Die verdorbene Stadt - Laura Wolf - E-Book

Die verdorbene Stadt E-Book

Laura Wolf

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Beschreibung

Vier Gilden treiben in der Stadt Amar ihr Unwesen. Die Schemen des Todes, die Wölfe des Henkers, die Geister des Zwielichts und die Verdammten... Noch vor kurzem war Zora ein "Niemand" aus dem Armenviertel. Doch als ihr jemand einen Beutel voller Gold zusteckt, kann sie ihre Freude kaum fassen. Aber keine fünf Sekunden später, halten die Leute sie für eine Diebin und ein duzend Wachen machen Jagd auf sie. Auf ihrer Flucht, bewahrt ein mysteriöser Retter sie davor in den Tod zu stürzen und flüstert ihr mit eisiger Stimme zu: "Tue mir bloß einen Gefallen. Stirb nicht. Du könntest mir vielleicht noch von Nutzen sein." Mit seinen Worten beginnt Zoras Geschichte und sie stolpert von einem Dilemma ins Nächste.

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Die verdorbene Stadt

Ein Meer aus Lügen und Verrat

Fantasy Roman

Laura Wolf

Impressum

Texte: © Copyright by Laura Wolf

Coverdesign und Umschlaggestaltung:

Florin Sayer-Gabor -

www.100covers4you.com

Hintergrundbild:

Dreamstime von Grandfailure

Verlag + Druck: epubli

Venjava-Reihe :

Band 1: Eine magische Welt jenseits des Portals

Band 2: Die Burg der Assassinen

Band 3: Die Dunkelelfen & Die Drachenjäger

Weitere Bücher von Laura Wolf:

- Hüte dich vor den Stimmen des Meeres

Vampirroman:

Band 1: Sei mein Schutzengel für die Ewigkeit

Ist man böse, wenn man denkt, man tut das Richtige, obwohl jeder sagt, es ist Wahnsinn, was du tust?

Ist ein König etwa böse, wenn er nur an sich selbst denkt und das tut, was er will?

Ist eine Frau schlecht, wenn sie plötzlich einer Freundin den Rücken kehrt, um woanders ein besseres Leben zu führen?

Ist ein Gildenmitglied böse, weil es rekrutiert, oder zum Töten geboren wurde?

Ist jemand Böses überhaupt in der Lage, zu lieben?

Ist es falsch, zu lügen, um sein eigenes Leben zu retten und ein anderes dafür zu opfern?

Jeder würde etwas anderes sagen, aber klar ist, dass diese Dinge wohl im Auge des Betrachters liegen ...

Wahrheit und Loyalität ... existieren sie noch?

Ein einzelner Mann streifte durch die Dunkelheit. Man konnte nur das Stapfen und Knirschen schwerer Stiefel hören, die sich bei jedem seiner Schritte durch den dicken Schnee gruben. Und das leise Klappern einer Plattenrüstung. Ansonsten war es still. Weder ein Tierruf, noch ein Knacken eines Astes war zu hören. Der Mann war alleine. Dicke Wolken versperrten den Blick auf die Sterne und das Leuchten der zwei Monde war zu schwach, um es mit der Übermacht an Wolken aufzunehmen. Zudem schlängelten sich dicke Nebelschwaden um ihn herum und es war nahezu unmöglich, die eigene Hand vor Augen zu sehen. Doch das schien dem gepanzerten Mann wenig auszumachen. Er setzte seinen Weg unbeirrt fort, ohne auch nur einmal stehen zu bleiben und Atem zu schöpfen. So wie er sich ganz ohne Licht in der Dunkelheit und in dieser eisigen Kälte bewegte, konnte man meinen, er sei gar kein Mensch. Plötzlich hob er den Kopf, in dem Moment als der Mond für einen Wimpernschlag hervorstach, und zwei Augenpaare blitzten auf. Der Rest seines Gesichts, war unter einem dicken Schal und einer Kapuze verborgen. Er rückte seinen Umhang zurecht, wandte den Blick wieder vom Himmel ab und wanderte weiter durch das dicke Nebelfeld. Es dauerte nicht lange, da hatte ihn der Nebel verschluckt. Nur die Fußspuren erinnerten noch daran, dass er hier gewesen war. Doch der plötzliche Schneefall verwischte seine Spuren, kurz nachdem der Nebel ihn verschluckt hatte.

1. Kapitel

Ihr verfluchten, reichen, Bastarde!

Das war das Erste, was mir zu diesen grinsenden Mistkerlen einfiel. Zudem trugen sie teure Kleidung, handgefertigt, aus feinem Samt, und augenscheinlich hatten sie mehr Gold zur Verfügung, als ich jemals in meinem Leben haben würde. Verzeihung. Ich muss mich korrigieren. Wohl eher, was ich niemals in meinem Leben haben würde. Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal eine Goldmünze gesehen habe. Ich hatte einmal eine vor Jahren gesehen und der kurze Blick auf sie hatte mich fast einen Schlag ins Gesicht gekostet. Und was Silbermünzen anging, die hatte ich zwar schon oft gesehen, aber auch noch nie in meinen Händen gehalten. Höchstens eine Kupfermünze, die so wenig wert war, dass man mehr als fünfzig davon brauchte, um etwas Brauchbares zu kaufen. Ich sah den jungen Mann, der vor mir stand, aus zusammengekniffenen Augen an. Sein Freund lehnte mit verschränkten Armen an einer imposanten Hauswand. Dieser fing an, zu lachen als er meinem zornigen Blick mit einem Zwinkern standhielt. Vor ein paar Sekunden noch, war ich mit einem Lächeln auf den Lippen auf dem Weg nach Hause gewesen. Ich war so glücklich darüber gewesen, endlich wieder etwas Essbares aufgetrieben zu haben. Und jetzt lag ich im Dreck, weil dieser reiche Schnösel mir ein Bein gestellt hatte. Ich spuckte auf die mit Matsch bedeckte Straße. Es hatte seit Tagen ununterbrochen geregnet. Meine Arme waren aufgeschürft und meine Lippe aufgeplatzt. Zudem sah ich aus wie ein verfluchtes Schwein! Der Matsch brannte in meinen Wunden und vermischte sich mit meinem Blut. Der andere Mann stieß einen leisen Pfiff aus und warf das Brot von einer Hand in die andere.

„Gib es mir zurück!“, schrie ich ihn an. Es war alles was ich heute bekommen hatte. Und in meinen Augen war es mehr wert als jede einzelne Goldmünze in dieser verfluchten Stadt. Der Mann jedoch grinste nur umso breiter. Er warf es seinem Freund an der Hauswand zu.

„Hast du das gehört? Sie will, dass wir es ihr zurück geben.“

Plötzlich wurde seine Stimme ernst, als ich meine Hände zu Fäusten ballte.

„Willst du wirklich, dass es wie beim letzten Mal wird? Lass es lieber bleiben, du hast sowieso keine Chance.“

Ich starrte ihn an und meine Wut wuchs, als ich mich auf die Beine kämpfte. Ich trat einen Schritt auf ihn zu und hielt dann in der Bewegung inne. Mein Gesicht verdüsterte sich. Ich gab es nur ungern zu, aber er hatte recht. Ich hatte keine Chance. Ich konnte weder kämpfen, noch war ich stark genug. Außerdem hatte ich wenig Lust, mich erneut im Fluss außerhalb der Stadt wiederzufinden. Zum Glück konnte ich einigermaßen schwimmen, sonst wäre ich ertrunken. Ich hatte damals zahlreiche blaue Flecken und Prellungen gehabt. Das Glück war trotz der tagelangen Schmerzen nicht von meiner Seite gewichen. Sie hätten viel Schlimmeres mit mir anstellen können. Bei dem Gedanken wurde mir kalt und ich erschauderte. Ich sah in die Gesichter der Menschen, die um mich herum eilig ihren Geschäften nachgingen und dem Geschehen wenig Beachtung schenkten. Am wenigsten mir. Aber was musste ich auch für einen grauenvollen Eindruck erwecken? Ich trug ein Hemd und eine Hose. Beide waren an mehreren Stellen geflickt und durch meinen Sturz erneut zerrissen worden. Meine Kleidung war eine Schande für die Gesellschaft. Eine Frau trug die Klamotten eines Mannes. Ich war wahrlich eine Schande. Jede Frau hier in den Straßen trug die schönsten Kleider in den buntesten Farben. Nicht diese Lumpen, die man wohl kaum als Kleidung bezeichnen konnte. Und ich war zudem voller Schlamm. Ich seufzte, als mir dennoch eine junge Frau einen missbilligenden Blick zuwarf und dann eilig ihr Kleid zurecht zog und mit hoch erhobenem Kinn davon stolzierte. Immerhin war ich einen Blick wert gewesen.

„Mach, dass du in dein dreckiges Viertel zurückkommst!“ Abschätzig sah er mich an. „Wir brauchen hier keine Bettler!“

Am liebsten hätte ich ihn für seine Worte erwürgt. Aber es war besser, nicht noch tiefer in den Ärger hineinzugeraten. Deswegen sah ich die beiden nur noch einmal hasserfüllt an, drehte mich einfach um und ging den Weg zurück den ich gekommen war.

Eines Tages, dachte ich grimmig, werdet ihr das was ihr getan habt, bereuen. Mein Geist war so von Zorn vernebelt, dass ich mir schon ausmalte, was ich mit ihnen anstellen würde, wenn ich kämpfen konnte. Als ich das Armenviertel betrat, sahen mich manche, die ich vom Sehen her kannte, mit einem irritierten Gesichtsausdruck an. Oder sie wichen meinem Blick ängstlich aus. Ich schnaubte und schüttelte den Kopf. Machte ich etwa so ein eindrucksvolles Gesicht? Plötzlich knurrte mein Magen so laut, dass ich die Aufmerksamkeit eines kleinen Straßenhundes weckte, der aus einem zerstörten Haus herauskam. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass er mir einen verständnisvollen Blick zuwarf. Er war jung, fast noch ein Welpe. Der Hund trat ein paar Schritte auf mich zu und betrachtete mich abwechselnd ängstlich und bettelnd.

„Ich habe leider nichts für dich“, sagte ich leise. Der Hund sah mich noch einen Moment lang an, dann verschwand er wieder in der Ruine. Ich blickte ihm nach. Ich hätte ihm gern etwas gegeben.

In einer Sache waren wir gleich, wir hatten beide Hunger und mussten ums Überleben kämpfen. Aber Streuner hatten es weit schlimmer als wir Menschen aus dem Armenviertel. Sie waren in den Vierteln der Händler und Reichen nicht gern gesehen. Eigentlich waren sie den Bewohnern in ganz Amar ein Dorn im Auge. Wenn sie den Menschen hier in die Hände liefen, wurden sie entweder geschlagen oder zu Tode geprügelt.

„Hast du etwas Essbares bekommen?“, fragte eine weibliche Stimme laut, als ich die Tür knarrend öffnete. Sie war eine Freundin und wie eine Schwester für mich. Wir kannten uns schon einige Jahre und anders als meine, war ihre Familie noch am Leben. Zumindest ihre Eltern. Liv -kümmerte sich um mich, seitdem meine Familie von Banditen getötet worden war. Meine Eltern hatten wie ich auf ein besseres Leben gehofft und gesagt, dass sie bald zurück seien. Sie hatten in die Ländereien eines Verwandten reisen und mich dann zu sich holen wollen. Aber sie waren nie zurückgekommen. Liv war die Einzige, die in dieser Zeit bei mir gewesen war. Ihre Eltern mochten mich nicht besonders. Sie wollten nicht, dass Liv mir etwas von ihrem Essen abgab, weil sie selbst so wenig hatten. Aber das war ihr egal. Schließlich teilte ich auch immer alles mit ihr.

„Tut mir leid, Liv. Diesmal nicht“, sagte ich, als ich den kleinen Raum betrat und sah wie Liv versuchte, das Dach provisorisch zu reparieren. Sie schaute kurz von ihrer Arbeit auf.

„Die beiden Brüder wieder, nicht wahr?“

Ich nickte und spürte, wie erneuter Zorn mich durch flutete.

„Irgendwann bekommen sie, was sie verdienen“, knurrte ich.

Liv schüttelte den Kopf. „Ich verstehe nicht, warum sie immer so fies zu dir sind. Bei mir ist es ...“

„Ich weiß, wie sie zu dir sind!“, schnitt ich ihr das Wort ab. „Das Thema hatten wir doch schon. Sie sind nur so, weil ...“

Sie warf mir einen wütenden Blick zu und schnitt diesmal mir das Wort ab.

„Die beiden stehen nicht auf mich! Und selbst wenn dem so wäre, dann würde ich niemals etwas mit denen anfangen. Außerdem, was sollten sie von einer Frau aus dem Armenviertel wollen?“

„Das, meine Liebe, ist genau die Frage, die ich mir schon oft gestellt habe.“

Ich machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ist ja auch egal. Ich muss mich unbedingt sauber machen. Was würde ich nur für heißes Wasser geben.“ Ich seufzte.

Liv warf mir lachend ein nasses Tuch zu. Kurz darauf schleppte sie eine Schüssel Wasser an.

„Hier, für dich.“ Sie grinste.

„Danke“, brummte ich und versuchte, mich so gut es ging sauber zu machen. Liv gab mir neue Kleidung, die genauso zerrissen waren wie die alten. Wenigstens hatten wir mehr als eine Kleidung zur Verfügung. Ein Luxus, den manche nicht genießen konnten. Und wir hatten einen alten Schuppen, in dem wir wohnen konnten. Manche hatten nicht einmal das.

„Hatte ich die nicht erst geflickt?“, fluchte ich und starrte die Löcher von allen Seiten an. Liv zuckte mit den Schultern.

„Es waren die, die du bei deinem Sturz in den Fluss anhattest.“

„Sturz würde ich es nicht nennen“, erwiderte ich trocken. „Ich glaube, ich versuche mein Glück morgen mal wieder bei der Wäscherei. Vielleicht wird mir dort mein Brot nicht gleich wieder weggenommen.“

Liv riss die Augen auf. „Du hast ein ganzes Brot bekommen?“

„Na ja, es war eigentlich ganz einfach. Der Händler hat nicht richtig hingesehen und dann ...“

„Bist du verrückt?“, rief sie entsetzt. „Du weißt, wie schlimm die Strafe auf Diebstahl ist! Du hättest deine Hand verlieren können!“

„Ich weiß“, gab ich zähneknirschend zurück. „Es war leichtsinnig, aber was hätte ich sonst machen sollen? Die Geister tun das doch auch ständig.“

Ihr Entsetzten wurde mit jedem meiner Worte größer.

„Die Geister“, japste sie betroffen.

„Du vergleichst dich hier doch nicht etwa mit der Diebesgilde! Die Geister des Zwielichts sind nicht ganz dicht. Wenn die erwischt werden, wird das schlimmer ausgehen, als wenn jemand bloß ein Stück Brot klaut. Mach das ja nicht noch mal!“, zischte sie mit erhobenem Finger.

Unbeeindruckt zog ich mir die neuen Klamotten zurecht.

„Sie verstehen ihr Handwerk, sonst wären sie nicht die zweitstärkste Gilde dieser Stadt.“

Sie zog die Augenbrauen hoch.

„Wo erfährst du eigentlich so etwas? Niemand spricht offen über sie.“

Ich lächelte.

„Ich arbeite nicht nur, ich merke mir auch Dinge, die hinter vorgehaltener Hand geredet werden.“

„Vielleicht solltest du lieber mehr arbeiten, anstatt die Gespräche anderer Menschen zu belauschen. Irgendwann wirst du ziemlichen Ärger kriegen. Du hast Glück, dass die Brüder dich nicht wegen des Brotes verpfiffen haben.“

„Das haben sie gar nicht gemerkt. Sie dachten bestimmt, ich hätte es geschenkt bekommen, weil ich so viel gebettelt habe.“ Ich verdrehte die Augen.

Liv lachte.

„Als ob du jemals betteln würdest.“

Ich zwinkerte ihr zu. Das war wahrlich nicht meine Stärke.

Deswegen klaute ich entweder etwas, oder nahm Dinge, die andere wegschmissen. Manchmal erbarmte sich aber auch jemand und ich konnte sogar etwas Arbeit bekommen. Leider waren es harte Arbeiten und kaum einer gab Geld. Die Mehrzahl der armen Menschen wurde sogar wie Sklaven behandelt.

„Ich habe übrigens etwas für dich.“

Liv drehte sich um und hob die alte, von Würmern zerfressene Truhe an, die irgendwann einmal jemand hier drinnen vergessen hatte. Bis auf ein paar zerfetzte Decken und ein altes Holzregal war das Zimmer leer. Sie warf mir etwas zu, das in ein Tuch gewickelt war. Das Tuch sah teuer aus. Ich hob eine Augenbraue.

„Woher ...?“, fing ich an, als ich eine Hälfte Brot darin eingewickelt sah.

„Das ist allein für dich“, sagte sie und strahlte dabei. Lächelnd fuhr sie fort:

„Ich habe Arbeit in der Taverne „Zum alten Herzog“ bekommen. Ist das nicht wunderbar?“

„Das ist fantastisch!“, rief ich und umarmte sie stürmisch. Ich lachte, bis mir die Tränen kamen.

„Das ist unglaublich ... ich freue mich so.“

„Und ich mich erst. Endlich haben wir Geld zur Verfügung und müssen nicht mehr hungern.“

Liv lächelte mich noch einmal an.

„Lass es dir schmecken, wir sehen uns morgen. Ich muss es noch meinen Eltern sagen.“

Sie war schon halb zur Tür hinaus, als ich ihr zurief:

„Du hast es ihnen noch nicht erzählt?“

„Ich wollte es dir zuerst sagen“, antwortete sie zwinkernd. Als sie draußen war, stieß ich einen Seufzer der Erleichterung aus. Unser Leben hatte sich gebessert. Endlich. Freudig biss ich in das Brot und machte es mir auf dem Boden bequem. Ich betrachtete die kleine Scheune. Früher hatte ich hier mit meinen Eltern gewohnt. Und als sie nicht wiedergekommen waren, hatte sich Liv für ein paar Wochen hier einquartiert. Aber ihre Eltern wollten, dass sie wieder bei ihnen wohnte. Sie hatten mehr Platz als ich und es war komfortabler. Ich seufzte noch einmal zufrieden. Endlich etwas zu essen ...

2. Kapitel

Ein Klappern an der Tür weckte mich. Es war noch dunkel draußen. Wahrscheinlich kurz nach Mitternacht. Erneut klapperte die Tür und ein starker Wind fegte durch den Türschlitz und blies mir direkt ins Gesicht. Schnell sprang ich auf die Füße und öffnete die Tür einen Spaltbreit. Sofort erwischte mich tosend eine weitere Windböe. Ich knallte die Tür wieder zu. Bitte keinen Sturm, dachte ich zerknirscht und betete, dass er nicht noch schlimmer wurde. Dann hörte ich ein Heulen. Es klang fast wie ein Wimmern. Sofort riss ich die Tür wieder auf. Ich starrte in die Finsternis. Nichts regte sich. Nur der Wind toste um die baufälligen Häuser und die Ruinen. Das Heulen erklang erneut. War das ein Wolf? Ich war schockiert. Hier in der Stadt? Plötzlich sah ich eine Gestalt zwischen den Ruinen umherhuschen. Dann eine zweite. Der Wind trug verzerrte Stimmen zu mir herüber. Ich wurde misstrauisch und bekam ein komisches Gefühl. Mein Herzschlag beschleunigte sich. Trotzdem wagte ich mich hinaus in die Düsternis.

Keiner kannte sich hier besser aus als ich. Liv und ich hatten hier draußen Stunden verbracht. Auch nachts hatten wir uns in die Ruinen gewagt. Der Schuppen, in dem ich wohnte, befand sich direkt neben der ersten Ruine. Es war nichts Außergewöhnliches an ihnen. Sie waren nur leer stehende und zerstörte Häuser. Sie grenzten direkt an das Armenviertel und die Stadtmauer. Einige Risse durchzogen die Ruinen und man konnte sogar an einer versteckten Stelle in der Mauer hinaus schleichen und die Stadt verlassen. Ich hatte noch keine Schmuggler zu Gesicht bekommen, aber mit Sicherheit wurde diese Lücke öfter benutzt, als man dachte. Wenige wussten von ihr. Aber wen interessierte das schon? Das Armenviertel war sowieso der Bereich in der Stadt, der am wenigsten geschützt wurde. Kaum ein Wachsoldat kam hierher. Und selbst wenn es jemand hierher schaffte, musste er durch ein bewachtes Tor gehen, um in die anderen Viertel zu gelangen. Und wenn er in den Palast des Königs wollte, musste er zwei weitere Tore passieren. Zum Glück war es den Wachen am ersten Tor egal, ob die Armen es durchquerten oder nicht. Es war sowieso kein Haupttor und wir trugen keine Waffen.

Ich ließ meinen Blick durch die Dunkelheit schweifen. Die Ruinen waren zahlreich und gingen sogar in ein anderes Viertel über. Das Viertel, in dem sich die Verbrecher und ein paar der Gilden aufhielten. Zum Glück war das auf der anderen Seite der Mauer und nicht direkt neben unserem.

Ich versuchte, den Stimmen so gut es ging zu folgen. Es war schwer, etwas zu sehen, und der Wind war hinderlich. Er zerrte an meinen Klamotten und brachte eine Kälte von Norden mit sich, die mich erschaudern ließ. Der Winter würde dieses Jahr hart werden, aber noch blieben wir ein paar Monate verschont. Wieder hörte ich Stimmen, dann sah ich eine Fackel, die in einer Ruine entzündet wurde. Langsam schlich ich mich an sie heran. Ich wagte kaum, zu atmen, obwohl mich der laute Wind davor bewahren müsste, gehört zu werden.

„Was machen wir hier eigentlich?“, fragte einer der beiden , als ich mich an die Mauer lehnte.

„Mach gefälligst die Fackel aus, du Idiot!“, zischte der andere ihm zu. „Oder willst du das uns jeder sehen kann?“

„Von mir aus“, brummte der andere und sofort umhüllte die beiden wieder Finsternis.

„Warum müssen wir diesen Job machen? Wir gehören zu der Gilde der Verdammten. Was haben wir damit zu tun? Und wie wäre es, wenn du mich endlich mal in deinen Plan einweihen würdest?“

Die Verdammten, dachte ich schockiert. Was machte eine der vier Gilden im Armenviertel? Mir wurde kalt. Es war keine starke Gilde und die anderen Gilden würden sie vermutlich nicht einmal eines Blickes würdigen, aber für Menschen wie mich, waren sie weit mehr als nur überlegen. Es sah im spärlichen Licht des Mondes so aus, als würde der eine Mann den anderen am Kragen packen.

„Der Auftrag kommt von ganz oben!“, knurrte er. „Und es gibt eine Menge Geld. Wir werden ihn also erledigen. So wie es aussieht, geht es um etwas sehr Wertvolles. Ist doch gut, dass die anderen Gilden nichts davon mitbekommen, oder? Hast du schon mal etwas von Wesen gehört die aus Magie bestehen sollen?“

Ich stieß erschrocken Luft aus. Magie?

„Ein magisches Wesen? Lächerlich! Ich dachte, das Gerede von Magie sei ein Märchen. Es heißt doch, sie existiere nicht.“

„Bisher war das auch der Fall. Es heißt, diejenigen, die Magie wirken können, sind tot oder untergetaucht. Zumindest ist das von den Menschen mit magischen Fähigkeiten bekannt. Von Tieren hat noch niemand etwas gehört. Das, was wir suchen, soll auffällig sein ... und jetzt such weiter, es muss hier irgendwo sein. Ich habe genaue Anweisungen erhalten, wie es aussieht und ...“

Plötzlich unterbrach ein gurgelnder Laut die Stimme des Mannes und er fiel auf den Boden. Instinktiv duckte ich mich und starrte entsetzt auf den anderen Mann, der direkt nach ihm zusammenbrach und sich an die Kehle fasste. Ich starrte die Männer mit weit aufgerissenen Augen an. Sie waren tot. Irgendjemand hatte sie getötet. Ihr Mörder musste sich hier noch irgendwo herumtreiben. Nicht weit von mir entfernt. Mein Herz klopfte mir bis zum Hals. Ich schluckte und versuchte, das Zittern meiner Hände unter Kontrolle zu bringen, als ich die Ruinen mit den Augen absuchte. Und tatsächlich erkannte ich auf einer der hohen Mauern einen tiefschwarzen Umriss, der die Sterne verdeckte und den Kopf drehte, als ob er die Ruinen beobachten würde. Ich ließ mich langsam die Mauer hinunter sinken, bis ich in der Hocke saß. Als die Gestalt ihren Kopf in meine Richtung drehte, duckte ich mich noch ein Stück weiter. Dabei hatte ich das Gefühl, mir würde das Herz stehen bleiben. Bitte hab mich nicht gesehen, flehte ich still. Ich wartete noch zwei Herzschläge lang ab, dann hob ich meinen Blick erneut und die Gestalt war wieder in der Dunkelheit verschwunden.

Zitternd schloss ich die Tür und lehnte mich erschöpft dagegen. Tief atmete ich ein und wieder aus. Es dauerte eine Weile, bis sich mein Herzschlag und das Zittern meiner Hände beruhigt hatte. Der Wind hatte mittlerweile nach gelassen und ich war froh, dass nichts mehr gegen die Tür hämmerte. Diese Nacht konnte ich keinen weiteren Schrecken gebrauchen. Es gab nichts Furchterregenderes, als wenn es sich anhörte, als ob jemand nachts an der Tür klopft.

Ich schloss die Augen und versuchte, zu schlafen. Und zu vergessen, was ich gesehen und gehört hatte. Ich war mir nämlich sicher, dass das nicht für meine Augen bestimmt gewesen war. Doch es gelang mir nicht. Irgendwann kündigte sich der Tag an und ich rieb mir über meine müden Augen. Ich gähnte ausgiebig, dann stand ich auf und nahm das restliche Brot mit, als ich vor die Tür trat. Ich wollte es heute bei der Wäscherei versuchen. Auf dem Weg dorthin, begegnete ich wieder dem kleinen Hund, der mir gestern schon begegnet war. Ich warf ihm ein Stück von meinem Brot hin, das er freudig entgegennahm. Dann verschwand er wieder zwischen den Ruinen.

„Gern geschehen!“, rief ich ihm hinterher. Ein Mann schaute mich missmutig an.

„Wenn du diesen Köter weiter so fütterst, dann wird er hier jeden Tag betteln.“

Ich zuckte mit den Schultern.

„Lass das mal meine Sorge sein. Du musst ihm ja nichts abgeben“, erwiderte ich.

Der Mann warf mir einen bösen Blick zu und verschwand daraufhin in einem der Häuser. Grinsend setzte ich meinen Weg fort. Immer wieder schön mit euch Nachbarn. Ich weiß, dass ihr mich nicht leiden könnt, aber das ist mir so was von egal. Ich wollte gerade das erste Wachtor durchqueren, als mich die Torwache aufhielt, indem sie mich grob am Arm packte. Sie beugte sich zu mir herunter. Ich kannte den Mann nicht. Bisher hatte Harry immer seinen Dienst hier verbracht. Er war ein älterer Herr und ich kannte ihn schon mein halbes Leben.

„Was willst du da drüben? Etwa arbeiten?“, blaffte mich der Mann unhöflich an.

Ich machte ein empörtes Gesicht.

„Natürlich! Sehe ich etwa so aus, als würde ich nur zum Spaß ständig zwischen den Vierteln hin und her wechseln? Und außerdem, seit wann wird man hier kontrolliert? Jeder darf das Tor passieren.“

Der Mann, der nicht gerade eine Schönheit mit seinem fettigen Haar und der schiefen Nase war, verzog sein Gesicht zu einem Grinsen und entblößte seine schiefen und gelben Zähne. Er sollte dringend mal von dem Kraut probieren, dass zwischen den Ruinen wächst, dachte ich angeekelt. Davon wurden die Zähne strahlend weiß. Ich nannte es insgeheim Wunderkraut, den wahren Namen kannte ich nicht. Woher auch? Die Bibliotheken des Palasts waren für Normalsterbliche, die kein Herrscherblut besaßen, Tabu. Die heiligen Schriften wurden gut geschützt, laut dem Geschwätz der Bürger. Allein der König hatte Zugriff darauf. Ich für meinen Teil würde gern einmal meine Nase in die verstaubten Schriftstücke stecken und einen Blick in den Palast werfen. Der Anblick wäre bestimmt ....

Die gnadenlose Stimme der Wache riss mich aus meinen Gedanken.

„Wenn das so ist, dann musst du einen Arbeitsbrief vorlegen. Hast du so ein Dokument?“

„Wie bitte?“, knurrte ich. „Ich bin gestern noch durch dieses Tor spaziert und Harry hat ...“ „Er ist versetzt worden“, unterbrach mich der Mann gereizt. Seine Augen musterten mich abschätzig.

„So, wie du aussiehst, wirst du bestimmt nicht für irgendeine Art von Arbeit genommen werden.“

„Lass mich gefälligst durch!“, zischte ich und verbiss mir jedweden Kommentar zu seinem schmierigen Aussehen. „Ich verdiene damit meinen Lebensunterhalt! Das kannst du mir nicht verbieten!“

Die Wache ließ sich davon nicht beeindrucken. „Kein Brief, kein Durchkommen“, sagte der Mann trocken und unterzeichnete damit mein Todesurteil. Ich würde verhungern ...

„Wer ist der Nächste?“, fragte er gelangweilt, schubste mich von sich fort und richtete seine Aufmerksamkeit auf die anderen Menschen, die in der Schlange ebenfalls darauf warteten, durchgelassen zu werden.

Ich verengte meine Augen zu Schlitzen.

„Das kannst du nicht machen!“, schrie ich wütend. „Ich brauche etwas zu essen!“

Er richtete seine Augen zornig auf mich und seine Hand glitt an das Schwert in seinem Gürtel.

„Noch einen Mucks von dir, Weib, dann mache ich kurzen Prozess mit dir! Und du kannst sehen, wie bequem ein paar Tage im Kerker sind! Ohne einen Tropfen Wasser und ohne Brot!“

Ich sah ihn noch einen Moment lang zornig an und ballte meine Hände zu Fäusten. Dann stapfte ich davon. Mit dem Kerker Bekanntschaft zu machen, war das Letzte, was ich wollte. Also ging ich wieder zurück. Dann kam mir eine Idee. Ich betrat die Ruinen. Ich versuchte, nicht an das, was gestern passiert war zu denken. Als ich die Stelle passierte, wo die Männer gestorben waren, riss ich die Augen auf. Sie waren fort. Und kein einziger Tropfen Blut bedeckte den Boden. Wie war das möglich? Hatte ich mir das nur eingebildet? Entweder das oder hier musste jemand richtig gut aufgeräumt haben. Ich schüttelte den Kopf, um die Gedanken abzuschütteln. Es war auch egal. Es ging mich nichts an. Ich suchte die Stelle, wo das Loch in der Mauer war, und schlüpfte hindurch. Wenn ich nicht durch das Tor gehen konnte, dann würde ich einfach fragen, ob die Händler, die die Stadt besuchten, Hilfe brauchten. Ich lief über das hohe Gras und durchquerte die Wiese mit zügigen Schritten.

Danach fand ich mich auf der Straße wieder, die in die Stadt führte. Ich ließ meinen Blick über den Weg schweifen und ein Dutzend Händler standen in einer Schlange am Haupteingang. Plötzlich hörte ich einen zornigen Ruf und daraufhin erschien eine Kutsche, die mich fast überrollt hätte, wenn ich nicht zur Seite gesprungen wäre.

„Verflucht!“, zischte ich.

„Bist du etwa taub, dass du eine rollende Kutsche nicht hörst? Pass gefälligst besser auf!“, schrie mich der Kutscher an.

Kurz erhaschte ich einen Blick ins Innere der Kutsche. Eine junge Frau in teuren, rot-gelben Klamotten unterhielt sich mit einem Mann. Dieser jedoch schien ihren Worten nicht zuzuhören. Sein Blick war starr auf das Fenster gerichtet. Es schien, als würde ihn dieses Gespräch nicht im Geringsten interessieren. Ich konnte nicht viel von seinem Gesicht erkennen. Dunkle Tücher verhüllten seine Nase und seinen Mund. Außerdem trug er eine Kapuze, die sein Gesicht in Schatten legte. Nur seine Augen stachen hervor. Aber es war zu dunkel, um die Farbe darin zu erkennen. Und die Kutsche fuhr einfach zu schnell vorbei. Doch sein kurzer Blick streifte mich trotzdem und es war, als würde er mir bis in die Tiefen meiner Seele blicken. Es war gleichzeitig unangenehm und faszinierend. Ich widerstand dem Drang, meinen Blick zu senken. Fast wirkte es so, als würde er sich darüber amüsieren. Als würde sein Mundwinkel unter seinem Tuch zucken. Aber das konnte natürlich nur Einbildung gewesen sein. Schon war die Kutsche an mir vorbei gefahren und die ganze Magie, die gerade da gewesen war, verschwand augenblicklich. Ich schüttelte mich. Es fühlte sich an, als sei das gerade nie passiert. Ich schaute der Kutsche noch einen kurzen Moment nach. Sie war ohrenbetäubend laut. Wie konnte ich sie bloß überhört haben?

Plötzlich hallte ein Schrei zu mir herüber. Kurz darauf ertönte eine so zornige Stimme, dass ich unwillkürlich zusammen zuckte.

„Bist du eigentlich bescheuert? Hast du eine Ahnung, wie viel das gekostet hat? Fast mein ganzes Vermögen! Und was stehst du hier eigentlich so rum? Fang es gefälligst wieder ein!“

Ich drehte mich erschrocken um und sah in etwa zehn Schritten Entfernung einen Mann mittleren Alters, der wild mit seinen Armen herumfuchtelte und auf ein schneeweißes Pferd deutete, das genau in meine Richtung trabte.

Vor ihm stand ein schmaler, junger Mann, der vielleicht ein paar Jahre älter als ich war. Das Fell des Tieres spiegelte sich in der Sonne und brachte es zum Leuchten. Es war unbeschreiblich schön. Noch nie hatte ich so ein großes und anmutiges Tier gesehen. Es wirkte wie aus einer anderen Welt. Ein gerissener Strick flog hinter ihm her und es hielt genau auf mich zu.

Ich wollte gerade aus dem Weg springen, als es zwei Ellen vor mir zum Stehen kam und mich mit seinen hellbraunen Augen musterte. Dann schnaubte es und widmete sich dem Gras unter seinen Füßen. Aus dem Augenwinkel sah ich den Jungen, der sich mit schnellen Schritten dem Pferd näherte. Bevor ich wusste, was ich tat, hob ich den Strick vom Boden auf und streckte meine Hand nach dem Pferd aus. Sein Fell war angenehm kühl und weich. Ich zog sachte an dem Strick und das Pferd hob den Kopf. Dann führte ich es langsam dem jungen entgegen, der mir den Strick mit einem Lächeln aus der Hand nahm.

„Bei den Göttern!“, knurrte der Mann, als der Junge das Pferd wieder zu ihm zurückgebracht hatte. Dann riss er ihm den Strick aus der Hand.

„Du bist wirklich zu nichts zu gebrauchen! Wenn du nicht mein Sohn wärst, dann glaub mir, hättest du dir gewünscht, mich niemals kennengelernt zu haben.“

Der Junge senkte den Blick und murmelte eine Entschuldigung. Sein Vater schnaubte jedoch nur abfällig und sah zu mir herüber. Er musterte mich angewidert und abschätzig. Dann wandte er den Blick von mir ab und schnaubte erneut.

„Sei froh, dass wir beide niemals so enden müssen wie sie. Und jetzt komm, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.“

Er drehte sich einfach um und ließ mich stehen. Die beiden verschwanden kurz darauf aus meinem Blickfeld. Ich seufzte. Das war nicht das erste Mal, dass ich so behandelt wurde. Aber Danke zu sagen, wäre nun wirklich nicht zu viel gewesen. Ich verbrachte den restlichen Tag auf der Straße, aber so sehr ich mich auch anstrengte, ich wurde immer wieder weggeschickt oder erntete zornige Blicke. So blieb mir nichts anderes übrig, als zurückzugehen und ich betrat mein Viertel mit hängenden Schultern. Ich überlegte, ob ich Liv besuchen sollte, aber ich entschied mich dagegen. Bestimmt hatte sie bei ihrer neuen Arbeit viel zu tun. Ich öffnete die Tür und mein Blick fiel sofort auf den Korb, der auf meinem Schlafplatz stand. Ich fand darin einen Zettel und musste lächeln. Er war von Liv.

Na, heute wieder einen erfolglosen Tag gehabt? Dann wird es Zeit, dass sich dein Tag bessert. Lass es dir schmecken!

Meine Mutter hatte mir vor ein paar Jahren das Lesen und Schreiben beigebracht. Damals hatte sie eine gute Arbeit bei einem Händler gehabt. Sie war zwar nur für ein Jahr gewesen, aber uns war es trotz unserer Verhältnisse durchaus gut gegangen. Ich stieß einen überraschten Pfiff aus, als ich das Tuch vom Korb zog und hinein blickte. In dem Korb befand sich ein ganzes Brot. Sogar mit Käse und ein paar frischen Trauben.

Als ich mich freudig darüber hergemacht hatte, streckte ich mich und legte mich auf die dünne Decke. Plötzlich durchzuckten mich wieder die Geschehnisse von letzter Nacht. Sollte ich Liv davon erzählen? Nach kurzem Überlegen entschied ich mich dagegen. Ich würde ihr bloß Angst einjagen. Es war besser, einfach so zu tun, als sei nichts geschehen.

Am nächsten Tag wurde ich von einem Geräusch an meiner Tür geweckt. Flink sprang ich auf die Füße. Gerade wollte ich nach etwas greifen, was ich als Waffe benutzen konnte, doch dann fiel mir ein, dass ich überhaupt nichts hatte. Kurz darauf öffnete sich die Tür und Livs Kopf tauchte auf.

„Musst du mich so erschrecken? Wie wäre es mit anklopfen?“, rief ich geschockt und Liv machte ein entschuldigendes Gesicht.

„Wir hatten doch ausgemacht, dass wir anklopfen. Hast du das etwa vergessen?“

„Nein, natürlich nicht. Aber ich dachte, du wärst schon wach.“

„Ja, jetzt schon“, erwiderte ich lächelte.

„Danke übrigens für das tolle Essen. Du hast mir wirklich den Tag gerettet. Ich hätte auch etwas bekommen, wäre da nicht dieser fiese Vater mit seinem Sohn und diesem weißen Pferd gewesen. Kannst du das fassen? Ich habe das Pferd daran gehindert, erneut auszubrechen, und was habe ich bekommen? Nichts. Und danach noch diese unfreundlichen Händler. Ich verstehe nicht, warum ich immer so ein Pech habe.“

Ein Lächeln umspielte Livs Lippen.

„Irgendwann wirst du auch noch dein Glück finden, das verspreche ich dir. Komm“, sagte sie, nahm meinen Arm und zog mich aus dem Schuppen heraus. Mir fiel auf, wie anders sie heute aussah. Statt der geflickten Kleidung, die wir sonst trugen, trug sie ein hellgrünes Kleid. Ihre schwarzen Haare waren ordentlich nach oben gesteckt.

„Du siehst so anders aus“, fing ich an und fühlte mich in meinen zerrissenen Klamotten unwohl.

„Richtig hübsch“, fügte ich hinzu. Liv verzog ihre Lippen zu einem kleinen Lächeln und ihre dunklen Augen sahen kurz zu mir herüber, ehe sie mich weiter durch die Straße führte. Ich bekam ein komisches Gefühl. Und ich konnte mich immer auf dieses Gefühl verlassen. Sie lächelte mich an, aber etwas war anders an ihrem Gesichtsausdruck. Etwas stimmte nicht.

„Wo gehen wir überhaupt hin?“, fragte ich verwirrt.

Liv antwortete mir nicht und erst als wir vor der Wache standen und diese uns einfach mit einem Nicken durch winkte, blieb sie kurz stehen.

„Ich will dir etwas zeigen.“

Sie führte mich an Händlern vorbei und die Blicke, die uns die Menschen zuwarfen, brachten mich fast dazu, im Erdboden zu versinken. Was für einen erbärmlichen Eindruck musste ich neben ihr vermitteln? Ich reckte mein Kinn vor und gab mir Mühe, jedem der Blicke mit genauso viel Abscheu zu begegnen. Plötzlich blieb Liv an einem großen Gebäude stehen. Irgendwie veränderte sich ihre Haltung und sie versuchte, meinem Blick auszuweichen.

„Hör mir zu. Ich weiß, es ist nicht richtig, was ich dir jetzt sagen werde, und mir fällt es unglaublich schwer.“

Schließlich sah sie mich doch an.

„Ich weiß, dass ich dich nicht anlügen kann. Bei dir funktionieren meine schauspielerischen Fähigkeiten nicht. Dafür hast du einfach ein viel zu gutes Gespür. Eine Fähigkeit, die ich an dir immer beneidet habe ...“

Sie lachte unerwartet und ich spürte ihre Nervosität, als sei es meine eigene. Ein Duft strömte in meine Richtung, er schien direkt von ihr zu kommen ... war das etwa Parfüm?

„Das Haus, was du vor dir siehst, es ist eine Unterkunft. Und ich werde dorthin ziehen. Mit meiner Familie.“

„Was