Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown - Anne Helene Bubenzer - E-Book

Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown E-Book

Anne Helene Bubenzer

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Beschreibung

Henry N. Brown wird am 16. Juli 1921 als Teddybär geboren. Er erblickt das Licht der Welt, als ihm das zweite Auge angenäht wird. So beginnt ein Leben, wie es turbulenter nicht sein kann. Eine Odyssee durch Europa: durch England, Frankreich und Deutschland, Norwegen, Italien und Ungarn. Durch das zwanzigste Jahrhundert, durch Krieg und Frieden, durch Höhen und Tiefen - gesehen durch die Augen und erlebt mit dem Herzen eines Teddybären. Wie jeder Teddy ist auch Henry sprach- und bewegungslos. Er verbringt sein Leben als Zuhörer. Er ist den Menschen ein Spiegel. Er gibt ihnen all das, was sie nirgendwo anders finden. Er macht ihnen ihr Herz leichter. Henry N. Brown hat vieles erlebt und alles kennengelernt: Angst und Hoffnung, Einsamkeit und Trost, Sehnsucht und Glück. Doch während all der Jahre hat niemand entdeckt, dass Henry einen kleinen Gegenstand in der Brust trägt, den er für sich immer nur »Die Liebe« nennt. Ein Geheimnis, das er sein ganzes Leben lang bewahrt und das nicht einmal er selbst kennt. Ein Geheimnis, das ihn von allen anderen Bären unterscheidet ... Inspirierende Lektüre für alle, die über ihr Leben nachdenken wollen und auf der Suche nach Erkenntnis und spiritueller Erfahrung sind.

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Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2013

ISBN 978-3-492-96451-7

© 2008 Anne Helene Bubenzer Deutschsprachige Ausgabe: © 2008 Thiele Verlag in der Thiele & Brandstätter Verlag GmbH, München und Wien Umschlaggestaltung: Christina Krutz Umschlagmotiv: Christine Paxmann Datenkonvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Für meinen Pa, in Gedankenund für Wolfgang, in Liebe

Nicht Asche bewahren will ich,

Erlauben Sie mir,dass ich Ihnen Henry vorstelle.

Es ist sicherlich unüblich, dass ein Verleger seine Autoren persönlich vorstellt oder gar Vorworte schreibt. In diesem Fall muss ich jedoch eine Ausnahme machen. Der Protagonist dieses Buches, Henry N. Brown, ist nämlich mein Bär – es gibt ihn wirklich, er ist nicht eine von der Phantasie ausgedachte Romanfigur. Ja, ich hätte selbst nicht geglaubt, dass ich einmal einen Bären zu meinen Autoren zählen würde, aber das Leben steckt voller Überraschungen.

Ich habe Henry an einem dunklen Dezembernachmittag kurz vor der Jahrtausendwende in einem winzigen Laden in Wien entdeckt: Mitten unter Puppen und anderem Spielzeug saß er in dem kleinen Schaufenster und blickte in die Dämmerung hinaus. Seinen Kopf hielt er ein bisschen schief, als sei er schon etwas müde. Vielleicht gab er aber auch nur besonders acht, denn in seine Pfote war die Hand einer Puppe gelegt, die größer war als er und wie seine ältere Schwester wirkte.

Jedenfalls bewirkte sein anrührender Blick, dass ich das Geschäft betrat und den Bären aus dem Schaufenster holen ließ. Es stellte sich heraus, dass Henry seinen Kopf tatsächlich nicht mehr gerade halten konnte – er war schon etwas locker und bewegte sich entweder nach rechts oder links. Auch war sein Fell ziemlich abgeliebt; in der Herzgegend spürte ich sogar eine Druckstelle. Der Bär ist tatsächlich nicht mehr der Jüngste, dachte ich, er hat einige Jahrzehnte auf dem Buckel. Der wackelnde Kopf, die eingedrückte Stelle, das nicht mehr dichte Fell – er schien eine bewegte Vergangenheit zu haben. Irgendwie rührte dieser Bär mein Herz, und ich nahm ihn mit.

Er hieß natürlich nicht von Anfang an Henry, und das „N.“ in seinem Namen steht für die kaum definierbare Farbe seines Fells: Henry nearly Brown – Henry Fast Braun. Nein, richtig braun war er nicht, eher bräunlich, ocker oder safrangelb. Wie auch immer, er bekam diesen neuen Namen – nach so vielen anderen, die er wohl schon gehabt hatte.

Ich gab ihm einen Ehrenplatz in einer Vitrine. Hinter Glas, damit ihm der Staub nichts anhaben konnte. Dort saß er inmitten alter Bücher, silberner Bilderrahmen und anderer schöner Gegenstände und blickte Tag für Tag wie aus einem Fenster in die Welt meines Arbeitszimmers. In seinen Augen war stets ein melancholischer Blick. Was hatte er wohl schon alles gesehen und erlebt? Ich wusste es nicht.

Eines Tages befreite ich Henry aus seinem komfortablen Gefängnis, nahm ihn in den Arm, streichelte ihm über sein struppiges Fell. Und da begann der Bär auf einmal zu sprechen. Er erzählte mir sein Leben, sein wechselvolles und spannendes Leben. Ich sah die Welt plötzlich mit seinen Augen, aus der Bärenperspektive sozusagen. Ich erfuhr viel über die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts, ich lernte die Kinder kennen, die in diesem Bären einen besonders liebenswerten Spielgefährten hatten. Und einiges sehr Wichtiges über den Sinn des Lebens und das Geheimnis der Liebe lernte ich auch. Heute weiß ich: Wer auch immer sagt, er brauche keinen Bären und wisse mit ihm nichts anzufangen, hat ihn wahrscheinlich am nötigsten.

In der Autorin Anne Helene Bubenzer fand ich eine wunderbare Bärenchronistin, die das Leben des Henry N. Brown liebevoll und mit großer Weisheit aufgezeichnet hat. Dass in unserem Buch die Schriftstellerin den Bären erwirbt, ist ein kleines Zugeständnis an die Dramaturgie dieser wirklich unglaublichen Biografie. Alles andere ist so wahr, wie erlebte Geschichten eben wahr sind.

Und so freue ich mich, Ihnen Henry und seine Geschichte hier vorstellen zu dürfen. Er hat schon vielen Menschenkindern Trost gespendet, und manchmal – ich gestehe es – auch mir. Natürlich ist er der liebste und klügste Bär, den man sich nur vorstellen kann. Natürlich ist er ein Philosoph. Und natürlich hat er sein Herz auf dem rechten Fleck. Doch das haben Sie vermutlich schon geahnt.

Herzlichst

Ihr

JOHANNES THIELE

1

Vor einer halben Stunde habe ich an der Sicherheitskontrolle Alarm ausgelöst.

Die Schriftstellerin stellte ihre Tasche zum Durchleuchten auf das Band, und dann war es auch schon zu spät.

»Bitte, entschuldigen Sie, gnädige Frau, is des Ihre Taschen?«, fragte der österreichische Sicherheitsbeamte routiniert.

»Ja, die gehört mir«, sagte die Schriftstellerin.

»Können Sie die einmal öffnen, bittschön?«

»Natürlich«, erwiderte sie ganz freundlich und nett – so, wie ich sie kennen gelernt habe. So, wie sie von Anfang an gewesen ist.

»Is des Ihr Teddy?«, fragte der Sicherheitsbeamte formell und zog mich am Arm aus der Tasche.

»Ja«, wiederholte sie. »Der gehört mir.«

Es machte mich irgendwie stolz, wie sie das sagte. Sie ließ keinen Zweifel daran, dass wir zusammengehören. Sie ist meine Besitzerin.

»Sie reisen mit einem Teddy?«, fragte der Beamte weiter.

»Warum nicht?«, fragte sie zurück.

»A bissl komisch is des scho …«, murmelte der Mann.

»Also, was wollen Sie?« Ungeduld schwang in ihrer Frage mit.

Mir war dieses Verhör ebenfalls unangenehm. Ich mag es nicht, wenn mich fremde Menschen so am Arm halten, vor allem nicht, wenn sie dabei so förmlich sind. Das verheißt nichts Gutes, ich kenne das.

»Wir müssen uns Ihren Teddy einmal genauer anschauen«, sagte der Beamte. »Er ist auffällig.«

Ich war auffällig. Was hatte das zu bedeuten? Ich war auffällig. Dass ich nicht lache.

»Hören Sie«, sagte die Schriftstellerin jetzt gar nicht mehr freundlich und nett. »Ich weiß nicht, was für einen Scherz Sie sich mit mir erlauben, aber ich muss meinen Flieger nach München kriegen und bin ziemlich in Eile.«

»Des tut mir leid, gnädige Frau, aber ich kann Sie erst gehen lassen, wenn wir wissen, was den Alarm ausgelöst hat.«

»Er hat einen Alarm ausgelöst?«

Ich hatte Alarm ausgelöst. Wieso hatte ich Alarm ausgelöst? Ich hielt die Luft an.

»Offensichtlich befindet sich im Körper Ihres Teddys ein auffälliger Gegenstand«, fuhr der Mann fort. »Können Sie uns sagen, worum es sich dabei handelt?«

»Ein Gegenstand? Was ist das hier? Versteckte Kamera? Lieber Herr, äh, wie ist gleich Ihr Name –«

»Das tut nichts zur Sache.«

»Also gut, mein Herr, ich habe diesen Bären vor ungefähr achtundvierzig Stunden in einem kleinen Puppenladen in einer Seitengasse der Kärntner Straße käuflich erworben. Dort hatte er zuvor mindestens drei Jahre im Schaufenster gesessen. Ich habe ihn seither keine Sekunde aus meiner Obhut gelassen. Ich glaube ernsthaft, dass Sie Ihre und vor allem meine Zeit verschwenden, wenn Sie mich für ein Al-Qaida-Mitglied halten und diesen alten Stoffbären für Osama bin Laden.«

Die Schriftstellerin war wütend. Das verstand ich. Das Problem war bloß, dass der Sicherheitsbeamte recht hat. Ich trage etwas in mir.

»Gnädigste, jetzt regen Sie sich bittschön mal wieder ab«, sagte er. »Und dann schicken wir Ihr Bärchen noch einmal durch. Dorle, geh, sei so lieb, schick den Teddy noch einmal durch!«

Er reichte mich in die Hände einer Frau, die legte mich in eine graue Plastikwanne, und ich fuhr noch einmal durch den dunklen Röntgentunnel. Ich spürte nichts.

»Da, schaun S’«, sagte der Beamte zur Schriftstellerin und deutete auf einen Monitor neben dem Band, als die Gummistreifen über mich strichen und ich wieder ans Tageslicht kam. »Man kann es ganz deutlich erkennen. Da wollen Sie doch bitte nichts dagegen sagen.«

»Nein«, sagte die Schriftstellerin. »Jetzt sehe ich es auch.«

Alle sahen es. In einem bunten Farbspektrum erstrahlte auf dem Bildschirm mein Umriss, und in mir drin war ein graues Etwas zu sehen. »Das da«, sagte der Beamte, »der graue Gegenstand, der ist auffällig.«

Ich war erstaunt, erschreckt und konsterniert. Die Tatsache, dass es möglich ist, ohne Weiteres durch mich hindurchzusehen, traf mich völlig unvorbereitet. Es ist offenbar ein Leichtes, mein Innerstes zu betrachten und das zu entdecken, was ich während der vergangenen vierundachtzig Jahre für mein best gehütetes Geheimnis gehalten habe.

Hier am Flughafen Wien-Schwechat hat ein Sicherheitsbeamter dieses Geheimnis entdeckt und es mit dem schnöden Wort »auffällig« in einer Art und Weise herabgewürdigt, dass mir ganz übel wurde.

»Und jetzt?«, fragte die Schriftstellerin.

»Können Sie Ihren Bären öffnen?«, fragte der Beamte.

»Machen Sie Witze?«, fragte die Schriftstellerin. »Dieser Bär wird nicht geöffnet. Er ist eine Rarität, verstehen Sie? Er ist mindesten siebzig Jahre alt, wenn nicht noch älter. Ich habe eine Menge Geld dafür bezahlt. So einen Teddy macht man nicht einfach auf.«

»Uns wird leider nichts anderes übrig bleiben. Wir werden versuchen, den Schaden so gering wie möglich zu halten. Wenn er sich als ungefährlich herausstellt, können Sie ihn ja wieder zunähen.«

Er will mich aufschneiden? Mich aufschneiden? Das wirst du doch nicht zulassen!

»Also, das glaube ich jetzt nicht!«, rief die Schriftstellerin aufgebracht. »Das kann ja wohl nicht wahr sein. Hier passiert erst mal gar nichts, so lange ich nicht mit Ihrem Vorgesetzten gesprochen habe, Herr Das-tut-nichts-zur-Sache.«

Der Sicherheitsbeamte sprach in sein Walkie-Talkie, es knatterte und rauschte, Dorle, die Röntgenfrau, hatte sich inzwischen zu uns gesellt, und die Schriftstellerin nahm mich aus der Plastikwanne und strich mir über den Kopf, als wolle sie mich beruhigen. Dabei beruhigte sie sich doch nur selbst. Ich kenne dieses abwesende, automatische Streicheln von Kindern und Erwachsenen – in diesem Punkt sind sie alle gleich.

»Legen Sie den Bären zurück«, sagte Dorle ruhig, aber bestimmt.

Die Schriftstellerin reagierte nicht. Sie strich weiter über meinen Kopf.

»Sie legen sofort den Bären zurück«, rief der Beamte aufgeregt. »Hinlegen, sag ich.« Er griff nach seiner Waffe.

»Schon gut, bitte, ich bin ganz harmlos«, sagte sie nun auch erschrocken und legte mich vorsichtig zurück in die Wanne.

Nein, halt mich fest! Halt mich fest! Bitte, halt mich fest.

Um uns herum blieben die Leute stehen, alle schauten herüber, neugierig, besorgt, belustigt, wütend, weil wir den Betrieb aufhielten. Doch keiner half uns.

»Bitte, gehen Sie weiter, meine Herrschaften, es gibt hier nichts zu sehen«, sagte Dorle.

»Sie zeigen uns jetzt erst einmal Ihre Bordkarte. Und sicher haben Sie doch auch einen Namen«, sagte der Beamte.

»Jeder hat einen Namen«, schoss die Schriftstellerin zurück und hielt ihm ihren Reisepass hin, in dem die Bordkarte steckte.

Da fiel mir auf, dass ich gar nicht wusste, wie sie heißt. So ist das manchmal, neue Besitzer stellen sich selten mit Namen vor. Eigentlich ist das auch unerheblich, denn früher oder später bekommt man ja mit, wie sie genannt werden. Doch ich kann nicht leugnen, dass es mir gerade jetzt lieber wäre, ich wüsste, wie sie heißt.

»So, gnädige Frau, dann kommen S’ bittschön mal mit, und dann klären wir die Sache in Ruhe«, sagte Dorle.

»Und was ist mit meinem Flug?«

»Das sehen wir dann.«

Der Beamte nahm die Plastikwanne unter den Arm, die Schriftstellerin folgte ihm und Dorle bildete die Nachhut. Ich lag mit dem Gesicht nach unten, die Nase gegen das kühle Plastik gedrückt. Das Funkgerät knisterte, die Schritte hallten.

»Bitte, das kann doch nur ein Missverständnis sein«, sagte die Schriftstellerin jetzt. »Was soll denn an einem so alten Teddy Schlimmes sein? Sehen Sie ihn sich doch einmal an.«

»Verzeihung, gnädige Frau, aber darauf können wir keine Rücksicht nehmen. Was glauben Sie denn, wie Terrorismus funktioniert?«, sagte der Beamte herablassend.

Wir betraten einen Raum, die Wanne wurde unsanft auf den Tisch gestellt, Stühle wurden gerückt.

»Wir nehmen jetzt Ihre Personalien auf, und dann kommt ein Kollege von der Polizei und schaut sich Ihren kleinen Freund einmal an. Wenn Sie jetzt kooperieren, sind wir ganz schnell fertig und Sie schaffen es heute vielleicht doch noch nach München. Es ist einfach eine notwendige Sicherheitsmaßnahme.«

»Denken Sie doch mal nach!«, rief die Schriftstellerin jetzt mit Verzweiflung in der Stimme. »Wenn ich wirklich eine Bombe in meinem Bär versteckt hätte, würde ich wohl kaum nach München fliegen, sondern nach Washington. Oder glauben Sie, ich würde mir wegen dem bayerischen Ministerpräsidenten so eine Mühe machen?«

Sie war toll. Sie kämpfte für mich – und ich hatte ein schlechtes Gewissen. Sie kannte ja mein Geheimnis nicht. Niemand kannte es, außer Alice. Und Alice, dieser Gedanke trifft mich immer wieder hart, war sicher schon lange tot.

»Bitte, wie Sie wollen«, sagte der Beamte. »Dorle, bring die Dame bitte ins V1. Ich kümmere mich um den Teddy.«

Geh nicht weg, bleib hier, lass mich nicht allein. Nicht weggehen!

»Ich komme wieder«, sagte die Schriftstellerin leise, aber bestimmt. Und ich wusste nicht, ob sie es zu mir sagte oder zu dem unangenehmen Sicherheitsbeamten. »Und wehe, dem Teddy ist auch nur ein Haar gekrümmt!«, setzte sie drohend hinzu.

Ich hörte, wie sich die Tür öffnete, die junge Frau verschwand aus meinem Blickfeld und das Letzte, was ich von ihr vernahm, war der Satz: »Das ist schon wieder so eine unglaubliche Geschichte, die müsste man glatt aufschreiben. So was glaubt einem ja keiner.«

Und jetzt liege ich hier. Es ist still, nur eine Neonröhre summt leise und eine Fliege sucht vergeblich den Weg hinaus aus dem Fenster. Der Beamte ist weggegangen, um seinen Kollegen mit dem Messer zu holen, oder womit auch immer er gedenkt, mich aufzuschneiden. Er hat das Büro dreifach abgeschlossen. Es ist ein schreckliches Gefühl. Ich habe Angst, und ausnahmsweise nicht um jemand anderen, sondern um mich. Denn ich kann mir nicht vorstellen, dass ich es überlebe, wenn man mir die Brust aufschneidet und die Liebe herausnimmt.

So. Jetzt ist es gesagt.

Der graue Etwas in meiner Brust, das ist die Liebe. So hat Alice es damals erklärt, also ist daran nicht zu rütteln. Und sie hat auch gesagt, dass es das Wertvollste ist, was es gibt. Das können sie mir doch nicht einfach wegnehmen!

Manchmal werden Menschen aufgeschnitten und ihnen wird etwas herausgenommen. Einige überleben das. Ich habe lange genug bei Bernard gelebt, um das genau zu wissen. Aber kann man auch einen Bären aufschneiden und die Liebe entfernen, ohne dass er dabei stirbt? Diese Ungewissheit macht mich ganz krank.

Dabei fing die Woche so gut an. Was heißt gut, sie fing blendend an. Die Schriftstellerin hatte mich aus dem eintönigen Dasein einer Schaufensterdekoration befreit. Ich hatte nicht drei, sondern fünf Jahre dort gesessen, doch das wusste sie natürlich nicht, als sie den Beamten belog.

Fünf Jahre mit der gleichen Aussicht, im wechselnden Licht von Sonne und Straßenlaternen. Fünf Jahre mit unzähligen Menschen, die sich am Fenster die Nasen platt drückten und doch nie hereinkamen. Gleichförmig flossen Wochen, Monate und Jahre ineinander. Und ab und an fuhr ein Fiaker vorüber.

Auf Regen folgte Sonnenschein. Manchmal war Sommer, manchmal Winter. Im Sommer blieben häufiger Leute stehen. Kinder, die mich und die anderen im Fenster anstarrten, mit hungrigen Augen, und auf mich zeigten. Eltern, die nach wenigen Minuten die Kinder an der Hand nahmen und ungeduldig weiterzogen. Im Winter eilten eigentlich alle vorüber. Die Mantelkrägen hochgeschlagen, die Mützen tief ins Gesicht gezogen.

Es war eine ruhige Zeit. Die letzten fünfzehn Jahre waren eine ruhige Zeit. Zu ruhig, wenn es nach mir geht. Ich bin ein Bär, der viel erlebt hat, einer, der lieber mal im Eifer des Gefechts herunterfällt, als hinter Glas in Schönheit zu sterben. Aber es ist eindeutig, dass ich als Spielzeug wirklich nicht mehr gefragt bin. Die Leute. Sie schauen mich an wie ein Relikt grauer Vorzeit. Sie erkennen vielleicht in den Tiefen ihres Herzens eine Sehnsucht nach einem Spielzeug, wie ich es bin. Doch man spielt heute anders als zu der Zeit, als ich entstand. Das habe ich in den letzten Jahren gelernt: Alles muss schnell gehen, einen Effekt haben und diesen nach Möglichkeit vollautomatisch. Und so bin ich nicht. Zum Glück. Oder leider?

Einmal traute sich ein kleines Mädchen nach langem Schaufenstergucken schließlich in den Laden und fragte den alten Ferdinand:

»Was kann der denn?« Dabei zeigte sie auf mich.

»Wie meinst du das?«, fragte er zurück.

»Na ja, kann er irgendwas?«

»Er kann Geschichten erzählen, wenn du gut hinhörst.«

»Sonst nichts?«

»Nein. Sonst nichts.«

»Wie blöd«, sagte sie enttäuscht und dann: »Auf Wiederschaun.«

Die Türglocke bimmelte, als sie hinausging.

Ich blieb also, wo ich war, und hatte genügend Zeit, Bilanz zu ziehen. Ich war ausrangiert und überflüssig und wähnte mich am Ende meines Bärenlebens. Ist das nicht Grund genug, sich ein bisschen leid zu tun? Ich ahnte schließlich nicht, was auf mich zukam. Wenn ich meine jetzige Situation genau besehe, frage ich mich auch, ob ich im Schaufenster nicht besser aufgehoben war.

Aber wie gesagt, die Woche fing blendend an. Vorgestern Nachmittag war besagte junge Frau in den Laden gekommen und mit ihr eine Ahnung frischer Frühlingsluft.

»Grüß Gott«, sagte sie in das graue Zwielicht des Ladens. Niemand antwortete. Es blieb ganz still, nur das bedächtige Ticken der großen Standuhr war zu hören.

»Hallo?«, rief sie. »Ist hier jemand?«

»Ja, ja«, brummte es aus dem Dunkel. »Was ist denn los.«

Ferdinand tauchte hinter einem Bücherregal auf, und das Schlagwerk der Uhr kündigte mit einem leisen Klicken an, dass bald wieder eine neue Stunde eingeläutet würde.

»Ich wollte fragen, was der Bär im Fenster kostet«, hörte ich sie sagen.

»Welcher?«

»Der mit dem schiefen Kopf.«

»Der ist alt.«

»Ja«, sagte sie. »Das sieht man. Wie alt denn?«

»Mindestens siebzig, eher achtzig Jahre«, sagte Ferdinand.

»Und was kostet er?«

»Wie gesagt, er ist alt.«

»Ja«, sagte sie. »Ich weiß.«

»Sagen wir hundert.«

»Hundert Euro?«, fragte sie erstaunt.

Was machst du denn da? Wieso verlangst du so viel? So kauft sie mich doch nie!

Endlich interessierte sich jemand für mich, und dann gebärdete sich Ferdinand, als wäre ich aus purem Gold.

Ich hoffte inständig, dass nicht auch sie »wie blöd« sagen und den Laden wieder verlassen würde. Es wäre so schön, einmal wieder eine neue Aussicht zu genießen, jemanden zu haben, der mich … Ich traute mich kaum, diesen Gedanken weiter zu denken. Nach nochmaligem Klicken begann die Uhr zu schlagen. Der warme Ton des Geläuts klang durch den Raum. Ich zählte, um mich zu beruhigen.

»Wie gesagt …«, brummte Ferdinand.

»Ja, er ist alt. Ich weiß.«

»Sammler würden für so einen …«

»Aber er ist kein Sammlerstück«, unterbrach sie ihn.

»Kennen Sie sich aus?«, fragte er skeptisch.

»Gut genug, um zu sehen, dass er nicht aus einer bekannten Manufaktur stammt. Also, was meinen Sie … achtzig?«, fragte sie ruhig.

»Was? Achtzig? Nein, wirklich.«

»Kommen Sie, achtzig ist doch wirklich ein guter Preis für so einen lädierten Bären.«

Was sagte sie? Lädiert? Fast wünschte ich, er würde den Preis wieder heraufsetzen. Zu einer Person, die mich nicht wertschätzte, wollte ich nicht. Das war noch nie gut gegangen.

»Vergessen Sie nicht, dass das ein Bär mit Geschichte ist. Wer weiß, was der alles erzählen könnte.«

»Ja, das glaube ich Ihnen sogar«, antwortete sie und lachte leise.

»Also fünfundachtzig müssen es schon sein.«

»Sie sind zäh«, sagte sie. »Aber ich auch. Hier haben Sie dreiundachtzig. Wegen der Geschichten, die in ihm drinstecken.«

Ferdinand brummelte etwas, und plötzlich fiel sein Schatten von hinten über mich. Er beugte sich ins Schaufenster, hob mich hoch, schüttelte mir den Staub aus dem Fell und pustete mir kurz mit seinem Pfeifentabakatem ins Gesicht, wie er es einmal pro Halbjahr tat, wenn er das Fenster saubermachte.

»So. Bittschön. Passen S’ gut drauf auf, wenn Sie mich schon so übern Tisch ziehen.«

»Danke sehr«, sagte die junge Frau. »Ich habe einen guten Platz für ihn.«

Ich bekam eine Plastiktüte über den Kopf und hatte eine neue Besitzerin.

Es ist immer wieder das gleiche Kribbeln, wenn man einen neuen Besitzer hat. Es ist aufregend. Auch nach all diesen Jahren. So viele Hoffnungen knüpfen sich daran, selbst wenn man sich geschworen hat, diesmal wirklich nichts zu erwarten.

Sie trug mich hinaus in den Frühlingstag, und ich war wieder wer. Ein Bär mit Geschichte, hatte Ferdinand gesagt. Und dabei nicht gelogen.

Abends im Hotel wurde ich vorsichtig auf einen Sessel gesetzt.

Die Schriftstellerin hatte ein schönes Zimmer, die Einrichtung erinnerte mich ein wenig an früher, an meine Zeit in London. Das Bett war groß mit einem riesigen Kopfteil und zahlreichen dicken Kissen, die Stühle hatten geschwungene Beine und rosébeige gestreifte Seidenbezüge, und vor dem nicht gerade sauberen Fenster hingen schwere Samtvorhänge. Der Sessel, auf dem ich saß, war aus altrosa Plüsch, und ich fand, dass ich mich hervorragend darauf machte. Viel besser als im Schaufenster jedenfalls.

Sie hatte mich bewusst so hingesetzt, dass mein leicht nach rechts geneigter Kopf an der Armlehne ruhte. Es war gemütlicher so. Ich freute mich, dass sie mich so liebevoll behandelte. Sanfte Hände hatten mir gefehlt.

»So«, sagte sie und band ihre dunklen Haare mit einer schnellen Bewegung zu einem Pferdeschwanz zusammen. »Dann erzähl mal.«

Sie ließ sich mir gegenüber auf dem Bett nieder und sah mich an.

Ich hätte so viel zu erzählen. Durchdringend erwiderte ich ihren Blick, vielleicht hörte sie mich ja doch, wenn ich mir Mühe gab.

Ich bin Weltbürger, aber gebürtiger Engländer, Bath 1921. Ich, also …

Ich war atemlos vor Aufregung.

»Na, was habe ich auch erwartet«, sagte sie dann in das Schweigen. »Wir kennen uns ja kaum. Aber ich kann mir denken, dass du eine Menge erlebt hast. Was du wohl über die Menschen denkst? Wo du wohl herkommst? Und alles musst du für dich behalten, armer Bär.«

Sie hatte mein Dilemma sofort erkannt. Schneller als ich selbst damals, als ich noch jung und ungestüm und voller niemals erlöstem Tatendrang war.

»Eines verspreche ich dir«, sagte sie. »Du musst nie mehr in ein Schaufenster. Bei mir zu Hause bekommst du einen Ehrenplatz. Und wenn wir uns ein wenig besser kennen, erzählst du mir vielleicht auch ein bisschen von dir. Ich bin Schriftstellerin, weißt du, ich liebe Geschichten!«

Ich wäre ihr am liebsten um den Hals gefallen.

Ja, das sagt sich so schön und hört sich so selbstverständlich an, aber ich brauche mich nicht einmal bemühen, den Arm zu heben. Das tue ich schon lange nicht mehr, denn sagen wir mal so, Bewegung ist nicht gerade meine Stärke. Wenn ich mich freue, tue ich das still, doch umso mehr.

Dass sich nach so vielen Jahren jemand für meine Geschichten interessierte, war die Erfüllung eines lang gehegten Traumes. Ich schwebte auf Wolke sieben und versank in wohliger Zufriedenheit. Es war ja nicht auszudenken gewesen, dass diese viel versprechende Begegnung ein so jähes Ende nehmen würde.

Das alles ist kaum einen Tag her. Und jetzt? Was geschieht nun mit mir? Ist mein Weg, meine Geschichte wirklich hier im Hinterzimmer des Wiener Flughafens zu Ende? Werde ich in Einzelteilen in einem blauen Plastiksack landen, der irgendwo weit vor den Toren der Stadt auf eine stinkende Müllkippe gekarrt wird? Soll es so sein?

Etwas in mir weigert sich, das zu glauben.

So häufig schon bin ich in scheinbar ausweglosen Situationen gewesen, aber ich habe nie aufgegeben. Im unverbrüchlichen Glauben an das Morgen habe ich viel Zeit in Dunkelheit, Einsamkeit und Angst verbracht und war doch immer der Hoffnung, dass jemand mich rechtzeitig retten würde, dass am nächsten Tag einer käme, um mich aufzuheben, mich in die Arme zu schließen und in sein Leben aufzunehmen. Und es war immer ein Mensch gekommen. Und wenn nicht am nächsten, dann doch an einem anderen Tag.

Heute weiß ich: Mein Leben geschieht, ob ich mir nun Sorgen mache oder nicht. Ich bin ein Bär. Ich kann nie etwas am Ausgang der Dinge ändern. Fest steht aber, dass ich bis jetzt noch immer überlebt habe.

Der Mensch sorgt sich immer als Erstes um sich selbst und glaubt, er könne den Lauf der Dinge beeinflussen. Und dann stirbt er doch. Darin liegt wohl der entscheidende Unterschied zwischen Mensch und Bär.

Irgendjemand – vermutlich war es Victor, denn der war so klug – hat mal gesagt, man sei durch die Geburt zum Sterben verurteilt. Ich habe mir über diesen Satz nie wirklich Gedanken gemacht. Doch nun lässt mich die Frage nicht los, ob das nur für Menschen oder auch für Teddybären gilt.

ICH BIN

Ich erblickte das Licht der Welt, als Alice Sheridan mir das zweite Auge annähte. Das war in Bath, am Samstag, den 16. Juli 1921, kurz vor dem Fünf-Uhr-Tee. Sie wollte mit mir fertig sein, bevor ihre Freundin Elizabeth mit dem Kuchen kam.

»So«, sagte Alice und hielt mich am ausgestreckten Arm von sich, »das hätten wir. Hübsch siehst du aus.«

Ich schaute aus der luftigen Höhe von ungefähr einem Meter dreißig hinunter auf eine Frau Mitte zwanzig, die in einem großen braunen Ledersessel saß, den Blick prüfend auf mich gerichtet. Sie hatte dunkelblondes Haar, sehr grüne Augen und einen großen roten Mund. Ich sah sie an, und mir wurde ganz schwindelig. Sie war schön, und ich konnte mit eigenen Augen sehen, wie sich ihr Haar in Wellen um ihr Gesicht legte, wie sich beim Sprechen um ihre Mundwinkel kleine Furchen zeigten, wie es in ihren Augen blitzte. Ich konnte sehen!

Und aus dem roten Mund waren in ihrer warmen Altstimme die Worte gekommen, die ich soeben vernommen hatte. Meine Sinne waren zum Leben erweckt.

Ich hörte. Ich sah. Ich war.

Alice setzte mich auf ihrem Schoß zurecht, strich mir über den Kopf und ihre Augen wanderten aus dem Fenster.

»William hätte dich gemocht, weißt du. Da bin ich mir ganz sicher«, sagte sie dann mit leiser Stimme und schien mich in derselben Sekunde vergessen zu haben. Sie umfasste mich von hinten fest und sicher, wie man einen Säugling hält. Und während ich zum ersten Mal mein neues Zuhause sah, verlor sich ihr Blick im Grau vor dem Fenster.

Es ist dieser Moment, diese Umarmung, die mir als erste deutliche Erinnerung geblieben ist: Alices warme Hand auf meinem Bauch und die Ruhe und Vertrautheit, die in dieser Geste lagen. Doch wie prägend diese Sekunden waren, ging mir erst viel, viel später auf.

Ich war in jenem Augenblick so aufgeregt und so sehr damit beschäftigt, meine Umgebung wahrzunehmen, dass es mich nicht einmal störte, dass Alice mit ihren Gedanken ganz woanders war. Überwältigt von den Eindrücken, die auf mich einstürzten, saß ich da: Bilder, Geräusche, Gerüche – ich war wie berauscht. Es war herrlich, auf der Welt zu sein!

Ich sah alles: Alices Finger waren schmal und fein, das Leder des Sessels hingegen rissig und spröde. Im Schein der Lampe tanzte leicht der Staub. Eine kleine Spinne saß über der Tür, und auf dem Tisch war eine Nadel liegen geblieben. Es war faszinierend. Als ich einige Jahre später in New York einmal die Gelegenheit bekam, durch die Lupe von Grandpa Greg zu sehen, musste ich an diese ersten Minuten meines Lebens denken: Durch das Vergrößerungsglas wurde jedes Detail überdimensional groß, und Dinge, die man sonst nicht einmal wahrnahm, wurden plötzlich klar erkennbar. So ähnlich sah ich die Welt an meinem ersten Tag: scharf und deutlich und ungemein vielfältig. Alice Sheridans kleine englische Stadthauswohnung war Terra incognita – und ich war gekommen, sie zu entdecken.

Meine Geburtsstube war der Salon. Die beigefarbenen Seidentapeten waren mit weißen Blumenornamenten übersät und sahen freundlich, wenngleich auch schon zu dieser Zeit ein wenig altmodisch aus. Ein Bücherschrank aus dunklem Holz stand an der Wand, und die bunten Buchrücken brachten ein wenig Farbe herein.

In der Mitte des Raumes stand eine Recamière aus rotem Samt, davor ein niedriger Tisch, und unter einer Stehlampe in der Ecke thronte ein riesiger brauner Ledersessel – das Pendant zu dem Sessel am Fenster, in dem wir jetzt saßen und noch oft sitzen würden. Neben uns stand ein großer Korb, aus dem allerhand Stoffreste, Garnrollen, Knöpfe und andere Näh-Utensilien unordentlich hervorquollen. Es war der Korb, dem ich entstiegen sein musste – ich erkannte einen Stoff, der meinem Fell ziemlich ähnlich sah, und begann gerade, mich zu fragen, woher genau ich eigentlich kam, da schreckte Alice aus ihren Träumen auf. Sie fuhr hoch, schüttelte kurz den Kopf, wie um die Gedanken zu vertreiben, die sie für einen Augenblick lang gefangen gehalten hatten, und sagte:

»Herrje, hier sitze ich und träume, dabei steht sicher jeden Moment Elizabeth vor der Tür.« Sie sah mich an. »Fehlt nur noch ein passender Name für dich.«

Ihr Blick schweifte nach links, nachdenklich, aber hellwach, und ihre Stimme klang fast fröhlich, als sie ausrief: »Wir nennen dich Henry. Du siehst aus wie ein richtiger Henry. Henrys haben eine positive Ausstrahlung, weißt du? Und schön braun bist du. Also, Henry Brown, sei ein anständiger Bär, verstanden?«

Wie leicht sie es dahinsagte! Als würde sie jeden Tag Teddybären mit Namen versehen. Doch für mich war dies ein erhebender Moment. Denn eines weiß ich genau: Namen sucht man sich nicht aus. Sie kommen zu einem, passen zu einem und sind ein Leben lang die einzige Beschreibung, die auf einen zutrifft. Ich hieß nicht einfach irgendwann einmal Henry Brown. Ich bin bis heute Henry Brown, schlicht und ergreifend – auch wenn ich später noch viele andere Namen bekam (von denen ich manch einen lieber dem Vergessen anheimwünsche).

Henry Brown, that’s me.

Nicht besonders aufregend auf den ersten Blick, aber doch ein Name mit Zukunft, das ist wohl nicht zu bestreiten. Ich führte den Namen Brown bereits zu einem Zeitpunkt, als weder der Zeichner noch die Idee eines gewissen »Charlie« überhaupt geboren waren, und auch James, Gordon, Rita Mae, Dan und wie die anderen berühmten Browns alle heißen, kamen nach mir, doch das nur am Rande.

Ich ließ mir die beiden Worte auf der Zunge zergehen. Henry Brown. Das war mein Name, und ich war hochzufrieden mit ihm. Ich weiß, es gibt da noch dieses »N.«. Das war nicht von Anfang an da, und ich persönlich finde es noch immer völlig überflüssig. Dieses sperrige Faktum drängelte sich im Laufe des Nachmittags zwischen Vor- und Nachnamen, sozusagen als ewiges Mahnmal meiner ersten Demütigung. Überhaupt lief an meinem ersten Tag nicht alles reibungslos …

Alice gab mir einen Klaps auf den Rücken, nahm mich hoch und stemmte sich aus dem Sessel.

»Jetzt muss ich mich aber sputen und das Teewasser aufsetzen«, rief sie aus und verschwand aus meinem Blickfeld.

Ich blieb allein auf der Fensterbank zurück. Kühle Luft zog über meine noch frischen Ohren. Ich lehnte mit der Wange an die Scheibe gedrückt, meine Augen klickerten gegen das Glas, und ich spähte in die neue Welt. Fahles Licht fiel ins Zimmer, es war das Zwielicht regnerischer Nachmittage. Mir gefiel das. Bis heute habe ich nichts gegen Regen. Ich kann auch nicht verstehen, warum die Leute nie müde werden, sich darüber zu beklagen. Der Regen treibt die Menschen nach Hause ins Warme. Soweit ich mich erinnere, fielen den Kindern die schönsten Spiele immer an Regentagen ein – mit Ausnahme von Robert, der hatte bei jedem Wetter neue Ideen.

Ich kann nicht sagen, wie viel Zeit verging. Es mögen Minuten oder Stunden gewesen sein, die ich damit verbrachte, Menschen, Automobile und Busse, Pferdefuhrwerke und Regentropfen zu betrachten. Der kleine Erker im Erdgeschoss war der Manvers Street zugewandt und hatte freien Blick auf das Stadtgeschehen von Bath. Ich kam aus dem Staunen nicht heraus und war erfüllt von einem unbändigen Drang nach Leben.

Es klingelte ungeduldig.

»Himmel, das ist Elizabeth, und ich bin noch nicht einmal frisiert«, hörte ich Alice rufen, obwohl ich sie nicht sah, und ich fragte mich, mit wem sie sprach.

Ich vernahm allerlei Geräusche, und plötzlich kam Elizabeth Newman und mit ihr ein Schwall kalter Luft und vieler Worte herein.

»Nein, was für ein Wetter, da prügelt man ja nicht mal einen Straßenköter vor die Tür, hab ich nicht recht? Herrjemine. Schau dir nur meine Schuhe an, völlig durchweicht. Ich sag ja, nicht mal einen Straßenköter. Aber versprochen ist versprochen, nicht wahr, keine Widerworte jetzt Alice. Und du hast ja leider keinen Fernsprecher.«

Sie schüttelte missbilligend den Kopf, schlug energisch ihren Schirm aus, und Alice gelang es »Der Tee ist schon fertig« dazwischenzuschieben, bevor Elizabeth ihr Klagelied fortsetzte.

»Liebes, ich sage dir, es ist ungeheuerlich, was einem heutzutage alles zugemutet wird. Der Autobus kam ganze zehn Minuten zu spät, und ich stand dort im strömenden Regen. Und dann hatte ich nicht einmal einen Sitzplatz und musste hinten auf der Plattform mitfahren. Man sollte sich beschweren, wenn man nur wüsste, wo.«

In diesem Ton plätscherte ihr Gerede dahin, wie ein munterer Gebirgsbach nach der Schneeschmelze. Ich saß verwundert da und sog jedes Wort begierig auf. Ach, wie neu das alles für mich war. Hätte ich gewusst, dass es eine meiner wichtigsten Aufgaben werden würde, den Menschen zuzuhören, wäre ich in jenem Moment vielleicht nicht ganz so enthusiastisch gewesen.

Teddys sind von Natur aus Zuhörer. Ein Bär verschließt alles, was man ihm sagt, tief in seinem Herzen. Geheimnisse sind bei unsereinem gut aufgehoben. Ich habe im Laufe der Jahre viel gehört. Manches hätte ich lieber nicht gewusst. Vieles habe ich nicht gutgeheißen. Doch ich habe meine Ohren niemandem verschlossen. Sie sehen vor sich einen der größten Zuhörer dieses und des vergangenen Jahrhunderts – in seiner Geburtsstunde auf die Probe gestellt von Mrs Elizabeth Newman.

Die beiden Frauen nahmen im Salon Platz. Ich hatte einen hervorragenden Blick auf das Geschehen in der Sitzgruppe und konnte so den ersten Teebesuch meines Lebens hautnah mitverfolgen. Alice hatte kleine Teller eingedeckt, zartes weißes Porzellan, das jedoch deutliche Gebrauchsspuren aufwies. Die Tassen passten im Stil dazu, ebenso die Zuckerdose und das Milchkännchen. Winzig kleine Silberlöffelchen lagen auf den Untertassen, eine Zuckerzange ruhte auf dem weißen Tischtuch. Was vor einer Stunde noch die Nähstube einer alleinstehenden Frau gewesen war, hatte sich mit ein paar Handgriffen in einen ansehnlichen Salon verwandelt. In einer dreistöckigen Etagère aus Silber lagen unten Äpfel und Orangen, in der Mitte Bananen und Kirschen und ganz oben kandierter Ingwer und selbstgebackenes Shortbread. Elizabeth hatte bunte Sahnetörtchen mitgebracht, die inzwischen andächtig verspeist wurden.

Der Kuchen verschlug der Besucherin für einen Moment die Sprache. Dann fragte sie zwischen zwei Bissen:

»Hast du Neuigkeiten wegen William?«

Alice senkte den Kopf. Es wurde still. Elizabeth hielt inne und blickte sie an.

»Es ist jetzt amtlich«, erwiderte Alice leise. »Sie haben ihn für tot erklärt. Vorgestern.«

»Oh, mein Liebes, das ist ja entsetzlich! Du armes, armes Kind. Dieser schreckliche Krieg. Was tun sie den Menschen nur an? Weißt du, ich bin nur froh, dass Barney nicht nach Irland musste. Hast du heute Morgen die Zeitung gelesen? Ein Waffenstillstand zwischen England und Irland sei nicht mehr ausgeschlossen, schreiben sie. Dem Himmel sei Dank.«

»Ja«, sagte Alice. »Ihr habt Glück gehabt.«

»Ach, du meine Güte, wie taktlos von mir, verzeih, Liebes, verzeih, dass ich so töricht bin. Wie konnte ich bloß … Immer denke ich an mich. Es ist nur – er ist ja schon so lange fort«, sagte Elizabeth jetzt ehrlich zerknirscht.

»Vier Jahre, zwei Monate und fünf Tage.«

Tatsächlich schwieg Elizabeth Newman ausnahmsweise und schob sich wie zur Entschuldigung für ihre Einfältigkeit eine weitere Gabel Torte in den Mund.

Ich sah von einer zur anderen. Irgendetwas war geschehen, es lag eine Spannung in der Luft, die mir nicht behagte. Schmerz? Jedenfalls war der leichte Plauderton plötzlich wie weggeblasen. Was hatte dieses Gespräch zu bedeuten? Wieso hatte Alices Stimme sich plötzlich so verändert, und wer war eigentlich dieser William, von dem nun schon zum zweiten Mal an diesem Nachmittag die Rede war?

Ich brauchte jedoch gar nicht zu verstehen, worüber hier gesprochen wurde, um zu begreifen, dass es Alice sehr traurig machte. Und dass sich Elizabeth offenbar wie ein Elefant im Porzellanladen benahm, machte die Sache nicht besser. Sie hatte sich zwar entschuldigt, aber wieso tröstete sie Alice nicht? Ich fühlte mich hilflos.

Ich glaube, in diesem Moment bekam ich zum ersten Mal eine leise Ahnung von meiner zweitwichtigsten Aufgabe: dem Trostspenden. Und es war von Anfang an mehr als eine Aufgabe. Ich verspürte in diesem Augenblick den tiefen Wunsch, Alice zu trösten. Zwar kannte ich sie noch nicht besonders gut, doch als sie mir meinen Namen gab, hatte ich sie fröhlich gesehen. Und diese Fröhlichkeit stand ihr so viel besser zu Gesicht als jene leicht zitternde und dunkle Stimme, mit der sie »Vier Jahre, zwei Monate und fünf Tage« gesagt hatte.

Alice war tapfer. Sie richtete sich auf, zwang sich zu einem Lächeln und wechselte das Thema.

»Willst du Henry kennenlernen?«, fragte sie gespielt beiläufig in die konzentrierte Stille. Mit der Gabel auf dem Weg zum Mund hielt Elizabeth inne.

»Henry?«, brachte sie kaum verständlich hervor, vollendete ihre Bewegung, kaute, schluckte und erging sich in einem Hustenanfall. Alice schwieg und ließ ihre Freundin wieder zu Atem kommen, damit diese weitersprechen konnte:

»Mein Liebes, ich habe es ja immer gesagt. Es ist so wichtig, dass du dich nicht in deinem Kummer vergräbst. Du bist ja auch wirklich noch eine gute Partie und durchaus keine alte Jungfer. Du kommst sicher über William hinweg. Es ist der Mann aus der Eisenbahn. Hab ich nicht recht? Du hast ihn wieder getroffen. Unglaublich, Alice. Das sagst du erst jetzt? ›Willst du Henry kennen lernen?‹«, imitierte sie übertrieben. »Das hört sich an, als hättest du ihn im Schrank versteckt. Mein Gott –«, sie senkte die Stimme, »sieht er gut aus?«

»Er hat eine sehr positive Ausstrahlung«, antwortete Alice gelassen.

»Ach, Liebes, wie ich mich für dich freue. Henry. Wie heißt er mit Nachnamen?«

»Brown.«

»Henry Brown. Hm. Das ist ja eher ein gewöhnlicher Name. Ist er aus Somerset? Ist er vielleicht mit Clarisse Brown verschwägert, oder mit Lady Diana von Dawson Manor?«

»Ich weiß es nicht.« Alice schüttelte sachte den Kopf.

»Du weißt es nicht. Grundgütiger, hast du denn komplett den Verstand verloren? Du lässt dich mit einem Mann ein und weißt nicht einmal, woher er stammt. Er muss dir wirklich den Kopf verdreht haben.« Elizabeth flüsterte noch immer und schaute wieder zur Tür. »Ist er vermögend?«

»Ich glaube nicht«, antwortete Alice, »so gut kennen wir uns noch nicht.«

Gespanntes Schweigen breitete sich im Raum aus. Elizabeth richtete ihre Frisur und zog das Kleid über die Knie.

»Kommt er auch zum Tee?«, fragte sie.

Alice nickte.

Mein Herz klopfte. Ich fühlte, wie sich alle meine Fasern spannten, spürte ein leises Kribbeln unter dem Fell und war bereit. Ich hatte meinen Namen gehört. Das erste Mal in meinem Leben hatte ihn jemand ausgesprochen. Henry Brown. Mein erster Auftritt stand unmittelbar bevor. Elizabeth Newmans Augen würden auf mir ruhen, mich mustern, mich für gut befinden. Jetzt geht es los, dachte ich. Jetzt geht mein Leben richtig los!

Es kann sein, dass es an Alices kleinem Streich lag, dass mein erster Auftritt auf der Bühne dieser Welt gänzlich misslang. Elizabeth Newman stieß jedenfalls nur verächtlich Luft aus, als sie mich, an einem Arm baumelnd, von sich hielt und mein Schultergelenk einer ersten Belastungsprobe unterzog.

»Henry Brown. Sehr amüsant. Farbenblind bist du wohl außerdem, Miss Spaßvogel«, schnappte Elizabeth ein.

Wieso amüsant? An meinem Namen war wahrhaftig nichts Komisches zu finden.

Doch Alice kicherte und lachte. Sie hielt sich ihr Taschentuch vor den Mund und konnte sich kaum beruhigen. Ich war vollends verwirrt, und ihre Freundin schien ebenso enttäuscht von mir wie ich von ihr. Dennoch hatte ich den Eindruck, Alice war erleichtert, wieder sicheren Boden unter den Füßen zu haben und nicht weiter über den mysteriösen William sprechen zu müssen.

Elizabeth Newman war jetzt ganz in ihrem Element. Ihre langen Fingernägel bohrten in mein Fell, und mir schwindelte vom süßen Duft ihres Parfums.

Kein Streicheln, kein gutes Wort. Keine Anerkennung für das Prachtexemplar von Bär. Und dennoch freute es mein Herz, dass Alice lachte und alle Traurigkeit aus ihrer Stimme verflogen war. Ich hatte sie, wenn auch indirekt, trösten können. Sie war auf andere Gedanken gekommen, und ich hatte ihr dazu verholfen. Das hatte gut funktioniert, auch wenn es mich kränkte, wie Elizabeth über mich sprach:

»Wenn das Braun ist, dann sind meine Brownies rabenschwarz, das sag ich dir. Dein Teddy ist Orange. Oder gerade mal Ocker, Liebes.«

»Ist er nicht«, insistierte Alice immer noch kichernd. Sie war trotz allem stolz auf mich. Und ich war braun. Henry Brown.

Elizabeth ließ nicht nach. Sie wedelte mit dem Arm. Vor meinen Augen drehte sich das Wohnzimmer. Die Tapete tanzte. Sie hielt mich in das gleißende Licht der Zimmerlampe, um Alice zu beweisen, dass meine Farbe wohl eher einer Mischung aus Sand und Fußmatte entsprach.

»Jetzt sieh doch einmal genau hin, Alice, das ist nicht Braun.«

»Aber fast.« Alice blieb stur.

Elizabeth setzte ihre königliche Miene auf, hob Kinn und Augenbrauen eine Spur und kniff die Lippen zusammen, wie immer, wenn sie sich wichtig nahm. Ihre Verwandtschaft vierten Grades mit den Royals war in solchen Momenten unübersehbar. Und von oben herab, unter einer spitzen Nase hervorgepresst, mit Verachtung in der Stimme, erhielt ich meinen Zweitnamen:

»Nearly, Liebes«, sagte Elizabeth, die Lippen gespitzt. »Nearly brown.«

Und wieder lachte Alice, und bald vergaß auch Elizabeth ihre Hochnäsigkeit. »Henry Nearly Brown«, juchzten sie. »Das ist es!«

Alice setzte eine ernste Miene auf.

»Vermutlich hast du recht, Elizabeth, auch wenn ich es natürlich nur ungern zugebe. Heute Nachmittag sah er noch etwas dunkler aus. Das muss am Licht gelegen haben. Wir nennen ihn Henry N. Brown. Das verleiht ihm auch mehr Würde.«

Sie schüttelte meinen Arm und sagte: »Sehr erfreut, Sir Henry N. Brown.«

Mit diesem leicht belustigten Willkommensgruß wurde ich, verdutzt wie ich war, zurück auf die Fensterbank gesetzt und sah den beiden Frauen zu, die sich plötzlich blendend auf meine Kosten amüsierten.

Nahm man mich denn nicht ernst? Wieso wurde ich so abschätzig behandelt? Ich war empört. Bis Elizabeth nach Hause ging, übte ich Empörung im besten Sinne – die jedoch vollkommen fruchtlos, weil unbemerkt blieb.

Es war beschlossen. Henry Nearly Brown.

»Das hat das Schicksal so bestimmt«, sagte Alice ernst, als wir endlich wieder allein waren. Der Abend war schon angebrochen, Stille machte sich in der Wohnung breit und verdrängte den Nachhall von Elizabeth Newmans Geplauder. Um Strom zu sparen, drehte Alice die Lampen im Flur aus. Auf dem Tisch im Salon standen noch die leeren Teller, und es klirrte laut, als Alice sie aufeinanderstapelte. Die Krümel hatte sie vom Tisch gewischt, direkt in die Hand. Auf dem Weg in die Küche blieb sie stehen und sah mich an. Ich schaute zurück. Meine Empörung verflog, als sie anhob zu sprechen:

»Ach, Henry, wenn Elizabeth wüsste, wie unrecht sie hat. Ich werde niemals einen anderen lieben als Will. Er kommt vielleicht nicht mehr zurück nach Hause, aber aus meinem Herzen wird er nie verschwinden …«

Sie seufzte leise und wandte sich ab. Ihre Schuhe klapperten auf dem Dielenboden im Flur. Ich hörte, wie sie sich schnäuzte. Als sie zurückkam, nahm sie mich in die Hände.

»Elizabeth scheint nicht zu wissen, was Liebe ist, sonst würde sie so nicht reden. Aber du und ich, wir wissen es, nicht wahr? Wir wissen, dass man Liebe nicht einfach in einem Krieg vernichten kann. Wills Liebe ist noch da. In mir und auch in dir. Ich habe sie dir mitgegeben, kleiner Henry, tief drin in deiner Brust habe ich sie versteckt. Das ist unser Geheimnis. Und du musst gut darauf aufpassen, denn die Liebe ist das Wertvollste, was es gibt. Die Liebe, Henry, die Liebe ist nichts, was man sich nehmen kann. Sie kommt zu dir. Sie wird dir geschenkt«, sagte sie.

Und ich sah sie lange an und versuchte zu verstehen.

»Ich habe fast das Gefühl, du würdest mich wirklich verstehen, Henry N. Brown. Ist das nicht verrückt? Nein, ich bin wirklich eine dumme Gans.«

Alice sank müde in den Sessel unter der Stehlampe. Das warme Licht erfüllte den Raum. Ich versuchte zu begreifen, was sie soeben gesagt hatte. Wusste ich, was Liebe war? Offenbar bestand daran kein Zweifel. Wer Liebe in sich trägt, weiß auch, was Liebe ist, so musste es sein.

»Jetzt bist du der Mann in meinem Leben, kleiner Bär. Du und ich, wir schaffen das schon irgendwie, nicht wahr?«

Wenn du meinst. Ich bin jedenfalls immer für dich da. Und eines lass dir gesagt sein, sollte noch einmal jemand so taktlos wie Elizabeth sein, dann kriegt er es mit mir zu tun. Ich finde –

Noch während ich sprach, drehte Alice auch im Salon das Licht aus, sagte Gute Nacht und ging einfach in die Küche. Sie hatte meine Antwort nicht gehört. Sie konnte sie nicht hören, denn offenkundig konnte ich nicht sprechen. Welch niederschmetternde Erkenntnis am Ende dieses Tages.

Die erste Nacht meines Lebens begann, und ich blieb zurück mit all meinen Eindrücken, Gedanken und vor allem einer unendlichen Anzahl Fragen. Ich war erschöpft und bedrückt. Mein noch so junges Bärenhirn suchte zu erkennen, was dieses Leben mit mir vorhatte. Ich versuchte, das Ausmaß meiner persönlichen Tragödie zu begreifen: Welchen Sinn hat es, auf der Welt zu sein, wenn man sich nicht bewegen und nicht sprechen kann, gleichzeitig aber vier quicklebendigen Sinnen ausgeliefert ist? Ja. Das muss man erst einmal verdauen. Meine Gedanken drohten sich zu überschlagen.

Als Nächstes überschlug ich mich jedoch selbst, und zwar, als ich in den frühen Morgenstunden meines zweiten Lebenstages unsanft von der Fensterbank gestoßen wurde. Ich schlug hart mit dem Kopf auf den Holzdielen auf, landete auf dem Rücken und starrte gen Himmel. Ich sah noch einen blitzschnellen Schatten über mich hinwegfegen, und als Nächstes spürte ich, wie mich ein Schlag auf die Nase traf. Ein weiterer Schlag hinter die Ohren, und ich drehte mich willenlos auf den Bauch. Jetzt konnte ich nichts mehr sehen. Ich lauschte, hörte jedoch nichts. Totenstille, nur das Geräusch des Regens gegen die Fensterscheiben.

Was war das gewesen? Was war mir widerfahren? Es war so schnell gegangen, dass ich erst im Fallen wieder richtig zu Bewusstsein gekommen war. Ängstlich und mit dem unangenehmen Gefühl, dem Feind im Rücken vollkommen ausgeliefert zu sein, lag ich da und hoffte auf Alices baldiges Erscheinen. Sie würde doch wohl wiederkommen. Sie wohnte schließlich in diesem Haus, oder nicht? Die Zeit verging quälend langsam, während ich einen nächsten Überfall aus dem Nichts befürchtete. Doch nichts geschah. Endlich, viel zu spät, die erlösende Stimme von Alice.

»Henry, was machst du denn da auf dem Boden? Warst du das, Tiger? Schäm dich, das gehört sich aber wirklich nicht!«

Tiger? Wer war Tiger? Ich hatte bislang nicht bemerkt, dass außer Alice und mir noch jemand da war. Alices hob mich auf und setzte mich wieder zurück aufs Fenstersims. Da sah ich ihn. Tiger. Er saß selbstzufrieden auf unserem (also Alice und meinem) Sessel und schaute aus zu Schlitzen zusammengekniffenen Augen herüber, als könnte er kein Wässerchen trüben. Der gefährliche gestreifte Tiger. Samtpfoten mit versteckten Krallen sind wirklich nichts für gradlinige Leute wie mich. Ich war noch keine vierundzwanzig Stunden auf der Welt und hatte bereits einen erklärten Feind. Auch wenn es nur ein Kater war.

Man kann sich den Start ins Leben glorreicher vorstellen, oder nicht? So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Das Fazit meines ersten Tages:

Ich konnte nicht sprechen.

Ich konnte mich nicht bewegen.

Ich musste zuhören.

Ich musste zusehen.

Ich konnte mich nicht wehren (gegen Angriffe von Katzen).

Ich hatte eine Feindin (oder vielleicht sogar zwei, wenn man Elizabeth dazuzählen wollte, doch sie erschien mir nur dumm und nicht gefährlich.)

Ich hatte einen Namen mit einem »N.« zu viel.

Allerdings war ich auch damals schon ganz ich selbst und gab mich nicht mit dieser melancholischen Erkenntnis zufrieden. Gut, ich brauchte ein oder zwei Stunden, um aus meinem Selbstmitleid wieder aufzutauchen. Aber mir wurde bald klar, dass alles immer zwei Seiten hat. Ich hatte vielleicht einen schlechten Start gehabt, mein Rüstzeug jedoch war, genauer betrachtet, nicht so schlecht:

Ich konnte sehen.

Ich konnte hören.

Ich konnte denken (besser als Tiger jedenfalls).

Ich hatte einen (ansonsten ganz passablen) Namen.

Ich hatte eine Freundin (Alice hatte es selbst gesagt: »Du und ich, wir schaffen das schon.« Von Tiger war nicht die Rede gewesen.).

Ich hatte eine Liebe (was auch immer das genau sein mochte, wertvoll war es jedenfalls.)

Ich beschloss, dass es sich mit diesen Voraussetzungen durchaus leben ließ.

Alice war eigentlich ein sehr lebenslustiger Mensch. Es gab Tage, da war sie unbeschwert und fidel. Ihr Herz war voll Humor und Freude, und sie war trotz ihrer Schüchternheit nie der Ausgelassenheit abgeneigt. Dazu kam ein Hang zum Träumen und zur Unordnung, was sie immer wieder in peinliche Situationen brachte, über die sie sich später fürchterlich ärgerte. Sie hatte Temperament und einen eigenen Kopf. Doch das Leben hatte es ihr nicht leicht gemacht. Oft überfiel sie eine schreckliche Schwermut, und ich wusste bald, dass deren Ursache der Verlust von William war. In solchen Momenten lag ein Schatten über jedem Lächeln und jeder Spaß konnte sofort ins Gegenteil umschlagen. William fehlte ihr. Ein Stück von ihr fehlte, doch sie versuchte tapfer, die Lücke irgendwie zu füllen.

Es dauerte nicht lang, da gewöhnte sie sich an, pausenlos mit mir zu sprechen. Das war eigentlich sehr schön, denn ich fühlte mich wahrgenommen und erfuhr zudem viel über Alice und vor allem über das Leben, das mir ja noch gänzlich unbekannt war. Obendrein schien es ihre Traurigkeit zu vertreiben. Doch es entspannen sich merkwürdige Monologe ihrerseits, die mir bald vor Augen führten, dass nicht ich gemeint war. Sie brauchte einfach ein Gegenüber. Eigentlich brauchte sie William.

Was an meinem ersten Tag wie eine scherzhafte Bemerkung geklungen hatte, traf auf eine eigentümliche Weise zu: Ich war der Mann in Alices Leben.

Sie erzählte mir, was sie am Tag in der Schreibstube erlebt hatte, wo sie arbeitete; sie erzählte von Büchern, die sie las. Sie teilte ihre Geldsorgen mit mir und ihre Vorfreude auf eine Gartengesellschaft in Conward House, zu der Elizabeth sie geladen hatte. Hatte sie sich einen neuen Schal gekauft, wurde er mir vorgeführt. Und wenn es um die Wahl des Hutes ging, fragte sie mich auch um Rat. Nicht, dass meine Meinung dabei wirklich von Belang gewesen wäre. Sie unterstellte mir tatsächlich, dass ich den braunen Hut lieber mögen würde als den blauen, dabei war das Gegenteil der Fall. Aber wer nicht sprechen kann, wird nicht gehört. Wer nicht gehört wird, kann seine Meinung nicht sagen. Wer seine Meinung nicht sagen kann, stimmt (zumindest augenscheinlich) zu. Ich war ein vermeintlicher Ja-Sager. Dieser Umstand erschien mir von Anfang an als fürchterliche Zwangslage. Bis ich eines Tages einen Vorteil erkannte: Ich konnte immerhin denken, was ich wollte, ohne dass sich jemand daran störte oder mir widersprach. Welch enorme Freiheit darin liegt, wurde mir erst viele Jahre später klar, als ich mit ansehen musste, wie Menschen auf brutale Weise gezwungen wurden, ihre Gedanken zu verleugnen und geheim zu halten und ihr Leben und das von anderen mit Lügen zu retten.

Je deutlicher wurde, dass meine Meinung in den monologischen Dialogen mit Alice nicht gefragt war, umso ausgeprägter wurde sie. Bald hatte ich zu jedem Thema, das sie mit mir diskutierte, eine klare Ansicht.

Wenn sie berichtete, dass sie von ihrem unsagbar unhöflichen Chef wieder eine Rüge bekommen hatte, weil sie zu spät gekommen war, fand ich nicht, dass er unrecht hatte, wenn er sie zur Pünktlichkeit ermahnte. Sie war dauernd in Eile und nie rechtzeitig fertig, was sie permanent in Schwierigkeiten brachte. Warum stand sie nicht einfach fünf Minuten früher auf? Das fragte sich nicht nur ihr Chef.

Und als sie mir einmal das dramatische Liebes-Dilemma von einer gewissen Miss Bennett und einem Mister Darcy schilderte, war ich fassungslos, wie mitfühlend sie an der Geschichte der beiden Anteil nahm. So wie sie es schilderte, war das trotzige Verhalten dieser Frau so albern und der gekränkte Stolz des Mannes so kindisch, dass ich mich ernstlich fragte, was aus Alice werden sollte, wenn sie sich diese Leute zum Vorbild nahm. Ich hoffte sehr, sie würden uns niemals besuchen.

Hätte Alice außerdem auf meinen Rat in Sachen Mode gehört, hätte sie eleganter ausgesehen. Ich hätte ihr zu einem Schal in Grün geraten und dazu den dunkelgrünen Cloche empfohlen – das hätte so wunderbar zu ihren Augen gepasst. Aber wer war ich, dass mein Geschmack in Kleiderfragen ausschlaggebend gewesen wäre? Doch immerhin, ich hatte Geschmack, das kann nicht jeder von sich behaupten.

Alice und ich waren also durchaus nicht immer einer Meinung, und das war sicher gut so, denn ich lernte das, was einen gesunden Bärenverstand ausmacht: Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit und einen kritischen Blick – auch wenn es nur für mich im Stillen stattfand, formte es mich doch.

Wenn Alice jedoch von William sprach – und das tat sie sehr häufig –, war alles anders. Ihr Blick dunkel, ihre Stimme leise und weich, und ein leichter Schimmer von Rot legte sich auf ihre Wangen.

Wenn es um William ging, ging es um die Liebe, und ich hatte schnell begriffen, dass die Liebe der Motor war, der die Menschen in Bewegung hielt. Alles andere wurde demgegenüber unbedeutend und klein. Mir wurde immer klarer, welch kostbares Gut ich in mir trug, und ich konnte gar nicht genug darüber erfahren.

»Weißt du, Henry, wenn Will mich ansah, dann war ich so glücklich«, erzählte sie einmal, während sie mit einem Staublappen über die Fensterbank wischte. »Wir brauchten kein Geld. Wir wären schon über die Runden gekommen. Ich weiß, von Luft und Liebe kann man nicht leben, aber manchmal kam es mir fast so vor.«

Beschwingt putzte sie weiter und ignorierte die Streifen, die der Lappen hinterlassen hatte.

»Ich habe von Will geträumt«, sagte sie an einem anderen Morgen. »Es war, als wäre er wirklich da. Er saß neben meinem Bett und streichelte mir die Hand, wie er es immer tat, bevor er zur Arbeit ging. ›Guten Morgen, mein Herz‹, hat er gesagt. ›Zeit, den neuen Tag zu begrüßen.‹ Wie im Himmel habe ich mich gefühlt, weißt du, Henry, wie im Himmel, so leicht und so glücklich und so voll Wärme. So fühlt sich Liebe an.«

Sie saß mit der Teetasse auf den Knien in unserem Sessel. Ich hockte auf meinem angestammten Platz auf der Fensterbank und hörte ihr zu.

»Ich wünschte, ich wäre nicht wieder aufgewacht«, setzte sie traurig hinzu. »Dann wäre ich einfach bei ihm geblieben.«

Solche Momente gab es immer wieder. Und ich war froh, dass sie dann immer irgendwann die Tasse zur Seite stellte und mich zu sich nahm. Sie drückte ihre Nase in meinen Nacken und atmete warm und ruhig, bis die Traurigkeit verflogen und ihre Tränen in meinem Fell verschwunden waren.

An anderen Tagen war sie richtig wütend. Anfangs bekam ich Angst, wenn sie heftig wurde und lospolterte.

»Die lügen doch alle. Die Politiker, die Beamten, alle. Will ist nicht tot. Es gibt ja nicht mal eine Leiche. Woher wollen sie es denn so genau wissen? Ich glaube das einfach nicht. Sie lügen«, schimpfte sie, und es fehlte nicht viel und sie hätte mit dem Fuß aufgestampft.

»Ist doch so«, sagte sie dann schon leiser, »nur du, du lügst nicht, Henry. Nicht wahr?« Und sie wandte sich wieder der Hausarbeit zu.

Alice war keine dumme Gans, jedenfalls soweit ich das beurteilen kann. Sie war einfach eine junge Frau, die ihren liebsten Menschen verloren hatte und Trost suchte. Wer hätte dafür kein Verständnis gehabt? Ich war jedenfalls bereit, alles dafür zu tun, damit sie sich nicht einsam fühlte.

Ohne unbescheiden wirken zu wollen, denke ich doch, dass ich meinen Job recht gut gemacht habe. Manchmal frage ich mich, was sie wohl später ohne mich gemacht hat, wie sie zurechtgekommen ist mit dem Alleinsein. Es muss schwer für sie gewesen sein, viel schwerer als für mich. Doch letztendlich war es William, der uns auseinanderriss. William, der für sie noch immer das Wichtigste auf der Welt war. Ich habe lange gebraucht, um einzusehen, dass ich kaum einen Ersatz für ihn darstellen konnte: Ich bin eben doch nur ein Bär. Aber einer mit einem großen Herzen.

Eines Morgens kam Alice in die Stube und heizte den Ofen an. Sie zog sich den Morgenmantel fest um die Schultern und schüttete Kohlen ins Feuer. Es war merklich kühler geworden. An meinem Platz am Fenster zog es, und die Scheibe war jetzt morgens immer eiskalt.

»Scheint so, als wäre der Winter jetzt endgültig da«, sagte Alice und kehrte die Asche vor dem Ofen zusammen. »Es ist ja auch nicht mehr lange bis Weihnachten.«

Sie hasste Weihnachten, das hatte sie in einem Gespräch mit Elizabeth erwähnt, die, wie sich herausstellte, alle vierzehn Tage zum Tee kam, um Neuigkeiten auszuplaudern.

»Mir graut es so vor den Feiertagen«, hatte Alice ihrer Freundin anvertraut. »All diese Feierlichkeiten bedeuten mir nichts.«

Ich wusste nicht, was es mit Weihnachten auf sich hatte. Doch wenn es Alice davor graute, konnte es kein Spaß sein. Elizabeth war jedoch wieder einmal anderer Meinung:

»Komm schon, Alice, sei keine Spielverderberin. Milton gibt eine herrliche Gesellschaft, dann kommst du auch unter Leute. Es gibt Plumpudding. Und sicher findest du in diesem Jahr den Penny.«

»Ich weiß nicht recht, Liz. Ich bin doch nur ein Trauerkloß. So jemanden will Milton sicher nicht auf seiner Party haben.«

»Doch, Milton hat es ausdrücklich gewünscht. ›Lizzy‹, hat er gesagt, ›du musst deine reizende Freundin Alice mitbringen. Sie ist eine Zierde für jede Gesellschaft.‹ Er mag dich sehr, weißt du«, erklärte sie mit einem viel sagenden Blick.

Alice lächelte.

»Ich habe einen Brief von Patricia bekommen. Sie lädt mich über die Feiertage nach London ein. Es sieht bedauerlicherweise so aus, als müsste ich Miltons Einladung ausschlagen«, sagte Alice.

»Aber das ist doch entzückend, Liebes. Wie reizend von deiner Schwester. Und ein paar Tage London haben noch niemandem geschadet.« Elizabeth lachte fröhlich – man kann ihr viel vorwerfen, aber missgünstig war sie nicht.

»Ach, es ist mir so unangenehm. Sie wollen mir sogar die Fahrt bezahlen …«

»Du wirst einige herrliche Tage verleben. Und sicher lernst du in der Bahn wieder interessante Leute kennen. Vielleicht einen echten Henry diesmal«, sagte sie mit einem Seitenblick auf mich, der nicht misszuverstehen war.

Elisabeth und ich würden nie Freunde werden, das stand fest. Doch sie kümmerte sich um Alice, daher konnte ich ihre plappernde Anwesenheit großmütig tolerieren.

Alice überhörte den Kommentar und sagte:

»Ja, ich denke, ich werde die Einladung annehmen. Es ist doch angenehmer, Weihnachten bei der Familie zu sein.«

Warum beschäftigte dieses sogenannte Weihnachten die Menschen so sehr, dass allerorten gefeiert wurde? Ich hoffte, Alice würde mir bald mehr darüber erzählen. Doch ich erfuhr nicht viel mehr als das, was ich bereits wusste.

»Dieses dumme Fest«, sagte sie später zu mir. »Wie kann ich denn allein ein Fest der Liebe feiern?«

Ich fand, dass es sich gar nicht so schlecht anhörte, ein Fest der Liebe zu feiern – nach allem, was ich inzwischen von der Liebe wusste, könnte es doch eine schöne Angelegenheit sein, wenn Leute, die einander zugetan waren, zusammenkamen und feierten, dass sie sich mochten.

Hegt man als Jungbär nicht alberne Vorstellungen? Wie unterschiedlich dieses Fest begangen werden kann, ahnte ich damals wahrlich nicht. Ich erinnere mich an spätere Weihnachtsfeste, die mehr mit Krieg als mit Liebe zu tun hatten – ob es nun ein Krieg mit fliegenden Bomben oder fliegenden Tellern war …

Der Tag der Abreise nahte. Und was ich mir nur in meinen geheimsten Träumen gewünscht hatte, wurde wahr: Alice wollte mich mitnehmen. Zum ersten Mal würde ich das Haus verlassen und die Welt, die ich tagein, tagaus vom Fenster betrachtet hatte, endlich aus der Nähe sehen.

Alice hatte einen kleinen Koffer gepackt, eine Hutschachtel und einen Lederbeutel, in dem sie mich, einige Äpfel, ein Taschentuch, eine Geldbörse, einen Lippenstift, einen Taschenspiegel und ihren Hausschlüssel verstaute. Dann machten wir uns auf den Weg zum Bahnhof.

Ich wusste, wo der Bahnhof war. Vom Fenster aus hatte ich die Gleise sehen können, die ostwärts führten. Es war nicht weit. Nur ein paar Meter nach rechts die Manvers Street hinauf, und schon war man dort.

Wie oft hatte ich die riesigen schwarzen, dampfenden Züge ankommen und abfahren sehen. Ich konnte auch hören, wie vor der Abfahrt die Pfeife erklang, wie das Geräusch des Dampfkessels immer lauter wurde und die Lokomotive langsam Fahrt aufnahm, ehe das eiserne Ungetüm aus meinem Sichtfeld verschwand.

Viele Nachmittage hatte ich damit zugebracht, den Zügen hinterherzuschauen. Und immer hatte ich mich gefragt, wohin die Reise ging. Jetzt würde ich es endlich erfahren. Ich würde es zudem selbst erleben. Aufregung beschreibt den Zustand, in dem ich mich in den Stunden vor Reiseantritt befand, nur mangelhaft.

Als wir aus dem Haus traten, blieb Alice kurz stehen. Fast schien es mir, als sammle sie noch einmal Kraft für die bevorstehende Fahrt. Ich nutzte die Gelegenheit, mich umzuschauen. So also sah es draußen aus. Es war ein merkwürdiges Gefühl, nicht mehr hinter der sicheren Scheibe zu sitzen und den vertrauten Ausblick zu haben. Plötzlich sah ich, dass es links und rechts von meinem Ausschnitt der Welt noch mehr Häuser gab. Und Straßen. Und Bäume. Und Menschen.