Die Herrin des Winterpalasts - Christopher W. Gortner - E-Book
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Die Herrin des Winterpalasts E-Book

Christopher W. Gortner

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Beschreibung

Kopenhagen 1863: Minnie wächst behütet im Kreise ihrer liebevollen Familie auf. Als ihr Vater den dänischen Thron besteigt, verändert sich das Leben der jungen Prinzessin aber schlagartig. Nun von dynastischer Bedeutung soll Minnie den Romanow Zarewitsch, Thronfolger des fernen und gewaltigen Russischen Kaiserreiches ehelichen. Was als politische Bindung beginnt, entwickelt sich bald zu einer großen Liebe. Die neue Zarin wird vom Volk verehrt, doch die schillernden Romanows sind dem Untergang geweiht. Mit dem zerstörerischen Weltkrieg zieht ein Sturm herauf, der alles zu vernichten droht, was Minnie liebt ...

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Buch

Kopenhagen 1863: Dagmar, genannt Minnie, ist behütet im Kreise ihrer liebevollen Familie aufgewachsen. Doch als ihr Vater Friedrich VII. auf den dänischen Thron folgt, soll sich das Leben der jungen Prinzessin schlagartig ändern. Die Krone des Vaters macht aus den zuvor unbedeutenden Kindern dynastische Größen. Während ihre Schwester mit dem Prinzen von Wales vermählt wird, soll Minnie den Zarewitsch Nikolai Romanow ehelichen. Als dieser überraschend stirbt, wird sie prompt mit dessen Bruder Alexander verlobt. Was als ungewollte politische Bindung beginnt, entwickelt sich jedoch bald zu einer großen Liebe, und Minnie, die sich als junge Zarin Maria Fjodorowna nennt, regiert zusammen mit ihrem Mann das schier unermessliche Russische Reich und wird vom Volk geliebt. Doch das goldene Zeitalter der illustren Romanows ist dem Untergang geweiht. Minnie, die die Frau ihres Sohnes ebenso wenig ausstehen kann wie die russische Bevölkerung, kann nur hilflos mit ansehen, wie mit den Bolschewisten ein Sturm heraufzieht, der alles zu zerstören droht, was sie liebt.

Weitere Informationen zu Christopher W. Gortner

sowie zu lieferbaren Titeln des Autors

finden Sie am Ende des Buches.

CHRISTOPHER W.

GORTNER

Die Herrin

des Winterpalasts

Historischer Roman

Aus dem Amerikanischen

von Peter Pfaffinger

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »The Romanov Empress: A Novel of Empress Marie Feodorovna of Russia« bei Ballantine Books, a division of Penguin Random House LLC, New York.
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Copyright © der Originalausgabe by C. W. Gortner Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München Umschlagmotiv: Trevillion Images/Lee Avision FinePic®, München Redaktion: Ilse Wagner

Ruhm und Unglück gehen Hand in Hand.

RUSSISCHES SPRICHWORT

Für meine Mutter,

die mir den Glanz der Romanows

nahegebracht hat.

Teil I

1862 – 1866

Der gelbe Palast

Stammbaum der königlichen Familie von Dänemark

Die kaiserlichen Romanows von Russland

Russland 1863

Sie kommt! Die Jungfrau aus Dänemark …

und soll die Königin der Herzen werden.

MARTIN TUPPER

1

»Lass uns die gleichen Sachen anziehen«, schlug ich an jenem Nachmittag vor, da unser Leben sich für immer ändern sollte. Wie einschneidend der Wandel sein würde, begriff ich noch nicht, doch mich befiel bereits eine Vorahnung, als ich auf dem Sofa saß und in den Kartons wühlte, die uns die vornehmsten Warenhäuser von Kopenhagen und London geschickt hatten. Darin lagen mit Samt besetzte Schuhe, Hüte mit Bändern, seidene Unterwäsche, Kleider, Korsette, Schals, Lederhandschuhe und Capes aus kostbarem Kaschmir oder edler schottischer Wolle.

»Die gleichen Sachen?« Von dem Schemel, auf dem sie stand, blickte meine Schwester Alix verwundert auf mich herab, während Mama und ihre Kammerfrau um sie herumwuselten, ihr Kleidungsstücke vors Gesicht oder an die schlanke Gestalt hielten, um zu bestimmen, was am besten zu ihr passte. »Als ob wir Zwillinge wären!«

»Ja.« Ich kippte den Inhalt zweier Schachteln auf das Sofa. »Schau nur, du hast praktisch alles in doppelter Ausfertigung bekommen. Wir könnten uns wirklich gleich anziehen. Lass uns sehen, ob dein Verlobter uns voneinander unterscheiden kann.«

Alix’ schöne Augenbrauen kräuselten sich. Dieses kleine Stirnrunzeln gefielt mir, verriet es mir doch, dass meine Schwester gar nicht so unempfänglich für das Komische an dieser Situation war, wie sie vorgab. Doch bevor sie antworten konnte, erteilte Mama mir einen ebenso verhüllten wie scharfzüngigen Tadel von der Sorte, die sie gern einsetzte, wenn ich etwas Unschickliches sagte oder tat – etwas, das sich für ihren Geschmack in letzter Zeit allzu sehr häufte.

»Minnie! Es reicht. Als Zwillinge auftreten – wie absurd!« Mama schnalzte mit der Zunge. »Nein wirklich, du und Alix, ihr seht euch doch in nichts ähnlich.«

»Sind Sie sicher?« Auch wenn ich mich gar nicht so streitsüchtig geben wollte, hörte ich selbst den herausfordernden Ton in meiner Stimme. »Wir mögen uns vielleicht nicht ähneln, aber er hat sie ja erst ein Mal gesehen. Vielleicht erkennt er sie beim nächsten Mal gar nicht mehr.«

Schweigend musterte Mama einen gerüschten Unterrock. Während auch ich das Stück aus cremig weißer Seide in ihren Händen betrachtete, musste ich gegen meinen aufwallenden Zorn kämpfen. Früher hätten wir uns so etwas oder all die anderen mondänen Sachen, die kunterbunt verstreut auf dem Boden lagen, nie leisten können. Wir nähten unsere Kleider selbst und besserten sie auch aus. In unserem kleinen Kopenhagener Palast waren wir glücklich gewesen und hatten es genossen, im Sommer bei Ausflügen im Meer zu schwimmen, an Gymnastikwettbewerben teilzunehmen und nach einfachen Mahlzeiten, bei denen wir uns selbst bedienten, Hausmusikabende zu veranstalten. Luxus hatte uns nie etwas bedeutet – schließlich hatten wir einander. Unser größtes Geschenk war die Familie selbst. Nun jedoch berauschten wir uns am offensichtlichen Beweis unseres bevorstehenden Auseinanderbrechens.

Wie hatte sich so vieles in so kurzer Zeit ändern können?

»Natürlich wird Seine Hoheit sie erkennen und lieben«, erklärte Mama. »Als ihr Gemahl ist das seine Pflicht, so wie es auch die ihre als Ehefrau ist. Was ist nur in dich gefahren, dass du ausgerechnet an dem Tag, an dem Alix ihre Brautausstattung angepasst wird, so zänkisch bist? Merkst du denn nicht, dass sie auch so schon nervös genug ist?«

Meine Schwester beobachtete mich im Spiegel. Falls sie nervös war, sah man es ihr nicht an. Sie wirkte blass und müde, hatte Schatten unter den Augen, war aber gefasst – und das in einem derartigen Maß, dass ihr steter Blick mich verunsicherte. Doch obwohl sie kein einziges Mal mit der Wimper zuckte, musste ihr doch klar sein, dass sie meine Sorgen teilte. Es ließ sich nicht voraussagen, ob ihr diese Ehe Glück oder Herzeleid bringen würde. Allerdings würde sie ihre Unsicherheit nie zugeben, schon gar nicht vor unserer Mutter, die sich so sehr abgemüht hatte, diese Wendung unseres Schicksals herbeizuführen. Damit hatte sie allerdings auch eine reißende Flut ausgelöst, die mich von den Füßen riss. Seither kämpfte ich darum, mich über Wasser zu halten.

»Ich wollte doch nur …« Meine Stimme erstarb angesichts Mamas wütenden Blicks.

»Wir wissen, was du sagen wolltest, Minnie, und mein letztes Wort ist: Es reicht.«

Aufgebracht zerknüllte ich das Seidentuch in der Hutschachtel neben mir. »Vielleicht sollte ich mir draußen die Beine vertreten«, murmelte ich. »Hier werde ich ja wohl nicht gebraucht.«

»Gute Idee – wenn du dich nicht nützlich machen kannst.« Mama wandte sich wieder meiner Schwester zu, sprach aber immer noch mit mir. »Was ist dir heute nur für eine Laus über die Leber gelaufen? Na ja, frische Luft wird sie bestimmt vertreiben. Ich lasse jedenfalls nicht zu, dass du deine Schwester ständig ablenkst, wenn wir so viel zu tun haben.«

Frische Luft und möglichst wenig Unsinn waren Mamas Heilmittel in jeder Lebenslage. Sie war Meisterin darin, vernünftig zu sein. Jede andere vernünftige Frau hätten die Umwälzungen des letzten Jahres an den Rand des Wahnsinns gebracht, aber solchen Schwächen gab Louise von Hessen-Kassel niemals nach. Sie hatte schon früh ihr hartnäckiges Vertrauen in das eigene Urteilsvermögen bewiesen, als sie sich dem Wunsch ihrer Familie widersetzt und Christian von Glücksburg geheiratet hatte, einen Vetter zweiten Grades und verarmten Prinz ohne besondere Bedeutung. Mit ihm hatte sie ein einfaches, aber durchaus schönes Leben geführt und uns zu Geringschätzung Anspruchsdenken gegenüber erzogen. Und jetzt war sie im Begriff, Königin von Dänemark zu werden, weil Papa nach dem Tod unseres kinderlos gebliebenen Monarchen überraschend dessen Thron erben sollte – und das in einem Moment, da er und Mama sich anschickten, ihre älteste Tochter mit dem Thronfolger Großbritanniens zu verheiraten. Doch Mama widmete sich diesen monumentalen Aufgaben, als ginge es um die tägliche Reinigung des Empfangszimmers. Nur diese Laus, die mir ihrer Ansicht nach über die Leber gelaufen war, brachte sie durcheinander, denn ein Benehmen wie meines gehörte zu den Verhaltensweisen, die sie bei keinem ihrer Kinder bereit war zu dulden, schon gar nicht im Lichte unserer neuen Lebensumstände.

An meinen mächtigen Röcken zupfend, marschierte ich zur Tür, vor der ich noch einmal innehielt. Ich hoffte, meine Schwester würde mich zurückrufen und mir so zeigen, dass sie mich immer noch brauchte. Doch sie blieb stumm. Als ich herausfordernd über die Schulter zurückblickte, erkannte ich, dass ihr Seidenunterrock sie schier erdrückte. Soeben befahl Mama der Zofe, die Korsettstangen festzubinden, als ob Alix eine Puppe wäre.

Oder ein Lamm, das geopfert werden sollte.

In meinen Augen lief die bevorstehende Hochzeit meiner Schwester ziemlich genau darauf hinaus.

Wir waren nicht zu Größe geboren. Daran hatte uns Mama in unserer Kindheit oft genug erinnert, damit wir mit dem zufrieden waren, was wir hatten. Wer in Reichtum hineingeboren wurde, hatte nicht so viel Glück wie wir – das hielt sie uns gern vor, wenn sie mit Alix und mir zusammensaß und uns beibrachte, selbst gefertigte Hauben zu verzieren oder Unterwäsche zu stopfen. Wer schon am Anfang seines Lebens alles hatte, wusste die Früchte des eigenen Strebens nicht zu schätzen. Ein weiser Rat, denn niemand hatte mehr Früchte dieser Art geerntet als Mama – auch wenn er mir nun kaum Trost bot, als ich mit Schritten, die über das Parkett hallten, und dem Rascheln meines Reifrocks den Bernstorf-Palast durchquerte, ohne dabei all die Statuen und Spiegel an den Wänden eines Blickes zu würdigen.

Vor einem Monat, als bestimmt worden war, dass Papa tatsächlich zu Dänemarks neuem Kronprinzen ausgerufen werden sollte, waren wir in den Palast gezogen. Das außerhalb von Kopenhagen auf einem weitläufigen Gelände gelegene Schloss war angemessen elegant und viel größer als unser altes Zuhause in der Stadt. Die herrlichen Gärten hier mit ihren erhabenen Linden und verschlungenen Wegen gehörten zu den wenigen Veränderungen, über die ich mich freute. Meine jüngeren Geschwister, Valdemar und Thyra, waren ebenfalls davon begeistert. Hier konnten sie nach Herzenslust barfuß herumlaufen, bis die Füße schmutzig waren, und unter den Hecken hindurchkriechen. Ich war schon fünfzehn Jahre alt und damit zu erwachsen für Kinderspiele, auch wenn ich mir bei meinen Fluchten in den Garten stets wünschte, ich wäre noch klein. O ja, ich sehnte mich danach, wieder ein Kind zu sein und unbeschwert Verstecken zu spielen.

Unvermittelt schirmte ich mir mit der Hand die Augen ab. Ich hatte ganz vergessen, einen Sonnenschirm oder Hut mitzunehmen. Ohne Schutz riskierte ich, zu viel Farbe zu bekommen. Die Reaktion meiner Mutter konnte ich mir lebhaft vorstellen. Trotzdem stapfte ich weiter und überlegte mir sogar, das Haarnetz, das mir meine dichten Locken an den Nacken presste, abzunehmen und so einen Skandal auszulösen. Zu meinem Leidwesen war hier jedoch niemand, den ich damit schockieren konnte. So weit das Auge reichte, erstreckte sich vor mir nichts anderes als sprießendes Grün – bis ich mich schließlich der im schwedischen Stil gehaltenen Villa näherte, die uns als Teehaus diente. Davor schritt eine vertraute Gestalt in einem dunklen Anzug auf und ab, den Kopf in Rauchschwaden gehüllt, die von einer Zigarre stammten.

Papa.

Ohne mich darum zu scheren, dass meine weißen Knöchel zum Vorschein kamen, raffte ich meine Röcke und rannte über den Rasen auf ihn zu. Überrascht fuhr er herum, und ich sah ein paar Rauchkringel unter dem mächtigen Schnauzbart emporsteigen, den er sich neuerdings stehen ließ, um würdevoller zu wirken. Ich fand das lustig, denn sein dünnes braunes Haar war über der Stirn bereits zu einem schütteren Flaum geworden, der im Vergleich zu dem Dickicht darunter umso spärlicher erschien. Ob zukünftiger König oder nicht, da Mama den Qualm missbilligte und ihn gebeten hatte, »dieses abstoßende Laster« aufzugeben, musste er nach wie vor im Freien rauchen.

»So früh schon fertig geworden?« Ein Lächeln hellte sein sorgendurchfurchtes Gesicht auf. Nun hatte auch er begonnen, sich zu verändern, und es tat mir weh, das zu sehen. Seit beschlossen worden war, dass er unserem siechen König auf den Thron folgen sollte, hatte Papa seine einstige Leichtigkeit verloren, als lastete die Bürde bereits jetzt schwer auf ihm.

»Noch lange nicht, fürchte ich.« Unwillkürlich rümpfte ich die Nase; zu sehr setzte mir der beißende Tabakgeruch zu. »Sie haben immer noch ganze Berge von Sachen zu sortieren. In ganz Kopenhagen kann es kein einziges Kleid mehr geben. Mama hat gemeint, ich sei zänkisch; darum bin ich gegangen.«

»Ich verstehe.« Papa lächelte, und sogleich bildeten sich in seinen Augenwinkeln Falten. »Und warst du zänkisch, meine liebe Dagmar?«

Dagmar war derjenige Taufname, den er aus der Reihe all meiner Namen ausgewählt hatte. Ich mochte ihn am liebsten, denn außer Papa nannte mich die ganze Familie Minnie. Dagmar war ein einzigartiger Name, der mich hervorhob, hatte doch eine legendäre Königingemahlin unseres Landes so geheißen.

Ich zuckte mit den Schultern. »Ich sehe nicht ein, warum man immer einen solchen Wirbel veranstalten muss.«

Papa lachte. »Nun, deine Schwester schickt sich an, Königin Victorias Sohn und Erben zu heiraten. So Gott will, wird sie eines Tages die Königin von Großbritannien sein. Das betrachten die meisten in der Tat als eines großen Wirbels wert.«

»Um Mama und Königin Victoria vielleicht. Was Alix betrifft, wird sich ja herausstellen, wie groß er sein wird.« Als ich sah, wie sich seine Miene verschattete, fügte ich eilig hinzu: »Ich mache mir Sorgen um sie, Papa. Alix hat sich in letzter Zeit so eigenartig verhalten. Sie scheint all das so … fraglos zu akzeptieren.«

Papa ließ allen Rauch entweichen, bückte sich, um die Zigarre auf dem Weg auszudrücken, und verstaute den Stummel in seiner Jackentasche. »Sie braucht auch keine Fragen zu stellen. Schließlich bringt diese Verbindung großes Prestige. Zudem hat deine Mutter Alix dazu ermutigt, und Königin Victoria hat ihren Segen gegeben. Alix weiß, dass sie ihre Pflicht erfüllen muss.«

Diese Bemerkung verblüffte mich. Ich glaubte, Alix besser als alle anderen zu kennen, hatte jedoch nie darüber nachgedacht, dass meine Schwester tatsächlich schon immer ein einzigartiges Pflichtbewusstsein besessen hatte.

Sie war nur zwei Jahre älter als ich, und wir waren gemeinsam aufgewachsen, hatten ein Zimmer miteinander geteilt und auch zusammen Unterricht erhalten. Unser ältester Bruder Frederik war zum Studium ins Ausland geschickt worden, der nächste, Willy, war an der dänischen Militärakademie eingeschrieben, und unsere jüngste Schwester Thyra sowie der dritte Bruder, Valdemar, waren noch Kinder. Alix und ich hatten darum stets fest zusammengehalten in diesem Zuhause, beherrscht von Geldmangel und unserer strengen Mutter, die, sobald die Familie für die Ferien wiedervereint war, ihre ganze Aufmerksamkeit unseren Brüdern zuwandte.

Ich hatte ihr immer verübelt, wie sehr sie sich Freddy und Willy widmete, obwohl Alix mir versichert hatte, dass das nur natürlich war, weil eine Mutter ihre Söhne immer höher schätzte. Mir leuchtete das allerdings überhaupt nicht ein, zumal wir, die Töchter, es doch waren, die ihr in der Abwesenheit der Söhne im Haushalt halfen – egal, ob unsere Brüder da waren oder nicht. Doch im Gegensatz zu mir, die ich die endlose Plackerei zu Hause hasste, beschwerte sich meine Schwester nie. Nachts klagten wir flüsternd in unseren dicht nebeneinandergeschobenen, schmalen Betten über unsere vom Arbeiten rauen Hände und versprachen einander, dass wir uns ein eigenes Haus am Sund kaufen würden, eines mit Böden, die wir nie schrubben würden. Wir würden hundert Hunde besitzen und den lieben langen Tag malen, denn wir beide wussten mit Wasserfarben umzugehen.

All das änderte sich jedoch, sobald sie Prinz Albert Edwards Heiratsantrag angenommen hatte. Schlagartig wurde ein anderer Mensch aus ihr; und plötzlich war sie Mamas Liebling und wurde eingedeckt mit Übungsstunden in Etikette, mit Tanzunterricht, Kleideranproben und der Vorbereitung auf ein neues Leben in einem anderen Land, in dem ich keine Rolle mehr spielen würde.

»Ich sehe sie kaum noch«, murmelte ich, dem Blick meines Vaters ausweichend. »Mama hat immer fürchterlich wichtige Briefe, die Alix schreiben muss; ständig gibt es Leute, die es zu besuchen gilt, oder Kleider, die sie anprobieren muss. Ich komme mir vor, als hätte sie uns schon verlassen.«

»Hast du ihr das gesagt?«, fragte Papa sanft. »Vielleicht meint sie, deine Miesepetrigkeit liege daran, dass du wütend auf sie bist.«

Erneut schwieg ich, um zu überlegen. War ich wütend auf sie? Anscheinend schon. Jedenfalls störte mich die Art und Weise, wie sich Alix in diese Ehe gefügt und ohne Weiteres unsere vertraulichen Gespräche aufgegeben hatte.

»Wirke ich denn wütend auf sie?«, fragte ich.

»Immer.« Er kniff mich in die Wange. »Du bist unsere Rebellin.«

»Rebellin?«, rief ich. »Nur weil ich nicht will, dass sich alles ändert? Unser ganzes Leben ist durcheinandergeraten! Nie hätte ich gedacht, dass so etwas passiert!«

Er seufzte. »Jetzt verstehe ich, vor welche Herausforderungen dich das alles stellt. Aber Heiraten ist ein wichtiger Schritt im Leben, Dagmar. Wir alle müssen diejenigen, die wir lieben, zurücklassen, um unsere eigene Familie zu gründen.« Er schwieg einen Moment. »Du wirst bald sechzehn. Hast du nicht auch schon einmal daran gedacht?«

»Natürlich«, erwiderte ich, obwohl das gelogen war. Eine Hochzeit mochte unvermeidlich sein, doch bisher hatte ich dieses Thema mühelos ignoriert. »Aber wie kann Alix jemanden heiraten, den sie so gut wie gar nicht kennt? Bertie von Wales hatte eine Fotografie von ihr gesehen und deshalb gebeten, ihr vorgestellt zu werden, als wir alle in Rumpenheim weilten. Es war erst an Ostern, dass sie sich kennengelernt haben, erinnern Sie sich? Wir alle waren nach Rumpenheim gekommen. Die Zarin war mit ihrem ältesten Sohn auch dort; und mir kam es so vor, als würde sich Alix recht gut mit dem Zarewitsch verstehen. Nixa schien jedenfalls ein Auge auf sie geworfen zu haben, wohingegen Bertie und sie nicht einmal drei Worte miteinander wechselten! Und jetzt soll sie ihn so sehr lieben, dass es für eine Ehe reicht?« Da mein Vater schwieg, fuhr ich sogleich fort: »Sie müssen Mama doch geliebt haben, als Sie sie geheiratet haben.«

Seine Miene wurde weicher. »Und ob. Deine Mutter war so lebhaft und entschlossen. Es war Liebe auf den ersten Blick. In ihrer Jugend war sie dir nicht unähnlich. Sie wusste genau, was sie wollte.«

Ich war nicht bereit, mich besänftigen zu lassen. Und gerade in diesem Moment war ich alles andere als erbaut von dem Vergleich mit meiner Mutter, die diesen Veränderungen Tür und Tor geöffnet hatte.

»Aber bevor ich deine Mutter kennenlernte, hatte ich versucht, um Victoria zu werben«, fügte Papa grinsend hinzu.

»Wirklich?«, fragte ich verdattert.

»Oh, nicht nur ich. Dutzende von Prinzen haben es probiert. Sie war die begehrteste Braut in ganz Europa. Und ich war einer der Verwegensten, obwohl ich ein armer Schlucker war. Ich schrieb einen Brief nach dem anderen und bot ihr einen Besuch an. Aber leider verschmähte sie mich und eine ganze Reihe andere, um stattdessen Albert von Sachsen-Coburg und Gotha zu erhören.«

»Der früh gestorben ist.« Ich seufzte. »Und eine Witwe hinterlassen hat, die sich in unsere Angelegenheiten einmischt.«

»Na, na. Du darfst der Königin keine Vorwürfe machen. Es stimmt zwar, dass der Sohn des Zaren Interesse an deiner Schwester bekundet hat, aber Alix wollte schon deshalb nicht nach Russland, weil sie die Sprache dort nicht beherrscht.«

»Am russischen Hof spricht man doch Französisch. Ach, Alix weiß überhaupt nichts! Sie hasst Regen, aber wie ich höre, regnet es in England ständig. Was kann sie dort schon tun, wenn sie nicht einmal vors Haus treten kann, ohne nass zu werden?«

Erneut lächelte Papa. »Wir werden eben dafür sorgen müssen, dass sie genug Regenschirme mitnimmt. Ich weiß, dass das nicht leicht für dich ist. Aber jetzt solche Zweifel zu äußern wird sie nicht ermutigen.«

Das saß. Zu sehr mit meinen eigenen Gefühlen beschäftigt, hatte ich gar nicht darauf geachtet, was Alix empfand. Trost suchend schmiegte ich mich an meinen Vater. Und sofort legte er den Arm um mich und küsste mich auf die Stirn. »Schon wieder ohne Hut«, murmelte er. »Deine Mutter wird schimpfen.«

»Fügen Sie es ihrer Beschwerdeliste hinzu«, erwiderte ich.

Mit einem tief in seiner Brust rumpelnden Lachen führte er mich, immer noch den Arm um mich gelegt, weiter den Weg entlang und hüllte mich in ein Gefühl von Geborgenheit, das mir bewusst machte, wie sehr ich fürchtete, auch ihn zu verlieren. Mir war bekannt, dass unser König krank war und derzeit hastige Vorbereitungen getroffen wurden, Papa zum Kronprinzen auszurufen. Wie würde es um unser Leben bestellt sein, wenn er auf dem Thron saß, Mama die neue Königin war und Tag und Nacht Horden von Dienern und Beamten um uns herumschwirrten?

Der bloße Gedanke ließ mich frösteln. Papa drückte mich ein wenig fester an sich. »Was bekümmert dich noch?«

Auf einmal kam ich mir albern vor. Jedes andere Mädchen hätte sich über eine solche Besserung ihrer Lebensumstände gefreut, als Prinzessin und ranghöchste Tochter, sobald die Schwester die Familie verließ. »Müssen wir wirklich in den Amalienborg-Palast ziehen, wenn wir nach Alix’ Hochzeit zurückkehren?«, fragte ich.

»Leider ja. König Frederik hat mir die ungeheure Ehre erwiesen, sein Erbe antreten zu dürfen, aber das ist keine einfache Aufgabe. Es hat Monate gedauert, bis alle Seiten sich einigen konnten. Und jetzt besteht Seine Majestät darauf, dass wir ein unserem Rang gemäßes Leben führen.«

Er blickte auf mich hinab. Wie meine Mutter war ich ziemlich klein, wohingegen Alix seine hochgewachsene, gertenschlanke Figur geerbt hatte. »Unser gelbes Haus schickt sich nicht für einen zukünftigen König und seine Familie, auch wenn wir es noch für den Sommer behalten. Im Amalienborg-Palast wirst du deine eigene Suite haben. Ist das nicht herrlich? Eine ganze Wohnung für dich allein, nachdem du all die Jahre nie für dich sein konntest.«

»Und was wird aus Thyra?«, entfuhr es mir. Meine neunjährige Schwester, die mich geradezu verehrte, war mir bisher auf Schritt und Tritt gefolgt, wenn sie nicht gerade mit unserem kleinen Bruder herumtollte. »Sie will bestimmt bei mir einziehen – und das macht mir auch nichts aus. Ich wüsste gar nicht, was ich mit einer ganzen Suite anfangen sollte.«

»Eine weitere unwillkommene Veränderung, hm? Nun, wir werden uns eben durchschlagen müssen, so gut wir können.«

Ich nickte betrübt. Er ließ mich los und fing an, in seinen Jackentaschen nach dem Zigarrenstummel zu wühlen. Gerade wollte er ihn herausziehen, als er unvermittelt zum Palast hinüberspähte. Ich folgte seinem Blick und entdeckte Mama, die an einem der oberen Fenster stand und uns zu sich winkte.

»Anscheinend sind sie früher fertig geworden, als wir dachten«, murmelte Papa. »Komm, lass uns die Brautausstattung deiner Schwester bewundern. Sei bitte lieb zu ihr. Vergiss nicht, was ich dir gesagt habe: Alix ist nicht wie du. Sie kann sich nicht so mühelos ausdrücken. Warte einen geeigneten Moment ab, in dem du mit ihr allein sprechen kannst. Ich will nicht, dass zwischen euch Zwietracht herrscht, wenn wir nach England aufbrechen.«

Ich nickte. »Ja, Papa.«

Allerdings war ich mir nicht sicher, ob ich wirklich hören wollte, was meine Schwester mir vielleicht zu sagen hatte. Was, wenn ich herausfand, dass sie mich nicht so sehr vermissen würde, wie ich mir das wünschte?

2

Das Abendessen wurde in dem von Kronleuchtern erhellten Thronsaal gereicht. Wir hatten jetzt livrierte Diener mit weißen Handschuhen, die uns Suppe, gebratenen Lachs, saftigen Salat, frisch gebackenen Kuchen und roten Bordeauxwein in Karaffen auftrugen – ein Festmahl, von dem unsere ganze Familie eine Woche lange hätte leben können. Ich beobachtete Mama dabei, wie sie den Dienern von ihrem Stuhl aus mit einer Selbstverständlichkeit Anweisungen erteilte, als hätte sie ihr Leben lang ganze Legionen herumkommandiert. Meine jüngeren Geschwister, Valdemar und Thyra, beide frisch geschrubbt nach dem Herumtollen im Garten, saßen ungewöhnlich still auf vergoldeten Stühlen vor dem riesigen, mit einem Leinentuch bedeckten Tisch, als hätte es ihnen angesichts der penibel um ihre Teller gruppierten silbernen Gabeln, Löffel und Messer die Sprache verschlagen.

»Die kleine Gabel hier ist für den Salat«, wisperte ich Thyra ins Ohr und wies auf das Besteck. »Die große nimmst du dann für das Fleisch und den Fisch. Man geht von außen nach innen, verstehst du?«

Meine Schwester nickte, wobei sich eine zwischen ihre dunklen Locken geflochtene Schleife anmutig bewegte. Wie ich hatte Thyra große, ausdrucksstarke dunkle Augen und eine Stupsnase. Damit kam sie nach unserem Vater, wohingegen Valdemar wie Alix das blonde Haar, die graublauen Augen und den hellen Teint unserer Mutter hatte.

Während wir aßen, sprach Mutter leise mit Vater. Ohne Zweifel ging es um die Brautausstattung und die Vorbereitung der Reise nach England. Ich konnte kaum etwas verstehen, und das war etwas völlig Neues, denn in unserem alten gelben Palast hatten wir beim Essen immer wild durcheinandergeredet. Ein weiteres Zeichen dafür, dass unser Leben nicht mehr dasselbe war. Und als der vierjährige Valdemar unvermittelt verkündete: »Ich will mit nach England!«, herrschte schlagartig völlige Stille.

Ich presste mir die Serviette auf den Mund, um ein Kichern zu unterdrücken.

»Kinder werden nicht zu Hochzeiten eingeladen«, erklärte Mama ihm. »Du bleibst mit Thyra und eurer Gouvernante hier, bis …«

»Nein!« Valdemar schlug mit der Faust auf den Tisch. »Ich will mitfahren!«

Mama warf Papa einen Blick zu, der aussah, als würde gleich ein dröhnendes Gelächter aus ihm herausplatzen. »Christian, bitte teile unserem Sohn mit, dass solche Ausbrüche nicht geduldet werden können.«

Papa nahm sich zusammen. »Valdemar«, sagte er, um einen strengen Ton bemüht, »hör auf deine Mutter.«

Valdemar zog einen Schmollmund. Tröstend tätschelte Alix ihm die Hand und murmelte etwas. Unsicher blickte er zu ihr auf. »Eine neue Lokomotive?«

Alix nickte. »Versprochen. Ich habe gehört, dass sie in England wunderschöne Spielzeugeisenbahnen bauen.«

Ich verbiss mir gerade noch die Bemerkung, dass es das auch in Dänemark gab. Außerdem besaßen wir schon eine herrliche Modelleisenbahn, die meine Brüder beim Umzug zurückgelassen hatten. Sie hatte immer wunderbar funktioniert, bis Valdemar sie eines Tages in einem Wutanfall zertrampelte.

Dann wandte sich Alix unvermittelt an unsere Eltern. »Ich verstehe nicht, warum er nicht mitkommen sollte. Schließlich handelt es sich um meine Hochzeit. Und ich würde gern meine ganze Familie dabeihaben.«

Wer hätte das gedacht? Noch nie hatte ich sie ihre Meinung mit solchem Nachdruck vortragen hören. Ich saß steif auf meinem Stuhl und sah, wie Mama nach Luft schnappte.

»Aber wir haben uns um so vieles zu kümmern. Königin Victorias Familie wird vollzählig erscheinen; dazu viele andere wichtige Gäste. Da kann ich mich unmöglich auch noch um die Kinder kümmern.«

»Das kann doch Minnie tun.« Alix richtete den Blick auf mich.

Ohne darüber nachzudenken, nickte ich. »Natürlich kann ich das.«

»Schön, dann ist das geregelt!«, rief Papa erleichtert, woraufhin Mama ihn mit verkniffener Miene anstarrte.

Valdemar wäre vielleicht in Jubelgeheul ausgebrochen, hätte er nicht Mamas warnenden Blick bemerkt. So widmete er sich seinem Teller und veranstaltete mit dem gebackenen Fisch ein heilloses Durcheinander, bis Alix ihm die Gabel aus der Hand nahm und ihm half. Zwischendurch schenkte sie mir ein schnelles, dankbares Lächeln, das mir Gewissheit verschaffte. Wenn sie uns alle bei sich in England haben wollte, musste sie schwere Zweifel hegen. Ich beschloss, baldmöglichst ein Gespräch mit ihr zu führen.

Nach dem Essen wurden Valdemar und Thyra trotz heftiger Proteste ins Bett geschickt, während wir Größeren uns mit den Erwachsenen im Salon versammelten. Papa schenkte sich einen Cognac ein, und Mama nahm ihre Stickerei wieder auf. Während sie einfädelte, sagte sie: »Minnie, spiel doch bitte etwas für uns.« Wir hatten in diesem Palast einen mächtigen Flügel, der schon etwas anderes darstellte als das klapprige Pianoforte in unserem gelben Haus, doch als ich auf dem Hocker Platz nahm und zu spielen begann, schienen meine Finger förmlich auf den Tasten zu kleben. Ich machte einen Fehler nach dem anderen, wohl weil ich in Gedanken bei Alix war, die am Fenster saß und auf die ins Zwielicht der Dämmerung getauchte Landschaft hinausschaute.

»Minnie, ist das Händel, den du da verstümmelst?«, schnappte Mama. Sofort erstarrten meine Hände.

Seufzend wandte sich Alix zum Zimmer um. »Es war ein langer Tag. Ich ziehe mich wohl am besten zurück.«

»So früh?«, fragte Mama. »Es ist noch nicht einmal dunkel.«

Doch schon war Alix bei ihr und Papa und drückte beiden einen Kuss auf die Wange. Als sie sich der Schwingtür näherte, sprang ich auf. »Ich gehe mit«, verkündete ich, und bevor Mama mich zurückrufen konnte, folgte ich Alix auf den Flur hinaus.

Sie schien mich erst wahrzunehmen, als ich sie am Ärmel zupfte. Kurz zuckte sie zusammen, dann blieb sie stehen. Ihr argwöhnischer Gesichtsausdruck verriet mir, dass sie bereits ahnte, was ich sagen wollte.

»Bist du zu müde, um mit mir zu reden?«, fragte ich.

Sie lächelte. »Ich habe mich schon gefragt, wann du mich darauf ansprichst.«

»Du hättest ja mich fragen können.« Ich biss mir auf die Lippe. Auf keinen Fall wollte ich einen feindseligen Ton anschlagen. »Aber wahrscheinlich hattest du zu viel zu tun.«

»Allerdings. Ich hatte ja keinen Begriff davon, was für einen Aufwand eine Hochzeit erfordert! Wenn ich noch ein einziges Kleid oder einen Hut anprobieren muss …« Ihr Blick begegnete dem meinen. »Sollen wir nach oben in mein Zimmer gehen?«

»Nein«, erwiderte ich impulsiv, denn ich wollte nicht die Stapel von Sachen sehen, die für England verpackt werden mussten. »Lass uns in die Galerie gehen.«

Die Galerie war eine luftige, schwarz-weiß geflieste Passage, die an der dem Garten zugewandten Seite des Palasts entlang verlief. Sie empfing uns mit einer düsteren Atmosphäre; die Pflanzen in ihren Porzellanvasen kauerten gefiederten wilden Tieren gleich auf weißen Bastmöbeln, die ich schon deshalb verabscheute, weil immer etwas vorstand, an dem mein Kleid hängen blieb, und …

Alix riss mich aus meiner Unschlüssigkeit. »Du kannst dich getrost setzen. Wenn du dir eine Naht zerreißt, kannst du sie ausbessern lassen. Kein Nähen mehr bei Kerzenschein. Jetzt haben wir andere, die das für uns machen.«

Herausfordernd ließ ich mich auf den nächsten Stuhl plumpsen. Mir war nicht klar, ob sie mich nur neckte. »Ich vermute, es behagt dir, jetzt Diener zu haben.«

»Warum auch nicht?« Sie nahm mir gegenüber Platz. »Es ist angenehm, nicht mehr mit abgebrochenen Fingernägeln oder zerstochenen Daumen herumzulaufen. Siehst du das nicht auch so?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Diener reden. Sie haben überall Augen und Ohren. Ich möchte lieber nicht ständig der Gegenstand von Klatschgeschichten sein.«

Sie senkte den Blick und nestelte an der Bordüre ihrer Manschette herum. »Du klingst wütend, Minnie.«

»Wirklich?« Es ärgerte mich, dass ich ein Echo der Worte meines Vaters zu hören bekam. »Vielleicht habe ich ja guten Grund dazu.«

Sie hob die Augen, die im düsteren Licht der Galerie übergroß wirkten. »Was sollte das sein?«

Ich wollte ihr vorhalten, dass ich wütend war, weil sie einen Mann heiratete, für den sie gar keine Zuneigung empfinden konnte; Mama hatte sie gezwungen, ihre Pflicht zu erfüllen. Das Ganze war nur Mamas Schuld. Doch während ich noch überlegte, wie ich anfangen sollte, hörte ich mich schlicht sagen: »Warum hast du Ja gesagt?«

Sie gab keine Antwort. Zwar schaute sie nicht weg, doch jetzt hatte ihr Gesicht wieder diesen verschlossenen Ausdruck. Das ermutigte mich zu der Ergänzung: »Du kannst ihn unmöglich lieben. Du kennst ihn ja kaum.«

In gemessenem Ton erwiderte sie: »Glaubst du, ich hätte in diese Ehe eingewilligt, wenn ich ihn für unpassend gehalten hätte? Nein, ich kenne ihn nicht, noch weiß ich, ob er mich glücklich machen wird. Aber er hat um meine Hand angehalten und wird mich zur Prinzessin von Wales machen. Ich habe alles sorgfältig durchdacht, bevor ich mein Jawort gegeben habe.«

»Dein Jawort? Oder Mamas Jawort? Alix, ich habe immer geglaubt …«

»Was?«, fragte sie. »Was hast du immer geglaubt?«

Ich rang um Worte. Ihr Ernst hatte mir den Wind aus den Segeln genommen. »Ich … ich weiß nicht. Ich dachte nur, wir beide würden erst dann heiraten, wenn wir uns richtig verlieben – so wie Papa und Mama.«

Sie lächelte. Und die feinen Fältchen, die sich dabei an ihren Mundwinkeln bildeten, zerrissen mir das Herz – sie wirkte genauso stoisch und resigniert wie in der Zeit, als wir uns Bergen von Kleidung gegenübergesehen hatten, die es zu stopfen galt. »Minnie, wir sind keine Kinder mehr, die begierig darauf warten, Gutenachtgeschichten von den Gebrüdern Grimm vorgelesen zu bekommen. Papa wird König. Wir müssen dort einheiraten, wo wir unserem Land zu Diensten sein können. Dänemark mag kein mächtiges Reich sein, aber wir haben trotzdem Feinde, an vorderster Stelle Preußen. Dieser Teufel von Bismarck war überhaupt nicht erbaut davon, dass Papa seinem bevorzugten Kandidaten vorgezogen und zum Thronfolger ernannt wurde. Die Zeit der Märchen ist vorbei.«

»Märchen?«, brauste ich auf, atmete dann aber tief durch und nahm mich zusammen. Meine pflichtbewusste Schwester, die bisher nie auf die Welt draußen geachtet hatte, sprach auf einmal wie ein Diplomat. »Das alles hat in der Tat nichts mit Märchen zu tun. Der Zarewitsch – glaubst du nicht, dass es uns Ehre einbringt, wenn du ihn heiratest? Das russische Reich ist viel mächtiger als das britische, würde ich sagen. Und Nixa liebt dich.«

»Liebt mich?« Ein Anflug von Heiterkeit belebte Alix’ Stimme. »Nixa Romanow liebt mich doch nicht.«

»Nicht? Nun, bei mir hat er einen sehr guten Eindruck hinterlassen. Ich habe gesehen, wie er dich in Rumpenheim, wo du dem öden Bertie von Wales vorgestellt wurdest, angestarrt hat. Die ganze Zeit hat Nixa dort mit praktisch niemandem geredet außer mit dir. Papa hat mir erzählt, er hätte um deine Hand angehalten, wenn du nicht gesagt hättest, du könntest nicht in Russland leben, weil du die Sprache nicht beherrschst. Alix, am Hof der Romanows wird doch Französisch gesprochen! Und dein Französisch ist viel besser als dein Englisch.«

»Das habe ich nur gesagt, um Nixa nicht bloßzustellen. Er wollte ja nur um meine Hand anhalten, weil sein Vater es ihm befohlen hatte. Zar Alexander will einfach nicht, dass sein Sohn eine preußische Braut heimbringt.«

»Du bist doch keine Preußin.«

»Nein. Aber Nixa wollte mich gar nicht.« Sie musterte mich mit einem verwirrend direkten Blick. »Kann es sein, dass du wirklich keine Ahnung hast?«

Plötzlich bekam ich keine Luft mehr. Und fast wäre ich zurückgezuckt, als ihre Hand die meine berührte.

»Du warst diejenige, von der er nicht den Blick abwenden konnte, als wir in Rumpenheim waren«, fuhr sie fort. »Er war hingerissen. Als er sich mit mir unterhielt, erkundigte er sich die ganze Zeit nur nach dir. Er wollte um deine Hand anhalten, aber davon wollte Papa nichts wissen. Der Zar hatte seinen Sohn zu uns geschickt, damit er um mich warb. Ich habe allen unnötige Mühe erspart, weil ich klar zu verstehen gab, dass ich kein Interesse habe.«

Ich starrte sie an. Das war einer der wenigen Momente in meinem Leben, da es mir tatsächlich die Sprache verschlug.

Mitfühlend tätschelte Alix mir die Hand. »Ach, Minnie. Bist du wirklich so blind? Jeder hat es bemerkt. Selbst der öde Bertie, wie du ihn nennst, meinte, Nixa würde durch die Gegend staksen wie ein liebestoller Bauerntölpel.«

Erinnerungen an unseren Aufenthalt in Rumpenheim kehrten zurück. Die belebenden Ausritte an den Vormittagen fielen mir wieder ein, die zwanglosen Mittagessen im Schlossgarten unter Pavillons, die Tänze und Spiele an den Abenden. Doch sosehr ich mich auch bemühte, ich vermochte keine Eindrücke vom russischen Thronfolger heraufzubeschwören – er blieb eine unscheinbare Gestalt in polierten Stiefeln. Seine Mutter, die Zarin, kannte ich seit Jahren. Sie war eine geborene Prinzessin von Hessen-Darmstadt und Verwandte meiner Mutter. Ich hatte Kaiserin Maria Alexandrowna jedoch stets als abweisende Persönlichkeit mit strengem, patrizischem Gebaren und ebenso traurigen wie scharfen Augen erlebt, die unsere bescheidenen Lebensverhältnisse unausgesprochen zu missbilligen schienen. Sie selbst war jedes Mal in Gewänder gehüllt gewesen, die wir uns niemals hätten leisten können. Dennoch pflegten sie und Mama einen regelmäßigen Briefverkehr, und die Kaiserin legte Wert darauf, uns zu sich zu befehlen, wann immer sie auf dem Weg zu ihrem jährlichen Urlaub in Nizza durch Deutschland oder Dänemark reiste. So hatten wir bei einer dieser Gelegenheiten ihren ältesten Sohn Nikolai – besser bekannt unter seinem Kosenamen Nixa – kennengelernt. Für mich war er nichts als ein unauffälliger Junge: privilegiert, höflich, distanziert. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals besonders auf ihn geachtet zu haben. Im Gegenteil, während unseres Aufenthalts in Rumpenheim hatte ich mich derart auf sein Interesse an Alix konzentriert, dass ich ihn offenbar gar nicht angeschaut hatte. Jetzt ärgerte ich mich darüber, dass mir etwas entgangen war, was laut meiner Schwester alle anderen sehr wohl bemerkt hatten.

»Rede keinen Unsinn«, murmelte ich. »Er würde mich nie wollen, wenn er dich bekommen könnte.«

Alix zog ihre Hand zurück. »Das ist kein Wettkampf. Er hat sich in dich verliebt. Er hat Rumpenheim nur deshalb ohne Heiratsantrag verlassen, weil Papa nicht wollte, dass er dir den Kopf verdreht, solange der Zar nicht in die Verbindung eingewilligt hat. Nixa Romanow wird nie mein Mann sein. Aber deiner könnte er sehr wohl werden.«

Und schon wieder wusste ich nicht, was ich sagen sollte.

»Du solltest es dir ernsthaft durch den Kopf gehen lassen«, riet Alix. »Nixa wirkte fest entschlossen, und er versicherte Papa, dass die Zarin ihren Segen geben würde, so wie Mama einverstanden sein wird. Und vielleicht wird auch Zar Alexander zustimmen, da auch du schließlich keine preußische Prinzessin bist.«

»Ich bin doch keine Prinzessin! Und Papa ist noch nicht gekrönt.«

»In den Augen der Welt sind wir bereits Prinzessinnen.« Etwas an ihrer Stimme ließ mich schaudern. »Du musst endlich erwachsen werden, Minnie. Sieh die Welt, wie sie ist, und nicht so, wie du sie gern hättest. Als Töchter des Königs von Dänemark werden wir begehrte Bräute sein.«

»Du nicht«, erinnerte ich sie. »Du gehörst jetzt Bertie von Wales.«

»Allerdings.« Sie erhob sich in einem Rauschen von grauer Seide. »Meine Zukunft steht fest. Deine dagegen nicht. Du musst eine kluge Wahl treffen. Hör auf dein Herz, benutze aber auch den Verstand. In den Sonetten mag die Liebe den Sieg davontragen, aber sie wird uns nicht notwendigerweise Sicherheit gewährleisten.«

Ich blickte zu ihr auf, ohne mich von meinem Stuhl lösen zu können. Von allem, was sie hätte sagen können, hätte ich das am allerwenigsten von ihr erwartet. »Sicherheit?«, ächzte ich. »Du hast Bertie aus Gründen der … Sicherheit gewählt?«

»Unter anderem. Aber selbst wenn Nixa um meine Hand angehalten hätte, hätte ich ihm trotzdem einen Korb gegeben. Ich will wirklich nicht in Russland leben. Ich bin nicht wie du: Es liegt einfach nicht in meiner Natur, auf Abenteuer aus zu sein.« Sie zögerte. »Bist du mir noch böse?«

»Ich war nie böse«, wisperte ich.

Erneut schenkte sie mir ein Lächeln, nur war es jetzt von Nachsicht erfüllt. »O doch, das warst du. Sehr sogar. Aber du darfst nicht böse sein. Wir sind immer noch Schwestern. Und dich werde ich immer am meisten lieben.«

Auf einmal packte mich der Drang, sie zu umarmen. Schon hatte ich mich halb erhoben, brennende Tränen in den Augen, so überwältigt war ich von ihren Worten, von meiner eigenen Unwissenheit über die Intrigen, die uns dereinst umgarnen sollten wie eine unsichtbare Maschine, die im Geheimen mit grausamer Effizienz vor sich hintuckerte, um unser Leben zu zerstören.

Doch bevor ich sie berühren konnte, wich Alix zurück. »Nicht jetzt.« Die Stimme blieb ihr in der Kehle stecken. »Später werden wir noch reichlich Zeit haben, uns zu verabschieden, nur bitte nicht schon jetzt.«

Sie verließ die Galerie, erklomm die Treppe zu ihrem Zimmer und verschwand. Ich wehrte mich standhaft gegen die Kälte, die sich in meinem Inneren ausgebreitet hatte.

Ich war dabei, meine Schwester an Sicherheitsinteressen zu verlieren. Auf die Enthüllung, dass der Romanow-Erbe womöglich eine Ehe mit mir anstrebte, verschwendete ich keinen weiteren Gedanken.

3

Wir kehrten zurück nach Kopenhagen und zu unserem gelben Palast mit seinen durchhängenden Sesseln, über die wir Schals gebreitet hatten, um die Stellen zu verbergen, wo die Rosshaarfüllung herausquoll; zurück zu den modrigen Räumen, zu den gerahmten Bildnissen, die wir selbst mit Wasserfarbe gemalt hatten; zurück zu den ausgeblichenen Vorhängen, die wir zahllose Male gewaschen und ausgebessert hatten.

So froh ich auch darüber war, wieder zu Hause zu sein, machte sich dennoch eine gewisse Wehmut in mir breit, während die Tage dahinrasten. Dieser Palast, durch den wir als Kinder gestreift waren, hatte begonnen, sich aufzulösen wie ein Geist, sich in seine eigenen müden Mauern zurückzuziehen. Gleichzeitig sickerte die Zukunft mehr und mehr in unsere Gegenwart ein.

Mama und Alix schienen unzertrennlich, zogen sich stundenlang zurück, um gemeinsam die Einzelheiten der Brautausstattung zu regeln, oder besuchten adelige Damen, die plötzlich entdeckt hatten, dass es uns gab, und darauf bestanden, die zukünftige Prinzessin von Wales zum Lunch zu bitten. Auch Papa war oft außer Haus. Meist weilte er dann auf Geheiß des siechen Königs am Hof und überließ es mir und den Kleinen, die Stunden totzuschlagen, denn die täglichen Haushaltspflichten, die einst meine Zeit ausgefüllt hatten, wurden jetzt von unseren neuen Bediensteten verrichtet.

Meinen kleinen Geschwistern aus unseren abgegriffenen Märchenbüchern vorzulesen oder mit ihnen zu spielen bewahrte mich davor, in Melancholie zu versinken. Gleichwohl sorgte ich mich, wie es ihnen ergehen würde, da sie doch noch so jung waren und jetzt bald als Mitglieder einer königlichen Familie in die öffentliche Aufmerksamkeit katapultiert werden würden. Ich wollte sie beschützen, obwohl es nichts gab, was ich tun konnte; ich war ja nicht einmal in der Lage, mich selbst abzuschirmen. In den Nächten lag ich wach und heckte abenteuerliche Fluchtpläne aus. Wir konnten verkleidet an Bord eines Schiffs gehen und zu den Kolonien segeln – zu welchen, das wusste ich nicht –, wo wir als gewöhnliche Menschen leben würden – was wir tun würden, das wusste ich auch nicht. Oder aber Papa würde entdecken, dass er gar nicht herrschen wollte, die Krone ablehnen und mit uns in das Leben zurückkehren, das wir kannten, denn Königin Victoria würde Alix dann kaum noch mit ihrem Sohn verheiraten wollen. Und dann …

Ich hätte vielleicht über diese Fantasien gelacht, hätte ich nicht gewusst, was kommen würde. Doch als der Winter sich über Dänemark senkte, rückten der März 1863 und Alix’ Abreise immer näher, raunten mir jeder Windstoß und jedes Schneegestöber zu, dass diese unvermeidlich war.

Und dann war unsere Gnadenfrist urplötzlich abgelaufen. Bevor ich meine Gedanken so recht sammeln konnte, brach in unserem Haus die Hölle los: Reisekoffer wurden gepackt und zum Frachtschiff geschafft, Mama marschierte Befehle bellend durch alle Räume und scheuchte die abgehetzten Dienstmägde herum. In Windeseile verhüllten die Mägde die Möbel mit Betttüchern, als legten sie unserem Palast ein Totenhemd an. Am Ende war er in jeder Hinsicht ein Gespenst.

»Hast du Angst?«, flüsterte ich Alix am Vorabend unserer Abreise zu, nachdem ich stundenlang darauf gewartet hatte, dass Mama endlich das Zimmer verließ, damit meine Schwester und ich uns austauschen konnten.

Alix schüttelte den Kopf. »Warum sollte ich?«

Doch sie hatte Angst, das erkannte ich an der Art und Weise, wie sie die Lippen zusammenpresste, wie sie das Kinn reckte, als wir tags darauf in den Zug nach Brüssel stiegen, von wo es mit Königin Victorias Jacht weiterging, die sie eigens für uns gesandt hatte.

Am Kai drängelten sich heftig winkend und Alix’ Namen rufend unsere Landsleute, um ihr Lebewohl zu sagen. Ich musste mir ein Lachen verkneifen. Nie zuvor hatte uns irgendjemand zugejubelt. Die Situation erschien mir geradezu grotesk.

Bei unserer Ankunft in England allerdings wurde aus meiner Belustigung Ehrfurcht.

Hier wurde Alix ein prachtvoller Empfang bereitet. Obwohl der Märzregen wie Messerklingen herabprasselte und wir wie Espenlaub zitterten in unseren teuren neuen Kleidern, die, wie Mama nicht müde wurde zu betonen, eine hübsche Stange Geld gekostet hatten, verstopften Tausende von Königin Victorias Untertanen die Straße nach London, um Alix in ihrer überdachten Kutsche zuzujubeln. Sie saß zwischen Mama und Bertie. Der Prinz hatte uns mit einem ironischen Lächeln begrüßt, und jetzt glaubte ich, Spuren eines weiblichen Parfums an seinem Gehrock zu wittern. An Papas Seite hinter meiner Schwester sitzend, wandte ich abrupt den Blick von den Jubelnden ab, die allesamt gegen den Regen immun zu sein schienen, und blickte meinen Vater an.

Mit den Lippen bildete er das Wort Schirme, und erneut musste ich einen Lachanfall unterdrücken.

Wie wahr! Alix würde Dutzende von Schirmen brauchen.

Am Bahnhof wartete der Zug nach Windsor Castle auf uns. Als wir wieder ausstiegen, war es bereits dunkel. Für die Fahrt zur königlichen Burg war eine weitere Kutsche nötig. Und wieder ging es kaum voran, weil wahre Massen von Gratulanten einen Blick auf die neue Prinzessin erhaschen wollten. So waren meine Füße bald völlig durchfroren, und meine Hände in den Kalbslederhandschuhen fühlten sich an wie Eiszapfen. Doch als wir zu guter Letzt aus unseren Kutschen in Richtung Burg taumelten, nahm ich die Beschwerden kaum wahr.

Stattdessen war mir bange vor der Begegnung mit der Königin. Victoria war in der ganzen Welt berühmt. Sie hatte den Thron in ihrem achtzehnten Lebensjahr bestiegen. Unter ihrer Herrschaft hatten die Briten ihr Weltreich unermüdlich ausgebaut, sich sogar das ferne Indien einverleibt und so Victorias Krone noch mehr Glanz verliehen. Doch dann war ihre Ehe mit dem geliebten Prince Albert, dem sie neun Kinder geschenkt hatte, durch seinen vorzeitigen Tod abrupt beendet und das ganze Imperium in Trauer gestürzt worden. Obwohl wir isoliert vom Weltgeschehen waren, hatten auch wir von dem herzzerreißenden Kummer der Königin erfahren. Wäre es nach Victoria gegangen, erzählte uns unsere Mutter, hätte sie sich am liebsten an der Seite ihres Gatten in der Gruft beisetzen lassen. Ich stellte sie mir als antike Göttin vor: streng, unerbittlich, schwarz gekleidet – und als ich ihr zum ersten Mal gegenübertrat, bestätigte ihre Erscheinung prompt mein Bild von ihr.

Sie stand in der Eingangshalle mitten unter ihren Dienerinnen, einer Ansammlung von sich bauschenden Röcken und mit Rüschen besetzten Hauben. Natürlich stach sie heraus, jedoch nicht wegen ihrer schwarzen Kleider – sie alle trugen dunkle Kleidung –, sondern weil die stille Autorität, die sie ausstrahlte, sämtliche Blicke bannte. Groß war sie nicht, im Gegenteil, sie war viel kleiner, als ich erwartet hatte, aber jeder wusste sofort, wen er vor sich hatte. Victoria Regina stand nicht da wie jemand, der sich in der Welt bewegte, sondern so, als drehte sich die ganze Welt um sie.

Sie schlug den Schleier über ihrem Gesicht hoch – ganz offensichtlich war ihre Trauer noch nicht beendet – und blinzelte uns aus wässrigen Augen an. »Wo, um alles auf der Welt, seid ihr gewesen?«, fragte sie gereizt.

Schweigen breitete sich aus. Ich fragte mich, wo wir uns ihrer Meinung nach hätten herumtreiben können, als Bertie vortrat und sagte: »Das Volk …«

Mit einem knappen Nicken, als gäbe sie sich mit dieser Erklärung zufrieden, richtete die Königin den Blick auf Alix. Und noch bevor meine Schwester zu einem überfälligen Knicks niedersinken konnte, schloss Victoria sie in die Arme. »Endlich bist du da!« Sie seufzte, als hätte sie die ganze Zeit nichts anderes getan, als Alix’ Ankunft herbeizusehnen.

Nun erwiesen wir alle ihr mit Verbeugungen und Knicksen die Ehre. Die Königin hielt meine Schwester eine schiere Ewigkeit an sich gedrückt, und ich musste wegschauen, da ich den Anblick dieser dicken, in schwarzen Stoff gehüllten Arme nicht ertragen konnte, die sich wie die Flügel eines Raben um meine Schwester schlangen.

Schließlich löste sich die Königin von ihr. Mit tränenfeuchten Augen sagte sie in tadelndem Ton: »Ihr kommt mit großer Verspätung. Das Diner wird in der nächsten Stunde aufgetragen. Ich schlage vor, dass ihr euch in eure Zimmer zurückzieht und euch umkleidet. Ich kann nicht mit euch speisen. Das lange Warten hat mich erschöpft. Wir sehen uns morgen.«

Damit wandte sich die Königin ab und schritt davon. Die Schar von Trauerbegleiterinnen folgte ihr auf den Fuß, ebenso die erstaunlich gehorsamen Spaniels.

Alix blickte mich über die Schulter hinweg an. Ängstlich wirkte sie dabei nicht. Eher resigniert.

Die darauffolgende Woche war angefüllt mit Unternehmungen, die in der Hochzeit ihren Höhepunkt fanden. Dabei gelang es mir partout nicht, einen Platz in Alix’ Nähe zu ergattern. Hunderte Gäste drängten sich zwischen uns, und den absoluten Mittelpunkt, den jeder ehrerbietig zu umrunden hatte, bildete die Königin. Immerhin konnte ich beobachten, wie Alix und Victoria eine unverkennbare Verbindung zueinander entwickelt hatten. Zuneigungsbekundungen lagen der Königin nicht, doch bei den Mahlzeiten, beim Tee oder dem einen oder anderen ihrer endlosen Spaziergänge mit den berühmten Spaniels, die ihr nie von der Seite wichen, legte sie Alix immer wieder die Finger auf den Arm – eine mütterliche, besitzergreifende Geste, die erkennen ließ, dass Victoria meine Schwester als Eigentum Großbritanniens betrachtete.

Das minderte meine Empörung freilich um keinen Deut.

Papa wurde praktisch ignoriert. Man behandelte ihn als Gast von minderer Bedeutung, obwohl er der Vater der Braut war, der Erbe des Königs von Dänemark und Herzog von Schleswig, Holstein und Lauenburg – Letzteres allerdings nur dem Titel nach, ohne das Amt auszuüben. Ich fragte mich, ob die Königin sich schlicht nicht daran erinnern wollte, dass er früher einmal vergeblich um sie geworben hatte. Jedenfalls geruhte sie nur dann mit ihm zu sprechen, wenn das Protokoll es verlangte, und da sie es war, die das Protokoll festlegte, gab es nur sehr wenige Gelegenheiten.

Mama ihrerseits war zu beschäftigt, um Anstoß zu nehmen. Wann immer sich eine Möglichkeit bot, machte sie viel Wirbel um Alix und jagte ansonsten Thyra und Valdemar hinterher, die sich häufig meiner Aufsicht entzogen, um mit den Kindern von Victorias Tochter Vicky, der Kronprinzessin von Preußen, Verstecken zu spielen und Bediensteten einen Schreck einzujagen, wenn sie sich in einer der Ritterrüstungen in den Nischen verbargen und plötzlich mit den Eisenteilen klapperten.

An einem klaren Tag – soweit man in England überhaupt von schönem Wetter sprechen kann – unternahmen wir einen Ausritt. Papa war dank seiner Zeit bei der dänischen Pferdewache ein hervorragender Reiter. In jüngeren Jahren hatte er dort gedient, um uns über Wasser zu halten, weil seine Einkünfte damals nicht ausreichten – gebessert hatte sich unsere Situation ja erst, als er zum Thronfolger bestimmt worden war. Aber er hatte schon früh darauf Wert gelegt, dass wir Kinder reiten lernten. Alix liebte Pferde, zog allerdings gutmütige Stuten vor. Ich dagegen schreckte vor nichts zurück. Für mich gab es nichts Aufregenderes, als auf einem Pferd zu sitzen, seine Kraft und Schnelligkeit zu spüren. Nur Fliegen stellte ich mir noch schöner vor. Mit entsprechendem Eifer beteiligte ich mich an den Ausritten und hielt mühelos mit den hohen Gentlemen und Ladys mit. Es ging hinaus ins Freie und die Hügel in der Umgebung hinauf. Voller Stolz sah ich, dass Papa sich wacker schlug und ein derartiges Geschick im Umgang mit seinem Pferd bewies, dass Victoria nicht umhinkam, ihn – wenn auch widerstrebend – dafür zu rühmen.

Was mich betraf, musste ich bei meiner Ausstattung improvisieren. Niemand hatte einen Gedanken darauf verschwendet, ob auch von mir eine Demonstration meiner Reitkünste erwartet wurde, und da ich keine geeignete Kappe hatte, band ich meine Haare kurzerhand zusammen, steckte sie unter ein Netz und stellte mich so dem verblüfften Blick der Königin.

Victoria selbst ritt nicht mit, sondern zog sich in ihr Arbeitszimmer zurück. Ihr jüngerer Sohn dagegen, der neunzehnjährige Alfred, nahm sehr wohl am Ausflug teil. Am Anfang hatte er sich im Hintergrund gehalten, ein noch sehr jung wirkender Bursche mit weichen Lippen, den matten blauen Augen seiner Mutter und einer ständig mürrischen Miene. Nichts schien ihm Freude zu bereiten außer Essen und Trinken – Tätigkeiten, denen er mit Hingabe frönte.

»Macht die Party Spaß?«, fragte er mit einem anzüglichen Blick. Da mir nicht klar war, was genau er mit »Party« meinte, lächelte ich nur verlegen und gab meinem Pferd die Sporen, um zu Alix und Bertie aufzuschließen. Trotz meiner anfänglichen Vorbehalte entwickelte ich nach und nach Sympathie für meinen neuen Schwager. Weit gereist und kosmopolitisch gesinnt, zeigte Bertie im Umgang mit meiner Schwester Anstand und Duldsamkeit, die mir bewiesen, dass er zumindest entschlossen war, gegenseitigen Respekt zu pflegen, selbst wenn er ebenso wenig in Alix verliebt war wie sie in ihn.

Als wir in bester Stimmung von unserem Ausflug zurückkehrten, wurde ich auf dem Weg zu meinem Zimmer, wo ich mich für den Tee umkleiden wollte, von einer der allgegenwärtigen, Trauer tragenden Hofdamen abgefangen.

»Ihre Majestät wünscht Sie zu sehen.«

Eine Privataudienz war höchst ungewöhnlich, sodass es sich von selbst verbot, auch nur einen kurzen Moment für die Toilette zu erbeten. Wenn die Königin rief, hatte man sofort zu gehorchen. Kurz strich ich meine zerknitterten Gewänder glatt, rümpfte erschrocken die Nase über den Pferdegeruch an meinen Fingern und folgte der Lady durch die mit Teppichen verkleideten Korridore von Burg Windsor in ein mit Holz getäfeltes Amtszimmer. Nachdem die Dame angeklopft hatte, ließ sie mich auf der Schwelle zurück, wo ich verlegen wartete.

»Du kannst hereinkommen!«, rief die Königin schließlich.

Ich trat in einen kalten Raum, in dem ich meinen eigenen Atem aufsteigen sah. Zwar gab es einen Kamin, doch der war blitzblank geschrubbt und leer. Wie fast der ganze Rest der Burg war auch dieser Raum mit allem möglichen Nippes vollgestopft, der ohne jedes erkennbare System angehäuft worden war. Unbezahlbare Gegenstände aus dem Mittelalter thronten auf den Tischen, von denen an allen Ecken und Enden silbern eingerahmte Daguerreotypien oder Porzellanfigurinen über die Ränder zu fallen drohten. Die Wände waren behängt mit von Tabakqualm verfärbten Gemälden, und in den Ecken ragten Marmorbüsten oder riesige Türme aus Büchern auf.

Die Königin saß an einem Schreibpult, das beladen war mit einem Stapel Papier. Neben ihr stand ein Sekretär. Victoria war eine leidenschaftliche Briefeschreiberin. Wie ich gehört hatte, verbrachte sie jeden Tag Stunden damit, Briefe an Verwandte zu verfassen und Mitteilungen an Gouverneure in den entlegensten Teilen ihres Imperiums zu diktieren. Für einige Minuten ignorierte sie mich, wie ich dastand und schüchtern meine Handschuhe samt Haarnetz zwischen den Fingern knetete. Schließlich murmelte sie: »Du gibst eine hervorragende Figur im Sattel ab, wie ich gehört habe.«

»Danke, Eure Majestät.« Sollte ich wegen des Kompliments einen Knicks machen? Die Beine taten mir vom Reiten weh. Und wenn ich zu einem Knicks niedersank, wie lange musste mein Knie dann am Boden bleiben, ehe ich mich unter Schmerzen wieder aufrichten durfte?

Ihre Feder kratzte über das Papier. »Reitest du oft auf diese Weise?«

»Ja, Majestät. In Dänemark versuche ich, so oft wie möglich auszureiten …«

»Nein.« Sie bedachte mich mit einem durchdringenden Blick. »Auf diese Weise.«

Erst war mir völlig schleierhaft, was sie meinte. Doch als sie die Augen wieder senkte, begriff ich.

»Ich hatte keine Kappe, Majestät.« Ich widerstand dem Impuls, meine zerzausten Locken zu betasten.

»Es hat ganz den Anschein.« Sie schrieb wieder. Dann streute sie Sand über ihren Brief und sagte: »Du hättest um eine bitten können. Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir dir eine Kappe zur Verfügung hätten stellen können, Dagmar.«

»Minnie«, verbesserte ich sie unwillkürlich und konnte es nicht fassen, dass ich soeben die Königin von England korrigiert hatte. »Nur … nur mein Vater nennt mich Dagmar.«

»Wirklich?« Sie musterte mich mit unergründlicher Miene. »Hat er dich sehr lieb?«

Was war denn das für eine Frage? Ob er mich lieb hatte?

»Er ist mein Vater, Majestät. Er liebt seine Familie. Und wir lieben ihn.«

Eine verstohlene Regung huschte über ihr Gesicht. Am liebsten hätte ich mir die Zunge abgebissen. Ein Ehemann, der seinen Kindern ein liebender Vater war – sie hatte den ihren unlängst verloren.

»So sollte es auch sein.« Sie erhob sich und schritt zu zwei Polstersesseln hinüber, die vor dem nicht beheizten Kamin standen. »Komm. Setz dich zu mir. Ich möchte, dass wir uns noch ein wenig unterhalten.«

Ich nahm neben ihr Platz. Der Sessel wirkte gewaltig und schien mich regelrecht zu verschlucken; das Kissen fühlte sich eisig an. Wie konnte sie bloß den ganzen Tag an diesem Pult sitzen, in einem Raum, in dem man rohes Fleisch hätte lagern können?

»Alfred hat mir erzählt, dass du wie eine Engländerin reitest«, sagte sie.

Ich nahm an, dass dies als Kompliment gemeint war, und lächelte. Ihrer Meinung nach waren die Engländer gewiss in allem besser als der ganze Rest der Welt.

»Weiter berichtete er, dass du deinen Aufenthalt hier genießt«, fuhr sie fort. »Trifft das zu?«

Zweifelte sie an den Worten ihres Sohnes? Oder stellte sie meine Dankbarkeit für ihre Gastfreundschaft auf die Probe? Beim Gedanken daran, wie sie meinen Vater behandelt hatte, flammte jäh Misstrauen in mir auf. Ich verbarg es und sagte nur: »Es ist ein schönes Land, Majestät, aber es regnet hier ziemlich viel.«

»Regen ist gesund. Für den Körper und für die Felder.«

»Natürlich.« Wie anstrengend! Hatte sie mich zu einer Privataudienz gerufen, um mit mir das Fehlen einer geeigneten Kopfbedeckung und das unerträgliche Wetter zu erörtern? Wenn das so weiterging, würde ich es nicht mehr rechtzeitig zu meinem Zimmer schaffen, um mich zu waschen und umzuziehen, ehe ich mich zum obligatorischen Tee in ihrem höhlenartigen Empfangssaal einfand.

Ohne jede Vorwarnung sagte sie auf einmal: »Alfred ist sehr angetan von dir. Du hast sicherlich nichts davon bemerkt. Aber du sollst wissen, dass ich dich vor nicht allzu langer Zeit als Braut für ihn in Betracht gezogen habe.«

Ach, hatte sie das? Das überraschte mich fast genauso sehr wie ihre Feststellung, dass ich Alfred gefallen hatte, denn davon hatte ich in der Tat nichts mitbekommen. Nun, selbst wenn ich etwas geahnt hätte, hätte ich es nicht zugeben können, denn eine Lady durfte nie bemerken, dass ein Gentleman Interesse an ihr hatte. Doch bei der Erinnerung an Alfreds anzügliche Äußerungen hätte ich fast die Augen verdreht. Wenn das die Art ihres Sohnes war, sein Interesse auszudrücken, hatte er noch einiges zu lernen. Dennoch brachte mich die Erkenntnis, dass sie geplant hatte, mich in diesem Gespräch unter vier Augen damit zu überrumpeln, völlig aus der Fassung. Genügte es ihr denn nicht, meine Schwester auf die gleiche Weise zu erobern, wie sie es mit Indien getan hatte? Glaubte sie, dänische Prinzessinnen gäbe es immer paarweise so wie Schuhe oder Handschuhe?

»Ich wünsche deine Meinung dazu zu hören«, sagte sie in leicht tadelndem Ton. »Leider wäre es jetzt keine angemessene, passende Verbindung mehr, aber von deiner Antwort wird abhängen, ob ich mit deinem Vater darüber spreche. Es ist mir wichtig – sehr wichtig –, dass niemand gegen seinen Willen heiratet.«

Ich bezweifelte, dass meine eigenen Wünsche hier von Belang waren. Dänische Prinzessinnen mochte es paarweise geben, doch konnte Victoria immer noch zahllose andere Bräute für ihren Sohn wählen. Ich schluckte, um meine von der Kälte trockene Kehle zu befeuchten. »Ich kenne Seine Hoheit ja gar nicht, Eure Majestät.«

»Da ließe sich Abhilfe schaffen. Du könntest nach der Hochzeit noch eine Weile als Gast bei uns bleiben. Deine Schwester wäre entzückt. Ich habe Sandringham und Marlborough House Bertie zur freien Verfügung gestellt. Es gibt also Platz genug. Selbstverständlich werde ich für all deine Kosten aufkommen.«

»Meine Kosten? Wir sind nicht so verarmt, Majestät! Mein Vater wird bald der König von Dänemark sein.«

Meine Empörung platzte aus mir heraus, bevor ich sie zügeln konnte. In der bleiernen Stille danach konnte ich sehen, wie Victorias so gut wie unsichtbare blonde Augenbrauen ein Stück weit nach oben wanderten.

»Du hast Geist«, lobte sie. »Auch ich war früher ein geistreiches Mädchen. Zu geistreich, würden manche sagen.« Wieder verschatteten sich ihre Augen, und ihre Mundwinkel sackten herab. Der Tod ihres geliebten Albert verfolgte sie noch immer.

»Ma- Majestät, es ehrt mich, dass Sie an mich gedacht haben«, stammelte ich, »aber da meine Schwester jetzt so weit entfernt von unserem Land lebt, möchte ich meinen Eltern nicht schon wieder einen Verlust zumuten.«

»Dennoch muss jedes Mädchen irgendwann heiraten.« Sie blickte mich an, als erforderte ihre Feststellung keine Antwort. Tatsächlich erweckte ihre teilnahmslose Miene den Eindruck, nichts könne sie aus der Fassung bringen, nicht einmal eine unverblümte Ablehnung ihres Angebots. Da ich immer noch schwieg, sagte sie: »Ja, eindeutig zu viel Geist – leider. Und die entsprechende Willensstärke. Nun gut. Wir werden nicht mehr darüber reden. Du musst dich jetzt beeilen, sonst kommst du noch zu spät zum Tee.«

Ich machte einen tiefen Knicks und wandte mich zur Tür. Victoria verharrte auf ihrem Sessel, den Blick starr auf den leeren Kamin gerichtet. Als ich schon die Hand auf der Klinke hatte, hörte ich sie sagen: »Mir tut der Mann, der dich bekommt, jetzt schon leid, Dagmar von Dänemark. Du wirst nicht leicht zu zähmen sein.«

Es klang wie eine Anklage.

Und es gefiel mir.

Das Diner war – wie die Teenachmittage, bei denen Victoria über alles bestimmte – eine steife Angelegenheit. Den Rhythmus setzten Speisen, die in braunen Soßen ertranken, und eine unverfängliche Konversation über das Klirren von Kristallgläsern und silbernen Gabeln hinweg.

Gleich danach schlich ich mich zu Alix ins Zimmer. Meine Schwester stand mit bereits gelöstem Haar im Morgenrock vor einer Schneiderpuppe, die mit Alix’ kunstvoll gearbeitetem Hochzeitskleid bekleidet war – einer Mischung aus weißer Honiton-Spitze und silbernem Gewebe, umkränzt mit Orangenblüten aus Seide. Auf dem Bett stand eine geöffnete Truhe gefüllt mit Perlenketten, einem Diamantdiadem und mehreren anderen Edelsteinen, die sie laut Befehl der Königin bei der Zeremonie zu tragen hatte.

»Sieh dir das an.« Sie hielt einen mit Edelsteinen besetzten Anhänger hoch. »Erkennst du ihn?«

Ich musterte ihn. »Das Heilige Kreuz von Dagmar!«