Die unendliche Langeweile oder Chronischer Stress ist auch keine Lösung - Maike Maria Fellner - E-Book

Die unendliche Langeweile oder Chronischer Stress ist auch keine Lösung E-Book

Maike Maria Fellner

0,0

Beschreibung

"Die unendliche Langeweile oder Chronischer Stress ist auch keine Lösung" beschreibt das jahrelange Suchen und das damit einhergehende Wechselspiel der Gefühle der erst spät entdeckten Hochbegabten Laura. Erst durch ihre Mutterrolle wurde sie aufgefordert, noch genauer hinzusehen und nicht nur sich selber sondern in erster Linie ihrem Kind zu helfen, denn in ihrer eigenen Kindheit wurde sie nicht als hochbegabt erkannt. Tom wurde früh erkannt und konnte sich gesund entwickeln. Er führt heute als Erwachsener ein ausgefülltes erfolgreiches Leben. Auch Laura erreicht ganz persönliches Glück in ihrem Leben. Hier und da verspürt sie immer noch Lust, sich weiterzuentwickeln, dazuzulernen, besser zu werden und ihre eigenen Projekte zu bearbeiten. Die Feststellung einer Hochbegabung und sei es erst im fortgeschrittenen Erwachsenenalter kann dazu führen, für sich selber Klarheit zu erlangen und doch noch mit gesteigertem Selbstbewusstsein die in einem schlummernden Fähigkeiten zumindest basal auszubauen, wodurch große Zufriedenheit durch Stimmigkeit erlangt werden kann. Es kann, und das ist fast noch wichtiger, dazu führen, dass der eigene Nachwuchs mit gut regulierten Eltern aufwachsen kann.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 257

Veröffentlichungsjahr: 2023

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die Geschichte einer spät entdeckten

Hochbegabten und ihr Weg zu ihrem ganz

persönlichen Glück

Ich kann nur nach vorne schauen, wenn hinter

mir aufgeräumt ist. Es reicht, wenn ich die Lösung

kenne, das Problem braucht nicht bearbeitet zu

werden. Ich bin ein ordentlicher Mensch. Hinter mir

soll aufgeräumt sein.

Hohe Intelligenz als Ressource für Resilienz

Einleitung

„Hochbegabt ist, wer einen IQ von mindestens 130 Punkten hat. Allein in Deutschland leben demnach circa 2,4 Millionen Hochbegabte. Nur ein Drittel dieser Frauen und Männer verwirklicht erfolgreich seine Fähigkeiten und schafft den Sprung in die Spitze von Politik und Wirtschaft, wird Bestsellerautor oder Hochleistungssportler. Der weitaus größeren Gruppe ist die eigene Hochbegabung gar nicht bewusst: Als ‚latente Talente‘ haben sie sich im Leben zwar vergleichsweise gut eingerichtet, fristen aber dennoch ein eher unauffälliges Dasein. Oder sie verweigern geradezu die Leistung und benutzen ihre Talente dazu, keinen Erfolg zu haben oder sie gar kriminell einzusetzen. Manchen dieser ‚Underachiever‘ gelingt es zumindest, als Spätentwickler Karriere zu machen.“ (Scheidt, 2007a)

Schwierige Lebensumstände können dazu führen, dass vorhandene Hochbegabung primär zum Überleben genutzt wird. Das ist zum einen eher positiv, weil dadurch vielleicht tiefergehende Schäden an Körper und Seele vermieden werden können und zum anderen eher negativ, weil vielleicht keine Kapazitäten mehr frei sind, die rechtzeitig in eine zufriedenstellende berufliche Identität münden können.

Unentdeckte und/oder nicht in die richtigen Bahnen gelenkte Hochbegabung kann zusätzlich dazu führen, dass ein oder mehrere Embodios (sic; Kieboom & Venderickx, 2017a) entstehen. So zeigen sich in der nachfolgenden Geschichte gleich mehrere dieser von Kieboom und Vendericks so genannten Embodios, d.h. individuelle nicht durchlaufene Entwicklungsschritte bezogen auf die Hochbegabung, wie Kommunikation (schnell und viel reden), sein Soll übererfüllen (Hausaufgaben perfekt erledigen mit dem Ziel, eine gute Note zu generieren), sozialer Umgang (hier: Unsicherheiten wegen fehlender Spiegelung der eigenen Identität) sowie anders sein (hier: sich nicht wirklich zugehörig fühlen).

Laura wurde möglicherweise durch ihre nicht entdeckte Hochbegabung psychosomatisch krank. Dank ihrer Intelligenz gelang es ihr, sich aus der absoluten Talsole wieder herauszuarbeiten und doch noch einen zufriedenstellenden Lebensplan zu erstellen und erfolgreich an ihm zu arbeiten. Er mag nicht den Erwartungen an Hochbegabte entsprechen, die meist sowieso eher klischeebehaftet sind, sondern ist das Ergebnis eines schicksalhaften Lebensweges, wie ihn Millionen von Menschen täglich gehen müssen. Manche Menschen sind dafür kognitiv schlechter ausgestattet und manche Menschen eher besser.

Schließlich haben Hochbegabte oft mit dem Vorurteil zu kämpfen, sie bräuchten keine Hilfe beim Lernen, weil ihnen ja alles zuflöge und sie von ganz allein eine brilliante der Gesellschaft förderliche Karriere hinlegten. Überhaupt gibt es in der Wahrnehmung auf Hochgebegabte die eine oder andere Verwunderlichkeit (Scheer, 2014a).

Hochbegabte lösen Lebensthemen oder berufliche Herausforderungen anders als Normalbegabte. Oft schaffen sie es, so richtig glücklich zu werden, wenn sie erkannt haben, was sie wirklich wollen (in Anlehnung an Jung & Jung, 2022) und brauchen.

Die nachfolgende Geschichte wurde unter dem

Pseudonym Maike Maria Fellner geschrieben. Die

Geschichte hat autobiografische Züge. Um die Iden

tität der Personen im Text zu schützen, wurden an

dere als die Realnamen verwendet. Einige Orte und

Situationen wurden verfälscht. Die Autorin lebt

heute gesund, glücklich und zufrieden mit ihrer klei

nen Familie irgendwo in Deutschland.

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10 – Kapitelfetzen

Fetzen 1: Fair parken vor Weihachten

Fetzen 2: Weihnachtstreffen im Garten

Fetzen 3: Weihnachtsfeiertage

Fetzen 4: Nachrichten

Fetzen 5: Nach dem Essen

Fetzen 6: Willibald kommt ins Erzählen

Fetzen 7: Schläger bespannen

Fetzen 8: Frühstück zweiter Weihnachtstag

Gedanken zum Schluss

FAQ – oft gestellte Fragen

Kleiner Ausflug zum Stress

Nützliche Anlaufstellen Hochbegabung

Alphagenius

Mensa

Intertel

Triple Nine Society

Prometheus Society

DGhK

Clever People

UnIQate

Literaturverzeichnis

Nützliche Literatur

Kapitel 1

Anders zu sein war in unserer Gesellschaft nicht gern gesehen. Wir wurden bereits in der Familie durch Anpassungstraining darauf vorbereitet, im Kindergarten bestehen zu können, um anschließend in den Schulbetrieb integriert zu werden. Wenn wir Glück hatten oder dafür arbeiteten, durften wir dreizehn Jahre zur Schule gehen. Nach der Schule sollten wir schließlich im Berufsleben für andere schuften, damit diese Gewinne erzielen konnten, die unermesslich höher waren als das Gehalt für die eigene Arbeit. Wenn man seine Weichen so gestellt hatte, bekam man ein paar Jahre Aufschub durch den Besuch einer Universität. Doch spätestens dann sollte die Anpassung an gesellschaftliche Normen soweit perfektioniert worden sein, dass man nicht mehr aus der Masse hervorstach und in einem durchgetakteten Arbeitsleben bestehen konnte, denn nur damit ließ sich genügend Geld verdienen, um die eigene Existenz zu finanzieren. Ob man angestellt oder selbständig arbeitete war völlig egal. Völlig egal war auch, ob es für das Individuum gesund war (in Anlehnung an Miller, 1982). Ein Hamsterrad war es allemal.

Vielleicht lag es an diesem Hamsterrad, dass Laura nicht gesehen worden ist und ihre Anpassungsversuche in eine Zerreißprobe ihrer selbst mündeten (in Anlehnung an Miller, 2004a). Es war sogar ein doppeltes Hamsterrad, das Laura unsichtbar werden ließ. Ein Hamstertandemrad sozusagen. Wenn man wie Laura aus einfachen Verhältnissen kam, blieb keine Zeit, um auf dem Lebensweg nach links oder rechts zu sehen. Es konnte nur nach vorn geschaut werden. Innehalten, ausprobieren, erkennen, schlussfolgern - dazu reichten weder Kraft noch Mittel.

Aber selbst das buchstäbliche Nachvornesehen hatte der Autofahrer nicht hinbekommen, als er das Auto von Lauras Eltern überholte. Er sah auch nicht nach rechts, als er den viel zu knapp bemessenen Überholvorgang zu beenden versuchte, in dem er dem entgegenkommenden Fahrzeug zurück auf die eigene Spur fahrend auswich. Es ist nicht bekannt, ob er es schaffte, oder ob das entgegenkommende Fahrzeug beschädigt wurde. Stark beschädigt wurde hingegen das Fahrzeug von Lauras Familie. Lauras Papa fuhr einen blauen Mercedes Benz. Das Auto war sein ganzer Stolz. Schon als junger Mann träumte er davon, einen Mercedes zu fahren wie die reichen Clubmitglieder, für die er arbeitete. Er sagte später als Rechtfertigung immer, dass ein Mercedes sehr stabil gebaut sei und dass die Familie die Beschädigung nicht überlebt hätte, wären sie in einem anderen Fahrzeug unterwegs gewesen. Das überholende Fahrzeug scherte viel zu früh wieder auf die eigene Spur ein, schnitt Lauras Papa damit die Fahrt ab und Lauras Papa fuhr den Mercedes gegen den nächsten Alleebaum. Es war dunkel. Sie kamen aus dem Urlaub aus Dänemark, wohin sie seit einiger Zeit genau wie die Familie von Lauras Tante mit einem Wohnwagen fuhren. An der Nordsee tat die Luft gut, die Landschaft war weit und die Gedanken frei. Mit kleinen Kindern war es ein gutes Urlaubsziel. Zusammen mit der älteren Schwester und ihrem Sohn im Urlaub zu sein machte es auch Lauras Mutter einfacher, mit ihrem kleinen Wirbelwind umzugehen. Die Autofahrt aus Dänemark zurück nach Hamburg dauerte einige Stunden. Mit einem kleinen temperamentvollen Mädchen an Bord fuhr man Urlaubsstrecken lieber im Dunkeln, während das Kind schlief. Sie hatten es schon bis kurz vor Hamburg geschafft, als es krachte. Der Baum war sehr alt, groß und stabil. Er hatte massive Äste, von denen nun einer auf der Beifahrerseite weit ins Auto ragte. Darunter muss schwer verletzt Lauras Mutter eingeklemmt gewesen sein. Auch sie hatte geschlafen auf dem fast waagerecht gekurbelten Sitz. Hätte sie aufrecht gesessen, wäre sie vermutlich auf der Stelle tot gewesen. Ihre Füße steckten dennoch fest, zerquetscht vom nach hinten geschobenen Motorblock. Der Ast hatte ihr schwerste Kopfverletzungen zugefügt. Sie musste aus dem Auto geschnitten werden. So erzählte man es Laura später. Ihr Papa blieb nahezu unverletzt. Laura sah in dieser Nacht das Gesicht ihres Papas mehrfach draußen an der rechten Seitenscheibe. Zusammen mit einem fremden Mann sah er hektisch und gestikulierend zu Laura ins Auto hinein. Er verschwand und tauchte im nächsten Moment wieder auf. Laura sah die beiden Gesichter nur kurz. Das nächste, an das sie sich erinnern konnte war, dass jemand versuchte, sie aus dem Auto zu ziehen. Sie lag hinter dem Fahrersitz mit dem Kopf auf der Fahrerseite. Sie hatte auf der Rückbank nicht angeschnallt quer gelegen und geschlafen. Damals nahm man es mit dem Anschnallen noch nicht so genau. Es war 1976. Beim Aufprall kullerte sie von der Rückbank herunter hinter die Vordersitze auf den Boden und wurde vom sich zurückschiebenden Beifahrersitz an den Füßen eingeklemmt. Deswegen konnte sie nicht so einfach aus dem Auto gezogen werden. Laura hatte keine Angst. Sie kam gar nicht auf die Idee, zu weinen oder zu rufen oder selber zu versuchen aufzustehen. Es erschien ihr wie ein Traum. Sie schien auch immer wieder einzuschlafen zwischen den Szenen. Das nächste, an das sie sich erinnern konnte war, dass sie außerhalb des Autos war und auf dem Arm ihres Papas gehalten wurde. Sie standen neben der Fahrertür und Papa sprach mit Laura. Papa hatte viele kleine rote Punkte an den Handaußenflächen. „Papa warum hast du da auf einmal so viele rote kleine Punkte auf deiner Hand?“ Laura war zuallererst mal froh, dass sie bei Papa auf dem Arm saß. Der fremde Mann, den sie draußen an der Scheibe gesehen hatte, hatte ihr einen Schrecken eingejagt. Befeuert wurde ihr Gefühl dadurch, dass sie auf dem Fußboden gelegen hatte und das Gesicht des fremden Mannes schräg über ihr, also von oben, auf sie herabblickte. Papa meinte zu seinen roten Punkten nur, es sei nichts und es gehe ihm gut. Dann erinnerte sich Laura daran, dass Papa sie in die orange-braune Kuscheldecke gehüllt zu einer fremden Frau trug und Laura von Papas Arm in den Arm der Frau wechseln sollte, was ihr überhaupt nicht behagte. Sie fing an zu weinen. „Papa ich will nicht zu der Frau, ich will zu dir und Mama! Papa!“ Die Frau hielt Laura fest und Papa drehte sich weg von ihnen. Er ging zurück in Richtung des Autos. Laura bekam einen Riesenschreck. Etwas bäumte sich in ihr auf, ein sehr starkes tief durchdringendes und einschneidendes Gefühl. Laura hatte plötzlich Panik, für immer von ihren Eltern getrennt zu werden. Die Frau drehte sie so, dass sie von Papa und dem Auto weggewandt wurde und nichts mehr sehen konnte als das Auto der Frau. Etwas zerbrach in Laura. Etwas sehr Großes.

Es hatte angefangen zu regnen und die Frau trug Laura zu ihrem Auto. Dort wartete die Tochter der Frau im Auto. Laura wurde auf die Rückbank gesetzt. Im Auto war es warm und das Innenraumlicht war an. Laura konnte draußen nichts erkennen außer einem regelmäßig aufleuchtenden blauen Licht. Inzwischen regnete es stärker. Die Regentropfen liefen an den Scheiben hinunter. Laura fand es schnell gemütlich im Auto und fasste Vertrauen. Die Frau und ihre Tochter waren sehr nett. Sie drehten sich zu Laura, lächelten und unterhielten sich mit ihr. Sie boten ihr einen Schokoriegel an. Es war warm und das Radio lief leise. Laura saß auf der Rückbank in der Mitte und war in ihre Kuscheldecke gewickelt. Die Angst ihre Eltern nie mehr wiederzusehen blitzte noch ein paar Mal auf, wurde aber durch die sehr angenehme Atmosphäre im kleinen Auto der Frau abgemildert. Sie und ihre Tochter schafften es Laura abzulenken von dem Geschehen, das draußen am Straßengraben stattfand.

Das Nächste, an das Laura sich erinnern konnte war, dass sie wieder auf dem Arm ihres Papas getragen wurde. Sie dachte, sie wären wieder zu Hause. An das Geschehene erinnerte sie sich nicht mehr. Tatsächlich war es immer noch dieselbe Nacht, offenbar war sie weit fortgeschritten. Diesmal betraten sie einen großen zunächst noch dunklen und fensterlosen Raum mit vielen weißen Kacheln, wie sich herausstellte. Das Licht wurde angeknipst und strahlte kühl. Es gab fast keine Einrichtungsgegenstände in diesem Raum. Laura hatte Angst und fühlte sich nicht wohl. Sie war müde. Papa trug Laura zu einer schwarzen Liege, die rechts hinten in der Ecke des Raumes stand und mit einem Papierstreifen bezogen war. Papa setzte Laura auf diese Liege an den Rand, so dass ihre Füße herunterbaumelten. Es kam ein großer schlanker Mann in einem weißen Kittel hinzu. Der Mann schaute sich Laura an. Er klopfte mit einem kleinen Hammer gegen Lauras Knie. Erst jetzt bemerkte Laura, dass sie gar keine Schuhe mehr anhatte. Der Mann untersuchte Laura am ganzen Körper und am Ende hatte Laura um den rechten Fuß herum und im Gesicht orangefarbene Tinktur. Der Mann sagte mit Laura sei sonst alles in Ordnung und sie könne nun mit Papa nach Hause fahren. Laura wollte nur fort von diesem kalten Ort.

Dann kam lange nichts. Das nächste, an das Laura sich erinnern konnte war, dass sie an einem warmen sonnigen Tag eine sandige Straße mit vielen Schlaglöchern entlangging und sehr traurig war. Es war eine fremde Straße und sie hatte ihre Eltern schon lange nicht mehr gesehen. Laura kam an einem Haus vorbei, in dem eine Familie zusammen mit ihren Kindern einen Kindergeburtstag feierte. Das Haus stand erhöht, so dass die Terrasse, die mit einem großen Fenster zur Straßenseite lag, ungefähr einen Meter fünfzig höher war als die Straße. Die kleinen Menschen hinter der Scheibe wirkten auf Laura fröhlich und gesund. Es waren auch zwei oder drei Erwachsene zu sehen. Laura fühlte sich niedergeschlagen und krank. Alleingelassen, verlassen, verwirrt, verstört, zerrissen. Niemand erzählte ihr etwas oder fragte sie etwas. Sie wurde aufbewahrt. Sie erklomm neugierig die Terrasse, die noch nicht eingezäunt war und schlich sich zur Fensterscheibe, hinter der gefeiert wurde. Die Familie bemerkte sie und schenkten ihr ein Eis. Aber Laura musste draußen bleiben und war mit ihrem Schmerz wieder allein.

Lauras Mutter war Telefonistin, bevor sie mit Laura in Schwangerschaftsurlaub ging. Nach der Geburt wollte Lauras Mama zu Hause bleiben, aber Lauras Papa wollte, dass sie wieder arbeiten ginge und das Familieneinkommen unterstütze. Eigentlich wolle Lauras Mama gar keine Kinder, erzählte Lauras Papa ihr später. Die Familie von Lauras Mama sagte hingegen, dass Lauras Mama sich sehr liebevoll um Laura gekümmert habe. Lauras Papa war selbständiger Sportlehrer in einem Club. Dort kam er mit vielen wichtigen, einflussreichen und reichen Menschen zusammen und gab ihnen Sportunterricht. Er wollte so sein wie sie und gleichzeitig war er sich immer seiner Herkunft bewusst, ja nutzte sie sogar zu seinem Vorteil, denn Erzählungen darüber erzeugten bei manchen ZuhörerInnen Mitleid. Vielleicht gerade deswegen wollte er eher so sein wie sie, denn seine Herkunft bedeutete Einfachheit, Armut, ausgegrenzt sein, Anderssein. Nicht ganz unschuldig an diesem Gefühl war wohl sein Bruder Herbert, über den er erzählte, dass dieser ihn kleingehalten und damit seinem Selbstwert erheblich geschadet habe. Wie genau das vonstattenging, konnte Lauras Vater allerdings nicht benennen. Schließlich war es Lauras Vater, der scheinbar viel früher im Beruf stand als Herbert und Geld verdiente, worauf er mächtig stolz war, denn er unterstützte damit ungefragt oder aus der Not heraus – das wurde nicht so ganz klar - seine Mutter, seine kleine Schwester und sorgte schon mit sechszehn Jahren quasi für sich selber. Später, als seine Mutter starb, war er um die zwanzig Jahre alt. Um zu verhindern, dass seine kleine Schwester in ein Kinderheim gegeben wurde, setzte er durch, dass er und seine Schwester in eine kleine einfache Wohnung ziehen und er sich um sie kümmern durfte. Lauras Papa sah sich permanent unangemeldeten Behördenkontrollen ausgesetzt, die sicherstellen sollten, dass Willibald ordentlich für seinen kleine Schwester und sich sorgte und alles sauber hielt. So wurde er schon sehr früh selbständig im doppelten Sinn, denn er hatte seine selbständige Tätigkeit als Sportlehrer aufgenommen und sein Lebenshamsterrad begann sich zu drehen.

Das zweite Hamsterrad kam für Lauras Vater hinzu, als Lauras Mutter neun Monate lang im Krankenhaus in Kiel lag und Willibald begann sie zu besuchen. Nahezu täglich. Nach der Arbeit. Von Hamburg aus. Mit einer Stunde Fahrtzeit für eine Strecke. Obwohl oder weil Lauras Mutter nach der Begegnung mit dem Ast im Auto im künstlichen Koma lag. Laura bekam ihre Eltern in dieser Zeit nicht zu Gesicht. Sie kam bei Pflegeeltern unter.

Die eigenen Kinder der Pflegeltern waren bereits aus dem Haus, so dass ihre ganze Aufmerksamkeit Laura galt. Es gab ein Nachbarskind in Lauras Alter, zu dem Laura oft zum Spielen ging. Sie teilten viel miteinander, einmal sogar Windpocken. Lauras Freundin lag mit Windpocken im Bett und Laura fand es lustig, zu ihr unter die Bettdecke zu kriechen und Quatsch zu machen. Das erzählte sie freudestrahlend ihren Pflegeltern, die sie panisch ins Waschbecken setzten und von oben bis unten mit Seife abschrubbten. Es tat weh auf der Haut. Es nutzte freilich nichts, denn Windpocken wurden durch Luftexposition übertragen. Auch Laura hatte sich die Windpocken eingefangen.

Einmal kamen Lauras Eltern zu Besuch, beide. Jedenfalls erinnerte Laura sich nur an dieses eine Mal. Die Eltern fuhren ohne sie wieder fort. In einem gelben Mercedes. Laura war am Boden zerstört. Sie rannte dem abfahrenden Auto hinterher, weinte, schrie, bettelte, sie mögen sie doch mitnehmen. Sie sei doch ihre Tochter. „Mama, Maaaamaaaaa! Paaaapaaaa!“ schrie sie dem abfahrenden Auto tränenerstickt hinterher, aber die Eltern fuhren unerbittlich fort ohne noch einmal anzuhalten. Laura konnte sich nicht erinnern, dass ihre Eltern sie in den Arm genommen hätten oder sich gefreut hätten sie zu sehen. An diesem Tag zerbrach ein zweites Mal etwas in Laura, dasselbe noch einmal, doch dieses Mal noch viel stärker.

Die Pflegefamilie hatte einen süßen Hund. Einen beigefarbenen Cockerspaniel. Laura erinnerte sich nur an eine Begebenheit. Sie saß auf einer hohen Kommode, weil der Cockerspaniel sie in den Bauch gestupst hatte. Laura hatte sich fürchterlich erschrocken und angefangen zu weinen, obwohl sie den Hund eigentlich richtig liebhatte. Ihre Pflegemama hatte sie hoch auf die Kommode gehoben, damit sie von dort beobachten konnte, dass der Hund nur spielen wolle und ganz freundlich bliebe. Laura war vier Jahre alt, als das passierte. Ihre Körperlänge lag bei weniger als einem Meter und der Hund war schon 35 cm hoch. Aus Lauras Sicht war der Hund riesig.

Ihre Pflegemama war freundlich zugewandt und zurückhaltend. Sie bedrängte Laura nicht, jedenfalls fühlte Laura sich frei. Ihre Pflegemama sprach wenig mit ihr. So kam es Laura jedenfalls vor. Niemand erzählte ihr etwas über ihre Situation. Es war ganz einfach so.

Im Haus gab es eine Sauna, die Laura einmal gezeigt wurde. Sie wurde nicht angeschaltet, es war wohl Sommer. Es gab auch eine Hängematte, die an einem stabilen Gestell aufgehängt war und auf der großen Terrasse stand, die in einen noch größeren Garten auslief. Der Garten war umsäumt von dichten Nadelbüschen. Dahinter war ein Feld. Nebenan standen weitere Einfamilienhäuser. Die Straße war noch nicht hergerichtet, sondern wies etliche Schlaglöcher in der sandigen Oberfläche auf. Vermutlich stand das Haus in einem Neubaugebiet. An dem Tag, als Lauras Eltern wieder fortfuhren, ohne sie mitzunehmen, rannte sie so schnell sie konnte hinter dem gelben Mercedes ihrer Eltern her. Sie weinte bitterlich. Das Auto entfernte sich zwar langsam, weil es durch die vielen Schlaglöcher schaukelte, aber Laura konnte es nicht einholen. Sie stolperte auf der Sandstraße und schlug der Länge nach hin. Ihre Pflegemama lief ihr hinterher und sammelte sie geradewegs ins häusliche Waschbecken ein, denn mit einer Hand war sie in einem Hundehaufen gelandet. Das Geschrubbe im Waschbecken war unangenehm und begleitet von Lauras Schluchzen. Das Waschbecken war viel zu hoch, ihr Arm war quasi hineingebogen und die Bürste tat auf der Haut weh. Was war nur los in ihrem Leben?

Kapitel 2

An einem warmen sonnigen Sommertag gingen Laura, ihre Oma und ihr Papa vom Parkplatz den langen breiten mit Betonplatten belegten Weg hoch über die langgezogenen Treppen zum Eingang des Krankenhauses. Es war ein großes graues Gebäude, und durch den Sonnenschein wirkte es friedlich. Die Stimmung bei ihrer Oma und ihrem Papa schien freundlich zu sein. Sie lächelten und scherzten miteinander. So jedenfalls empfand es Laura, denn sie selber war bester Laune. Heute wollten sie seit langer Zeit alle zusammen ihre Mama wiedersehen. Ihre Mama war noch da. Also war alles gut und die Welt wieder in Ordnung. Laura sprang fröhlich vor den anderen beiden vor und zurück, warf die Arme in die Luft, drehte sich im Kreis und fühlte sich fantastisch leicht und gutgelaunt. Ein paarmal wurde sie wohl ermahnt, nicht so übermütig zu sein. Laura sollte gleich ihre Mama wiedersehen! Wer konnte da artig neben den Erwachsenen hergehen? Die Tür zum Zimmer von Lauras Mama war geschlossen. Laura war zuerst am Türgriff, drückte ihn hinunter und betrat vorsichtig ein von der Sonne hell erleuchtetes Doppelzimmer. Das Bett ihrer Mama stand auf der linken Seite am Fenster. Laura lief überglücklich zu ihr. Sie lag im Bett und stand nicht auf. Sie hatte eine der vielen Operationen hinter sich, die auf den Unfall folgten. Ihr Oberkörper war hochgebettet, die Bettdecke hochgezogen. Laura war in der Zwischenzeit tüchtig gewachsen und überlegte nicht lange, sondern hüpfte hoch und landete im Bett ihrer Mama. Sie fühlte sich willkommen, denn Mama lächelte. Sie wollte ganz nah bei ihr sein, sie umarmen und von ihr gehalten werden. Sie dachte es könne doch nur in Ordnung sein, bei Mama im Bett zu sitzen. Doch da hatte sie sich gewaltig getäuscht. In dem Moment, als Laura im Bett aufkam, schrie ihre Mama schmerzerfüllt auf. Laura war auf ihren Beinen gelandet. Und die waren kaputt. Vor Lauras stürmischer Begrüßung schon, vom Unfall. Doch das hatte Laura niemand gesagt. Niemand hatte mit ihr über ihre Mama geredet. Wieso waren die Beine kaputt? Und warum waren sie und ihr Papa jetzt so böse auf sie? Laura wurde gescholten und musste vom Bett ihrer Mama wieder herunterklettern. Sie sollte sich vom Bett fernhalten und still sein. Laura war getroffen, das hatte sie doch nicht gewollt! Niemals wollte sie ihrer heißgeliebten Mama wehtun! Warum hatte sie denn niemand vorgewarnt? Jetzt war es zu spät. Die Beine ihrer Mama hatten zwar keinen weiteren Schaden genommen, aber die Stimmung war nun unterirdisch schlecht. Auch zwischen den Erwachsenen. Laura fühlte sich schuldig.

Viel später war ihre Mama wieder zu Hause. Ihr Zuhause war eine ca. 90 qm große Mietwohnung im dritten Stock ohne Fahrstuhl. Lauras Mama hatte eine schwere Kopfverletzung erlitten. Sie musste Sprechen und Schreiben neu lernen. Sie hatte Wortfindungsschwierigkeiten. Der Ast hatte ihren Kopf an der linken Seite hart getroffen. Lauras Mama hatte deswegen ganz kurze Haare. Vorher hatte sie wunderschöne wellige und füllige halblange Haare. Über dem linken Ohr hatte sie nun eine lange halbkreisförmige Narbe. Um den Hals trug sie tagsüber immer ein Halstuch oder einen Rollkragenpulli, um die Stelle in der Nähe ihres Kehlkopfes zu verdecken, durch die der Beatmungsschlauch geführt hatte. Elvira, so hieß ihre Mama, musste Krücken benutzen, um ein paar Schritte gehen zu können. Sie hatte nun auch einen Rollstuhl, doch ehrgeizig wie sie war, wollte sie lieber das Laufen trainieren. Ihre Beine waren zerschmettert, ihre Füße wurden ihr fast amputiert. Nur durch die Beharrlichkeit von Lauras Papa Willibald hatte Elvira ihre Füße noch. Allerdings waren es nun eher schmale Fleischklumpen als ansehnliche Füße. Sie waren leicht verdreht und verformt und mit Narben übersäht. In normalen Schuhen konnte Elvira nicht mehr laufen, sie benötigte teure Spezialanfertigungen vom orthopädischen Schuhmacher. Diese Schuhe waren zudem äußerst klobig und unterschiedlich hoch. Elvira hasste diese Schuhe. Alternativen gab es nicht. Treppensteigen konnte Elvira zu dieser Zeit noch nicht wieder. Also musste Willibald sie die drei Stockwerke zu ihrer Wohnung hinauftragen oder eben hinunter zum Auto. Einen Fahrstuhl gab es ja nicht.

Die Wohnung war hell und geräumig. Sie lag im dritten Wohnblock der Twiete im dritten Stockwerk am Ende des offenen Ganges. Zur linken Seite war eine kleine Gästetoilette. Wenn man dort auf den Toilettendeckel kletterte, konnte man durch das kleine Fenster nach unten auf die Kehre schauen. Geradedaus lag Lauras Zimmer. Wenn es regnete war es schön, den Tropfen beim Herunterrinnen an der Fensterscheibe zuzusehen. Wenn es nicht regnete, blickte Laura direkt in die im Sommer dichte grüne Baumkrone einer großen alten Birke. Neben Lauras Zimmer war Willibalds kleines Zimmer mit einem Sofa und einem Schrank. Gegenüber war die Küche. Sie hatte ein großes Fenster zur Außengalerie. Hier gab es einen Küchentisch und die übliche Küchenzeile. Die Küche war recht schmal aber gemütlich und durch das Fenster hell. Man konnte immer sehen, wer klingelte, denn die Haustür war unmittelbar rechts vom Fenster. Neben Willibalds Zimmer gab es eine schmale fensterlose Speisekammer, daneben folgte das große Wohnzimmer. An der rechten Wand stand eine lange dunkle Schrankwand. Gleich links war die Essecke mit vier Stühlen. Links im Raum war eine Couch. Wo war der Fernseher? Vielleicht gab es gar keinen. Die Fenster gingen im Wohnzimmer über die ganze Breite. Man hatte einen schönen Blick in die Baumkronen der Alleebäume der Straße, die unten entlanglief. Weiter entfernt konnte man im Dunkeln das rote Kreuz eines Krankenhauses leuchten sehen. Dazwischen waren weitläufige Felder. Am Ende der Schrankwand gab es eine Balkontür, die auf einen gemütlichen Balkon führte. Er war dem Schlafzimmer auf ganzer Breite vorgelagert. Durch das geöffnete Schlafzimmerfenster konnte man auf den Balkon klettern. Im Schlafzimmer war das Elternbett eingerahmt von einem großen weißen Schrank. Neben dem Schlafzimmer befand sich das fensterlose Bad. Klein und ausreichend. Mit Badewanne. Alles in allem eine sehr schöne Wohnung. Ohne Fahrstuhl.

Vielleicht war es die Zeit, bevor Elvira zurück nach Hause kam. Laura konnte sich nicht genau erinnern, denn Elvira war auch nach ihrer Heimkehr immer mal wieder längere Zeit nicht zu Hause. Willibald hatte in der Wohnung eine Klingel neben der Haustür angebracht, die Laura gut erreichen konnte. Die Klingel führte unmittelbar zur Wohnung der Nachbarin. Eines Tages wachte Laura morgens auf und suchte ihre Eltern. Die Wohnung war leer. Sie begann panisch zu weinen. Doch sie erinnerte sich daran, dass ihr Papa ihr von der Klingel erzählt hatte. Sie wollte nicht klingeln, sondern ihren Papa. Laura kletterte ans kleine Fenster im Gäste-WC. Dort unten sah sie den Mercedes ihres Papas langsam aus der Tiefgarage fahren und über die rechte Seite der Kehre die Twiete verlassen. Laura weinte und rief laut nach Papa. Sie klopfte ans Fenster, doch Willibald bemerkte sie nicht. Verzweifelt kletterte Laura wieder auf den Boden, suchte die Klingel und begann wild darauf herumzudrücken. Es konnte doch nicht sein, dass sie ganz allein in der Wohnung zurückgelassen worden ist! Draußen war es schon hell, doch in der Wohnung war es dunkel. Es dauerte nur kurz, dann öffnete sich die Haustür und die Nachbarin nahm Laura auf den Arm und tröstete sie. „Laura komm‘ her zu mir, wir gehen zu mir und frühstücken gemeinsam, ja?“ Rasch zog sie Laura etwas über und nahm sie mit in ihre Wohnung. Sie hatte einen Sohn, der schon ein paar Jahre älter war als Laura. Mit ihm kochte sie einmal Spaghetti im Spielgeschirr mit kaltem Wasser. Die Nachbarin schien viel zu Hause zu sein, sie war für Laura da. Aber Laura war nicht oft bei ihr. Etwas war Laura aufgefallen. Seit alles so anders war, war wirklich alles anders. Die anderen Mieter im Haus waren alle sehr freundlich, wenn Willibald Elvira huckepack in den dritten Stock trug oder eben hinunter zum Auto. Elvira war das alles gar nicht recht. Sie war sehr launisch. Man stelle sich vor, man schlafe im Auto gesund ein und wache in einem verletzten Körper wieder auf, nicht in der Lage zu sprechen, zu schreiben oder geradeaus zu denken. Willibald erzählte Laura später einmal, dass Elvira vorgehabt hatte, die Familie zu verlassen. Willibald kümmerte sich übermenschlich fürsorglich um Elvira, doch die schien das gar nicht zu wollen. Sie hielt es aus und spielte mit. Ihr blieb in ihrer gegenwärtigen Situation nichts anderes übrig. Man hatte Willibald wohl geraten, Elvira in ein betreutes Wohnen abzugeben. Laura erinnerte sich an einen Ausflug mit ihren Eltern aufs Land zu einem wunderschönen Haus. Es war sehr gemütlich eingerichtet, freundlich und hell. Die Stimmung unter den Bewohnern war gut. Rings um das Haus waren weite Felder und Wiesen. Laura gefiel es sehr gut dort, sie wäre am liebsten geblieben. Es hatte etwas von heiler Welt. Wieder hatte ihr niemand erzählt, aus welchem Grund sie dieses Haus besuchten. Viel später erfuhr sie, dass Elvira auf keinen Fall einziehen wollte.

Willibald versuchte alles, um den Familienalltag wieder herzustellen. Elvira musste neu lernen zu sprechen, zu schreiben und zu rechnen. Sie sollte den Haushalt weiterführen und für Laura da sein. Laura bekam das alles gar nicht so im Detail mit. Natürlich nahm sie die unglaubliche Anspannung in der Familie wahr. Niemand redete mit ihr. Niemand nahm sie beiseite und klärte sie über die neue Situation auf. Laura musste damit zurechtkommen, als sei alles schon immer so gewesen. So wurde Laura dann auch mit vier Jahren in einen Kindergarten gegeben. Für Laura war der Beginn dort so, als würde sie eine fremde Welt betreten. Ihre Oma Ingrid und ihre Mama Elvira waren einmal mit ihr gemeinsam dort, noch ziemlich zu Beginn. Laura sollte an diesem Tag ein weites Kleid tragen. Es war das erste Mal, dass Laura ein Kleid anhatte. „Nein, ich trage das nicht, darin sehe ich aus wie eine Tonne! Außerdem kann mir dann jeder unter den Rock schauen! Nein ich will das nicht anhaben!“ Sie musste in diesem Kleid in den Kindergarten gehen. Es passte einfach nicht. Laura wollte rennen und auf Bäume klettern und in diesem dämlichen Sack war das nicht möglich. Auch der um die Taille improvisierte Gürtel half nicht. Sie fühlte sich unverstanden und eingesperrt.

Der Kindergarten war für Laura ein merkwürdiger und spannender Ort zugleich. Ständig sollte man auf die Erzieherinnen hören und etwas dann tun, wenn man doch zu etwas ganz Anderem Lust hatte. Draußen zu spielen war Freiheit. Die frische Luft tat gut. Das Außengelände war weitläufig. In einer hinteren versteckten Ecke lagen dreieckige Kieselsteine. Die waren wunderschön! Wie konnten Steine in der Natur dreieckig sein? Es gab einen großen Kletterbaum. Er ließ sich wunderbar einfach beklettern. Einmal fiel Laura allerdings herunter und landete auf ihrem Rücken. Das hatte zur Folge, dass sie eine gefühlte Ewigkeit keine Luft mehr bekam. Danach kletterte sie nicht mehr auf diesen Baum. Laura war friedfertig, doch man unterstellte ihr, dass sie aggressiv sei. An einem Tag sollte Willibald sie sofort aus dem Kindergarten abholen. Nachdem er mit einer Erzieherin gesprochen hatte, war er richtig böse auf Laura. Der Vorwurf lautete, dass sie einem anderen Kind einen Ast ins Gesicht gehauen habe. Doch niemand hörte ihre Version. Sie war mit zwei anderen Kindern draußen am Spielen. Sie spielten Eisenbahnfahren. Laura war die Schrankenwärterin. Die Schranke war geschlossen und der Zugfahrer fuhr mit seinem Zug einfach dagegen. Der Zugfahrer und das dritte Kind petzten natürlich, dass Laura schuld gewesen sei. Aber das stimmte eben nicht. Wenn die Schranke heruntergelassen ist, muss der Zug doch anhalten? Laura fühlte sich sehr ungerecht behandelt.