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Der Drehbuchautor Peter Siegmund verfasst die Vorlage für einen Dokumentarfilm über Alexandras ergreifendes Lebensschicksal, die kürzlich unter tragischen Umständen verstorben ist. Die Ursache für den nachhaltigen Bruch in ihrem Leben ist er selbst, als er sich vor vielen Jahren aus der Liebesbeziehung feige fortgestohlen hat. Auch nach der langen Zeit ist er nicht bereit, sich damit auseinanderzusetzen. Er blendet seine Verantwortung für ihr unglückliches Schicksal einfach aus. Im Gegenteil: Auf Druck des Film-Produzenten und entgegen aller Dokumentarfilm-Regeln fälscht er in dem Drehbuch sogar Alexandras Lebensweg und leugnet alle Verbindungen zu ihr. Das hat Folgen...
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Seitenzahl: 253
Veröffentlichungsjahr: 2019
Vielen Männern fehlt der Mut, um der Geliebten reinen Wein einzuschenken und sich ehrlich zu verabschieden, wenn die Gefühle abgekühlt sind. Stattdessen verdrücken sie sich „auf französisch”, wollen nichts mehr davon wissen, was vor kurzem noch das große Glück und Begehren war. Exemplarisch für eine solche Feigheit zeigt die Geschichte in diesem Buch, wie sie auch nach vielen Jahren noch zum Bumerang werden kann und den einst Mutlosen in schwere Turbulenzen stürzt genau in dem Augenblick, als er sich endlich auf der Höhe von Ruhm und Anerkennung wähnt.
Gregor Bähr
Jahrgang 1946, wurde im altsprachlichen Gymnasium mit Latein und Griechisch traktiert, lernte Offsetdrucker, wurde beim Militär Sanitäter und Krankenpfleger, studierte in Berlin Wirtschaftskommunikation und Marketing, ging anschließend für zwei Jahre nach Süditalien als Reiseleiter, betrachtet seitdem Italien als zweite Heimat, spricht fließend Italienisch, lebt in Stuttgart, arbeitete dort viele Jahre in Marketingagenturen als Kundenberater, Texter und Etat-Direktor, schreibt seit 1989 als freier Werbetexter und seit 2013 auch als Schriftsteller.
Weitere Informationen: gregor-baehr-autor.de
Gregor Bähr
Die Verleugnung
Roman
© 2019 Gregor Bähr
Umschlaggestaltung: Gregor Bähr
Titelfoto: © angieconscious/pixelio.de „Winterzauber“
Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40.44, 22359 Hamburg
ISBN
Paperback
978-3-7482-5376-1
Hardcover
978-3-7482-5377-8
E-Book
978-3-7482-5378-5
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Die Personen
Ferry Stein, leidenschaftlicher Zeitungsreporter, zunächst in Reutlingen, dann bei der BLITZ-Zeitung in Berlin.
Peter Siegmund alias Andree Harbich, Drehbuchautor mit Pseudonym, selbstverliebt, genussorientiert, opportunistisch, mit natürlichem Charme.
Alexandra „Alex“ Gehrwein, sieht sich als Aschenputtel, hat volle, rote Haare, Sommersprossen, lapisblaue Augen, deswegen auch die „Irin“ genannt.
Carla Savino, seit Sandkastentagen Alexandras treueste Freundin.
Toni Castello (Pseudonym; eigentlich Anton Sebald), gefragter TV-Serien-Schauspieler, lebt in München, seit vielen Jahren mit Siegmund befreundet. Hilft ihm auf die Erinnerungssprünge.
Lothar Frasch, Reutlinger Notar, zuständig für Nachlass- und Erbschaftsangelegenheiten, sagt alles in doppelter Ausfertigung, dafür doppelt so schnell.
Selma Papic, Polizeikommissarin und Steins Freundin. Eifersüchtig und cholerisch, mit erregender Stimme.
Nicole Berndes, Kriminalkommissarin, ermittelt im Brandfall „Schofstall“. Für Ferry Stein unwiderstehlich.
Irene Kehl, Alexandras Vermieterin des „Schofstalls“, Cousine von Carla.
Nick Stresow, Chefreporter und Steins Chef in Berlin. Freut sich am meisten über die eigenen Wortspielereien.
Kevin Kramer Steins Reporter- und Team-Kollege im „Fall Siegmund“.
Kira Kallwey, taucht nur zweimal, aber an entscheidenden Stellen auf.
Deep Throat, Steins mysteriöse Informationsquelle aus Berlinale-Kreisen. Nennt sich in Anlehnung an Watergate so.
Bertrand Gomulkian, neuer Chef des Produktionshauses Gebauer Film mit dunkler Vergangenheit. Vor allem am wirtschaftlichen Erfolg interessiert.
…und weitere Personen.
Statt eines Vorworts
Aus Alexandras Tagebuch-Aufzeichnungen.
Montag 25. April 1984
Es war Freitagabend, der 18. Februar. München. Eine rote Hundeleine spannt sich quer vor die Glastür des Restaurants und versperrt mir den Zugang. ‚La Quadriga’ steht in eleganter Schreibschrift auf der Tür. Am einen Ende der Hundeleine ein weißer Zwergpudel, am anderen Ende die behandschuhte Hand einer Dame im weißen Pelzmantel. Sie steht da und wartet geduldig, bis ihr Hund seine gelbliche Spur in dem Altschnee hinterlassen hat. Weil der Pudel nicht vor mir, sondern hinter mir wieder zu Frauchen strebt, muss ich über die Leine wegsteigen. Das bringt mich aus dem Konzept. Aber jetzt, nachdem ich Peter endlich gefunden habe, will ich nicht wegen eines dummen Pudels im letzten Moment aufgeben.
Tagelang habe ich überlegt, was ich ihm sagen will. Sogar ein Manuskript habe ich geschrieben und den Text auswendig gelernt, unzählige Male gemurmelt. So wie es auch manche Schauspieler machen, wenn sie sich von mir in der Maske für die Vorstellung herrichten lassen.
Ich drücke die Glastür auf und komme durch den Windfang in das Lokal. Eine Duftmischung aus Parmaschinken, gedünstetem Knoblauch und Espresso-Kaffee. Leises Klirren von Besteck auf Porzellan. Nur etwa die Hälfte der Tische ist belegt. An einem Vierertisch, ganz hinten im Raum, sitzt Peter - in Begleitung. Er bemerkt mich nicht. Einen Moment überlege ich, ob auf dem Absatz kehrt machen soll wegen der Frau. Dann aber werfe ich die Kapuze des Parkas nach hinten, reiße mir den Wollschal vomHals, stopfte die beiden Enden in die Seitentasche. Noch einmal tief durchatmen und los! Auf den Tisch zu, wo Peter mit dieser Frau sitzt. Sie ist wohl so alt wie ich.
Auf halbem Weg werden mir die Knie weich. Ein Ober kommt mir mit antrainiertem Lächeln entgegen. Plötzlich verschwimmt die Figur und beginnt zu schlingern. Als hätte jemand vor meinen Augen ein Puzzle in die Luft geworfen, zerfällt das Bild vor mir. Das schwarze Bolero-Jackett des Kellners, der verchromte Servierwagen mit den Glaskuppeln darauf, die Rotweinflasche mit Weinkrawatte auf einem der Tische, ein fünfarmiger Kerzenleuchter - alles rieselt in zahllose Fragmente zerlegt zu Boden. An Peters Tisch angekommen, ist mir schwindelig. Ich muss zweimal schlucken, um den Kloß im Hals loszuwerden. Alles, was ich ihm sagen will, ist weg. Stattdessen schaffe ich nur zwei Sätze: „Peter, warum bist du weggegangen? Ich bin doch schwanger! “
Zeitlupenlangsam wendet er den Blick von seiner Begleiterin, sieht mich unverwandt an und sagt: „Entschuldigung, kennen wir uns?“ -- Ich spüre noch diesen Wahnsinnsschmerz, als rammte er mir ein Messer in den Unterleib. Ich glaube, ich hab geschrien wie am Spieß, bevor ich zusammenklappte.
Als ich wieder zu mir kam, war ich in der Notfallklinik und wusste sofort: Du hast dein Kind verloren.
1. Kapitel
Im selben Moment, als Ferry Stein sich aus dem Redaktionssystem abgemeldet und den Bildschirm ausgeschaltet hatte, spürte er das vertraute Vibrieren seines Smartphones durch die Hosentasche auf dem Oberschenkel. Die SMS war kurz und bündig: „Brand in Rehlingen, Ortsrand. Schofstall”, las er auf dem Display. Kein Absender. Er wusste aber, von wem die Meldung kam. Wie immer, wenn sich sein Jagdinstinkt regte, fuhr er sich hastig mit den Fingern durchs Haar. Denn es war keine Allerweltsmeldung über irgendeinen brennenden Heustadel irgendwo in der Gegend. Es war der Zusatz „Schofstall“, der ihn elektrisierte. Denn in dem kleinen Schäfergehöft wohnte seit vielen Jahren die Frau, die alle nur die „Einsiedlerin von Rehlingen“ nannten, aber niemand etwas über sie zu wissen schien. Schon zweimal hatte er erfolglos versucht, sie zu interviewen.
Kaum hatte er die SMS gelesen, griff er sich Fototasche, Voice-Recorder und Notebook, pflückte im Vorbeilaufen seine ausgebleichte Schimanski-Jacke vom Garderobenhaken und stürmte aus der Redaktion des Reutlinger Boten. Er nahm die Treppe, weil das schneller ging als mit dem Aufzug. Auf dem Verlagsparkplatz warf er sich hinters Steuer seines alten Golf und raste los. Die Borduhr zeigte 20.16 Uhr. In spätestens zwanzig Minuten würde er in Rehlingen sein. Bis dahin waren die Löscharbeiten noch in vollem Gang, sofern Selma nicht zu lange mit der Nachrichtenübermittlung gewartet hatte. Dann konnte er noch dramatische Fotos vom brennenden Schofstall schießen.
Dass Selma als Kommissarin im Lage- und Einsatzzentrum des Reutlinger Polizeipräsidiums arbeitete und Steins Freundin war, behielt er für sich. Auch sonst grinste er nur stumm, wenn die Redaktionskollegen allerhand Vermutungen über seine Quellen bei der Polizei, im Rathaus oder Landratsamt anstellten, die ihn ihrer Meinung nach bevorzugt mit Meldungen und Hintergrundinformationen versorgten. Denn sie wollten nicht so recht glauben, dass es ihm, dem „Zugroista” - dem Zugereisten aus Norddeutschland - Spaß machte, den rasenden Reporter zu geben, wo es doch viel bequemer war, durch Umschreiben von Meldungen der Presse- und PR-Agenturen die Spalten zu füllen. Stein hingegen lieferte immer wieder interessante, sauber recherchierte Reportagen, die schon so manche Affäre in der Region aufgedeckt und Skandale ausgelöst hatten.
Auf dem Weg zur nächsten, vielversprechenden Story radierten die Reifen in den Spitzkehren. Im letzten Grauschleier dieses Aprilabends hetzte er den Albtrauf bergan nach Rehlingen. Vielleicht klappte es diesmal, mit der geheimnisvollen Frau ins Gespräch zu kommen. Das letzte Mal, vor einem halben Jahr, hatte er die Gelegenheit versemmelt und zwar auf höchst unprofessionelle Art, für die er sich heute noch ohrfeigen könnte. Damals kam ihm auf dem zerfurchten Zufahrtsweg zum Schofstall, wo kein Ausweichen möglich war, ein klappriger, roter R4 entgegen geschaukelt. Das gleiche Modell, in der gleichen Farbe, hatte damals seine Mutter gefahren; der gleiche, mit dem sie ihn im Konfirmationsanzug zur Einsegnungsfeier gebracht hatte; der gleiche, mit dem er schon vor der Fahrschule heimlich Fahrversuche gemacht hatte. Und es war derselbe, der bald danach mit der Mutter am Steuer auf der Autobahn unrettbar zwischen zwei Lkw geraten war. Für eine Sekunde erwartete er, dass aus diesem roten R4 seine Mutter stieg. Es war aber eine schlanke Frau, Anfang fünfzig, mit leuchtend blauen Augen und schulterlangen, roten, grau durchwirkten Haaren. Sie trat an sein Seitenfenster, und er hörte sie wie durch drei Watte-Pads hindurch sagen: „Stoßen Sie bitte zurück und wenden Sie vorne an der Ecke. Hier geht’s sowieso nicht weiter.“ Erst jetzt ließ er die Seitenscheibe herunter und sah die blauen Augen als wären es die seiner Mutter. Er konnte nichts sagen und tat wortlos, wozu sie ihn aufgefordert hatte. Er stieß die dreißig Meter zurück, wendete, und fuhr vor bis zur Hauptstraße, als ihm endlich klar wurde, dass er sich wie ein Schulbub hatte wegschicken lassen. - Noch jetzt, auf der Fahrt zum Brand, spürte er die Peinlichkeit seines Versagens. Mit dem Drang, mehr über diese Frau zu erfahren, wollte er nun den Misserfolg wettmachen.
Nach der steilen Anfahrt über die Serpentinen des Albabbruchs, windet sich die Straße in weitgeschwungenen, Kurven durch die hügelige Alb-Hochfläche, beiderseits Wiesen und gepflügte Äcker, dunkle Waldsäume, die sich in der späten Dämmerung kaum von der Umgebung abhoben. Kurz vor Rehlingen sah er die schwarze Rauchsäule, die schwerfällig lodernden Flammen und ihren roten Widerschein an den tief hängenden Wolken. Er bog in einen Feldweg ein, von dem er sich eine Abkürzung zu dem abseits gelegenen Schäfergehöft versprach. Mit tanzenden Scheinwerfern und bockend wie ein Rodeopferd polterte der alte Golf über den schlaglöcherigen und mit Erdklumpen übersäten Pfad. In sicherer Entfernung von dem Brand stellte er das Auto auf einem Wiesenstück ab. Da stand schon der Streifenwagen, der wohl kurz zuvor den gleichen Weg genommen hatte. Stein kannte sich seit den beiden erfolglosen Besuchen aus. Mit umgehängtem Fotoapparat und Voice-Recorder in der Jackentasche hastete er an dem Maschendrahtzaun und den Buchsbaumhecken entlang, die das Anwesen umgaben. Bei dem Sprint kam er außer Atem. Denn er war zwar ein Schlacks, aber mit Sport hatte er nie viel am Hut gehabt. Wo Zaun und Hecke im rechten Winkel weiterführen, musste er verschnaufen. Wie immer bei solchen Anlässen sah er die Schaulustigen sich drängeln. Sie drückten und pufften mit den Ellbogen, um die besten Plätze in der ersten Reihe zu ergattern, die dahinter machten lange Hälse und alle zusammen behinderten sie die Rettungskräfte. Eine fette Menschentraube drückte gegen das breite Schwenkgatter zum Grundstück, so dass die beiden Polizisten Mühe hatten, die neugierigen Rehlinger von den beiden Feuerwehrfahrzeugen und den Löschtrupps fern zu halten. Es war zwar nur der Geräteschuppen, der da brannte, doch er bot ein Schauspiel, das die Dörfler mit uneingestandener Lust am dramatischen Spektakel beobachteten und kommentierten.
Sogleich bahnte sich Stein einen Weg durch die Neugierigen auf der Suche nach der Einsiedlerin. Immer wieder fragte er, ob jemand wisse, wo die Frau sei. Er bekam aber keine vernünftige Antwort. Gleichzeitig fotografierte er für den Zeitungsartikel. Den konnte er aber erst schreiben, wenn er genügend Informationen gesammelt hatte. In jedem Fall musste der Bericht morgen in der Freitagsausgabe erscheinen. Wieder fuhr er sich mit der Rechten durch den Haarschopf, als er den Chef vom Dienst in der Redaktion anrief, um eine halbe Seite zu reservieren. Der lamentierte, dass er den ganzen Umbruch über den Haufen werfen müsse, „nur weil der Herr Stein glaubt, wieder mal eine Super-Story auf der Pfanne zu haben.” Der CvD wusste aber auch, dass Ferry kein Heißluftgenerator war und versprach ihm „vier Spalten à 28 Zeilen, inklusive Fotos. Mehr geht nicht!”
Der Reporter musste sich sputen. Bald war Redaktionsschluss und er wollte unbedingt herausbekommen, wo die Bewohnerin des Anwesens geblieben war. Polizei und Feuerwehr waren momentan zu sehr beschäftigt, um seine Fragen zu beantworten. Die Schaulustigen am Gatter palaverten alle durcheinander, doch keiner wusste Konkretes. Nur die Nachbarin, die auch die Feuerwehr gerufen hatte, erzählte ihm wortreich von den Vorgängen und ihren Beobachtungen. Nein, die Einsiedlerin habe sie nicht gesehen und sich auch schon gefragt, wo sie wohl sei. Mehr wusste sie nicht und verwies Stein an Irene Kehl, der das Schäfergehöft gehörte und etwas abseits von den Gaffern stand. Nur zögernd und sichtlich mit den Tränen kämpfend, beantwortete sie ihm ein paar Fragen und äußerte stockend die Befürchtung, dass ihre Mieterin, Alexandra Gehrwein, in den Flammen umgekommen sein könnte. Das hätte sie auch schon der Feuerwehr und der Polizei gesagt. Sie hätte Alexandra gesucht, jedoch nicht gefunden, obwohl ihr R4 doch auf dem Hof vor der Tür stünde. Die Feuerwehr habe sogleich in der Wohnung nachgesehen, wo sie auch nicht gewesen sei. Mit einer Mischung aus Bedauern und Enttäuschung nahm Stein zur Kenntnis, dass er Alexandra Gehrwein wahrscheinlich nicht mehr würde interviewen können. Umso mehr musste er sich nun an die Einsatzkräfte halten. Irene Kehl nannte ihm noch die Telefonnummer von ihrer Cousine. Carla Savino sei Alexandras beste Freundin - „gewesen“ fügte sie noch an.
Mittlerweile war das vierköpfige Ermittlerteam der Kripo eingetroffen. Stein fotografierte die Beamten bei den Vorbereitungen zu ihren Untersuchungen der Brandstelle, während die Feuerwehrmänner ihre Löscharbeiten einstellten. Auch Fotos von dem zerstörten Schuppen nahm er auf, den die Scheinwerfer der Spurensicherung nun taghell ausleuchteten wie bei einem Tatort-Krimi. In scharfen Kontrasten zum nachtschwarzen Hintergrund stiegen Qualm und Löschwasserdampf aus den verkohlten Holz- und Mauerresten auf, dazwischen die beiden gespenstischen Gestalten der Beamten in weißen Einmal-Overalls und Atemschutzmasken, stechender Gestank hatte sich ausgebreitet. Sie untersuchten das Innere des Schuppens, während der Einsatzleiter und seine Kollegin mutmaßliche Zeugen zum Geschehen, dem Anwesen und seiner Bewohnerin befragten.
Stein blieb so lange am Unglücksort, bis er mit dem Feuerwehrkommandanten, dem Leiter des Ermittlungsteams und dessen Kollegin, Kriminalhauptkommissarin Nicole Berndes, gesprochen hatte. Sie bestätigten ihm, dass ein verkohlter Leichnam im Schuppen gefunden worden sei. Es handele sich mit größter Wahrscheinlichkeit um die sterblichen Überreste der vermissten Alexandra Gehrwein. Dies müsse jedoch noch die Gerichtsmedizin bestätigen. Es war also wohl endgültig, dass er diese Frau nicht mehr näher kennen lernen konnte. Noch einmal stieg der Ärger in ihm darüber auf, dass er damals, als die beste Gelegenheit zum Interview bestand, versagt hatte.
Bisher wusste niemand der neugierigen Rehlinger vom Tod der Einsiedlerin, obwohl sie es ahnten. Als dann kurz vor Steins Rückfahrt in die Redaktion ein dunkler Kombi mit verhängten Fenstern eintraf, wurde auch für sie zur Gewissheit, was am nächsten Morgen im Reutlinger Boten zu lesen war:
Tod in den Flammen. - Brand fordert ein Menschenleben.
Am Donnerstagabend kam die geheimnisvolle „Einsiedlerin von Rehlingen“, Alexandra Gehrwein (53), beim Brand auf dem einstigen Schäfergehöft „Schofstall“ ums Leben, wo sie seit vielen Jahren wohnte. Eine Explosion im Geräteschuppen löste den Brand aus, in dem sie sich zu dem Zeitpunkt aufhielt. Der Schuppen wurde völlig zerstört.
Im Fernsehen kam gerade die Tagesschau, als Hilde M. durch einen lauten Knall und splitterndes Glas aufgeschreckt wurde. Sie stürzte zum Fenster und sah, wie drüben, etwa hundert Meter entfernt, aus den zerstörten Fenstern des Geräteschuppens schon die Flammen schlugen. Sofort rief sie die Feuerwehr an, die wenige Minuten später vor Ort eintraf. Dank des schnellen Eingreifens der Rehlinger Löschstaffel und der Verstärkung aus dem Nachbarort Grolingen konnte ein Übergreifen der Flammen auf das Wohngebäude verhindert werden.
Nach Abschluss der Löscharbeiten nahm die Kripo Reutlingen die Ermittlungen auf, die zur Stunde noch andauern. In den Trümmern wurde ein verkohlter Leichnam gefunden, bei dem es sich wahrscheinlich um die Bewohnerin handelt. Noch ist nicht bekannt, ob das Geschehen auf Fahrlässigkeit, unglückliche Umstände oder Vorsatz zurückzuführen ist.
Insbesondere gibt die Person der Getöteten, Alexandra Gehrwein, Rätsel auf. Nach Aussage ihrer Vermieterin war sie schon als junge Frau in den Schofstall eingezogen und lebte dort allein. Kontakte nach außen seien äußerst spärlich gewesen.
Die wenigen Anhaltspunkte über das Leben der „Einsiedlerin“ sorgten in der Bevölkerung für allerlei Vermutungen und Gerüchte, unter anderem, dass sie doch nicht so allein lebte, wie es den Anschein hatte. Vielmehr gibt es Meinungen, wonach sie lange Zeit mit einem Mann im Rollstuhl zusammengelebt habe. Was aus diesem geworden sei, wisse man nicht. Wie gesagt: Gerüchte. Die weiteren Ermittlungen werden Klarheit bringen über den Tod von Alexandra Gehrwein, der Einsiedlerin von Rehlingen. Wir werden weiter darüber berichten.
Den letzten Satz des Artikels hatte er deshalb so selbstsicher schreiben können, weil er die Kommissarin Nicole Berndes noch am Brandort auf ein Dinner im Restaurant eingeladen hatte - natürlich „ganz privat”, um jeden Verdacht eines Bestechungsversuchs auszuschließen. Bis Montagabend bräuchte sie, dann könne sie die Vorab-Ausdrucke der Pressemeldung mitbringen, die am Dienstag sowieso veröffentlicht würden. „Das ist dann sozusagen eine vorgezogene Pressekonferenz im kleinen Rahmen“, grinste sie und rechtfertigte so ihre vielleicht nicht ganz korrekte Informationsbereitschaft.
*
In Situationen, wenn ihm eine Person gegenübersaß, von der er sich interessante Informationen erhoffte, war Stein wie ausgewechselt: nicht mehr der mit Voice-Recorder und Fotoapparat hektisch hantierende Reporter. Viel mehr wurde er so zahm wie ein schnurrender Kater - scheinbar. Denn bei sensiblen Recherchen wickelte er mit dieser Taktik sein Gegenüber in eine Samtdecke ein. Rasch verloren die Befragten das vielleicht anfängliche Misstrauen bei einem vermeintlich harmlosen Gespräch und die darin eingestreuten Fragen. Auf diese Weise hatten schon einige der lokalen „Großkopfeten” und Würdenträger, die etwas zu sehr gekungelt und gemauschelt hatten, erst im gedruckten Artikel bemerkt, was sie dem Reporter alles preisgegeben hatten.
An diesem Montagabend im „Stadttor” war der schnurrende Kater keine Tarnung. Viel mehr hätte er sich nach dem zweiten Viertel Veltliner am liebsten von Nicole Berndes hinterm Ohr kraulen lassen. Der Grund war zum einen, dass sie ausführlich auf seine Fragen zu den Ermittlungsergebnissen antwortete, zum anderen, dass er glaubte, ein gewisses Knistern zwischen ihnen zu spüren.
Bequem auf seiner Chaiselongue im Wohnzimmer halb liegend und beflügelt von dieser Begegnung, glitten seine Finger über die Tastatur seines Notebooks für den zweiten Artikel, der morgen, am Dienstag, erscheinen sollte:
Eine explosive Mischung. - Zum Tod der Einsiedlerin.
Eine Explosion war Schuld am Brand, in dem die Einsiedlerin von Rehlingen ums Leben kam. Die aktuellen Ermittlungsergebnisse der Polizei beantworten die Fragen, wie und warum es zu der Brandkatastrophe kommen konnte.
Der Hergang des Geschehens spielte sich nach den Erkenntnissen der Polizei mit hoher Wahrscheinlichkeit so ab, dass Alexandra Gehrwein kurz nach 20 Uhr den Geräteschuppen betrat, um dem scharfen, Essig ähnlichen Geruch auf den Grund zu gehen, den sie von ihrer Wohnung aus bemerkt hatte. Die Ursache waren Verdunstungsgase einer größeren Menge Aceton, die aus einem lecken Kunststoffkanister ausgelaufen war. Da es schon nahezu dunkel war, betätigte sie den Lichtschalter für die Glühbirne, die lose am Draht von der Decke des Schuppens herabhing. Die elektrische Installation war jedoch so marode, dass es zu einem Kurzschluss kam. Dessen Funke entzündete die hoch explosiven Acetondämpfe. Frau Gehrwein wurde durch die Wucht der Explosionzu Boden gerissen und blieb auf dem Zementfußboden besinnungslos in der noch nicht völlig verdunsteten Aceton-Lache liegen. In dieser Stellung wurde ihr Leichnam gefunden. Die ausgelaufene Flüssigkeit entzündete sich mit der Explosion und reagierte brandbeschleunigend. Außerdem sorgten die zerberstenden Fensterscheiben für eine schlagartige Sauerstoffzufuhr, so dass sich das Feuer innerhalb von Sekunden im ganzen Schuppen ausbreitete. Weitere Acetonbehälter und mehrere Plastikkanister mit Flüssig-PVC begannen zu schmelzen, deren auslaufender Inhalt entzündete sich ebenfalls. Neben allerhand Gartengeräten und Werkzeug wurden vom Feuer auch ein Kleiderschrank mit Herren-Oberbekleidung, eine Kettensäge und ein Rollstuhl zerstört. Für die Polizei steht fest, dass Frau Gehrwein durch ein tragisches Unglück ums Leben kam, das sie unbeabsichtigt selbst auslöste.
Ungeklärt ist jedoch bisher, warum Aceton und Flüssig-PVC in dem Schuppen gelagert waren. Was machte die Bewohnerin damit? Und was hat es mit dem ausgebrannten Rollstuhl, der zerstörten Kettensäge und der angekokelten Sammlung an Herrengarderobe in dem Kleiderschrank auf sich? Und überhaupt - wer war die einsame Frau wirklich? Im nächsten Bericht wollen wir auf diese Fragen schlüssige Antworten liefern.
Dem Artikel fügte er noch zwei Fotos bei: eines vom brennenden Geräteschuppen und ein weiteres von den ermittelnden Beamten in den weißen Overalls im Gebäudeinnern. Dazu schrieb er passende Bildunterschriften und schickte den Bericht gegen halb zwölf in der Nacht ab - rechtzeitig vor Redaktionsschluss.
Danach stand Ferry Stein an dem Fenster seiner kleinen Altbauwohnung, das ihn auf die Brandmauer des Nachbargebäudes blicken ließ. Dort, im Lichtausschnitt seines Fensters, sah er sich als Silhouette. Nachdenklich zwiebelte er seine Nasenspitze zwischen Daumen und Zeigefinger. Ziemlich ungeordnet stolperten die Gedanken durcheinander: einerseits die biedere Atmosphäre des Gasthauses „Am Stadttor” - Eiche rustikal allerorten, beige Keramikfliesen als Bodenbelag, Fenster mit Butzenscheibenimitat. Andererseits war er von der jungen Frau angetan, die schätzungsweise vier oder fünf Jahre jünger war als er, also um die 28. Sie nahm kein Blatt vor den Mund, war lässig souverän und schlagfertig. Verglichen mit Selma… Das Essen war lecker, dem Burgenländer Veltliner, den die Kommissarin ausgewählt hatte, gab er das Prädikat „ausgezeichnet“. Alles, was sie über ihre Ermittlungen im Brandfall Schofstall referiert hatte, verriet fundierte Fachkenntnis.
Verglichen mit Nicole, war Selma ganz anders: einerseits oft eigensinnig bis zur Sturheit, manchmal auch launisch und eifersüchtig. Andererseits verwöhnte sie ihn gern mit einer hingebungsvollen Schmiegsamkeit, und ihre sensationelle, Bronze schimmernde Stimme konnte Stein auch heute noch Schauer über den Rücken jagen - allerdings nur, wenn sie nicht wütend war, dann überlagerte ein raues Kreischen die bronzene Schwingung. Eines Tages freute er sich über ein Rosenstöckchen im Blumentopf, das sie ihm schenkte. Ja, das war Symbolik pur: die rote Blüte der Liebe, die zuweilen verletzenden Dornen, die Stein ebenso wie Selmas Besitz ergreifende Liebe zu spüren bekam. Bis vor kurzem hatte er die Pflanze auf dem Fensterbrett zuverlässig einmal pro Woche gegossen. In letzter Zeit hatten sich jedoch Unregelmäßigkeiten eingeschlichen.
Jeder Besucher von Steins Wohnung fand den Blick auf die Brandmauer des Nachbargebäudes hässlich. Zum Ausgleich hatte die Küche nach hinten einen großen Balkon zum begrünten, weitläufigen Hinterhof mit zwei alten Kastanienbäumen, während die Fenster des Wohnzimmers zur Straße lagen. Er hingegen blickte gerne auf die Brandmauer, wenn er über etwas nachdenken wollte. Sie diente ihm als neutrale Projektionsfläche, auf die er Gedanken warf und Ergebnisse zurück bekam. Ein Ergebnis seiner soeben angestellten Überlegungen war, dass er Nicole attraktiv fand. Das hieß bei ihm noch nicht viel. Er war zwar ein passionierter und ausdauernder Jäger, aber nur beruflich, wenn er Spuren zu brisanten Themen und Personen verfolgte. Was Frauen betraf, war er eher ein unangestrengter Sammler, der Gelegenheiten wahrnahm, wenn sie sich ihm boten. Selma hatte er vor zwei Jahren beim Tag der offenen Tür des Polizeipräsidiums kennen gelernt, als sie Besuchern die Funktion und Aufgaben des Lage- und Führungszentrums erklärte, wo sie als Polizeikommissarin in der Nachrichtenübermittlung tätig war. Seitdem waren sie ein Paar.
Als wäre der Gedanke an Selma der Anlass, schnurrte sein Handy in der Hosentasche: „Morgen, 14 Uhr, am Schofstall. Haben Sie Zeit? N.B.” Es war nicht seine Freundin, sondern Nicole Berndes. Auch recht, dachte er, auf jeden Fall super – nicht nur wegen der Aussicht auf weitere Informationen für den geplanten nächsten Artikel über Alexandra Gehrwein. Er antwortete mit „ok” und ging zu Bett.
*
„Na, Sie waren ja noch recht fleißig, gestern Abend, nach unserem Date im Stadttor”, empfing Nicole Berndes den Reporter, der soeben Alexandras Wohnbaracke betreten hatte. „Demnach haben Sie meinen Artikel im ‚Boten’ gelesen?” - „Habe ich. Alle Achtung, wie Sie die nüchternen Ergebnisse unserer Ermittlungen dramatisch in Szene gesetzt haben”, spöttelte sie grinsend. Er lächelte zurück und meinte: „Jeder macht seinen Job wie er kann.” Stein sah sich in dem Wohnraum um, der den Eindruck machte, als wäre er nur für einen Moment verlassen worden: die abgelegte Strickjacke über der Armlehne des abgewetzten Plüsch-Ohrensessels am Fenster; das Geschirr im Abtropfgestell des Spülsteins; mitten im Raum, auf dem Küchentisch, ein Tee-Set im blauen China-Dekor mit Kanne und Tasse, ein Schüsselchen mit Kandisbrocken; daneben die angebrochene Blisterpackung eines Herzmedikaments. Stein machte Fotos und ging in den hinteren Teil des Raums wo der abgebeizte Trödel-Bauernschrank und das Bett im gleichen Look standen. Auf dem Boden vor dem Bett zwei Bücher, eines mit Lesezeichen. Ein Nachtkästchen gab es nicht, dafür eine Stehlampe aus der Nierentisch-Ära. Im Wandregal über dem Bett lagen zwei Stapel der Zeitschrift ‚Theater heute’. „Hatte Frau Gehrwein irgendwas mit dem Theater zu tun?“ fragte er die Polizistin. „Ja, sie war gelernte Maskenbildnerin und arbeitete bis zu ihrem ‚Exil’ am Staatstheater. Die Zeitschriften brachte ihr wahrscheinlich ihre Freundin Carla aus Stuttgart mit.“ Während Nicole Berndes’ Antwort hatte Stein die mit Büchern vollgestopften Regalbretter inspiziert. „Sage mir, was du liest, und ich sage dir, wer du bist”, fiel ihm dazu ein. Mehrere Exemplare zu Psychotherapie und Psychoanalyse standen da. Recht abgenutzt und wohl am meisten gelesen war „Traumabewältigung”. Auch das bekannteste Buch von Erich Fromm gehörte zu der Bibliothek: „Die Kunst des Liebens”, außerdem „Zen-Buddhismus und Psychoanalyse” sowie zwei Ratgeber zu Meditation und Yoga. Auf drei Regalebenen waren Fantasy- und Science-Fiction-Taschenbücher versammelt: von Isaac Asimov und Stanislaw Lem über Tolkien bis Harry Potter. Verwundert las er die Rückentitel. Wovor war diese Frau geflohen, wenn sie solche moderne Märchen las?
Als er sich der Kommissarin zuwandte, fiel ihm ein weiteres, aus Brettern roh gezimmertes Regal auf, das neben dem Fenster mit Blick zum Wald an der Wand befestigt war. Die vielen Aktenordner darin überraschten ihn mehr als die übrige spartanische Einrichtung. Alexandra Gehrwein schien eine ordnungsliebende Person gewesen zu sein. Jeder Ordner war mit Filzstift sauber beschriftet. Die meisten mit Jahreszahlen, beginnend bei 1984. Auf dem alten Schreibtisch, direkt unter dem Fenster, stand eine alte, mintgrüne Schreibmaschine, Modell Adler. Dort saß Nicole Berndes, wie immer in Zivilkleidung, lässig mit halbem Po auf der Tischkante und wartete geduldig, bis Stein mit seinem Rundgang und dem Fotografieren fertig war. Sie hielt ihm ein beiderseits von Hand beschriebenes Blatt Papier entgegen: „Hier, der angefangene Brief, von dem ich Ihnen gestern Abend erzählt hatte” sagte die Kommissarin und reichte ihm das Schriftstück. Die krakelige, aufrechte Schrift war kaum als typisch weiblich zu bezeichnen und für Stein nicht leicht zu entziffern. Er las die Anrede und wollte gleich wissen: „Wer ist dieser Peter?“ - „Alles weist darauf hin, dass es sich um Peter Siegmund handelt. Der war vor 27 Jahren Grund und Auslöser für Alexandra Gehrweins Entscheidung zum Einsiedlerinnen-Dasein. Jedenfalls ist das aus einem der ersten Blätter ihrer Aufzeichnungen zu entnehmen.“
Rehlingen, 4. April 2012
Lieber Peter,
aus der Tiefe der Vergessenheit erreicht dich mit diesem Brief eine Nachricht, die dich vielleicht überraschen wird. Ich glaube aber, dass es eine gute Nachricht für dich ist.
Ich will keinen langen Brief schreiben, sondern dir nur mitteilen, dass ich mich in einigen Tagen einer Herzoperation unterziehen muss. Und wie das wohl jeder vernünftige Mensch in einer solchen Situation macht, regele ich vorher meine Angelegenheiten für den Fall der Fälle…
Vor einiger Zeit habe ich erfahren, dass du als Drehbuchautor arbeitest. Da dachte ich mir, dass dich evtl. meine Aufzeichnungen, die ich seit 28 Jahren gemacht habe, aufgrund deiner beruflichen Tätigkeit interessieren könnten. Ich meine damit, dass sie Basis für ein Film-Drehbuch sein könnten. Einen Arbeitstitel hätte ich auchschon: „Die Einsiedlerin von Rehlingen”, weil die Leute hier mich so nennen. Denn ich lebe in großer Zurückgezogenheit auf diesem kleinen Schäfer-Gehöft. Ich habe es damals bezogen, unmittelbar nach meiner großen Niederlage, um die Folgen auszukurieren.
Ganz frei, auch frei von jeder Schuldzuweisung demjenigen gegenüber, durch den mein Ungemach ausgelöst wurde, lebe ich hier nun in Ruhe, denn die großen, inneren Schlachten sind geschlagen. Sollte ich die Operation nicht überleben, möchte ich, dass du dir die Aufzeichnungen unter dramaturgisch verwertbaren Gesichtspunkten ansiehst. Dann entscheide, ob du daraus was machen willst.
Am 14. April wird die OP sein, wenn ich danach
Stein blickte auf und zwiebelte wieder nachdenklich seine Nase. Warum brach der Brief mitten im Satz ab? Konnte es sein, dass Alexandra in diesem Moment den beißenden, säuerlichen Acetongeruch wahrnahm, spontan aufstand und in den Geräteschuppen ging, um nachzusehen? Gab es tatsächlich das unglaubliche Zusammentreffen des „Falls der Fälle” genau in dem Moment, als sie ihren letzten Willen formuliert hatte? Er legte das Blatt auf den Tisch, schob Teekanne und Kandiszucker beiseite und fotografierte die beiden Blattseiten formatfüllend, so dass er den Brief später erneut lesen konnte. Sein Blick ging zu den Aktenordnern im Regal. Nicole Berndes folgte ihm mit dem Kommentar: „Alles Tagebücher, die mit den Jahreszahlen - oder sagen wir mal: Journale der etwas anderen Art. Ich schreibe auch welche, aber halt handschriftlich in Leerseitenbücher, die es in jedem Schreibwarenladen gibt. Hier ist alles mit Maschine geschrieben.” Einen der Ordner hatte sie auf die Schreibmaschine gelegt und aufgeschlagen. Dem entnahm sie das oberste Blatt: „Hier, der letzte Eintrag vom vergangenen Mittwoch…”, unnötigerweise ergänzte sie: „… ein Tag vor ihrem Tod. Das Blatt war schon im Ordner abgeheftet.” Ferry trat neben Nicole an den Schreibtisch. Sie duftete nach einem samtenen, fruchtigen Parfüm. Er war sich sicher, dass sie gestern Abend im Restaurant nicht, jedenfalls für ihn nicht wahrnehmbar, duftete. Sein Puls bekam einen sanften Tritt. Sie reichte ihm das Blatt, das er ebenfalls las, nun flüssiger, weil der Text mit Maschine geschrieben war:
Donnerstag, 5. April
Muss endlich die sterblichen Überreste meiner Männer entsorgen. Die Plastiksäcke im Schuppen liegen da schon viel zu lange. Wird ein ziemlicher Stress (mein Herz!!!). Mehrere Fahrten (nachts!) in die Umgebung zu herausgestellten Müllcontainern sind nötig. In zehn Tagen ist die OP. Bis dahin muss das erledigt sein.
Habe Angst wegen der OP. Was, wenn sie schief geht? Dann doch lieber über den Jordan gehen als ohne OP nach Herzinfarkt im Rollstuhl dahinzusiechen. Falls ich auf der Strecke bleibe, will ich, dass Peter Siegmund meine Aufzeichnungen erhält. Nur für alle Fälle. Eigentlich sollte ich der modernen Medizin vertrauen. Muss noch den Brief an ihn schreiben.
Bisher hatte Ferry Stein geglaubt, dass ihn so leicht nichts schockieren konnte. Aber das hier brachte seine Fassung schlagartig in Schieflage: „…die sterblichen Überreste meiner Männer entsorgen… in Müll-Containern…” War Alexandra Gehrwein eine Serienmörderin? Mit betont