Die vatikanische Prinzessin - Christopher W. Gortner - E-Book

Die vatikanische Prinzessin E-Book

Christopher W. Gortner

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Beschreibung

Glamourös und gefährlich – im 15. Jahrhundert, einer Ära voll blendenden Prunks und mörderischer Intrigen, steht die gewissenlose Familie Borgia auf dem Höhepunkt ihrer Macht. Die wunderschöne Lucrezia Borgia, uneheliche Tochter Papst Alexanders VI., ist als skrupellose Verführerin bekannt. Doch ist sie in Wahrheit nur das Instrument ihrer grausamen, machthungrigen Familie, die sie nach Belieben zwangsverheiratet, das erste Mal schon mit dreizehn Jahren? Und wird es ihr gelingen, gegen ihr Blut und ihr Schicksal anzukämpfen?

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Buch

Glamourös und gefährlich – im 15. Jahrhundert, einer Ära voll blendenden Prunks und mörderischer Intrigen, steht die gewissenlose Familie Borgia auf dem Höhepunkt ihrer Macht. Die wunderschöne Lucrezia Borgia, uneheliche Tochter Papst Alexanders VI., ist als skrupellose Verführerin bekannt. Doch ist sie in Wahrheit nur das Instrument ihrer grausamen, machthungrigen Familie? Um seine Chancen bei der Papstwahl zu erhöhen, zwingt Rodrigo Borgia sie bereits mit dreizehn Jahren, den einflussreichen Giovanni Sforza zu heiraten. Diese Ehe wird nach wenigen Jahren aufgelöst, da sie nicht vollzogen wurde. Doch Lucrezia ist sehr wohl schwanger, allerdings von ihrem kaltblütigen Bruder Juan. Und auch als aus der nächsten Zwangsheirat tatsächlich Liebe wird, verstehen die Borgias Lucrezias Glück zu zerstören. Wird es ihr gelingen, gegen ihr Blut und ihr Schicksal anzukämpfen?

Weitere Informationen zu Christopher W. Gortner

sowie zu lieferbaren Titeln des Autors

finden Sie am Ende des Buches.

CHRISTOPHER W. GORTNER

Die vatikanische

Prinzessin

Historischer Roman

Aus dem Amerikanischen

von Peter Pfaffinger

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »The Vatican Princess« bei Ballantine Books, a division of Penguin Random House LLC, New York

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1. Auflage

Deutsche Erstveröffentlichung September 2016

Copyright © 2016 by C. W. Gortner

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: Arcangel/Stephen Mulcahey;

FinePic®, München

Redaktion: Ilse Wagner

MR · Herstellung: Str.

Satz: omnisatz GmbH, Berlin

ISBN: 978-3-641-17200-8V001

www.goldmann-verlag.de

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Se gli uomini sapessino le ragioni della paura mia,

capir potrebbero il mio dolor.

Würden die Menschen die Gründe für meine Angst kennen,

könnten sie meinen Schmerz verstehen.

Lucrezia Borgia

1506

Schande ist nichts als ein Versehen des Schicksals.

Das war einer der Lieblingssprüche meines Vaters. Er verkündete ihn auf seine sorglose Art und wedelte dabei lachend mit seiner mit dem Fischerring geschmückten, fleischigen Hand, als genüge ein bloßes Fingerschnippen, um jene abscheuliche Wolke aus Beschuldigungen zu vertreiben, die ständig über uns hing, jenes giftige Geflüster über Laster, widerwärtige Korruption und ruchlosen Missbrauch.

Und ich glaubte ihm. Ich glaubte, er wisse alles.

Inzwischen habe ich dazugelernt.

Wie sonst könnte ich das Chaos in unserer Hinterlassenschaft erklären, die verwüsteten Leben, die geopferte Unschuld und das vergossene Blut? Wie sonst den unverhofften Pfad meines eigenen Lebens rechtfertigen, auf dem ich für immer durch das Labyrinth irre, das aus den skrupellosen Machenschaften meiner Familie entstanden ist?

Eine andere Ursache kann es nicht geben. Schande ist kein Versehen. Sie ist das Gift in unserem Blut.

Sie ist der Preis dafür, eine Borgia zu sein.

1

Lucrezia, basta. Hör auf, dieses schmutzige Vieh zu verwöhnen!«

Die Hand meiner Mutter schoss vor, jeder ihrer dicken Finger von einem Ring eingeschnürt. Blitzschnell wich ich einer Ohrfeige aus und beugte mich schützend über meinen geliebten Kater Arancino, der fauchend die Ohren anlegte, während seine zu Schlitzen verengten Augen all die Verachtung ausdrückten, die ich empfand. Ich wusste, warum Vanozza bei uns war. Schon seit Papst Innozenz kurz zuvor gestorben und das Konklave, die Versammlung der Kardinäle, zur Wahl eines neuen Heiligen Vaters einberufen worden war, hatte ich erwartet, dass meine Mutter, einer Unglücksbotin gleich in Schleier und schwarze Röcke gehüllt, in meinem Zuhause, dem Palazzo Orsini auf dem Monte Giordano, auftauchen und sich bei uns einnisten würde.

Nun, da sie bei uns war, wollte ich nur noch eines: sie bald wieder verschwinden sehen.

»Raus!« Sie stampfte mit dem Fuß auf und brachte jäh Leben in Arancino. Mit einem mächtigen Satz sprang er von meinen Armen herab und schoss durch die offene Tür in den halbdunklen Korridor.

Den Kratzer an meiner Hand spürte ich erst, als ein dunkelroter Blutstropfen herausquoll. Während ich an der Wunde saugte, starrte ich meine Mutter wütend an. Sie machte eine gebieterische Geste. »Also wirklich, Adriana«, knurrte sie. »Wie kannst du ihr erlauben, ein solches Vieh im Haus zu halten? Das ist doch ungesund. Katzen sind die Ausgeburt des Teufels. Und jeder weiß, dass sie einem Neugeborenen die Luft zum Atmen stehlen können.«

»Zum Glück haben wir keine Neugeborenen im Haus«, erwiderte Adriana mit einer Stimme so glatt wie die graue Seide ihres Kleides. »Und gelegentlich hat der Kater durchaus seinen Nutzen« – sie erschauerte – »vor allem im Sommer, wenn es hier von Ratten wimmelt.«

»Pah! Wer braucht schon eine Katze, um Ungeziefer loszuwerden? Ein bisschen Gift in den Ecken genügt, und schon hat man seine Ruhe. Ich erledige das eigenhändig, und zwar jeden Juni. Das macht den Biestern den Garaus.«

Der Gedanke an überall im Haus ausgestreutes Gift, mit dem mein Kater in Berührung kommen konnte, ließ mich zittern. Unterdessen meinte Adriana spitz: »Vielleicht hast du es noch nicht bemerkt, meine liebe Vanozza, aber hier in Rom gibt es Ratten in allen Gestalten und Größen.« Auch wenn Adriana meinen dankbaren Blick nicht erwiderte, war dies wie ein Versprechen, dass sie das leichtsinnige Ausstreuen des weißen Todes niemals dulden würde. Mein Arancino, den ich davor bewahrt hatte, von den Stallburschen ertränkt zu werden, war in Sicherheit.

Meine Mutter richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf mich. Als man mich aus ihrer Obhut genommen hatte, war ich erst sieben Jahre alt gewesen. Sie hatte gerade zum zweiten Mal geheiratet, und mein Vater holte mich aus ihrem Palazzo in der Nähe von San Pietro in Vinculi, um mich hierher zu Adriana, der verwitweten Tochter seines ältesten Bruders, zu bringen. Seitdem kümmerte sie sich um meine Erziehung, was auch den Unterricht im Kloster San Sisto umfasste. Für mich war sie weit mehr eine Mutter, als es diese dicke, ständig schwitzende Frau je gewesen war. Als mich Vanozza nun musterte wie eine Hausfrau irgendeine Ware auf dem Marktplatz, fragte ich mich nicht zum ersten Mal, wie sie es geschafft hatte, sich Papas Zuneigung für so viele Jahre zu erhalten.

Von ihrer einst gerühmten Schönheit vermochte ich nur wenig zu entdecken. Jetzt, da sie sich ihrem fünfzigsten Geburtstag näherte, hatten mehrere Geburten und übermäßige Tafelfreuden die Figur meiner Mutter unförmig werden lassen, sodass sie jetzt eher wie eine gewöhnliche Matrone wirkte. Ihre graublauen Augen – die ich von ihr geerbt hatte, auch wenn die meinen blasser waren – lagen wie Perlen in tiefen, zerklüfteten Schatten, und die rot geäderten Wangen verliehen ihr, zusammen mit der Hakennase, einen stets grimmigen Ausdruck. Auch wenn sie sich in teuren schwarzen Samt kleidete, entsprach der Schnitt ihrer Röcke nicht mehr der Mode, vor allem dann nicht, wenn sie dazu auch noch eine von diesen veralteten schweren Schleierhauben aufsetzte, unter denen graue Locken hervorlugten, deren Goldton längst verblasst war.

»Isst sie genug?«, fragte Vanozza, als spüre sie, welcher kritischen Begutachtung ich sie meinerseits unterzog. »Sie ist immer noch dürr wie ein Straßenköter. Und so weiß! Fast könnte man meinen, sie käme nie in die Sonne. Und ihr erstes Blut hat sie auch noch nicht verloren, wie ich annehme?«

»Lucrezias natürliche Blässe ist dieser Tage durchaus in Mode«, entgegnete Adriana. »Und sie ist noch nicht mal dreizehn Jahre alt. Manche Mädchen brauchen einfach etwas mehr Zeit, bis ihr Körper sich entwickelt.«

Vanozza schnaubte. »Sie hat keine Zeit. Immerhin ist sie schon verlobt, oder hast du das vergessen? Wir können nur hoffen, dass sie sich dieser überteuerten Ausbildung als wert erweist, die Rodrigo ihr unbedingt zukommen lassen will, auch wenn mir nicht einleuchtet, wozu Mädchen Bücher und dergleichen benötigen.«

»Ich liebe meine Bücher!«, protestierte ich, wurde aber unterbrochen, als Adriana die Hand nach der silbernen Glocke ausstreckte und mit dieser läutete. Gleich darauf trippelte Murilla, meine geliebte Zwergin, die mir Papa zu meinem elften Geburtstag geschenkt hatte, mit einem Wasserkrug und einem Tablett voller Käse herein. Sie war eine perfekte Miniatur von ebenholzschwarzer Hautfarbe. Von Anfang an hatte sie mich mit ihrer exotischen Art verzaubert, zumal ich wusste, dass sie aus einem weit entfernten Land, wo die Eingeborenen nackt umherliefen, hierher gebracht worden war. Umso fassungsloser beobachtete ich nun, wie meine Mutter nach ihr schlug, als wäre sie eine Mücke. Mit einer Geste forderte Adriana Murilla auf, das Tablett auf dem Tisch abzusetzen. Seit Vanozza ohne jede vorherige Ankündigung eingetroffen war, ignorierte Adriana beharrlich die unverhüllt abschätzige Art meiner Mutter, mit der sie die Bediensteten ebenso wie die Wandteppiche, die mit frisch geschnittenen Blumen gefüllten Vasen und die in den Ecken aufgestellten Statuen musterte – alles Zeichen von Papas Gunst, die Adriana einst genossen hatte.

»Die Nonnen versichern mir, dass Lucrezia eine hervorragende Schülerin ist«, fuhr Adriana fort. »Sie tanzt voller Anmut und beweist Talent für die Laute. Außerdem wird ihr Geschick beim Nähen sehr bewundert, und sie hat sich sogar Lateinkenntnisse …«

»Latein?« In ihrer Erregung fielen Vanozza einige Brösel aus dem Mund und auf den Tisch. »Es reicht wohl nicht, dass sie sich mit dem vielen Lesen die Augen verdirbt! Soll sie jetzt auch noch einen Sprechgesang anstimmen wie die Priester? Sie geht zum Heiraten nach Spanien, nicht um die Messe zu lesen.«

»Ein Mädchen von Lucrezias Rang kann gar nicht genug Kenntnisse haben«, erwiderte Adriana. »Schließlich kann es sein, dass sie das Anwesen ihres Gemahls leiten muss, wenn er nicht zu Hause ist. Selbst du, meine liebe Vanozza, hast lesen und schreiben gelernt, nicht wahr?«

»Ich habe es gelernt, weil ich meine Tavernen zu führen hatte. Sonst hätten mich meine Lieferanten an den Bettelstab gebracht. Aber Lucrezia? Als sie geboren wurde, habe ich ihr Horoskop berechnet. In ihren Sternen steht, dass sie als Ehefrau sterben wird. Und keine verheiratete Frau hat eine Verwendung für Latein – es sei denn, Rodrigo glaubt, sie könne ihren Mann mit ihren Kenntnissen unterhalten, bis sie alt genug ist, um die Beine breit zu machen.«

Adrianas Lächeln gefror. Sie wandte sich mir zu. »Lucrezia, meine Liebste, möchtest du Donna Vanozza nicht die Stickerei zeigen, mit der du gegenwärtig beschäftigt bist? Sie ist besonders schön!«

Widerstrebend trottete ich zum Fenstersitz. Vanozzas gefühllose Ankündigung meines Todes hatte mich verstört. Und der Anblick der Mulde, die Arancino auf dem Kissen hinterlassen hatte, versetzte mich in Wut, als ich den Bezug an mich nahm, den ich für Papa genäht hatte. Er hatte das komplizierteste Muster, an das ich mich bisher herangewagt hatte. Für das Borgia-Emblem, den wilden roten Stier neben einem maulbeerfarbenen Schild, hatte ich Gold- und Silberfaden verwendet. Ich hatte vor, das Kissen mitsamt Bezug Papa bei seiner Rückkehr aus dem Konklave zu schenken, und schnappte darum entsetzt nach Luft, als Vanozza es mir aus der Hand riss, als wäre es eine verschmutzte Serviette.

Absichtlich grob fuhr sie mit den Fingern darüber. Prompt verfing sich einer ihrer Ringe in einem Stich in der Darstellung des Stiers, an dessen Vervollkommnung ich stundenlang gearbeitet hatte.

»Zufriedenstellend«, kommentierte sie. »Auch wenn er eher an Juno als an den Minotaurus erinnert.«

Ich entwand ihr den Bezug. »Suora Constanza sagt, dass meine Stickerei besser ist als die jedes anderen Mädchens in San Sisto. Sie meint, ich könnte Lumpen für die Armen machen, und selbst dann würde die Heilige Jungfrau weinen, weil sie so schön sind.«

Vanozza lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. »Glaubst du? Ich würde meinen, die Heilige Jungfrau sollte besser weinen, weil du so frech zu deiner eigenen Mutter bist.«

»Schsch«, beschwichtigte Adriana. »Nicht streiten. Wir sitzen ohnehin wie auf Kohlen wegen dieser ewigen Warterei auf das Ende des Konklaves – und dazu diese schreckliche Hitze! Da brauchen wir doch keine bösen …«

»Warum?«, flüsterte ich, den Blick immer noch auf meine Mutter gerichtet, und unterbrach damit Adriana. »Warum hasst Ihr mich so sehr?«

Meine unerwarteten Worte bewirkten eine Veränderung in Vanozzas Miene. Für einen flüchtigen Moment bemerkte ich, wie sie weicher wurde und die Andeutung eines verborgenen Kummers zu erkennen gab. Dann löste sich alles wieder auf, und sie presste ihre Lippen zu einem Strich zusammen.

»Wenn du noch in meiner Obhut wärst, würde ich deinen Kopf gegen die Wand schlagen, bis du den richtigen Respekt vor den Älteren gelernt hast.«

Ich hatte keinen Zweifel daran, dass sie das tun würde. Mir waren meine von ihren Ohrfeigen brennenden Wangen noch in lebhafter Erinnerung. Sie war schon immer schnell in Wut geraten, oft wegen belangloser Missgeschicke wie Grasflecken am Rocksaum oder einem aufgerissenen Ärmel. Ich hatte ihren Zorn fast genauso gefürchtet wie ihre Befragungen von Wahrsagern und Astrologen und ihr nächtliches Ritual mit den Tarotkarten, vor denen mir besonders graute, waren sie doch mit dem Makel der Hexerei behaftet und von unserer heiligen Kirche verboten.

Adriana seufzte. »Lucrezia, was, um alles in der Welt, ist nur in dich gefahren? Donna Cattanei ist unser Gast. Du entschuldigst dich auf der Stelle.«

Mir den beschädigten Kissenbezug an die Brust drückend, murmelte ich: »Vergebt mir, Donna Vanozza«, und wandte mich sogleich an Adriana. »Darf ich gehen?« Meine Mutter erstarrte. Sie wusste genau, dass meine Bitte eine Provokation war, eine Erklärung, dass sie keine Macht über mich hatte. Und es befriedigte mich unendlich, ihr wutverzerrtes Gesicht zu sehen, als Adriana sagte: »Natürlich, mein Kind. Diese Hitze setzt uns allen zu.«

Schon war ich bei der Tür. In meinem Rücken hörte ich Adriana murmeln: »Du musst ihr das nachsehen. Das arme Kind ist verstört. Ich habe sie erst vor zwei Tagen aus San Sisto geholt und damit ihren Tagesablauf durcheinandergebracht. Und das alles nur wegen dieser unerwarteten Sache mit dem Konklave. Sie fehlt im Unterricht und …«

Vanozza fiel ihr ins Wort. »Unsinn! Ich weiß nur zu gut, dass ihr Vater daran schuld ist. Er hat sie immer nach Strich und Faden verwöhnt, obwohl ich ihm ständig gepredigt habe, dass das nicht klug ist. Töchter wachsen heran; sie heiraten und verlassen uns. Sie bringen ihre eigenen Kinder auf die Welt, und von da an kommt bei ihnen ihre eigene Familie an erster Stelle. Aber Rodrigo will nichts davon hören. Nicht seine Lucrezia, sagt er, nicht seine farfallina. Sie ist etwas ganz Besonderes für ihn. Seit sie auf der Welt ist, vernachlässigt er alle anderen. Ich wage sogar zu behaupten: Nach unserem Sohn Juan ist sie das Einzige, das er wahrhaft liebt.«

Das Gift in ihrer Stimme fraß sich in mich hinein. Ohne einen Blick zurückzuwerfen, rannte ich hinaus. Bei der Treppe angekommen, musste ich mich an der Balustrade festhalten. Zitternd stieß ich einen Seufzer der Erleichterung aus.

Ich konnte mich nicht an einen einzigen Tag erinnern, an dem meine Mutter mir nicht ihre Verachtung gezeigt hätte. Gegenüber meinen älteren Brüdern Juan und Cesare war sie die Fürsorglichkeit in Person gewesen. Für sie hatte sie immer ein Lächeln und Worte der Ermutigung übriggehabt. Vor allem Cesare hatte sie in einem Ausmaß angebetet, dass sie zum Steinerweichen geheult hatte, als Papa ihn ins Priesterseminar von Pisa schickte. Das waren die einzigen Tränen, die ich sie je hatte vergießen sehen. Sogar mein jüngster Bruder, Jofré, der bisher nichts Nennenswertes geleistet hatte, hatte bereits jetzt von ihr weit mehr Zuwendung erfahren als ich in meinem ganzen Leben. Ich war ihre einzige Tochter, die sie eigentlich unter ihre Fittiche nehmen sollte; stattdessen war sie stets kalt und fordernd gewesen, als wäre meine bloße Existenz in ihren Augen ein einziger Stein des Anstoßes. Verstanden hatte ich das nie, obwohl ich mich meine ganze Kindheit über danach gesehnt hatte, ihrer Verachtung und Ignoranz zu entgehen. Dann plötzlich wurden meine Gebete erhört, und ich kam bei Adriana unter. Sie verstand es, mir zu vermitteln, dass ich wichtig und es wert war, angebetet zu werden, ja, dass ich tatsächlich etwas so Besonderes war, wie Papa immer behauptete.

Plötzlich überkam mich Sehnsucht nach ihm. Er besuchte uns, sooft er konnte; hier, bei Adriana, brauchte er sich nicht mehr zu verstellen. In Vanozzas Haus hatten wir ihn unseren Onkel nennen müssen, weil Vanozza verheiratet war und der Anschein gewahrt werden musste. Hier dagegen waren diese Notlügen nicht nötig. Nach dem Abendessen nahm mich Papa gern in seine kräftigen Arme, streichelte mir übers Haar und ließ mich auf seinem Schoß sitzen, während er mich mit Geschichten über unsere Vorfahren unterhielt. Denn dass wir keine Italiener waren, durften wir nie vergessen. Auch wenn sein Onkel Papst Calixtus III. gewesen war und unsere Familie seit Generationen ihren Sitz in Rom hatte, waren wir immer noch von katalanischem Geblüt und stammten aus dem Ebro-Tal im Königreich Aragón. Unser spanischer Nachname war Borja; unsere Ahnen hatten in den Kreuzzügen gegen die Mauren gekämpft und Titel, Ländereien und königliche Gunstbeweise angehäuft, die es uns ermöglicht hatten, in die Dienste der Kirche zu treten, dort weit nach oben zu kommen und sogar im Bistum St. Peter in Rom Einzug zu halten.

»Aber eines muss du immer im Gedächtnis behalten, meine farfallina«, erklärte mir Papa häufig. »Wie hoch hinauf wir auch kommen oder wie reich wir auch werden, wir müssen einander stets beschützen wie Löwen in einem Rudel, denn die Italiener betrachten uns als Fremde, die sie nie als Einheimische akzeptieren werden.«

»Aber ich bin hier geboren und sehe Euch überhaupt nicht ähnlich«, wandte ich einmal ein, den Blick in seine magnetischen dunklen Augen versenkt und die Hand auf seine fast schwarze Wange gelegt. »Und trotzdem bin ich hier eine Fremde?«

»Selbst wenn du von deiner Mutter die helle Haut der Italiener hast, bist du dennoch eine Borgia, mein Schmetterling«, schmunzelte er. »Danke Gott dafür. Du willst doch nicht wie ich einem spanischen Ochsen gleichen!« Er zog mich fester an sich. »In deinen Adern fließt mein sangre: das Blut der Borja. Das ist alles, was zählt. Unser Blut ist das Einzige, dem wir trauen können, das Einzige, das es wert ist, dafür zu sterben. Blut ist Familie, und la familia es sagrada. Die Familie ist heilig.« Er gab mir einen Kuss. »Du bist meine geliebte Tochter, die Perle in der Auster. Vergiss das nie. Eines Tages wird dieses erbärmliche Land, das uns so sehr verachtet, auf die Knie sinken und uns ein Loblied singen. Und du wirst sie alle verblüffen, meine schöne Lucrezia.«

Auch wenn ich nicht begriff, wie ich es je schaffen sollte, dass Italien vor mir kniete (es war schon schwierig genug, die Nonnen von San Sistino zufriedenzustellen), brach ich in Lachen aus und zwickte ihn in die große Hakennase, denn ich wusste, er hatte zwar noch andere Töchter, die er mit anderen Frauen gezeugt hatte, aber keine davon – dessen war ich mir ganz sicher – hatte je solch zärtliche Worte von ihm gehört. Ich erkannte es in seinen Augen, dem strahlenden Lächeln, das sich auf seinem Gesicht ausbreitete, und an seiner Umarmung, die noch fester wurde. Der große Kardinal Borgia, der von so vielen um seinen Reichtum und seine Hartnäckigkeit beneidet wurde, der als der vertrauenswürdigste Diener der römischen Kirche galt, liebte mich mehr als jeden anderen Menschen. Ich räkelte mich auf seinem Schoß, weil ihm das behagte und sein Lachen dann wie hervorquellende Lava brodelte, bis es mit einem Donnern aus ihm hervorbrach, sodass die Mauern des Palazzo zu beben schienen – überschwänglich und stolz, grob wie ungekämmter Samt und getränkt mit einer ansteckenden Lebensfreude. In diesem Lachen klang seine Liebe mit; eine Liebe, die ich auch spürte, wenn er mich mit Küssen überschüttete und neckte. »Was für ein kokettes, kleines Ding du doch bist! Wie deine Mutter in ihren jungen Jahren: Sie konnte auch die Augen in die meinen versenken und mich dahinschmelzen lassen.«

Ich konnte mir kaum vorstellen, dass Vanozza die Augen in die von irgendjemandem versenkte. Schlimmer noch, bei ihr genügte ein böser Blick, eine höhnische Bemerkung, um jedes freudige Gefühl zu Pulver zerfallen zu lassen.

Allerdings begriff ich jetzt zum ersten Mal, warum sie mich hasste.

Seit sie auf der Welt ist, vernachlässigt er alle anderen …

Ich hatte etwas, das Vanozza nicht mehr besaß: Papas Liebe.

Ein klägliches Miauen riss mich aus meiner Träumerei. Ich bückte mich und lockte Arancino hinter einer der zerbrochenen antiken Statuen auf dem Treppenabsatz hervor. Als ich ihn hochhob, hörte ich Schritte über den cortile hallen. Meinen Kater in den Armen, spähte ich über die Balustrade zum Innenhof hinunter und sah Adrianas Schwiegertochter, Giulia Farnese, hereineilen.

Im Gehen nahm sie ihr Cape ab und warf es ihrer Zofe zu. Hastig fuhr sie sich mit den Händen durch die zerzausten Haare, ehe sie die Treppe zum piano nobile hinauflief, wo unsere Gemächer lagen. Ihre mit Korallenformen gemusterte Seidenrobe klebte an ihrer schweißnassen Haut. Ihr Gesicht war gerötet. In ihrem Bemühen, kein Geräusch zu verursachen, bemerkte sie mich erst, als sie mir fast auf die Zehen trat. Mit einem erstickten Aufschrei blieb sie stehen. Ihre dunklen Augen loderten.

»Lucrezia! Dio mio, hast du mich erschreckt! Was schleichst du hier herum?«

»Psst!« Ich hielt mir den Zeigefinger an die Lippen und schielte zur Tür des Gemachs hinüber, in dem Adrianas Murmeln gelegentlich vom Stakkato der Kommentare meiner Mutter unterbrochen wurde.

»Vanozza?«, fragte Giulia lautlos. Ich nickte und unterdrückte ein Kichern. Sie und meine Mutter hatten sich vor zwei Jahren kennengelernt, als Vanozza zu Giulias Hochzeit mit Adrianas Sohn Orsino geladen war. Nach der Zeremonie, die von meinem Vater abgehalten wurde, gab es ein Bankett. Mit zornig blitzenden Augen beobachtete meine Mutter, wie Papa Giulia einen Rubinanhänger schenkte. Als er ihr die Kette um den Hals legte, stieß Giulia ein entzücktes Lachen aus, das durch den ganzen Saal hallte. Da ich direkt neben meiner Mutter platziert worden war, konnte ich nur zu deutlich sehen, wie ihre Miene sich verfinsterte. Und als wenig später Giulia ihren Mann Orsino auf die Tanzfläche führte und ihn mit ihrer mühelosen Anmut wie eine an zerrissenen Fäden hängende Marionette aussehen ließ, hörte ich meine Mutter fauchen: »So weit sind wir also schon gekommen, dass du mich wegen eines Mädchens fallenlässt, das noch keine Haare an der Spalte hat?«

Papa starrte sie böse an. Das fiel mir besonders auf, da er in der Öffentlichkeit normalerweise seinen Ärger nie zeigte. Zwischen zusammengepressten Zähnen zischte er: »Vanozza, gleichgültig, zu welchen Höhen ich dich erhebe, du wirst immer in der Gosse bleiben.«

Verstohlen hatte ich mich daran geweidet, wie sich der Schock über Vanozzas Gesicht ausbreitete. Bald danach rauschte sie, ihren willfährigen Gemahl im Schlepptau, davon. Im Gehen warf sie jedoch einen verzweifelten Blick über die Schulter, nur um Giulia im Takt der Trommel und der Fiedeln durch den Saal wirbeln zu sehen, während mein Vater sie vom Podest aus anstrahlte und den Rhythmus auf der gepolsterten Armlehne seines Sessels mitklopfte.

Während ich nun Giulia, Schweißperlen auf der Stirn und mit von verbotener Erregung leuchtenden Augen, betrachtete, fiel mir wieder ein, wie Papas Hände an ihrer Kehle verweilt hatten, als er ihr jene Halskette mit den Rubinen anlegte, und der Widerschein seiner juwelenbesetzten Ringe ihre Haut zum Leuchten brachte …

Giulia war jetzt achtzehn Jahre alt. Sie war kein Kind mehr.

»Wo warst du?«, wollte ich wissen. »Adriana hat geglaubt, du würdest oben ein Nickerchen halten.«

Zur Antwort ergriff mich Giulia an der Hand und zerrte mich die Treppe hinauf ins zweite Stockwerk, wo unsere Bettkammern lagen. Arancino ließ es sich gefallen, dass ich ihn an mich presste, als wir in mein Gemach traten und über die Binsen und frisch ausgestreuten Kräuter stapften. Die Wände waren in meinen Lieblingsfarben, Blau und Gelb, gestrichen. In der Nische, wo mein schmales Bett stand, flackerte eine Votivkerze vor einer byzantinischen Ikone mit der Heiligen Jungfrau und ihrem Kind, ein Geschenk meines Vaters. In einer Ecke stapelten sich in Leder gebundene Bände, die mir Cesare von seiner Universität in Pisa geschickt hatte – Sonette von Petrarca und Dante, die ich bei Kerzenlicht bis spät in die Nacht hinein verschlang.

»Gott im Himmel, das ist ein Inferno dort draußen!«, stöhnte Giulia und deutete auf die Wasserschüssel und die Karaffe auf dem Seitentisch. »Sei so lieb und bring mir ein nasses Tuch. Ich schwöre dir, ich falle sonst in Ohnmacht.«

Ich setzte Arancino ab und tat, worum sie mich gebeten hatte. »Du warst auf der Piazza, nicht wahr?«

Sie seufzte. Die Augen halb geschlossen, tupfte sie sich Kehle und Dekolleté ab. Ungeduldig wartete ich, bis sie sich endlich erfrischt fühlte.

»Und? Warst du auf dem großen Platz vor der Peterskirche?«

Sie öffnete die Augen. »Was glaubst du?«

Ich sog scharf die Luft ein. »Du bist ohne Erlaubnis ausgegangen, obwohl Adriana uns eingeschärft hatte, im Haus zu bleiben.«

»Natürlich«, erwiderte Giulia beiläufig, als wäre es völlig normal, dass junge Edelfräulein ohne Begleitung oder Anstandsdame durch die Straßen flanierten, während die Stadt gespannt auf das Ergebnis des Konklaves wartete.

»Und … hast du etwas gesehen?«

»Und ob. Horden von tobenden Rüpeln, die Rache geschworen haben, wenn Kardinal della Rovere nicht gewählt wird.« Sie schnitt eine Grimasse. »Sie haben auf der ganzen Piazza ihren Dreck hinterlassen und die dort versammelten Gläubigen ausgeraubt. Die päpstliche Garde musste sie vertreiben. Was für eine Schande!«

»Adriana hat uns ja gewarnt. Sie hat gesagt, auf den Straßen ist es gefährlich, wenn ein neuer Papst gewählt wird.«

Giulia grinste. »Verrate mir doch bitte eines: Ist Adriana bei uns? Oder spreche ich mit meiner Lucrezia?« Als sie aber meine Bestürzung bemerkte – denn sosehr ich Adriana liebte, wollte ich doch gewiss nicht sein wie sie –, fügte sie hinzu: »Natürlich war es gefährlich, aber wie hätte ich sonst irgendwelche Neuigkeiten erfahren? Es ist ja nicht so, als ob Adriana uns das verraten könnte.« Aufgeregt fuhr sie fort: »Im Konklave herrscht ein Patt. Keiner von den Kandidaten hat bis jetzt genügend Stimmen auf sich vereinigen können. Aber ab morgen bekommen sie nur noch Wasser und Brot.«

Ich vergaß meine Verärgerung und setzte mich aufs Bett. Je mehr Zeit die Kardinäle für die Wahl eines neuen Papstes benötigten, desto beschwerlicher wurde ihnen die Klausur in der Sixtinischen Kapelle gemacht, das wusste ich bereits. Blieb der päpstliche Thron zu lange leer, breitete sich in der Stadt Gesetzlosigkeit aus, und von der Beschneidung der Privilegien für die Kardinäle versprach man sich eine Beschleunigung der Wahl. Nun, da vier Tage ohne Ergebnis vergangen waren, saß ganz Rom wie auf glühenden Kohlen.

»Sie müssen alle ziemlich ausgehungert sein«, fuhr Giulia fort. »Abgesehen davon werden sie dort drinnen bei lebendigem Leib gebraten, weil sämtliche Türen und Fenster zugemauert sind. Aber keiner von den Kandidaten kann gewinnen – außer deinem Vater, und er ist dabei, die Unentschiedenen auf seine Seite zu ziehen.« Sie hielt inne, um ihren Worten mehr Gewicht zu verleihen. »Wenn alles nach Plan verläuft, wird Kardinal Borgia unser neuer Heiliger Vater.«

Ich widerstand dem Drang, die Augen zu verdrehen. Giulia konnte schrecklich dramatisch sein.

»Papa hat schon ein Mal verloren«, hielt ich ihr entgegen. Dass er sogar zwei Niederlagen erlitten hatte, erwähnte ich nicht. Ich war damals noch zu jung gewesen, um seine Rückschläge verstehen zu können, doch die Geschichte seiner Enttäuschungen war oft genug in meinem Beisein wiederholt worden. Mein Vater hatte nie aufgehört zu erklären, dass er sich bei Gott eines Tages einfach die Ehre verdienen musste, als erster Borgia in die Fußstapfen seines verstorbenen Onkels, Calixtus III., zu folgen. Aber seitdem hatte es andere Päpste gegeben, darunter den gerade erst verschiedenen Innozenz, dem Papa treu gedient hatte. Allerdings konnte man bisher nicht erkennen, dass ihm seine Loyalität die längst fällige Belohnung einbringen würde.

»Das war einmal«, belehrte mich Giulia. »Jetzt ist alles anders. Also wirklich, Lucrezia, bringen dir die Nonnen in San Sisto denn gar nichts über die Welt außerhalb ihrer Mauern bei?« Sie wartete meine Antwort nicht ab und ignorierte meine böse Miene, während sie sich das Haarnetz herunterzupfte und die feuchten kastanienbraunen Locken über ihre Schultern fallen ließ. »Lass es mich dir erklären: Lorenzo di Medici von Florenz ist tot, und Mailand wird jetzt von Sforza regiert, diesem Tyrannen, den sie Il Moro nennen. Venedig hält sich heraus, während das königliche Haus in Neapel zwischen Frankreich und Spanien zerrieben wird, die beide ein Recht auf den Thron beanspruchen. Allein der Papst kann ein größeres Chaos verhindern. Mehr denn je braucht Rom jetzt einen Führer, der die Pfade der Macht kennt und unsere … Ach, du willst das ja gar nicht hören!« Sie unterbrach sich verärgert, denn aus Langeweile angesichts ihres selbstgerechten Gebarens hatte ich meine Aufmerksamkeit Arancino zugewandt, der in der Ecke einer Fliege auflauerte. »Ich weiß nicht, warum ich mir so viel Mühe mit dir gebe. Du bist ja noch ein richtiges Kind!«

Ihre Spitze ließ mich alle Vorsicht vergessen. Bis zu diesem Moment hatte ich es nie gewagt, an Giulia zu zweifeln. Immer hatte ich sie als meine viel weltgewandtere, wenn auch bisweilen irritierende ältere Schwester betrachtet. Die letzten fünf Jahre hatten wir hier als Gefährtinnen verbracht, aber sie war bereits verheiratet und in Roma als la bella Farnese bekannt – wohingegen ich immer noch das stille Mädchen mit der flachen Brust war, das noch nichts von den Geheimnissen der Weiblichkeit zu wissen brauchte. Etwas hatte ich heute jedoch erfahren: nämlich dass ich eine Gabe besaß, um die mich sogar meine Mutter beneidete. Und ich hatte nicht vor, mich noch länger wie ein dummes Mädchen behandeln zu lassen.

»Wenn ich noch ein Kind bin«, verkündete ich, »dann kann mir wohl kaum jemand die Schuld geben, wenn ich mich verplappere und alle erfahren, dass du heute unerlaubt in der Stadt gewesen bist und riskiert hast, dass die Leute sich den Mund über dich zerreißen.«

Die Finger noch immer in den Haaren, erstarrte Giulia. Lange musterte sie mich schweigend, bis schließlich ein Lächeln über ihr Gesicht kroch. »Sind das etwa Worte der Erpressung, die ich da höre? Du bist in der Tat eine wahre Borgia.«

Wilde Freude stieg in mir hoch. »Nun, wenn deine Behauptung zutrifft und Papa tatsächlich im Begriff ist, der neue Papst zu werden, dann verdiene ich es gewiss, zu erfahren, inwieweit das mich betrifft.«

»Allerdings.« Sie benetzte sich die Lippen. »Was genau möchtest du wissen?«

»Alles.« Zu meiner Überraschung meinte ich es genau so, wie ich es sagte, obwohl mich all die Intrigen bisher nie interessiert hatten. Da mich der Unterricht in San Sisto zur Genüge beschäftigte, setzte ich nur selten einen Fuß in den Vatikan. Jetzt aber vollzogen sich vor meiner Haustür bedeutende Veränderungen, und mitten in ihrem Herzen stand mein Vater. Plötzlich schien meine ganze Zukunft in der Schwebe zu sein und mich mit ungeahnten Möglichkeiten zu locken.

Giulia beugte sich zu mir vor. »Nun, bei ihrem Einzug in die Kapelle waren sich die Kardinäle sicher, dass Kardinal della Rovere gewinnen würde. Schließlich führt er seine Kampagne um die päpstliche Tiara schon seit Monaten und besticht so gut wie jeden, der nicht völlig abgeneigt ist. Es geht sogar das Gerücht, dass König Charles von Frankreich höchstpersönlich zwanzigtausend Dukaten gezahlt hat, um della Rovere die Wahl zu sichern. Aber als die Fenster zugemauert und die Türen mit Ketten versiegelt waren, hatte della Rovere es auf einmal doch nicht mehr so leicht. Er hat mehr Feinde, als er dachte. Kardinal Sforza von Mailand beispielsweise widersetzt sich ihm. Il Moro möchte keinen französischen Speichellecker auf dem Thron haben, und …«

Ich fiel ihr ins Wort. »Woher weißt du das alles?« Arancino sprang auf die Matratze und begann zu schnurren. Die Augen weiter auf Giulia gerichtet, streichelte ich ihn. »Ist im Konklave denn nicht jeder Verkehr mit der Außenwelt verboten, weil der Ablauf der Wahl nur auf diese Weise heilig bleiben kann?«

Damit wollte ich ihr beweisen, dass ich nicht so unwissend war, wie sie glaubte, doch sie fegte meinen Einwand mit einer ungeduldigen Geste beiseite. »Ja, ja, heilig – für die Meute vielleicht, die sich auf der Piazza drängelt, aber nicht für diejenigen, die mit den Abläufen im Vatikan vertraut sind. Papst Innozenz war schon Monate vor seinem Tod krank. Das hat Rodrigo reichlich Zeit verschafft, Verbündete zu gewinnen, auch wenn ihm niemand den Sieg zutraute. Auf die gleiche Art wird übrigens auch ein palio gewonnen. Niemand achtet darauf, wie das langsame Pferd aufholt, man sieht es erst, wenn es als Erstes durchs Ziel galoppiert.

Rodrigo …

Zum ersten Mal hörte ich sie den Vornamen meines Vaters aussprechen, und die Vertrautheit in ihrem Ton klang geradezu nach Blasphemie. Bis dahin war er stets Kardinal Borgia für sie gewesen, unser gutmütiger Wohltäter. Der Verdacht, der in mir gekeimt hatte, als ich ihr auf der Treppe begegnet war, kehrte zurück. Schlagartig klang meine Stimme schärfer. »Heißt das, dass Papa dir all das gesagt hat? Hat er etwa dich in seine Pläne eingeweiht?«

»Das nicht unbedingt, aber selbst wenn das Konklave von der Welt abgeschnitten ist, müssen die Bediensteten immer noch ihre Arbeit verrichten. Sie müssen Nachttöpfe leeren und Botschaften überbringen. Und Diener sind wie Kardinäle: Man kann sie bestechen.«

Mir verschlug es die Sprache. Mit ein paar Worten hatte Giulia mir offenbart, wie wenig ich in Wahrheit wusste.

»Und …?«, fragte ich schließlich.

Nun sprudelte es förmlich aus Giulia heraus. Aufgeregt beschrieb sie Ereignisse, von denen sie eigentlich nichts hätte wissen dürfen, ganz so, als wäre sie selbst zusammen mit meinem Vater und den anderen Kardinälen im Vatikan eingemauert gewesen. »Nach dem dritten Wahlgang war klar, dass della Rovere nicht gewinnen konnte. Auch Kardinal Sforza fehlten die nötigen zwei Drittel der Stimmen. Dein Vater hielt eine Rede, mit der er ein paar Männer auf seine Seite ziehen konnte. Und dann machte er seinen entscheidenden Zug. Er versprach Kardinal Sforza sein bisheriges Amt als Vizekanzler.« Ein triumphierendes Lächeln spannte sich über ihr Gesicht. »Damit gewann er Sforza für sich, das steht fest. Der Mann steckt bis über beide Ohren in Schulden, und das Amt des Vizekanzlers ist das lukrativste im ganzen Vatikan. Bis morgen könnte die Wahl also vorbei sein. Deinem Vater fehlt nur noch eine Stimme. Eine! Und wie ich ihn kenne, wird er tun, was auch immer nötig ist, um sie sich zu sichern.«

Aufgeregt ließ ich mich nach hinten fallen. Die Frage, wie es Giulia gelungen war, sich derart privilegiertes Wissen zu verschaffen, beschäftigte mich nicht mehr. Stattdessen hatte ich nur noch ein einziges Bild vor Augen: mein Vater, ganz in Weiß und Gold gekleidet, an seinem Finger den Fischerring des heiligen Petrus.

»Papa könnte Papst werden«, ächzte ich ungläubig.

Giulia klatschte in die Hände. »Stell dir das nur vor! Es wird so viel zu genießen geben, so vieles, das unsere Tage von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang ausfüllt. Du wirst die begehrteste Frau am Hof deines Vaters sein, die geliebte Tochter Seiner Heiligkeit.« Sie umarmte mich. An sie gepresst, hörte ich sie flüstern: »Morgen, Lucrezia. Morgen wird alles anders.«

Ich schloss die Augen und gab mich ihrer Begeisterung hin, obwohl mich zugleich auch ein Angstschauder überlief. Ich war mir nicht sicher, ob es wirklich so erstrebenswert war, die Tochter des Papstes zu sein.

2

Beim Abendessen war es vorbei mit Giulias Zurückhaltung, und sie platzte mit den Neuigkeiten heraus. Dafür handelte sie sich ein missbilligendes Schnauben von Adriana ein, ebenso von meiner Mutter, die es zweifellos verdross, dass ihre Tarotkarten bei einer derart bedeutenden Kunde versagt hatten. Gleichwohl konnte die Tragweite dieses Ereignisses nicht ignoriert werden. Vanozza und Adriana zogen sich zu einer dringenden Debatte in den großen Saal zurück, während Giulia und ich nach oben in unsere Gemächer liefen, wo wir eine schlaflose Nacht verbrachten.

Als der fünfte Tag des Konklaves anbrach, verkündete Adriana, dass wir uns zum Vatikan begeben mussten. Wenn mein Vater tatsächlich Papst wurde, wie Giulia behauptete, mussten wir dort sein, um von der Entscheidung an Ort und Stelle zu erfahren. Doch bevor wir aufbrachen, scheuchte Giulia Adriana, Vanozza (die die Nacht in einem freien Gemach verbracht hatte) und mich in die Kapelle, damit wir für Papas Wahl beteten.

Mit vor Schlaflosigkeit brennenden Augen kniete ich mich vor den Altar. Noch immer dröhnten mir die Ohren von Giulias Geplapper über all den Schmuck, die Kleider, Pelze und sonstigen Zeichen des Reichtums, die bald unser sein würden. Ein Teil in mir schien allerdings eine Strömung zu spüren, die sich zu einer Sturzflut auswachsen und uns mitsamt unserer Vergangenheit mitreißen konnte, nur um uns eine Zukunft zu bescheren, von der wir keinerlei Vorstellung hatten.

Darüber hinaus hatte ich es nicht nötig zu beten. Papa würde so oder so gewinnen, davon war ich überzeugt. Wie Giulia gesagt hatte: Er würde alles tun, um sein Ziel zu erreichen. Nach dem Gang in die Kapelle legten wir mit Hilfe der Bediensteten unsere Umhänge an und verbargen unsere Gesichter hinter Schleiern. Niemand durfte uns erkennen. Darum verzichteten wir auch auf Kutsche oder Sänfte. Als wir durch die Straßen eilten, achtete ich nicht auf die vor uns davonlaufenden wilden Hunde und ungehemmt kopulierenden Schweine und spürte kaum die Pflastersteine unter meinen Füßen, so begierig war ich darauf, den Vatikan zu erreichen. Sogar die bösartigen Seitenblicke meiner Mutter vermochte ich zu ignorieren.

Du wirst die begehrteste Frau am Hof deines Vaters sein …

Nachdem wir die Brücke Ponte San’ Angelo überquert hatten, führte uns eine schmale Straße den Berg hinauf zum Vatikan. Der heilige Staat bestand aus einem gewaltigen Ziegelbau, dem Apostolischen Palast, wo die Päpste residierten, und einem verwirrenden Durcheinander von Gebäuden, Durchgängen und Innenhöfen. Alles war irgendwie mit der heiligen Basilika verbunden, die über der Kreuzigungsstätte des heiligen Petrus errichtet worden war, dem Gründer unserer Kirche.

Wir befanden uns mitten im Herzen Roms, vor uns die altehrwürdigen Bilder unseres Glaubens. Vielleicht lag es daran, dass ich nicht so oft in den Vatikan kam, jedenfalls verblüffte es mich, wie schlicht und verfallen hier alles wirkte: So weit das Auge reichte, nichts als rote Ziegeldächer und abbröckelnde Fassaden, geschmückt von zahlreichen, durch Schimmelflecke verunstalteten Steinengeln und gesichtslosen Heiligen, die grübelnd auf das Kopfsteinpflaster des Platzes hinabblickten. Von meiner Warte aus vermochte ich den riesigen Springbrunnen im Atrium des Palastes kaum auszumachen, der nicht nur die angrenzenden Häuser mit Trinkwasser versorgte. Als Kind hatte ich oft die Füße hineingestreckt. Was ich sehen konnte, war der offene Säulengang um den Palast herum. Normalerweise boten dort Scharen von Hausierern billigen Schmuck feil, und Straßenhändler verkauften die köstlichen gerösteten Kichererbsen – aber heute herrschte gähnende Leere, denn Soldaten der päpstlichen Garde versperrten jeden Zugang.

Es war noch früh am Morgen. Eine seltene kühle Brise wehte, doch dessen ungeachtet brach ich unter meinem Umhang in Schweiß aus. Mir knurrte der Magen. In ihrem Eifer, uns hierher zu bringen, hatte Adriana unser Frühstück vergessen. Was hätte ich jetzt für eine Tüte geröstete Kichererbsen gegeben! Wir hatten uns als fromme Frauen ausstaffiert, die gekommen waren, um zu erfahren, ob wir bald einen neuen Heiligen Vater hatten, aber noch lag der Petersplatz verlassen da. Nur ein paar Dunstschwaden hingen über den unebenen Pflastersteinen. Noch mehr Wächter bemannten die äußeren Treppen, lehnten gegen die abblätternden Mauern und hatten die verquollenen Gesichter von Männern, die zu wenig geschlafen und zu viel gezecht hatten.

Dann brach die Sonne zwischen den Wolken durch. Nach und nach tauchten Leute auf – schwarz gekleidete Witwen, die ihre Rosenkränze durch die Finger gleiten ließen; abgehetzte Mütter mit verschmutzten Kindern an den Händen; Männer, die respektvoll den Hut in der Hand trugen; Händler und Straßenverkäufer und schließlich die Bewohner der Unterwelt – die Huren in leichten Kleidern und knappen Miedern, Diebe mit lauernden Blicken und Beutelschneider mit flinken Fingern und winzigen Messern. Binnen Minuten donnerte das Fußgetrappel Tausender über den Platz – ganz Rom schien sich in Windeseile südlich der verfallenden Basilika vor dem von Säulen umstandenen Eingang zum Vatikan zu sammeln und drängte sich so nahe heran, wie es nur möglich war, ohne die Wachen auf den Plan zu rufen. Alle blickten zum Fenster der Sixtinischen Kapelle, das nur behelfsmäßig zugemauert worden war, damit die Ziegel schnell und mühelos eingerissen werden konnten, wenn es daran ging, den neuen Papst auszurufen.

Umringt von unseren Dienern, die eine regelrechte Barrikade um uns herum bildeten, mischten wir uns unter die Leute.

Die meisten Frauen sanken auf die Knie. Giulia warf mir unter ihrem Schleier einen konsternierten Blick zu, der mich fast zum Kichern brachte. Sie hatte Angst, ihre prächtige tiefblaue Robe zu beschmutzen, auf der sie heute mit Macht bestanden hatte. Damit wollte sie verhindern, dass Adriana uns in einer ihrer häufigen Anwandlungen von Frömmigkeit befahl, uns ebenfalls hinzuknien. Es konnte noch Stunden dauern, bis eine Kunde aus dem Konklave drang, sofern das heute überhaupt geschah. Ein kritischer Blick auf die uralten Pflastersteine, an denen in Jahrhunderten angesammelte Abfälle klebten, genügte mir, um Giulias Abneigung zu teilen, obwohl meine Robe nur aus schlichtem Leinen bestand. Angesichts meines Hungers und des Schmutzes um mich herum wünschte ich mir allmählich, ich wäre, Arancino auf dem Schoß, zu Hause geblieben, weit entfernt von diesem Gesindel …

Meine Mutter fasste mich am Arm. »Bilde dir nur nicht ein, irgendetwas davon könnte noch dein Schicksal ändern, gleich, wie. Du bist verlobt; komme, was wolle, du wirst nach Spanien gehen, weit weg von Rom und von ihm. Er wird nie dein sein.«

Ich wandte mich zu ihr um. Ihre Augen bohrten sich in die meinen. »Er ist mein Vater«, erklärte ich. »Also ist er ja schon mein.«

Mit vor Zorn verzerrtem Mund fauchte sie: »Nicht mehr lang. Glaubst du, er kann seine unverheiratete Tochter vor den Augen aller Leute hierbehalten? Söhne – ja; ein Papst kann immer etwas für seine Söhne finden, diskrete Posten mit Einfluss, sodass sie seine Ziele fördern können. Aber eine Tochter muss an einen Ort verheiratet werden, den er für angebracht erachtet.«

Ein eisiges Gefühl befiel mich. Adriana und Giulia drehten sich mit fragenden Mienen zu uns um. Bevor sie eingreifen konnten, kam Bewegung in die Menge, alle drängten nach vorn, und ein Freudenschrei ertönte. Meine Augen folgten den nach oben weisenden Fingern, und schon fegte wie ein Windstoß ein Flüstern aus allen Mündern über den Platz: »Habemus papam!«

Benommen beobachtete ich, wie die Ziegel vor dem Fenster herausgeschlagen wurden. Hinter einer Wolke aus rötlichem Staub flog schließlich die Scheibe auf. Ich erhaschte einen Blick auf schattenhafte, in Roben gehüllte Gestalten in der Kapelle, ehe eine davon ans Fenster trat und eine Handvoll wunderschöne weiße Federn hinauswarf. Langsam trieben sie durch die Luft, bis sie auf den Pflastersteinen landeten. Erneut regte sich die Menge. Jeder preschte vor, um eine der Federn zu ergattern. Erst jetzt, als auch Giulia nach vorn sprang, erkannte ich, dass es gar keine Federn waren, sondern kleine, in der Mitte gefaltete Papierschnitzel.

Ohne sich um Schmutzflecken auf ihren Röcken zu kümmern, erbeutete Giulia einen dieser Fetzen. Gespannt spähten ihr Adriana und meine Mutter über die Schulter, als sie ihn entfaltete und den Inhalt vorlas: »Wir haben einen Papst, Kardinal Rodrigo Borgia von Valencia, von nun an Alexander VI.«

»Deo gratias!«, rief Adriana. Tränen strömten ihr über die Wangen. Um mich herum waren alle Menschen auf dem Platz in Jubel ausgebrochen, aber ich hörte nichts. Weder bekam ich das aufgeregte Ringen der Leute um die letzten Papierschnitzel mit, noch die panischen Schreie derer, denen Hände und Finger zertreten wurden.

Erst nach einer Weile nahm ich wieder Laute wahr, einen Sprechchor: »Deo gratias, Roma per Borgia!«

Die ekstatischen Rufe verscheuchten die Tauben von ihren Nistplätzen auf den Dachsparren der Basilika. Und dann wurde auf einmal nur noch mein Familienname skandiert. In betäubter Verwunderung blickte ich mich um, als Giulia nach Luft schnappte. »Schau nur! Da ist er! Am Fenster!«

Unsere Diener schlossen den Kreis um uns, als die Menge angesichts von Papas sich silhouettenhaft abzeichnender Gestalt in begeistertes Gebrüll ausbrach. Nun hob Papa zum Zeichen der Segnung die Hand. Die Leute sanken auf die Knie. Adriana und meine Mutter taten es ihnen gleich und murmelten Dankesgebete. Aufgeregt zupfte mich Giulia am Rocksaum. »Du musst dich hinknien und deine Verehrung zeigen!«

Schon ganz taub von dem Begeisterungssturm, der meinen Vater bei seinem ersten Auftritt als Papst Alexander VI., unseren neuen Stellvertreter Christi, empfing, ließ ich mich taumelnd auf die Knie nieder.

»Roma per Borgia! Rom für Borgia!«

Die kehligen Rufe der Gläubigen drangen weit über den Platz hinaus und hallten in der Stadt wider. Ganz Italien musste sie hören, dessen war ich mir vollkommen sicher. Am liebsten hätte ich laut gelacht; und obwohl ich Papas Gesicht hinter dem Fenster, wo er mit erhobenen Händen stand, nicht sehen konnte, wusste ich, dass auch er sein unbändiges Lachen unterdrücken musste.

Er hatte triumphiert.

Wenige Augenblicke später näherte sich uns das Donnern von eisenbeschlagenen Hufen. Hastig rappelten wir uns auf, als auch schon eine Gruppe von Männern in Maulbeerrot und Gold, den Farben der Borgia, auf den Platz galoppierte. Da der Mann an der Spitze des Trupps offenbar nicht daran dachte, Rücksicht auf die immer noch knienden Gläubigen zu nehmen, krochen sie in panischer Angst zur Seite.

Unmittelbar vor mir zügelte der Anführer sein Pferd und riss sich die Kappe vom Kopf, sodass eine Kaskade aus dunkelbraunem Haar auf seine Schultern fiel. Mit einem Freudenschrei rannte ihm meine Mutter entgegen. »Juan, mio figlio! Wir haben den Tag gewonnen!«

Mein Bruder Juan ließ ein selbstsicheres Grinsen aufblitzen, und seine glitzernden blaugrünen Augen brachten das dunkle Gesicht zum Leuchten. Mit seinen sechzehn Jahren war er bereits ein Mann, dessen Samtwams sich um die muskulöse Brust spannte. Dank seiner markanten Züge und der Adlernase strahlte er ungezügelte Männlichkeit aus. Von uns allen ähnelte er unserem Vater am meisten, äußerlich zumindest.

»Wir mögen vielleicht den Tag gewonnen haben«, sagte er, »aber wenn Ihr bleibt, werdet Ihr sein Ende nicht erleben. Papa hat sich schon gedacht, dass Ihr hierherkommen werdet, obwohl er Euch befohlen hat, im Haus zu bleiben. Er hat mich hergeschickt. Ich soll euch alle zurück in Adrianas Palazzo scheuchen, bevor die Meute völlig außer Kontrolle gerät. Spätestens wenn es dunkel ist, wird es in ganz Rom keinen Platz mehr geben, der nicht vollgeschissen oder geplündert worden ist. Schon jetzt hat sich vor seinem Palast eine Horde zusammengerottet, um alles, was nicht niet- und nagelfest ist, an sich zu raffen.«

Ich starrte ihn entsetzt an. »Doch nicht seinen Palazzo!« Auf dem Grund einer alten Münzprägestätte errichtet, war das Haus unseres Vaters an der Via dei Bianchi berühmt für seinen Glanz; er selbst hatte jeden seiner mit Fresken geschmückten Räume mit erlesenen Wandteppichen aus Flandern und im Forum Romanum ausgegrabenen Antiquitäten gefüllt, und häufig hatte er dort Botschafter, Kardinäle und Könige bewirtet. Er verkündete gern, dass der Palazzo Borgia nach seinen Kindern sein am meisten geliebtes Besitztum war.

Juan zuckte mit den Schultern. »Da lässt sich nichts mehr machen. Wir haben Soldaten ausgesandt, damit sie wenigstens das Schlimmste verhindern, aber es ist nun einmal Brauch, die Meute an einem solchen Tag gewähren zu lassen. Der Heilige Vater hat weltliche Eitelkeiten nicht nötig. Jetzt ist er Gottes Diener und muss sein Eigentum der Herde zurückgeben.« Er warf einen verächtlichen Blick auf die Menschenmenge, aus der niemand es wagte, sich uns zu nähern. »Welche Vergeudung! Dieser erbärmliche Haufen wird alles in Brennholz verwandeln oder seine rotznäsigen Bälger darin einwickeln.«

»O nein!« Adriana wurde leichenblass. »Mein Haus! Wir müssen sofort zurück.«

Juan deutete auf seine Männer. »Sie werden Euch begleiten. Eine von euch werde ich auf meinem Pferd mitnehmen.« Schon drängte Giulia an mir vorbei, als seine Augen sich verengten. »Dich nicht.«

Sein eisiger Ton ließ sie erstarren. Er zeigte mit einem gekrümmten Finger auf mich. »Lucrezia, komm.«

Juan und ich waren uns nie nah gewesen. In unserer Kindheit hatte er mich gnadenlos geärgert und mir Würmer in die Schuhe gestopft und lebendige Frösche unter die Kissen gelegt, bis ich mich regelrecht davor fürchtete, in meine Kleider zu schlüpfen oder mich ins Bett zu legen. Unser Bruder Cesare meinte, dass Juan mich um die Aufmerksamkeit beneidete, mit der unser Vater mich überschüttete, denn vor mir war immer er Papas Liebling gewesen.

In diesem Moment überwog jedoch der Drang, der Menge zu entkommen, alles andere, sodass ich mich widerstandslos von einem der Söldner hochheben und hinter meinem Bruder in den Sattel setzen ließ. Juan ritt ein mächtiges Schlachtross, und als ich ängstlich die Hände um seine Taille legte, flüsterte er mir zu: »Halte dich nur gut fest, Schwester.« An seine Männer gewandt, befahl er: »Setzt meine Mutter und Adriana in eine Sänfte. Djem, du kümmerst dich um die Farnese!« Ich hörte meine Mutter entzückt kichern und sah, wie alle Farbe aus Giulias Wangen wich.

Der türkische Prinz Djem löste sich aus dem Kreis der Männer um Juan. Er ritt einen kleineren Araberhengst. Auf seinem Kopf türmte sich ein gewaltiger Turban, und um seine Mundwinkel kräuselte sich ein verächtliches Lächeln. Mit seinem dunklen, kantigen Gesicht und den verblüffenderweise blassgrünen Augen hätte man ihn für gut aussehend halten können, wäre ihm nicht ein übler Ruf vorausgeeilt. Nach Rom war er als Geisel gekommen, weil sein Bruder, der Sultan, ihn verbannt und sich bereit erklärt hatte, den Vatikan für seine Aufnahme zu entgelten. Mit seiner exotischen Tracht und seinem Hang zum Anrüchigen hatte er in Rom wiederholt Anstoß erregt. Gerüchten zufolge hatte er bei Schlägereien mehrere Männer umgebracht und dann auf ihre Leichen gespuckt. Aber er war Juans Lieblingsgefährte und wich nie weit von dessen Seite.

Giulia war entsetzt. »Du willst mein Leben diesem … diesem Heiden anvertrauen?«

»Besser einem Heiden als der Meute«, entgegnete Juan.

Im nächsten Moment wendete er sein Pferd. Mit einem Schlachtruf und einem Tritt in die Seiten seines Tieres brachte er uns im Galopp fort von der Piazza. Bürgern, die uns im Weg standen, blieb nichts anderes übrig, als sich zur Seite zu werfen.

Während wir an den Menschenmassen vorbeiflogen, die sich voller Vorfreude auf die baldigen Plünderungen zusammenrotteten, warf ich einen Blick über die Schulter zu Giulia. Die stand regungslos da und beobachtete Djem, der sie langsam umrundete. Wie ein Picador, der ein hilfloses Kalb peinigt, dachte ich.

Ich hatte einen ersten Vorgeschmack von meiner Macht bekommen, die ich laut Giulia bald besitzen würde. Ich war die Tochter des Papstes, sie dagegen nur die Gemahlin eines Orsini.

Sosehr ich mich bemühte, dieses Gefühl beiseitezuschieben, genoss ich die plötzliche Veränderung durchaus.

3

Juan und ich erreichten Adrianas Palast vor allen anderen. Dort drängte sich bereits eine Menschenmenge vor dem massiven Tor. Wütend schlug Juan mit seiner Peitsche auf die Leute ein und verschaffte sich so eine Schneise durch die Horde, durch die er sein Schlachtross weiter vorantrieb. Ich duckte mich hinter ihn, das Gesicht zwischen seine Schulterblätter gepresst, voller Angst, dass wir jeden Moment einer Gewalttat zum Opfer fallen würden.

»Marrano!«, fluchte ein Mann. »Spanisches Schwein!«

Etwas flog über mich hinweg und prallte mit einem dumpfen Schlag gegen das Tor. Was für ein grässlicher Laut! Unwillkürlich sah ich auf. Vor dem Eingang lag der blutbesudelte Kopf eines Schweins. Hastig wandte ich mich ab und sah mich einer Menge von hassverzerrten Gesichtern gegenüber. Mir war, als würden tausend Hände nach uns greifen, begierig darauf, uns zu zerfetzen.

Sie würden uns töten. Just in dem Moment, da unser Vater, der neue Papst Alexander VI., die Stadt segnete, schickte sich eine wütende Meute an, seinen Sohn und seine Tochter von ihrem Pferd zu zerren und …

Juan sprang aus dem Sattel. Kaum auf dem Boden gelandet, riss er sein Schwert aus der Scheide und brüllte: »Wer hat das gesagt?« Wild schwang er die in der Sonne aufblitzende Klinge. Die Menschen in unserer unmittelbaren Nähe wichen panisch zurück, sodass sie gegen die hinter ihnen Stehenden prallten und ins Straucheln gerieten. »Zeig dich!«, forderte Juan. »Komm her, du erbärmlicher Feigling, und spuck mir deinen Dreck ins Gesicht, wenn du es wagst!«

Ein Riese von Mann stapfte nach vorn und wischte sich die schaufelgroßen Hände an seinem Lederwams ab. Über sein Kinn zog sich eine hässliche Narbe. Sein glatt rasierter Schädel war übersät mit Spuren von Läusebissen. »Ich war’s«, knurrte er. »Und ich sag’s dir noch mal in deine widerwärtige Spanierfratze. Kein katalanischer Jude ist es wert, Papst zu sein.«

Ich griff nach den herabhängenden Zügeln des Pferdes und umklammerte sie mit aller Kraft. Juans Gesicht lief dunkelrot an. »Wir sind keine Juden«, sagte er mit bedrohlich leiser Stimme. »Wir waren auch noch nie Juden. Wir sind von edlem spanischem Blut. Unser Onkel, Calixtus III., war vor uns Papst, du erbärmlicher Scheißhaufen.«

Der Mann brach in dröhnendes Hohngelächter aus. »Kalixt war wie der ganze Rest eurer Sippe ein Schwein, das den Juden in den Arsch gekrochen ist. Dass deine Familie sich für adlig hält, heißt noch lange nicht, dass sie es auch ist. Ihr seid Abschaum. Da ist mir doch der mit Eiterblasen gespickte Schwanz eines Bettlers auf dem Heiligen Stuhl tausendmal lieber als der eines Borgia.«

Die Meute murmelte aus rauen Kehlen ihren Beifall, auch wenn die meisten sich ein gutes Stück zurückgezogen hatten, um jederzeit fliehen zu können.

»Das wirst du bereuen!«, fauchte Juan. »Wer immer dich dafür bezahlt hat, das zu sagen, wird es bereuen.«

Die Hand des Mannes glitt zu seinem Wams. »Bezahlt? Mich bezahlt keiner, damit ich die Wahrheit sage, du Hurenso…«

»Juan!«, schrie ich.

Mein Bruder reagierte so schnell auf meine Warnung, dass die Bewegung fast nicht zu sehen war. Hatte er gerade noch den Mann angestarrt, so stieß er jetzt mit dem Schwert zu und riss es mit tödlicher Präzision nach oben.

Die Kehle des Mannes klaffte auseinander. Er schnappte nach Luft, seine Augen traten hervor, aus seinem Mund quoll Blut. Die Menge schrie auf, als Juan den Mann erneut traf, diesmal mitten in die Brust. Gurgelnd sackte der Kerl zu Boden. Das Schwert mit beiden Fäusten hoch erhoben, rammte Juan ihm mit einem tierischen Schrei die Klinge in den Körper, bis dunkelrote Fontänen aufspritzten.

Verängstigt vom Geruch frischen Bluts, warf das Pferd wiehernd den Kopf zurück und drohte durchzugehen. Hektisch packte ich die Zügel fester und stemmte mich in die Steigbügel, konnte aber nicht verhindern, dass ich allmählich seitlich abrutschte.

Panisch stob die Menge davon. Beim Anblick meines Bruders, der wie ein Dämon mit dem Schwert auf den Toten einstach, verging den Leuten jeder Gedanke an Schmähungen oder Raub. Als Juan schließlich wie betäubt aufsah, war er über und über mit Blut bedeckt. Inzwischen näherten sich auch die übrigen Mitglieder unserer Gruppe. Kaum hatten sie unsere Diener und Juans Fußsoldaten bemerkt, nahmen auch die letzten Möchtegernplünderer die Beine in die Hand und flohen.

Die Riegel an den Toren unseres Palazzo wurden zurückgeschoben, und unser Haushofmeister stürzte heraus. Er fing mich gerade noch rechtzeitig auf, bevor ich vom Pferd kippte. Juan sah mir in die Augen. Ich blickte auf den verunstalteten Haufen zu seinen Füßen hinab, der nichts Menschliches mehr an sich hatte.

Vanozza, die aus ihrer Sänfte spähte, stieß einen gellenden Schrei aus. Ungelenk kletterte sie heraus und hastete zu Juan hinüber. »Was ist geschehen?« Ohne auf die Blutspritzer in seinem Gesicht zu achten, fasste sie ihn unterm Kinn und zwang ihn, zu ihr aufzuschauen. Dass sie praktisch auf einer Leiche stand, schien sie nicht zu bemerken.

»Er … hat uns beleidigt«, stieß Juan keuchend hervor. Jedes Wort schien ihn unerträgliche Überwindung zu kosten. Immer noch hielt er das Schwert umfasst, von dessen Klinge Blut auf seine Stiefelspitzen tropfte. »Er hat uns als marranos beschimpft!«, knurrte er.

»Und er wollte gerade sein Messer ziehen«, mischte ich mich aufgeregt ein, auch wenn ich mittlerweile fast bezweifelte, dass der Mann nach irgendetwas hatte greifen wollen. »Ich habe ihn …«

Meine Mutter schnitt mir das Wort ab. »Das ist jetzt nicht so wichtig.« Mit einem Taschentuch wischte sie Juan das Blut aus dem Gesicht. »Jemand muss diesen … Haufen da durchsuchen«, befahl sie.

ENDE DER LESEPROBE