Die Vereinigten Staaten von Europa - Rembert Graf Kerssenbrock - E-Book

Die Vereinigten Staaten von Europa E-Book

Rembert Graf Kerssenbrock

0,0

Beschreibung

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde mithilfe der Europäischen Gemeinschaften versucht, Europa nachhaltig zu befrieden. Die zunächst rein wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen den Staaten sollte einer Entfremdung und so langfristig auch politischen Konflikten vorbeugen. In diesem Sinne sprachen damals u. a. Regierungsoberhäupter wie Winston Churchill und Konrad Adenauer in Anlehnung an die USA von den "Vereinigten Staaten von Europa". Ihnen ging es also maßgeblich um die langfristige Verwirklichung eines europäischen Bundesstaates. Es gab eine politische Vision von einem "vereinten Europa", die sich auch im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland in der Präambel desselben manifestierte. In diesem Sinne begann eine Entwicklung der Europäischen Gemeinschaften, später der Europäischen Union, die zur Folge hatte, dass sich aus der reinen Wirtschaftsunion auch eine politische Union entwickelte, deren Rechtsnatur nicht der herkömmlicher internationaler Organisationen entsprach. Als das Bundesverfassungsgericht am 30. Juni 2009 sein Urteil zum Vertrag von Lissabon fällte, war schnell erkennbar, dass das Gericht grundsätzliche Aussagen zur Integration Deutschlands in die EU bzw. das "vereinigte Europa" machen würde. Besondere Bedeutung erhielt das Urteil aber nicht wegen seines abschließenden Votums, sondern wegen seiner Aussagen zum Grundgesetz und dessen Grundlagen zum Einigungsprozess insgesamt. In einem nie da gewesenen Umfang nahm das Gericht die Verfassungsbeschwerden einzelner Abgeordneter zum Anlass, den Status der Europäischen Union und ihrer Entwicklungsperspektiven mithilfe seiner Interpretation des Grundgesetzes zu bewerten. Das Lissabon-Urteil erschöpfte sich aber nicht in derartigen Bewertungen, sondern das Gericht entwickelte seine frühere Rechtsprechung und die darin getroffenen Feststellungen zu Europa fort.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 298

Veröffentlichungsjahr: 2013

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die Vereinigten Staaten von Europa

Die Lissabon-Entscheidung und die Notwendigkeit, Volkssouveränität neu zu verstehen

Promotionsschrift

vorgelegt von

Rembert Graf Kerssenbrock

aus Kiel

Dezember 2012

Impressum

Die Vereinigten Staaten von Europa

Die Lissabon-Entscheidung und die Notwendigkeit, Volkssouveränität neu zu verstehen.

Copyright: © 2013Rembert Graf Kerssenbrock

Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

ISBN 978-3-8442-5251-4

Vorwort

Die Idee zu der Arbeit kam, als ich mich im Rahmen der Vorbereitung auf das erste Staatsexamen mit dem Lissabon-Urteil beschäftigte. Einige Passagen des Urteils schienen Dogmen zu formulieren, die man im Schwerpunktstudium des Europa- und Völkerrechts nicht als solche vermittelt bekommen hatte. Nach dem Examen wendete sich der Autor an dessen späteren Doktorvater Prof. Dr. Proelß mit der Idee, einzelne Thesen des Lissabon-Urteils zu untersuchen und diese unter einem neuen Blickwinkel zu betrachten; er erklärte sich sofort bereit, dieses Projekt zu betreuen. An dieser Stelle möchte ich Herrn Prof. Dr. Proelß herzlich für die persönliche und menschlich sehr angenehme Betreuung danken.

Danken möchte ich zudem meinem Studienfreund Jonas Hennig für die interessanten philosophi-schen Diskussionen, die wir während dieser Zeit führten, welche für den Autor zu wertvollen Anre-gungen wurden.

Danken möchte ich auch meinem Schulfreund Arno Köhrsen, dessen Hinweise für die Ausgestaltung der Arbeit sehr wertvoll waren.

Mein besonderer Dank gilt abschließend meinen Eltern. Ohne ihren Zuspruch und ihre Unterstützung hätte ich diese Arbeit nicht schreiben können

Die Arbeit ist eine Grundlagenuntersuchung und soll ein Beitrag zu der fortdauernden Diskussion über Europas Grenzen und seine Möglichkeiten sein, um sie schließlich ergebnisoffener führen zu können.

Hamburg, im Februar 2013

Rembert Graf Kerssenbrock

Abkürzungsverzeichnis

a. A. andere(r) Ansicht

Abs. Absatz

AEUV Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union a. F. alte Fassung

AJIL American Journal of International Law

Alt. Alternative

AöR Archiv des öffentlichen Rechts

APZ Aus Politik und Zeitgeschichte

Art. Artikel

AStL Allgemeine Staatslehre

Bd. Band

BeckRS Beck-Rechtsprechung (Online-Rechtsprechungssamm-lung

BGBl. Bundesgesetzblatt

BGH Bundesgerichtshof

BT-Drs. Bundestagsdrucksache

BVerfG(E) Bundesverfassungsgericht (Entscheidung)

bzw. Beziehungsweise

ders. derselbe

d. h. das heißt

DÖV Die Öffentliche Verwaltung

Drs. Drucksache

DVBl. Deutsches Verwaltungsblatt

ebd. ebenda

EG Europäische Gemeinschaft

EMRK Europäische Menschenrechtskonvention

EU Europäische Union

EUV Vertrag über die Europäische Union

EuGH Europäischer Gerichtshof

EuR Europa-Recht (Zeitschrift)

EWG Europäische Wirtschaftsgemeinschaft

EuZW Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht

f./ff. Folgende/fortfolgende

FAZ Frankfurter Allgemeine Zeitung

Fn. Fußnote

GG Grundgesetz

h. M. herrschende Meinung

Hrsg. Herausgeber

ICJ (Rep). International Court of Justice (Report)

IGH Internationaler Gerichtshof

i. V. m. in Verbindung mit

JA Juristische Ausbildung (Zeitschrift)

JöR Jahrbuch des öffentlichen Rechts

JuS Juristische Schulung (Zeitschrift)

JZ Juristenzeitung

lit. littera (Buchstabe)

ln. line (englisch: Zeile)

NATO North Atlantic Treaty Organization

n. F. neue Fassung

NJW Neue Juristische Wochenschrift

Nr. Nummer

Rn. Randnummer(n)

Rs. Rechtssache(n)

s. siehe

S. Seite

Slg. Sammlung

sog. so genannte

str. streitig

StR Staatsrecht

u. a. unter andere(m)

UN United Nations (Vereinte Nationen)

U.S. United States (of America)

v. von

vgl. vergleiche

Vol. Volume

ZaöRV Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht

ZEuS Zeitschrift für Europarechtliche Studien

ZRP Zeitschrift für Rechtspolitik

z. T. zum Teil

A. Einführung

I. Zielsetzung

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde mithilfe der Europäischen Gemeinschaften versucht, Europa nachhaltig zu befrieden. Die zunächst rein wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen den Staaten sollte einer Entfremdung und so langfristig auch politischen Konflikten vorbeugen. In diesem Sinne sprachen damals u. a. Regierungsoberhäupter wie Winston Churchill1und Konrad Adenauer2in Anlehnung an die USA von den „Vereinigten Staaten von Europa“. Ihnen ging es also maßgeblich um die langfristige Verwirklichung eines europäi-schen Bundesstaates. Es gab eine politische Vision von einem „vereinten Europa“, die sichauch im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland in der Präambel desselben manife-stierte. In diesem Sinne begann eine Entwicklung der Europäischen Gemeinschaften, später der Europäischen Union, die zur Folge hatte, dass sich aus der reinen Wirtschaftsunion auch eine politische Union entwickelte, deren Rechtsnatur nicht derjenigen herkömmlicher inter-nationaler Organisationen entsprach.

Die Einschätzungen der rechtlichen Situation der Gemeinschaften, der daraus entstandenen Union und ihrer darin eingebetteten Mitgliedstaaten fielen und fallen erheblich auseinander. Das Bundesverfassungsgericht nahm in diesem Prozess bereits früh die Rolle der letzten Ent-scheidungsinstanz– als „Hüter der Verfassung“ – ein3. die über die Konformität der europäi-schen Einigungsverträge mit dem Grundgesetz befand und zum Teil auch Änderungsforde-rungen an die Einigungs-/Reformverträge stellte.

Als das Bundesverfassungsgericht in dieser Rolle am 30. Juni 2009 sein Urteil zum Vertrag von Lissabon fällte, war schon vor Bekanntgabe des Urteils erkennbar4, dass das Gerichtgrundsätzliche Aussagen zur Integration Deutschlands in die EU bzw. das „vereinigte Europa“machen würde. Wie zum Großteil erwartet, befand das Bundesverfassungsgericht mit Aus-nahme eines Nebengesetzes5den Vertrag von Lissabon mit seinen neuen Regelungen für mit dem Grundgesetz vereinbar. Besondere Bedeutung erhielt das Urteil aber nicht wegen sei-nes abschließenden Votums, sondern wegen seiner Aussagen zum Grundgesetz und dessen Grundlagen zum Einigungsprozess insgesamt. In einem nie da gewesenen Umfang nahm das Gericht die Verfassungsbeschwerden einzelner Abgeordneter zum Anlass, den Status der Eu-ropäischen Union und ihrer Entwicklungsperspektiven mithilfe seiner Interpretation des Grundgesetzes zu bewerten. Das Lissabon-Urteil erschöpfte sich aber nicht in derartigen Be-wertungen, sondern das Gericht entwickelte seine frühere Rechtsprechung und die darin ge-troffenen Feststellungen zu Europa fort.6Wie damals, so sind aber auch in diesem Grund-satzurteil einzelne Auslegungen und Schlussfolgerungen nicht nur widersprüchlich, sondern schon im Ansatz zweifelhaft.7

Ein grundlegendes Problem der Aussagen ist die Tendenz des Gerichtes, Erkenntnisse über das Grundgesetz und seine Aussagen aus seinem Verhältnis zu den heutigen europäischen Einigungsverträgen8zu gewinnen. Zwar war gerade das Verhältnis des neuen Einigungsver-trages zum Grundgesetz der Untersuchungsgegenstand des Urteils. Das Bundesverfassungs-gericht beschränkte sich aber nicht darauf, sondern wollte auch Aussagen zum Grundgesetz treffen, die den Einigungsprozess Europas an sich behandeln. Diese Aussagen werden zentral in dieser Arbeit untersucht werden, denn mit ihnen stellte das Bundesverfassungsgericht die Behauptung auf, dass das Grundgesetz den Vereinigten Staaten von Europa als Bundesstaat– wie sie ursprünglich gedacht waren –, zumindest in der bisherigen Fassung, entgegen-stehe. Das Gericht sagte dies zwar nicht explizit, deutete es aber an:Nach Maßgabe der Integrationsermächtigung des Art. 23 Abs. 1 GG in Verbindung mit der Präambel,

Art. 20, Art. 79 Abs. 3 und Art. 146 GG kann es für die europäische Unionsgewalt kein eigen-ständiges Legitimationssubjekt geben, das sich unabgeleitet von fremdem Willen und damit aus eigenem Recht gleichsam auf höherer Ebene verfassen könnte.9

Ziel dieser Arbeit ist es, dieses Ergebnis grundlegend zu hinterfragen und darauf aufbauend eine in sich stimmige Alternative zu den Ergebnissen des Lissabon-Urteils zu entwickeln. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Aussagen zur Integrationsfähigkeit des Grundge-setzes untersucht und unter Umständen auch widerlegt werden. Zwar ist die Integrationsfä-higkeit des Grundgesetzes auch hinsichtlich eines europäischen Bundesstaates bereits von der Literatur bejaht worden12, aber es ist bisher nicht gelungen herauszuarbeiten, warum diese Kompatibilität mit dem gesamteuropäischen Bundesstaat zwingend berücksichtigt werden muss.

Hinzu kommt die neue Ausgangssituation durch das viel beachtete Lissabon-Urteil. Darin sind bereits einzelne Grundaussagen für sich unzureichend begründet. Zum Beispiel betrach-tet das Gericht die Strafrechtspflege als „besonders sensibel“ für die demokratische Selb-stgestaltungsfähigkeit– ohne aber die spezielle Implikation mit Art. 79 Abs. 3 GG oder dieSouveränität Deutschlands hinreichend zu begründen.13Zwangsläufig sind auch die darauf aufbauenden Schlussfolgerungen. Ähnlich wie die rechtliche Entwicklung der EU, hat sich auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes scheinbar verselbstständigt. Es wurden weniger die Artikel des Grundgesetzes selbst analysiert und neu angewandt, viel-mehr wurde die eigene bereits ergangene Rechtsprechung hinsichtlich der neuen Ausgangs-situation– der Ratifizierung des Lissabon-Vertrages durch die Bundesrepublik Deutschland –aktualisiert und teilweise losgelöst vom Grundgesetz vervollständigt. Die daraus resultieren-den Annahmen, dass der Lissabon-Vertrag zwar noch im Einklang mit dem Grundgesetz stehe, eine gesamteuropäische Verfassung dies aber nicht ohne eine Änderung des Grundge-setzes könne, ist womöglich nie von den Urhebern des Grundgesetzes intendiert und in sel-bigem auch nie angelegt gewesen.

So sollen deswegen die Hinterfragung des Urteils und Erarbeitung die einer alternativen Per-spektive auf das Grundgesetz auch stärker als das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes an das Grundgesetz angelehnt sein, um so den Einklang weniger mit früheren Urteilen als viel-mehr mit früheren Grundentscheidungen des Volkssouveräns (wieder-)herzustellen. Es geht somit um eine Rückbesinnung auf den Willen des eigentlichen Souveräns, des deutschen Volkes, die das Bundesverfassungsgericht zu Teilen zwar unternimmt, die ihm aber misslingt.

II. Gang der Untersuchung

Einführend soll unter B I. dargestellt werden, was unter einem Bundesstaat grundsätzlich zu verstehen ist. Um den Bundesstaat als staatliches Gebilde zu verstehen, muss eine Abgren-zung zum Staatenbund vorgenommen werden, also zu einem Bündnis von Staaten, das nicht auf einen einheitlichen Gesamtstaat hin ausgerichtet ist. Die Darstellung der heutigen EU hinsichtlich ihrer Vermischung von Staatenbund und Bundesstaat soll diese Einführung dann vervollständigen. Wenn das Bundesverfassungsgericht sich im Lissabon-Urteil auf die heutige EU bezieht, muss auch geklärt sein, was die wesentlichen Unterschiede zwischen dem Bun-desstaat, der das mögliche Endergebnis des europäischen Einigungsprozesses sein könnte, und dem supranationalen Staatengebilde der Europäischen Union darstellen. Auf diese Weise wird es möglich, die Untersuchung, ob das Grundgesetz maßgeblich über Art. 79 Abs. 3 GG auch einen europäischen Gesamtbundesstaat zulassen würde, fundiert nachzuvollzie-hen.

Anschließend wird im Abschnitt B II. das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes bezüglich der Aussagen untersucht, mit denen es sich zum Charakter des Grundgesetzes insgesamt äußert. Dass das Gericht maßgeblich Demokratie und Souveränität bzw. tatsächlich Volkssouveräni-tät als entscheidende Schranken betrachtet, wird an dieser Stelle herausgearbeitet, das Ver-ständnis des Gerichtes diesbezüglich erläutert und zumindest im Ansatz bereits hinterfragt. Dass diese Aussagen größtenteils im Einklang mit seinen vorigen Entscheidungen stehen, wird anhand kurzer Darstellungen vorangegangener Grundsatzentscheidungen im Abschnitt B III. erläutert werden.

Sodann erfolgt im Abschnitt C I. die Entwicklung einer Kernthese dieser Arbeit: Das Grundge-setz muss auch anhand seiner Präambel ausgelegt werden.

Mit Erarbeitung dieser Auslegungshilfe für das Grundgesetz wird dann die Präambel unter C IV. nach allen maßgeblichen Gesichtspunkten ausgelegt werden, um herauszufinden, ob die Präambel auch einen europäischen Bundesstaat billigen oder sogar befürworten würde. Dabei wird die historische Auslegung eine wichtige Rolle spielen, denn diese berücksichtigt erst die ursprünglichen Intentionen des Gesetzgebers. Schon an dieser Stelle soll die Rückbe-sinnung auf den Charakter der Präambel und des Grundgesetzes mithilfe des in dieser Arbeitentwickelten Ansatzes einer „integrationsoffenen Auslegung“ ermöglicht werden. Nach derFeststellung, dass die Präambel zumindest jeder europäischen Lösung und damit auch derbundesstaatlichen „offen“ gegenübersteht, wird deutlich, dass die Präambel mit ihrer offe-nen Ausrichtung gegenüber der europäischen Vereinigung eine Perspektive auf das Grund-gesetz werfen kann, die so vom Bundesverfassungsgericht nicht berücksichtigt wird. Bevoraber mit Hilfe der „integrationsoffenen Auslegung“ die Verfassungsprinzipien Demokratieund Souveränität neu ausgelegt werden, erfolgt die konzeptionelle Untersuchung von Demo-kratie und Souveränität unter D I 1.– 3. Dabei wird besonders auf die Entstehungsgeschichtedieser Prinzipien eingegangen, um so den Hintergrund der Grundsatzäußerungen des Bun-desverfassungsgerichtes zu beleuchten und das heutige Verständnis von Demokratie und Souveränität in ihren Grundstrukturen zu rekonstruieren. Darüber sollen die wesentlichen Bestandteile unseres heutigen Verständnisses von Demokratie und Souveränität sowie ihrer wechselseitigen Verknüpfungen deutlich werden. Schon an dieser Stelle der Arbeit wird deutlich werden, dass das Bundesverfassungsgericht ein Verständnis von Demokratie und Souveränität entwickelt hat, das zwar tatsächlich einem europäischen Bundesstaat entge-gensteht, aber nicht zwingend im Grundgesetz angelegt ist.

Darauf aufbauend soll unter D II. mithilfe der hier entwickelten Auslegung der Bedeutungs-gehalt der beiden Prinzipien offengelegt werden, wobei auf unterschiedliche Alternativen hingewiesen wird.

Neben der „integrationsoffenen Auslegung“ als Untersuchungsschwerpunkt tritt wie im Ab-schnitt E. auch die Untersuchung der These hinzu, wonach es ein europäisches Volk (noch) nicht gebe. Dessen Existenz ist die Grundlage für jede Volkssouveränität und speziell die ei-nes europäischen Gesamtvolkes; sie wird vom Bundesverfassungsgericht in einem Absatz des Lissabon-Urteils verneint.14Diese Feststellung könnte aber mit guten Gründen angezwei-felt werden, was die Ausgangssituation für eine europäische Demokratie grundlegend verän-dern würde. Wie noch zu zeigen sein wird, ist die Volkssouveränität ein Bestandteil des grundgesetzlichen Demokratieverständnisses und gleichzeitig auch ihre Grundlage. Könnteein „europäisches Volk“ in naher Zukunft einen Volkswillen formulieren, würde dies die Dis-kussionen um den europäischen Gesamtstaat und auch die Integrationsfähigkeit des Grund-gesetzes verändern, denn bisher scheint das Gericht aus dem Grundgesetz einfach Schran-ken für ein Ereignis abzuleiten, dessen Eintritt rein hypothetischer Natur ist. Die Untersu-chung dieser Frage gehört trotz ihres grundlegenden Charakters an das Ende dieser Arbeit, da die Erwägungen im entsprechenden Abschnitt ein neues Auslegungsergebnis erzwingen und damit die Perspektive auf die Aussagen des Bundesverfassungsgerichtes grundlegend verändern. Mit der Ermittlung der daraus resultierenden Auswirkungen auf das Verständnis von Demokratie und Souveränität in den Abschnitten G. und H. des Grundgesetzes wird die Untersuchung abgeschlossen und das Fazit formuliert.

B. Voruntersuchung: Bundesstaat als Organisationsform in Abgren-zung zum Staatenbund

Einführend soll das Modell des Bundesstaates– in Abgrenzung zum Staatenbund – erläutertwerden und dies ins Verhältnis zum aktuellen Zustand der EU gesetzt werden, um eine Grundlage für die weitere Diskussion zu schaffen, denn diese Arbeit beschäftigt sich unmit-telbar mit der Möglichkeit, dass sich die Europäische Union zu einem Gesamtbundesstaat entwickelt. Nicht zuletzt ist die Darstellung der alternativen Organisation– des Staatenbun-des– essenziell für das Verständnis des Prinzips des Bundesstaates, weil die EuropäischeUnion in ihrem jetzigen Zustand unterschiedliche Elemente des Staatenbundes und des Bun-desstaates miteinander vereint. Hinzu kommt, dass die Supranationalität als staatsrechtliche Struktur der Europäischen Union eine entscheidende Rolle bei der Beurteilung der Integrati-onsoffenheit des deutschen Grundgesetzes spielt. Damit wird auch eine gesonderte Untersu-chung dieser schwer einzuordnenden Organisationsform notwendig, um die spätere Kritik hinreichend zu verstehen.

I. Die Idee und die Charakteristika des Staatenbundes / der in-ternationalen Organisation

Das Konzept des Zusammenschlusses von politischen Kräften ist alt. Als wohl ältester und bekanntester Vorläufer eines international organisierten Zusammenschlusses gilt die Am-phiktyonie, ein Bund der griechischen Stadtstaaten, dessen Aufgabe es war, mithilfe seiner Armee Heiligtümer zu schützen.15Von der heutigen Lehre des traditionellen Staatenbundes ausgehend, ist dieser nicht auf der Ebene des Staatsrechtes angesiedelt, sondern vielmehr eine völkerrechtlich-diplomatische Staatenverbindung. Andere Beispiele hierfür sind die un-ter den „Articles of Confederation“ gegründeten Konföderierten Staaten von Amerika16, die sich kurz darauf zum heutigen Bundesstaat weiterentwickelten, oder der Deutsche Bund von

1815.17Davon kaum zu unterscheiden sind die modernen internationalen Organisationen, bei denen es vorwiegend um die internationale Kooperation zwischen Staaten geht. Im Ge-gensatz zu den Staatenbünden beschränkt sich diese meist auf einzelne Bereiche.18Bei den früher häufig auftretenden Staatenbünden ging es primär um die Koordination.19Die frühe-ren Zusammenschlüsse existierten also weniger zum Austausch politischer Positionen als Grundlage gemeinsamen Handelns, sondern vielmehr zur Absprache bei organisatorischen Fragen.

Gleichwohl bestehen Staatenbünde wie auch internationale Organisationen aus zwei oder mehr Völkerrechtssubjekten, die sich mittels eines völkerrechtlichen Vertrages bzw. eines Gründungsaktes20darauf geeinigt haben, wesentliche staatliche Aufgaben einem übergeord-neten Verbund zu übertragen.21Meist handelt es sich dabei um den Schutz des Territoriums des Bundes und der Unabhängigkeit seiner Mitglieder nach innen, wobei die heutigen inter-nationalen Organisationen sich auch anderen Aufgaben gewidmet haben.22Sie können be-schränkte Völkerrechtssubjektivität besitzen und Aufgaben mittels eigener Organe wahrneh-men, ohne dabei eine übergeordnete Souveränität zu besitzen.23Anders als Staaten sind sieals „offene Verbände“ zu verstehen, in denen die Mitglieder zwar sichtbar bleiben, die aberals eigenständige Rechtspersonen von diesen unterscheidbar agieren.24So wurde zum Bei-spiel die GuS, die „Gemeinschaft unabhängiger Staaten“, als Staatenbund aufgefasst und istheute als internationale Organisation anerkannt25, die durch Zusammenschluss von elf Uni-onsrepubliken der ehemaligen Sowjetunion gegründet wurde. Von einigen Völkerrechtlern wird die Völkerrechtssubjektivität sogar als Voraussetzung genannt, von anderen26jedoch als Merkmal einer bundesstaatlichen Struktur betrachtet. Diese Unsicherheit in den konstitu-tiven Merkmalen ist in erster Linie auf die unterschiedlichen Erscheinungsformen zurückzu-führen.27

Letztlich ist die Entscheidung dieser Frage aber ohne Bedeutung, da die souveränen Staaten nach wie vor die maßgeblichen Akteure im modernen Völkerrecht sind und als solche selbst darüber bestimmen, welche anderen– von ihnen abhängige – Völkerrechtssubjekte es imVölkerrecht gibt.28Die Mitgliedstaaten behalten also parallel zur vertraglich vereinbarten Völkerrechtssubjektivität ihre eigene Subjektivität zusammen mit ihrer ungeteilten Souverä-nität.29Diese ungebrochene Inhaberschaft der Souveränität ist das maßgebliche Kriterium für die Beantwortung der Frage, was den Staatenbund bzw. die internationale Organisation vom Bundesstaat unterscheidet.30Der Begriff der Souveränität beinhaltet dabei die äußere Souveränität, auch Völkerrechtsunmittelbarkeit genannt, und die innere Souveränität, die mit Verfassungsautonomie gleichgesetzt wird.31Mit anderen Worten: Souveränität ist die Unabhängigkeit eines Staates von allen anderen Staaten nach innen und nach außen. Damit bedarf die Änderung völkerrechtlicher Verträge32, welche die Rechtsposition der Mitglied-staaten antastet, der Zustimmung aller Mitgliedstaaten.33Hinzu kommt, dass der Staaten-bund grundsätzlich nicht über eigene Hoheitsbefugnisse gegenüber den Bewohnern der Mit-gliedstaaten verfügt, sondern seine natürlichen und juristischen Personen nur mittels des Umweges über die Mitgliedstaaten verpflichten kann. Die Staaten bleiben also die unmittel-baren Adressaten.34

II. Die Idee des Bundesstaates

Die Idee des Bundesstaates entstand wohl schon 1661, als das Heilige Römische Reich Deut-scher Nation erstmals als ein gemeinsames Staatswesen bezeichnet wurde.35Erneut be-schrieben wurde es dann als ein für die Verwaltung zu vermeidendes, aber für die Regierung wünschenswertes Konzept.36Zur Darstellung der Staatenverbindung in Gestalt eines Bundes-staates bedarf es zunächst der Klärung der in diesem Zusammenhang häufig doppeldeutigen und verschieden verstandenen Termini.

Als Staat beschrieben werden sowohl der Gesamtstaat als auch die einzelnen Gliedstaaten, aus denen sich der Gesamtstaat zusammensetzt.

Gliedstaat bezeichnet eine Rechtsordnung, deren Gesetze nur auf einen räumlich begrenz-ten Teil des Gesamtstaatsgebietes Anwendung finden.37Demgegenüber erfasst der Begriff des Bundesstaates eine Rechtsordnung, die sich auf das ganze Bundesgebiet erstreckt, aber nicht alle Kompetenzen beinhaltet.38Der Gesamtstaat begründet eine Rechtsordnung, von welcher der Bundesstaat sowie die einzelnen Gliedstaaten abhängig sind39, und bezeichnet dabei die Bundesgesamtheit, die Inhaberin der inneren und äußeren Souveränität ist, den Staat darstellt, und aus sich heraus völkerrechtsunmittelbar am Rechtsverkehr teilnehmen kann.40

Der Bundesstaat wird als Staatsorganisationsform, anders als der Staatenbund, staatsrecht-lich begründet.41Diese Gründung erfolgt durch ein verfassungsgebendes Organ, zum Beispiel durch eine Nationalversammlung oder einen nationalen Verfassungskonvent, der sich vom Willen des ganzen Volkes– des zukünftigen Staatsvolkes – ableitet.42So verfasste der Parla-mentarische Rat als Vertreter des Deutschen Volkes das Grundgesetz. Dieses stellt die Ver-fassung der Bundesrepublik Deutschland dar, die sich aus heute 16 Gliedstaaten– Bundes-ländern– zusammensetzt. Der Bundesstaat kommt also nicht vertraglich zustande, sondernwird durch die verfassungsgebende Gewalt, in einer Demokratie ist es das Volk, staatsrecht-lich geschaffen.43Der Bund erfasst jeden Gliedstaat in seiner Gesamtexistenz und fügt ihn als Ganzes in eine politisch existierende Verbindung ein.44

Früher wurde als eine der wesentlichsten Veränderungen des Status der Gliedstaaten der Verzicht auf Selbsthilfe begriffen.45Dies mag daran liegen, dass in der frühen Staats- und Völkerrechtslehre das Selbstverteidigungsrecht als besonderer Ausdruck der Souveränität angesehen wurde. Heute geht das Verständnis von Bundesstaat darüber hinaus: Die Frage nach der Souveränität, der suprema potestas46, ist maßgeblich für die Unterschei-dung zwischen Staatenbund bzw. internationaler Organisation auf der einen Seite und Bun-desstaat auf der anderen Seite. Beim Bundesstaat liegt diese bei der föderalen Gesamtin-stanz, die letztverbindlich über existenzielle Fragen entscheidet.47–insbesondere, wenn sich der Bundesgesamtstaat historisch aus einem Zusammenschluss mehrerer Einzelstaaten ergibt.50Nicht nur die Bundesrepublik Deutschland, sondern auch die Vereinigten Staaten von Amerika sind so aus einst souveränen Einzelstaaten hervorge-gangen.

III. Die Rechtsnatur der EU im Lichte der Dichotomie von Staaten-bund und Bundesstaat

Die EU, wie sie sich heute darstellt, ist weder ein Staatenbund noch ein Bundesstaat. Um ein vollständiges Bild von der Ausgangssituation der weiteren Untersuchung zu zeichnen, soll die besondere Rechtsnatur der EU beschrieben werden.

Das „Projekt Europa“, dessen „vorläufiges“ Endprodukt die EU nach Lissabon darstellt,zeigt eine Intensität an Verflechtung zwischen den Mitgliedsstaaten, sowohl wirtschaftlich als auch politisch, die weltweit beispiellos ist. Was die Besonderheit der Rechtsnatur der EU ausmacht, wird gemeinhin mit dem Begriff der Supranationalität beschrieben.51Um die Komplexität dieses Begriffes zu erfassen, wird zum Teil die Untersuchung der Eigenschaften einer supranationalen Organisation in zwei Abschnitte untergliedert: Zunächst wird gefragt, ob es sich bei der Organisation um einen Staat handeln könnte.5254

Diese Argumentation ist in sich aber nicht schlüssig. Nur weil die Subjekte, die eine suprana-tionale Organisation in sich vereint, völkerrechtlich in ihrem Bestand geschützt sind, heißt dies nicht, dass die Bündelung dieser Subjekte es nicht ist. Es wird vereinfacht die These auf-gestellt: Weil die Staaten auf ihre Staatlichkeit nicht verzichten, kann der Organisation, die sie umspannt, keine Staatlichkeit zukommen.57Ein derartiges Exklusivitätsverhältnis anzu-nehmen, ist aber nicht zwingend erforderlich, wie am Ende der Untersuchung zu sehen sein wird.

Hingegen ist die Souveränität ein wichtiges Merkmal, über das die Differenzierung zwischen Staat und Nichtstaat getroffen wird. Ob eine solche besteht, kann daran veranschaulicht werden, wie für die EU im Speziellen die Machtverteilung zwischen dem Dachverband und ihren Mitgliedern konzipiert wurde. Den Ausgangspunkt hierfür bildet eine kurze Definition des Bundesverfassungsgerichtes. Ihm zufolge ist die Europäische Unioneine im Prozess fortschreitender Integration stehende Gemeinschaft eigener Art, [...] auf die die Bundesrepublik Deutschland– wie die übrigen Mitgliedstaaten – bestimmte Hoheits-rechte übertragen hat.58

Damit nennt das Bundesverfassungsgericht implizit ein wichtiges Merkmal der Europäischen Union und ihrer Supranationalität: das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung. Diesem von Anfang an strukturellen Grundsatz (Art. 5 EUV) zufolge benötigt die EU für jeden Rechtsakt eine ausdrückliche oder auslegungsmäßig eindeutige Rechtsgrundlage innerhalb der Verträge, die als Ermächtigung dienen kann.59Nur die in den Verträgen verliehenen Zu-ständigkeiten begründen die Rechtssetzungsbefugnis, wohingegen sich aus den Aufgaben der EU keine Kompetenzen ableiten lassen.60Diese widerruflich übertragenen Befugnisse werden gemeinhin von der Staatslehre als Indiz für das Fehlen von Souveränität begriffen.61

Normativ kann Souveränität schon an dem Austrittsrecht gem. Art. 50 EUV der einzelnen Mitgliedstaaten festgemacht werden.65Ein solches stünde ihnen nicht zu, wären sie bloße Gliedstaaten wie die Bundesländer der Bundesrepublik Deutschland. Auch wenn diese eine eigene Verfassung haben, können sie sich nicht aus dem Verband lösen. Zwar könnte man bei den europäischen Mitgliedstaaten annehmen, dass sie ihre Souveränität zu Teilen mit der Übertragung von Kompetenzen aufgeben. Jedoch wird dies nicht als eine Einschränkung bzw. Übertragung der originären Souveränität verstanden, denn die Mitgliedstaaten behal-ten sich nach wie vor die Letztentscheidungsgewalt darüber vor.66Dies kann auch am Wort-laut des Art. 1 EUV festgemacht werden:

Durch diesen Vertrag gründen die Hohen Vertragsparteien untereinander eine EUROPÄI-SCHE UNION (im Folgenden „Union“), der die Mitgliedstaaten Zuständigkeiten zur Verwirkli-chung ihrer gemeinsamen Ziele übertragen.

Hier ist von den hohen Vertragsparteien, den Mitgliedstaaten, die Rede. Schon diese Formu-lierung zeigt an, dass es sich hier um einen völkerrechtlichen Vertrag handelt– und nicht umeinen Staatsvertrag als Grundlage eines Bundesstaates. Auch darin ist wieder eine große Nähe zum Staatenbund zu sehen.

Diese grundlegende Eigenschaft beeinflusst auch den zweiten Teilaspekt: die Begrenztheit der Kompetenzen der EU.67Die charakteristische Breite ihrer Aufgabenbereiche darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Unionsgewalt dennoch begrenzt ist. In Art. 5 EUV heißt es u. a.:

Das Europäische Parlament, der Rat, die Kommission, der Gerichtshof und der Rechnungshof üben ihre Befugnisse nach Maßgabe und im Sinn der Verträge zur Gründung der Europäi-schen Gemeinschaften sowie dernachfolgenden Verträge und Akte […] aus.Gerade diese Begrenztheit über die bereits dargestellten Einzelermächtigungen ist untypisch für einen Staat, denn die innerstaatliche Autonomie eines Staates, innerhalb seiner Grenzen eigenständig entscheiden zu können, ist Ausfluss seiner internen Souveränität, die der EU fehlt.68

Damit hängt wiederum eng zusammen, dass die EU keine umfassende Gebietshoheit besitzt, sondern lediglich über die begrenzte Einzelermächtigung in ihrem räumlichen Geltungsbe-reich darauf beschränkt ist, die ihr verliehenen Einzelzuständigkeiten wahrzunehmen.69

Demnach handelt es sich bei einer supranationalen Organisation und wie der EU nicht um einen Staat, da ihr das entscheidende Merkmal der Souveränität fehlt. Eigentlich wird damit ein Bezug zum Bundesstaat obsolet, da dieser konzeptionell eine Verfassung und eine eigene Staatlichkeit verlangt, also auch Staat ist.

Dennoch gibt es eine Regelung, die in dieser Form bisher nur in der EU entwickelt wurde und eigentlich dem Konzept des Bundesstaates zugeordnet werden muss:73Der prinzipielle Vor-rang, den das Unionsrecht vor dem Recht der Mitgliedstaaten beansprucht.74Herausgelesen wird dieser u. a. aus Art. 288 Abs. 2 AEUV. Der EuGH hat in seiner Costa/E.N.E.L.- Entschei-dung zum ersten Mal festgestellt, dass das nachträglich geschaffene nationale Recht nicht dem Gemeinschaftsrecht vorgehen könne.75Diesen Grundsatz entwickelte das Gericht fort, indem es später festhielt, dass jede dem Gemeinschaftsrecht entgegenstehende nationale Norm unanwendbar bleibe.76Die Einordnung des Anwendungsvorranges in seiner Rechtsna-tur ist schwierig, da es keine bestimmte Figur der juristischen Methodologie ist.77Da sie le-diglich im Kollisionsfall zwischen Unionsrecht und nationalem Recht dem Unionsrecht den Vorrang einräumt, ohne gleichzeitig das nationale Recht außer Kraft zu setzen, versteht Funke diesen als eine Regel, die dem Lex-specialis-Satz sei. Dieser differenzierten Einordnung wird hier gefolgt.78Eine Priorisierung nebeneinander anwendbarer Rechtsnormen findet sich in typischen Staatenbünden nicht.79In der EU gelten also Verordnungen und in einge-schränktem Maße auch Richtlinien nicht für die Mitgliedstaaten, sondern bereits in ihnen di-rekt.80Bemerkenswert ist, dass dieses Sicherungsinstrument der Funktionsfähigkeit der Ge-meinschaften81– die Kompetenz zum Erlass von Verordnungen und Richtlinien – sich nichtnur aus Unionsrecht selbst speist, sondern auch aus dem verfassungsrechtlich verankerten Rechtsanwendungsbefehl.82Über diesen erhält die anzuwendende Norm des Unionsrechtes erst unmittelbare Geltung und er macht sie zum Bestandteil der deutschen Rechtsordnung. Er ist die unmittelbare Folge des auf verfassungsgeberischer Ermächtigung beruhenden Rati-fikationsaktes.83Dabei wird die innerstaatliche „Zusatz-Legitimation“ lediglich als Schutzme-chanismus gegenüber der unionsrechtlichen Legislative betrachtet, deren Rechtsakte ohne den innerstaatlichen Rechtsanwendungsbefehl zu jedem Zeitpunkt wirksam würden.84Die-ser nationalstaatliche Schutzmechanismus darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Anwendungsvorrang einem einheitlichen Rechtsraum dienen soll, was über die Zwecke des Staatenbundes hinausgeht und im besonderen Maße den Sonderstatus der EU charakteri-siert. Dieser Anwendungsvorrang deutet an, dass sich die Rechtsordnung weder aus dem Völkerrecht noch aus innerstaatlichem Recht ableitet, sondern vielmehr originär ist.85

Deutlich wird, wenn man sich diese unterschiedlichen und zum Teil gegensätzlichen Merk-male der EU vor Augen führt, dass die EU weder Staatenbund noch Bundesstaat ist. Zwar fußt sie konzeptionell zunächst auf dem Staatenbund, da völkerrechtliche Verträge Verfah-ren und Abläufe regeln und die einzelnen Regelungen streng die Souveränität der Mitglied-staaten wahren. Aber insbesondere der Anwendungsvorrang des Unionsrechtes gibt eben diesem ein Maß an Autorität, welches dem üblichen völkerrechtlichen Vertrag nicht zu-kommt.

Um nun zu klären, ob denn ein bundesstaatlich strukturiertes Europa mit der deutschen Ver-fassung im Konflikt steht, sollen die unterschiedlichen Optionen einer bundesstaatlichen Strukturierung erläutert werden.

IV. Unterschiedliche Formen der BundesstaatenstrukturBisher wurde untersucht, wie sich die Staatsform des Bundesstaates vom Staatenbund und von einer supranationalen Staatenverbindung grundsätzlich unterscheidet. Aber auch unter den bisher existierenden Bundesstaaten haben sich zwei verschiedene Ausrichtungen her-ausgebildet: zum einen der unitarische Bundesstaat, für den die Bundesrepublik Deutschland ein instruktives Beispiel bietet, zum anderen der duale Bundesstaat, den unter anderen die USA repräsentieren.88

1. Der unitarische Bundesstaat

Charakteristisch für den unitarischen Bundesstaat ist das Streben nach einer möglichst gro-ßen Einheitlichkeit.89Dies wird in der Bundesrepublik Deutschland an unterschiedlichen Stel-len deutlich:

Zum Beispiel wurden in den Gesetzgebungskatalog des Bundes in Art. 72 Abs. 2 GG Kompe-tenzen eingefügt, die dieser wahrnehmen darf, wenn dies zur „Wahrung der einheitlichenLebensverhältnisse“ erforderlich sei.90Schon im Bereich der Legislative macht die deutsche Verfassung deutlich, dass sie eine einheitliche Form des Föderalismus anstrebt. Zwar sind gem. Art. 30 GG die Erfüllung staatlicher Aufgaben und die Wahrnehmung staatlicher Befug-nisse Sache der Länder, jedoch nur so weit, wie diese nicht dem Bund zugeteilt wurden. Diese Einschränkung macht es möglich, dass die meisten Gesetzgebungskompetenzen beim Bund liegen und damit ein besonders hoher Unitarisierungsgrad möglich wird.91

Es könnte dann auch erforderlich sein, dass neben den allgemeinen Strukturprinzipien wie Demokratie, Sozial- und Rechtsstaat die daraus abgeleiteten Grundsätze wie das freie Man-dat aus Art. 38 GG von den anderen Mitgliedstaaten übernommen werden müssten. Auf der anderen Seite könnte aber auch von der Bundesrepublik verlangt werden, dass sie sich im Staatsrecht an die anderen Unionsmitglieder angleicht, was Änderungen des Grundgesetzes zur Folge haben würde und womöglich mit dem Art. 79 Abs. 3 GG in Konflikt geraten könnte. So würden schnell historisch bedingte Unterschiede in den Verfassungsstrukturen zu un-überbrückbaren Konflikten führen. Beispielsweise wäre die konstitutionelle Monarchie Groß-britanniens mit der Stellung des Bundespräsidenten oder eine Parteiendemokratie Italiens, die ohne Fünf-Prozent-Hürde auskommt, nicht ohne Weiteres mit dem Grundgesetz in Ein-klang zu bringen. Das Bundesverfassungsgericht spricht zunächst von zentralen Demokratie-anforderungen, die auf unterschiedliche Weise verwirklicht werden könnten.94Damit eng verbunden formuliert es aber auch einen anderen Aspekt, der letztlich in seinen unter-schiedlichen Formen Ausdruck der deutschen Volkssouveränität ist: Dass[d]ie europäische Vereinigung auf der Grundlage einer Vertragsunion souveräner Staaten […]allerdings nicht so verwirklicht werden [darf], dass in den Mitgliedstaaten kein ausreichen-der Raum zur politischen Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebens-verhältnisse mehr bleibt. Dies gilt insbesondere für Sachbereiche, die die Lebensumstände der Bürger, vor allem ihren von den Grundrechten geschützten privaten Raum der Eigenver-antwortung und der persönlichen und sozialen Sicherheit prägen, sowie für solche politische Entscheidungen, die in besonderer Weise auf kulturelle, historische und sprachliche Vorver-ständnisse angewiesen sind, und die sich im parteipolitisch und parlamentarisch organisier-ten Raum einer politischen Öffentlichkeit diskursiv entfalten.9596, sich sehr von denen an-derer Mitgliedstaaten unterscheiden. Charakteristisch für den unitarischen Bundesstaat ist, dass dem Bund die unitarische Gesetzgebung und den Gliedstaaten die Verwaltung zu-kommt.97Wenn aber schon die Verwaltungsstrukturen der (Bundes-)Länder sich stark unter-scheiden, erscheint eine grundlegende Konformisierung als schwierig. Gerade die Neustruk-turierung von zum Teil Jahrhunderte alten Strukturen würde nicht über die Entwicklung ei-ner einheitlichen Verfassung der Mitgliedstaaten geschaffen werden können, sondern müs-ste sich vielmehr entwickeln. Wenn die Bundesrepublik– trotz eines kooperativen Föderalis-mus98– als Beispiel für einen unitarischen Bundesstaat zu betrachten ist99, gibt es bei allen Gemeinsamkeiten– auf die noch weiter eingegangen wird – Unterschiede in den mitglied-staatlichen Strukturen, die bei der Umsetzung eines unitarischen Bundesstaates ein Hinder-nis darstellen könnten. Der unitarische Bundesstaat stellt somit wegen seiner stärkeren Ver-einheitlichungstendenz und den daraus erwachsenden hohen rechtlichen Anforderungen an die Gemeinschaft eine nur schwer umsetzbare Form des Bundesstaates dar. Es gibt aber eineAlternative, welche die „rechtlichen Vorbedingungen“, abgesehen von Demokratie und Sou-veränität, unangetastet lässt, und trotzdem einen Gesamtbundesstaat darstellt.

2. Der duale Bundesstaat

Womöglich bietet der duale Bundesstaat, den zum Beispiel die USA verkörpern, ein prakti-kableres Modell für die EU.100Die Vereinigten Staaten von Amerika, die sich 1789 unter den„Articles of Confederation“ gründeten101, mussten zunächst einen langen Konflikt um die Verteilung der Kompetenzen zwischen Union und Gliedstaaten (Art. I Abschnitt 8 U.S. Consti-tution) austragen.102Ausgangspunkt war die Verfassung von 1787, nach der es eine Zentral-regierung gab, die zum einen aus dem „House of Representatives“ und zum anderen aus ei-ner Länderkammer, dem Senat, bestand.103Die Stellung und Autonomie der Gliedstaaten waren insoweit geschützt, als die Befugnisse der Zentralgewalt in der Unionsverfassung ein-zeln aufgezählt waren und noch heute sind.104Auch die Gleichberechtigung der Kammern hat besondere Auswirkungen: Damit werden alle Bundesgesetze zu Zustimmungsgesetzen, anders als zum Beispiel in Deutschland, wo, jedenfalls in der ursprünglichen Konzeption des Grundgesetzes, das Einspruchsgesetz die Regel und das Zustimmungsgesetz die Ausnahme darstellt. Dies ergibt sich aus Art. 77 Abs. 2a und 3 GG, wonach der Fall, in dem die Zustim-mung des Bundesrates erforderlich ist, gesondert geregelt ist. Hinzu kommt eine sehr viel striktere Trennung zwischen Bundes- und Landeskompetenzen: Das Militärwesen, die Erhebung von Steuern oder das Münzwesen sind zum Beispiel gem. Art. I Abscnitt 8 der U.S. Constitution dem Bund zugeteilt.105Außerdem legt das 10th Amendment106fest, dass alle in der Verfassung nicht dem Bund zugeteilten Kompetenzen Landeskompetenzen sind.

The powers not delegated to the United States by the Constitution, nor prohibited by it to the States, are reserved to the States respectively, or to the people.107

Zwar wirkt dies wie ein Äquivalent zu Art. 30 GG; anders aber als in den USA ist im deutschen Grundgesetz eine Zugriffsmöglichkeit von ganz anderem Ausmaße zugunsten des Bundes an-gelegt, und damit liegt das „Schwergewicht“ in der Gesetzgebung beim Bund. Nach Art. 70 iVm. Art. 72 Abs. 1 GG steht dem Bund sowohl die ausschließliche als auch die konkurrie-rende Gesetzgebung zu, die beide in der Summe den Regelfall darstellen.109Man kann also sagen, dass Art. 30 GG iVm. Art. 72 GG nicht mit dem 10th Amendment vergleichbar ist. Jedoch konnte der Wortlaut des Art. I Abschnitt 8 der U.S. Consitution als Grundlage für eine Unitarisierungswelle auch in den USA benutzt werden: Der damalige Chief Justice Marshall ging davon aus, dass durch das Fehlen desWortes „ausdrücklich“110und den Vorrang der Bundesverfassung111ähnlich wie der Bund in Deutschland dieser auch in Amerika durch dieVerfassung befähigt sei, alles, was „angebracht und notwendig“ sei, zu regeln112. Mit Bezug auf diese Auslegung entwickelte derChief Justice Marshall die Lehre von den „implied-pow-ers“. Diese besagt, dass alle in der Verfassung dem Bund zugeteilten Kompetenzen diesengleichzeitig dazu befähigen, die geeigneten Mittel zur Erreichung des Zieles und des dauer-haften Funktionierens anzuwenden.113Mit dieser Grundentscheidung wurde die Unitarisie-rungsentwicklung in Gang gesetzt. Dennoch sorgte das historisch gewachsene Selbstver-ständnis114der Einzelstaaten sowie das 10th Amendment, dessen Berücksichtigung durch den Supreme Court überwacht wurde115, dafür, dass die Unabhängigkeit der amerikanischen Staaten nach wie vor größer ist als die der deutschen Länder, und dass das System der USA repräsentativ für die Idee des dualen Bundesstaates ist. Dies zeigen auch heute noch auftre-tende Konflikte zwischen der Bundesregierung und den Einzelstaaten.116

C. Ausgangspunkt: Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zum Vertrag von Lissabon

Ausgangspunkt der Arbeit ist die Überprüfung des Urteils des Bundesverfassungsgerichtes zum Vertrag von Lissabon. Dabei werden die Aussagen zu Souveränität und Demokratie als Bestandteil der von Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Grundsätze in den Fokus gerückt. Auf diese Weise soll ein möglichst klares Bild vom Verständnis des Bundesverfassungsgerichtes ermöglicht werden, das zwar den Vertrag von Lissabon für noch verfassungsgemäß erachtet, aber dennoch einen europäischen Bundesstaat für unvereinbar mit dem jetzigen Grundge-setz hält. Dies soll ins Verhältnis zu früheren Entscheidungen des Bundesverfassungsgerich-tes gesetzt werden, um deutlich zu machen, dass dieses Verständnis in der logischen Folge früherer Entscheidungen steht. Die Ergebnisse dieses Abschnittes sollen dann als Prüfungs-maßstab für die historische Untersuchung von Demokratie und Souveränität dienen. Auch soll die Auslegung des Bundesverfassungsgerichtes ins Verhältnis zu einem anderen Ausle-gungsergebnis gesetzt werden.

I. Die Lissabon-Entscheidung

1. Das Verständnis des Bundesverfassungsgerichtes von Demokra-tie und Souveränität

Das Grundgesetz ermächtigt die für Deutschland handelnden Organe nicht, durch einen Ein-tritt in einen Bundesstaat das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes in Gestalt der völkerrechtlichen Souveränität Deutschlands aufzugeben.117

Schon zu Beginn seines Urteils drückte das Bundesverfassungsgericht das grundsätzliche Ver-ständnis von der Beziehung des Grundgesetzes zu den europäischen Einigungsverträgen aus. Demnach sei weder die Regierung noch der verfassungsändernde Gesetzgeber, also eine Zweidrittelmehrheit des Bundestages zusammen mit einer Zweidrittelmehrheit des Bundes-rates, imstande, die von Art. 79 Abs. 3 iVm. Art. 20 I GG verbürgte staatliche und völker-rechtliche Souveränität abzugeben.118Das Gericht bezog sich dabei aber nicht explizit auf die staatliche Souveränität, sondern auf das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes. Im darauf folgenden Satz zog das Gericht die Konsequenz aus dieser Aussage:Dieser Schritt ist wegen der mit ihm verbundenen unwiderruflichen Souveränitätsübertra-gung auf ein neues Legitimationssubjekt allein dem unmittelbar erklärten Willen des Deut-schen Volkes vorbehalten.119

An anderer Stelle stellte es fest:

Das demokratische Prinzip ist nicht abwägungsfähig, es ist unantastbar. […] Mit der soge-nannten Ewigkeitsgarantie wird die Verfügung über die Identität der freiheitlichen Verfas-sungsordnung selbst dem verfassungsändernden Gesetzgeber aus der Hand genommen. Das Grundgesetz setzt damit die souveräne Staatlichkeit Deutschlands nicht nur voraus, sondern garantiert sie auch.120

Unter dem Eindruck der ersten Aussage, dass die völkerrechtliche Souveränität Deutschlands verbürgt bleibe, muss man die beiden zuletzt genannten Aussagen lesen und die folgenden Schlüsse ziehen:

Erstens gehört laut Bundesverfassungsgericht nicht nur die staatliche Souveränität, auch wenn sie nicht ausdrücklich im Grundgesetz zu finden ist, sondern auch das demokratische Prinzip bzw. die Forderung nach Demokratie zu den von Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Ver-fassungsprinzipien, die Bestandteil der deutschen Verfassungsidentität seien und damit nicht aufgegeben werden könnten.121Bemerkenswert ist aber vor allem der zweite Aspekt: Das demokratische Prinzip und die staatliche Souveränität stehen aus Sicht des Bundesverfas-sungsgerichtes in einer Art Symbiose zueinander, weil sie sich gegenseitig bedingten.122Dies deutet zumindest die inhaltliche Verknüpfung beider Prinzipien an. Denn beide werden in einen unmittelbaren Zusammenhang gebracht, indem bei der Erklärung des einen zugleich auf das jeweils andere Bezug genommen wird. Warum das Bundesverfassungsgericht diese beiden Grundsätze als so eng miteinander verknüpft betrachtete, wird am deutlichsten im Leitsatz 1 angesprochen: