Aber dieser Justin war unmöglich. Benahm sich wie diese Pick-up-Artists, als ob Natasch es ihm schuldig wäre, länger als zwei Minuten mit ihm zu reden. Diese vermeintlichen Flirtkünstler und Alpha Dudes hatten Marco schon immer leidgetan, schließlich hatte er das ja nie nötig. Wer einigermaßen gut aussah und ein bisschen nett war, so, wie Marco, kriegte das Mädchen auch. Pardon, die Frau natürlich. Außerdem machte Marco Sport, seit er denken konnte, da hatte man keine Zeit, in Internetforen abzuhängen und zu heulen, weil man keine abkriegte. Er trank auch nicht, hatte ihn nie interessiert. Da fiel ganz viel weg, wenn die anderen beim Vorglühen saßen, war er noch im Gym. Sie riefen ihn dann an, er fuhr sie irgendwohin, ging vielleicht mit rein, aber vor Mitternacht lag er wieder im Bett. Wenn einer Geburtstag feierte, machte er schon manchmal Party, aber auf keinen Fall mit Alk, und was er dann so mitkriegte, was seine Freunde mit den Frauen machten, war ehrenlos. Abfüllen war einmal, wie normal war es geworden, was ins Getränk zu mischen? Selbst gesehen hatte er es noch nicht, aber manchmal prahlten sie, deuteten was an. Wo war der Unterschied, etwas ins Getränk zu mischen oder jemanden abzufüllen oder jemanden abzuschleppen, der komplett betrunken war. So oder so war die Person nicht zurechnungsfähig. Marco war immer viel allein, ihm reichten Natasch und seine Familie. Er brauchte die Kerle nicht. Nicht, solange sie jedes Wochenende in Clubs abhingen und sich volllaufen ließen. War ja auch schon alles ein paar Jahre her, Marco mied diese Jungs heute eher. Da war auch zu viel Fame inzwischen auf seiner Seite. Wenn er ausging, dann nur noch, wenn er dafür bezahlt wurde, am besten vierstellig.

Haɪmlɪk zahlte natürlich nicht. Marco konnte sich glücklich schätzen, dass er dabei sein durfte. Schon seit Monaten gingen ähnliche Eventeinladungen nur noch an Natasch, ihr Solo-Account hatte den gemeinsamen Account längst überholt, sein eigener dümpelte vor sich hin. Männer waren notgeiler als Frauen, sie folgten Natasch, um auf sie abzuwichsen. Das taten seine Gays auch ab und zu, aber dafür war Marco nicht steamy genug, um porny-porny zu sein. Marco könnte auch in der Sparkasse arbeiten, hatte mal einer geschrieben, aber nicht in einem Sparkassen-Porno mitspielen. Ein straighter Dude, der nicht mal als Fantasievorlage was taugte.

Irgendwie war das aber auch alles ok für Marco, er brauchte den fame nicht, es juckte ihn herzlich wenig, wie hoch seine persönlichen Followerzahlen waren. Er wollte nur den Erfolg, also das Geld, und das kriegte er auch, solange er Natasch managte und sie ein Teil des gemeinsamen Accounts war. Ein Mann war keine Altersvorsorge, aber eine erfolgreiche Influencerin als Freundin sehr wohl. Selbst wenn die Beziehung mal in die Brüche gehen sollte, würde er alles dafür tun, um ihr Manager zu bleiben. Obwohl, er wusste ja, mit welchem Geheimnis er Natasch an seiner Seite behalten konnte. Es hatte noch keine Gelegenheit gegeben, darüber zu sprechen, wie sie gemeinsam in Rank 10 aufgestiegen waren. Es würde kein angenehmes Gespräch werden.

Max und Basti nickten einander zu, während sie vor der geschlossen Zugtür standen und diese unangenehmen Sekunden überbrückten, bevor die Türen sich endlich öffneten und man austeigen konnte. Basti wollte etwas sagen, etwas Selbstbewusstes, etwas, damit Max sofort wusste, dass Basti einfach ein guter Kerl war. Natürlich nichts über das Wetter, auch nichts über einen Fußballverein, denn er war nicht auf dem aktuellen Stand, was die Bundesliga anging. Für ihn war das eine einzige kapitalistische Kackscheiße, korrupte Lügner, alle nur aufs Geld aus. Ab und an ging er mit zu einem Drittligisten, aber Oberliga wäre ihm lieber. Hauptsache, es gab keinen Merch, dafür billiges Bier und gute Sonnenuntergänge hinter ranzigen Spielfeldern. Wenn er Max einem Fußballverein zuordnen müsste, könnte das in jede Richtung gehen. Den konnte man nicht zuordnen. Er könnte einfach ein kleiner Bayern-Wichser sein, weil ihm nichts Besseres einfiel oder kam plötzlich um die Ecke und sagte Gladbach. Wer wusste das schon. Du konntest es den Leuten nicht mehr ansehen, wem sie huldigten. Wer sie zum Schreien brachte.

Basti schaute Max an. Es waren nur ein paar Sekunden, so schlimm war das nicht. Er machte dieses hilflose Grinsen, bei dem die Lippen nach innen gerollt und die Augen weit aufgerissen wurden. Dieser Golden-Retriever-Good-Dude-Jim-Halpert-Blick, der sagen wollte, hey, ich bin ein Guter.

Erst als die Türen zischten, stand Sergej auf. Nachdem sie ausgestiegen waren, wurde ihnen augenblicklich klar, dass sie alle drei das gleiche Ziel hatten, das Shuttle am Ende des Weges, der vom Bahnhof wegführte. Sonst war da nicht viel. Nur dieses Shuttle. Sie blieben stehen. Wie ein kleiner verwirrter Morgenkreis.

»Ich heiße Max, ich glaube, wir müssen in die gleiche Richtung.«

»Selbe«, dachte Basti, aber er sagte nichts. Er wusste schon, wie er sonst rüberkommen würde. »Basti, hi.«

»Ich heiße Sergej, ist ok, ihr könnt Ser-geh sagen.«

»Ok, Max. Bin ich. Ich bin Max, hi.«

Basti fragte sich, ob dieser Max nervös war, warum sagte der seinen Namen zweimal? Sergej wirkte etwas arrogant oder lag es an diesem emotionslosen Gesicht? War bestimmt was Kulturelles. Oh Gott, war das schon diskriminierend? Wo der wohl herkam, wenn er Sergej hieß. Könnte natürlich einfach Russland sein, Polen kam ja wohl nicht infrage, oder? Basti war sich unsicher. Natürlich wusste er dank zahlreicher Sinnfluencer- und Anti-Diskriminierungs-Accounts, dass er Sergej jetzt nicht fragen würde, wo er herkam.

»Sergej, huh, ja, viel besser werd ich das nicht aussprechen können.« Max zog die Augenbrauen hoch. »Wo kommt man denn da her, mit so einem Namen?«

Basti schloss die Augen und zog theatralisch die Luft ein. Dann schaute er in Richtung Sergej, um sich mit ihm zu verbünden. Ganz nach dem Motto, wie peinlich der Max denn sein musste, dass er ernsthaft so was fragte.

»Schweden«, sagte Sergej, wieder emotionslos. Er wartete eine Sekunde, lachte dann schallend los. »Junge, mach dir nicht ins Hemd, ich komm aus Russland, ich bin einfach Russe. Wer nennt sein scheiß Kind schon Sergej, wenn man nicht Russe ist?«

Basti zuckte zusammen, er empfand Charakter-FOMO, er war neidisch. Und er wollte das nicht. Er wollte locker sein und cool. So, wie Sergej. Aber er war nicht so, wie Sergej. Basti musste nicht so schnell erwachsen werden wie Sergej. Er war behütet worden, sein Name stand auf dem Keramikschild unter der Klingel am Haus seiner Eltern. Auf Spiekeroog hatten die das machen lassen. In dem kleinen Laden, wo es auch die friesischen Tassen mit Bastis Namen drauf gab, aus der er seinen Kakao trank, wenn er zu Hause war. Sergejs Name stand auf keiner Tasse. Schon gar nicht auf einer friesischen.

»Ach kommt, bewegt euch, dawai, gehen wir zum Bulli. Mal gucken, wer da noch so ist.«

Basti überlegte, dass Sergej und Max sich bestimmt gut verstehen würden, weil sie ja ungefähr gleich alt waren. Aber er nahm sich vor, dass er der Freund von Sergej werden würde.