Die verlorene Puppe - Judith Vogt - E-Book

Die verlorene Puppe E-Book

Judith Vogt

4,8

Beschreibung

Fantástico – Fabuloso – Apocalíptico! So lautet das Motto des fliegenden Zirkus Apocalástico. Rasante Artisten zu Pferde, eine bärtige Dame, ein echtes Mammut, ein Magier, der mit elektrischem Strom zaubert, der junge Roma-Akrobat Ferenc Badi und seine chinesische Partnerin Yue am Trapez können das Publikum in ganz Europa begeistern. Die Eiszeit des 19. Jahrhunderts verhindert ein Vordringen auf andere Kontinente jenseits der Ozeane – bis maskierte Männer das Zirkusluftschiff kapern, um es in Gefilde zu steuern, die nie ein Europäer zuvor betreten hat. Bereits auf der Überfahrt stellt sich heraus, dass nichts so ist, wie es scheint: Agenten verschiedener Mächte haben im Zirkus ihre Finger im Spiel, und der Name eines schrecklichen Geheimnisses geistert durch die Gänge des Luftschiffs. Doch am Ziel ihrer Entführer wartet eine faszinierende, fremde, blutrünstige Hochkultur auf die Artisten, und der Rückweg in die Heimat wird ihnen das Äußerste abverlangen … Der zweite, eigenständige Roman aus der doppelt preisgekrönten Steampunk-Welt von Eis&Dampf entführt in ein faszinierendes Abenteuer und auf einen noch nie auf diese Weise beschriebenen weißen Fleck auf der Landkarte!

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Autoren: Judith Vogt und Christian Vogt

Lektorat: Oliver Hoffmann

Korrektorat: Kathrin Dodenhoeft

Umschlaggestaltung und Satz: Oliver Graute

© Feder&Schwert 2016

E-Book-Ausgabe 2016

ISBN 978-386762-276-9

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-86762-275-2

Die verlorene Puppe ist ein Produkt der Feder&Schwert GmbH.

Alle Rechte vorbehalten.

Nachdruck außer zu Rezensionszwecken nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

Die in diesem Buch beschriebenen Charaktere und Ereignisse sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit zwischen den Charakteren und lebenden oder toten Personen ist rein zufällig.

Die Erwähnung von oder Bezugnahme auf Firmen oder Produkte auf den folgenden Seiten stellt keine Verletzung des Copyrights dar.

www.feder-und-schwert.com

Vorwort

Geneigte Leserinnen und Leser,

begleiten Sie uns in ein 19. Jahrhundert, das anders ist als das uns bekannte. Eine Eiszeit beherrscht Europa seit Jahrhunderten. Die Menschen hoffen auf die Wunder der Wissenschaft, setzen auf den Luftschiffhandel und vertrauen der industriellen Revolution – trotz all ihrer finsteren Auswüchse –, um der Kälte zu trotzen.

Wo im Norden Gletscher Skandinavien unter sich begraben haben, ragen in Ægypten Pyramiden inmitten eines Blumenmeers auf. Über den Süden Afrikas sind in Europa nur Legenden bekannt, und die Existenz eines Erdteils westlich des Atlantiks ist nicht mehr als ein Gerücht.

Wenn Sie noch mehr Geschichten in unserer Welt erleben wollen, werfen Sie doch einen Blick in die bisherigen Veröffentlichungen zu dieser Welt:

Die zerbrochene Puppe (Roman)

Eis und Dampf (Kurzgeschichtenanthologie)

Eis & Dampf (Rollenspiel)

Die grüne Fee (Groschenheft)

Wir danken allen Beteiligten, die ihr Herzblut, sei es in Form von Kurzgeschichten, Abenteuern oder Illustrationen, in Eis & Dampf investiert und damit diese Welt mit Leben gefüllt haben. An dieser Stelle danken wir des Weiteren den Olivers, Kathrin und Patric dafür, dass sie erneut ein Projekt mit uns wagen, sowie den Testlesern André, Mia, Marc und Lydia.

Staunen Sie nun über die Vorstellung eines fliegenden Zirkus’ und entschlüsseln Sie eines der letzten Geheimnisse der bekannten Welt. Stellen Sie sich mit uns die Frage: Was wäre, wenn die Besuchten zu Besuchern würden? Manege frei!

– Judith und Christian Vogt

Dramatis Personae

Die Artisten des Circos:

Pablo Cervantes Diaz – Zirkusdirektor des Circo Apocalástico

Ferenc Badi – Artist auf dem Seil und am Trapez

Yue – chinesische Artistin auf dem Seil und am Trapez

Selma – bärtige Dame und Wahrsagerin

Herr Iko – venezianischer Magier und Herr der Blitze

Michel und seine beiden Schwestern – französische Artisten zu Pferde

Jeevan – indischer Mammutdompteur

Kesmir – Handlanger und Koch im Zirkus

Tigro – Selmas Sohn, Handlanger im Zirkus

Pedro – zwölfjähriger Luftschiffsjunge

Anquntu – angsteinflößende Messerwerferin

Gran Agosto – der stärkste Mann der Welt

Fernando – die lebende Kanonenkugel

Moritz Smið – der Badenser, schluckt und spuckt lebendes Kleingetier

Jorge – das wandelnde Ein-Mann-Orchester

Rana – das Mammut, Letztes seiner Art und Kostbarkeit des Circos

Die Männer aus Tawantinsuyu, genannt Tawamänner

Guaman – der Anführer der Tawamänner, genannt Worte

Uritu – genannt Schönzahn

Cuntur – genannt Meterhoch

Sechs weitere Tawamänner, darunter Froschauge und Katzenohr

Die Friesen

Tomke Haukesdottir – Kapitänin der Fryske Frijheid

Naðan von Erlenhofen – Tomkes Mann, Maler

Onnen – genannt der Fette Onnen, Æronaut

Bjarne, Đomas, Jonte – Æronauten an Bord der Frijheid

Tamme – Navigator der Frijheid

Imke – Kesselfrau der Frijheid

Hark – genannt der hagere Hark, Æronaut mit künstlichem Arm

zwei Dutzend weitere friesische Æronauten

Die Tsirokie

Maðilda – Entdeckerin Vinlands

Salal – Anführer des Jagdtrupps

und seine vierzehn Begleiter

Die Mexica

Tochtli – Wortführer der Mexica-Soldaten, genannt derGeneral

Pilli Cuauhtl – der Kazike (Verwalter) der Festungsstadt

Eloxochitl – der oberste Herrscher, Uei Tlatoani, der Mexica

Sonstige

Nikola Tesla – bedeutender Erfinder, seit sieben Jahren verschollen

Enrico Fermi – Elementarteilchenphysiker auf Abwegen

Mr Hayes – ænglischer Botschafter in Lissabon

Nashide – eine lybysche Kunstreiterin

Man hat den Vorschlag gemacht, dass wir jede Nervenzelle des Gehirns durch einen Siliziumchip ersetzen könnten, der alle dieselben Funktionen erfüllt. […] Dieser Zombie hätte nach Ansicht mancher auch Bewusstsein.

– Benjamin Libet

Prolog:

Das Glück ist eine untreue Gespielin

Wie glücklich fühlten sie sich, als sie ihr Schiff noch an Ort und Stelle vorfanden, in den Kavernen dieser Küste, am Ende einer Welt, die so viel größer ist, als sie es vermutet hatten?

Doch kaum hat das Glück ihnen diesen Gefallen erwiesen, verliert es das Interesse und wendet sich ab. Nein, mehr noch, es dreht sich noch einmal um und spuckt ihnen mit einem verächtlichen Lachen ins Gesicht.

Wie die Liaison mit dem Glück, so ist auch das Schiff in einer plötzlichen, heftigen, unwägbaren Flut an den Klippen zerschellt, bevor sie darin das offene Meer erreichen konnten. Informationen von größtem Staatsinteresse, die in die Heimat hätten gelangen sollen, sind mit den Seefahrern auf einem fremden Kontinent gestrandet.

Alle neun Männer – fünfzehn waren sie bei ihrer Ankunft gewesen, doch Krankheiten und Verletzungen hatten ihren Tribut gefordert – haben das Unglück überlebt und sich durchnässt und erschöpft an die Küste gerettet.

Wind, Sturm, Eis, Strömungen – sie vergällen die Schifffahrt hier an den Küsten Europas. Die neun Männer sammeln, verbergen und beraten sich. Weder Glück noch Schiff sind nun noch Teil der Expedition, und wenngleich sie Jahre der Beobachtung und der Studien hier verbracht haben, drängt die Zeit, und es muss von hier aus weitergehen!

Lärm reißt ihren Anführer aus seiner Lethargie. Wenig hat er retten können, aber die Waffen sind darunter, und die schwache Sommersonne hat sie am Tage getrocknet.

Nun ist es Nacht, und als er über die Kämme der Dünen späht, sieht er bunte Lichter und ein Zelt von irrwitzigen Ausmaßen. Er hat so etwas schon gesehen und weiß, dass dies kein Zelt ist, um darin zu nächtigen.

In den Dünen des Baskenlandes findet ein großes Spektakel statt – ein Zirkus ist dort gelandet. Der Krieger beobachtet. Er nimmt nicht nur das Zelt und kleine Gehege für Tiere zur Kenntnis – mit einer Gashülle, die das Ausmaß des Zelts noch einmal übertrifft, ist auch ein fliegendes Schiff mit zahlreichen Seilen gegen den Griff der wankelmütigen Winde am Boden vertäut, ebenso bunt gestreift wie das Zelt.

Der Krieger lächelt und kehrt zu seinen Begleitern zurück.

Lärm und Licht flackern hinter ihm zu neuer Kraft auf: Vielleicht der reumütige Kuss einer einstigen Geliebten?

Fahrtenbucheintrag [5. Juni 905 A. N.]

Am nördlichen Gletscher entlang. Wie angenommen ist das Wetter abscheulich. Stürme, Schnee … Vielleicht sterben wir auch einfach alle.

– T. H.

Apocalástico

Nummer: Manege frei

Damen und Herren, liebe Kinder! Willkommen! Ich sehe, ihr reibt euch ungläubig die Augen – doch traut ihnen ruhig. Was ihr hier seht, existiert nur hier, hier im Zirkus, und nur für euch! Erlebt waghalsige Akrobaten, schlangengleiche Mädchen, zersägte Jungfrauen, bärtige Damen, Zauberer und Hellseher, eine Messerwerferin, schwarz wie die Nacht – und erst die Tiere! Ein Mammut, das letzte seiner Art, aus den Weiten des Ewigen Eises des Zarenreichs! Der Mund wird euch offen stehen am heutigen Abend, und wenn ihr gefragt werdet, wie es euch gefallen hat, werdet ihr nur sagen können: Fantástico! Fabuloso! Apocalíptico! Denn ich, Damen und Herren, werte Kinder, bin Pablo Cervantes Diaz, und dies hier ist mein fliegender Zirkus, der Circo Apocalástico!“

Der geforderte Applaus folgte, noch ehe die letzte, langgezogene Silbe verklungen war – begeistert zwar, doch angesichts der Tatsache, dass die aufstrebenden Sitzreihen des hölzernen Gradins nicht einmal zur Hälfte gefüllt waren, wirkte er ein wenig schmalbrüstig. Nur ein paar baskische Bauernfamilien hatten ihren Weg hierher gefunden, und das, obwohl der Eintrittspreis wenig mehr als den sprichwörtlichen Apfel und das Ei betrug.

Pablo Cervantes Diaz war alles andere als schmalbrüstig, ein Mann mit breiten Schultern, über denen der ein wenig abgewetzte Stoff des schwarzen Fracks spannte. Schwarz waren auch seine Haare und der Schnauzbart. Seine Augen waren wie Kohlen, in die man nur einmal hineinpusten musste, damit sie aufglühten in der einzigen Leidenschaft, die dieser Mann kannte: der Leidenschaft für den Circo.

Die Stimmung, die von den bedauerlich wenigen Zuschauern in den Sattelgang im hinteren Teil des Zelts schwappte, war jedoch weit besser als in Gibraltar, als Diaz sich in seinem Patriotismus ein wenig verausgabt hatte (war die Stadt doch vor kurzem an die ænglische Krone verhökert worden).

Der Vorhang, durch den ich gelugt hatte, bewegte sich kaum, als Yue aus der Manege kommend hindurch- und an mir vorbeischlüpfte. Sie war der Grund, warum Männer, Frauen und Kinder sich schon bei Diaz’ Rede die Augen gerieben hatten. Zu Beginn seiner feurigen Ansprache kroch sie kopfüber von einem Seil herab, das von der Zeltspitze auf den Manegenboden hing, verdrillte und entwirrte sich dabei mehrmals und endete schließlich als menschlicher Knoten vor Diaz, dem sie mit ihren gelenkigen Füßchen Wein aus einer kleinen Flasche in ein Glas füllte, das er in der Linken hielt.

Mir wurde stets schwindlig von diesem Anblick. Noch schwindliger wurde mir höchstens davon, dass ich seit einigen Wochen ihr Partner auf dem Seil und am Trapez war. Als Mann stand ich im Schatten ihrer schillernden Erscheinung. Ich durfte mit ihr auf dem Hochseil tanzen, sie heben, herumwirbeln und am Trapez auffangen. Während der Nummern strahlte sie; das Lächeln lag auf ihrem herzförmigen Gesichtchen wie der Ausdruck einer Puppe – doch es galt nicht mir. Sie lächelte, wenn sie sich wie ein Kleidungsstück um meinen Leib wickelte und nur mit ihren Knöcheln an meinem Hals festhielt. Sie lächelte, wenn ich am Trapez ihre schmalen Handgelenke fasste, doch nun schlich sie durch den Sand auf ihre Position, und ich war Luft für sie.

Ich seufzte.

Dass mir ihr Lächeln so viel bedeutete, war höchst unprofessionell. Diaz verbat sich Liebeleien unter seinen Artisten, und ich wusste aus Erfahrung, dass er recht damit hatte. Schlimmer war eigentlich nur eine Liebschaft zwischen Artisten zweier konkurrierender Schausteller, wenn wir beispielsweise annehmen würden, im zweigeteilten Budapest würde sich ein junger Roma vom Badi-Clan in eine lybysche Kunstreiterin verlieben und damit die Ehre seines Zirkus’ in den Schmutz … Ach, lassen wir das. So romantisch, wie es sich anhört, war es gar nicht.

Yue schlüpfte hinter ihre spanische Wand, und jeder im Sattelgang wusste, dass sie sich dort den schwarzen Hauch von Nichts auszog, um ihn durch einen schuppig-buntschillernden Hauch desselben zu ersetzen. Ihre bloßen Füße, die unter der spanischen Wand zu sehen waren, hinterließen kaum eine Spur auf dem Sand. Ich schluckte.

Ein Ellbogen bohrte sich in meine Rippen.

„Du starrst, Schätzchen“, murmelte Selma durch ihren buschigen schwarzen Bart. Ich wandte rasch die Augen von den Füßchen ab, die sehr bald wieder um meinen Hals liegen würden … Grundgütiger, wer hätte da nicht gestarrt!

Herr Iko jedenfalls, so stellte ich fest, als ich meinen Blick zwang, sich zu lösen und über meine erwartungsvollen Mit-Artisten zu schweifen, starrte ebenfalls, und das, obwohl seine Apparate regelmäßig während der Vorstellung fehlzündeten und Diaz ihm eingeschärft hatte, jede freie Minute darauf zu verwenden, sie zu überprüfen. Herrn Ikos Lippen bewegten sich, und ich wollte gar nicht wissen, was er vor sich hin flüsterte. Der schmale Mann, dessen dunkler Anzug einige Brandflecke aufwies, wirkte mit seinem feinen, geölten Schnurrbart und akkuratem Haupthaar wie ein ænglischer Gentleman. Sein Gebaren glich jedoch eher dem eines vergeistigten Professors, weswegen mich der plötzliche Blick, den er in Yues Richtung warf, umso mehr verstörte; wer konnte schon sagen, welche Art von Hunger ein solcher Mann hegte?

Da preschten die Pferde zwischen Iko und seinen auf Rollgestellen montierten Apparaturen durch den Sattelgang. Der Vorhang öffnete sich, um sie hinaus ins Rund zu lassen, die Zuschauer klatschten, einige warfen gar ihre Mützen hoch und fingen sie wieder auf, und Diaz schrie mit seinem wirklich erstaunlichen Organ über die trampelnden Hufe und das feurige Wiehern hinweg. Die Mütze eines kleinen Jungen landete aus Versehen im Sand der Manege.

„Aus der asiatischen Steppe – mongolische Hengste!“, brüllte Diaz, verbeugte sich mit aller Ausführlichkeit (er vergaß nicht einmal den Wirbel mit dem rechten kleinen Finger), während die drei französischen Artisten unter Führung von Michel auf den schwarzen Tieren hin und her turnten. Sie trugen Felle, Pelzmützen und wenig mehr als Lendenschurze – bei Michels Schwestern bedeckte zudem ein Fellstreifen die Brust. Ihre Haut war gelblich bemalt, und Kohlstift hatte ihre Augen zu Schlitzen verlängert. Eine wilde Horde … Froschfresser. Ich musste stets grinsen, wenn ich den arroganten Michel mit seinen nicht weniger arroganten, aber sehr viel ansehnlicheren Schwestern sah, doch das Publikum staunte.

Yue, die einzige Asiatin an Bord des Circo Apocalástico, weigerte sich, auf Pferden zu turnen. Sie sei nicht gut mit Lebewesen, sagte sie – und ich war froh, dass sie für mich eine Ausnahme machte.

Die trampelnden Hufe der Rappen erfüllten das Zelt mit Donnern, die Zuschauer ließen gefällige Ahs und Ohs hören, und Yue trat in ihrem glitzernden Schuppenanzug hinter der spanischen Wand hervor. Sie sah zu mir herüber und nickte – mehr nicht, es war eine Bestandsaufnahme, dass sich ein Utensil, das sie für ihren Auftritt benötigte, an Ort und Stelle befand. Herr Iko fummelte wieder an seinen Apparaturen herum. Beiläufige Worte mit dem seltsamen Kerl zu wechseln war müßig, er schien selten in der Stimmung, über Alltägliches zu sprechen – von daher umgab ihn stets eine Insel der Stille, die er nur selbst unterbrach, um Dinge mitzuteilen, die keiner von uns verstand. Meist hatten sie mehr mit Zahlen zu tun, als mir lieb war, denn ich habe nie viel rechnen müssen in meinem Leben.

Durch den Lärm im Rund des Zirkuszelts wäre mir beinahe entgangen, dass einige Meter hinter mir etwas Großes mit metallischem Klirren zu Boden fiel – dort, wo die Artisten sich schminkten, wo Jeevan, der Dompteur, das Mammut beruhigte, wo alle Nerven blanklagen. Herr Iko fuhr herum, und eher das als das Geräusch selbst erregte meine Aufmerksamkeit. Ich folgte Ikos Blick: Tigro und Kesmir hatten auf einem wackligen Schminktisch an dem bronzenen Maschinenteil herumgefuhrwerkt und es fallen gelassen.

Die zwei waren mit Pedro, unserem menschlichen Äffchen, die einzigen aus der Truppe, die nicht in der Manege auftraten – und natürlich machten sie sich anderweitig unentbehrlich: Nur Tigro wusste, wie das Zelt sich am schnellsten und ungefährlichsten errichten ließ, außerdem reparierte er das Luftschiff, das ständig Ausbesserungen benötigte. Kesmir verstand Ikos Anweisungen, wenn es darum ging, die Bogenlampen der Lichtanlage auszutauschen, und bekochte uns. Pedro fütterte die Tiere, außerdem hatte er die Kontrolle darüber, wann es welche Seile wie zu spannen, zu schwingen und zu straffen galt. Ohne den kleinen Burschen, der wie ein Affe im Gestänge des Zirkuszelts herumkletterte, wäre ich längst tollkühn verstorben, mit Manegensand im Mund.

Tigro war ein freundlicher Kerl, der Sohn der bärtigen Dame Selma, doch beide ließen sich diese Verwandtschaft nicht anmerken – nicht einmal einen Bart trug Tigro. Sein linkes Bein war kürzer als das rechte, und ein seltsames Schweigen war eingetreten, als ich an meinem ersten Tag im Circo gefragt hatte, warum er nicht als Dummer August arbeite.

„Hier gibt es keinen Dummen August“, hatte Tigro schließlich gesagt. Kesmir war Türke, doch er war trotz seines gewaltigen geölten Barts nicht als säbelschwingender Exot oder gar osmanischer Messerwerfer geeignet – er war rundlich, friedfertig und gemütlich, ohne jegliche Befähigung zum Drama und bereitete uns jeden Dienstag ein phantastisches Soufflé zu. Die beiden beschäftigten sich in den vergangenen zwei Tagen fieberhaft mit den rätselhaften Bronzeteilen, die wir am felsigen Gestade des Atlantiks gefunden hatten.

Altertümlich hatten die Trümmer ausgesehen und trotzdem wie die Teile einer Maschine. Auch eine metallene Verschalung war uns am Strand in die Hände gefallen, angespült von den peitschenden Wellen des ungezähmten Ozeans. Muster waren darauf geprägt, vielleicht ins Metall getrieben. Augen starrten uns entgegen, aufgerissene Münder, Gesichter gekrönt von Tierschädeln … Was hatten wir da gefunden? War es alt, wie die Ruinen des mystischen Trojas, von dessen Entdeckung vor kurzem jedermann gesprochen hatte? Alt wie die Schätze in den Pyramiden Ægyptens? Vielleicht entstammten die Trümmer gar Ruinen aus den Tiefen des Ozeans, von Meermenschen oder Atlantern? Herr Iko hatte nur den Kopf geschüttelt und uns gefragt, wie wir glaubten, dass man Bronze unter der Meeresoberfläche herstelle, und zudem sei das Metall nicht älter als einige Jahre. Wie er so etwas wissen konnte, hatte ich mich gefragt, jedoch nicht gewagt, ihn zu fragen. Vielleicht waren die geheimnisvollen Trümmer auch vom grünen afrikanischen Kontinent zu uns gekommen? Doch auch Anquntu, die verrückte Messerwerferin der Truppe – ein schwarzes Weib mit erschreckend spitzen weißen Zähnen, das gern irr mit den Augen rollte, was uns in unsere Träume verfolgte – erkannte die Bilder darauf nicht.

Es war auch mein Verdienst gewesen, dass wir die fremdartigen Überreste gefunden hatten: Das Luftschiff hatte unweit der Küste festgemacht – trotz der wild tobenden Winde nah am Ozean, was weder für das Luftschiff Apocalástica noch für das gleichnamige Zirkuszelt Gutes verhieß. Doch keiner der Bauern hatte uns eine ebene Fläche zur Verfügung stellen können. Zu dieser Jahreszeit stand alles, was sie vor dem viel zu kurzen Sommer ausgesät hatten, bereits hoch, und so hatte man uns genötigt, in den Dünen unser Habitat aufzubauen. Immerhin würde der nächste Halt in Santander sein, und das hörte sich nach einer richtigen Großstadt an. Wir waren hier an der Küste der kantabrischen See nicht der vollen Wucht des Atlantiks ausgesetzt, der Golf von Biskaya nahm dem Ozean ein wenig die Kraft. Trotzdem war es ein raues Land, schon zu weit nördlich, um von der Kälte verschont zu werden, und die letzten Hagelschauer des Junis machten uns schwer zu schaffen beim Aufbau des Zelts.

Kesmir hatte unseren Speiseplan, der immer weniger abwechslungsreich geworden war, je weiter wir uns von den großen Städten des Südens – Gibraltar, Sevilla, Madrid – entfernt hatten, durch Fisch aufbessern wollen und gefragt, wer von uns sich nicht vor dem Wasser scheue. Ich war der Neugierde halber mitgekommen – wusste ich, ob ich mich vor dem eisigen Atlantik scheute, wenn ich nie zuvor an seinem Ufer fischen gewesen war?

Doch statt Meeresgetier waren Trümmerstücke in unseren billig geflickten Netzen hängengeblieben. Rätselhafte Trümmerstücke, und die Fratzen darauf und die seltsame Mechanik darin bereiteten niemandem von uns ein gutes Gefühl.

Die bärtige Selma fluchte zischelnd in Richtung der Unruhestifter, was ich nur hörte, weil ich unmittelbar neben ihr stand. Mit hochgezogenen Schultern hoben die beiden das Metallgestell wieder auf und legten es vorsichtig im beharrlich unter den Planen hereinwehenden Dünensand ab. Tigro zwinkerte mir zu, und ich grinste – keiner der Zuschauer würde Lärm hinter der Bühne bemerken, dazu war das gerade stattfindende Schauspiel zu laut. Jorges Musik peitschte die Pferde auf, flirrend bewegten sich Schatten vor dem schweren Vorhang. Der Zauber der Manege.

Ich hob die Schultern, und Tigro wich ein wenig vor dem bronzenen Trümmerstück zurück. Ein anderer Zauber jagte mir einen Schauer über den Rücken, aber keinen von der guten Sorte. Im Zirkus war man abergläubisch.

Hatte ich nicht bei Pablo Cervantes Diaz angeheuert, nachdem die bärtige Selma in den Karten gelesen hatte, mein Schicksal sei es zu fliegen? Fliegen – am Trapez oder mit dem Luftschiff des Zirkus, das war mir egal. Ich hatte ihr gern geglaubt, das Fliegen sei dem Betteln vorzuziehen.

Ich hatte den Badi-Clan mit dem Vorsatz „Nie wieder Zirkus“ verlassen, den ich rasch hatte verwerfen müssen, denn nur Leute wie Diaz rissen sich um Roma wie mich. Ich wusste nicht, welche Besonderheit ich hatte, dass man mich in jeder Stadt sofort „Zigeuner“ genannt hatte. Manche hatten gesagt, das erkenne man an der Nase – und mir die Tür vor selbiger zugeschlagen. Wie alle Fahrenden hatte ich einen durch und durch bürgerlichen Namen – Ferenc Badi –, und trotzdem half es auch nichts, mich in Francesco Badi umzubenennen. Zigeuner war eben Zigeuner, und offenbar taugte man als solcher nur für Jahrmarkt und Zirkus.

Nun war ich jahrelang mit dem berühmten Badi-Zirkus herumgezogen, einer, wenn man den Leuten glauben mochte, kinderstehlenden Bande von Flohdompteuren und Mäusemelkern. Es gab nur eine Sache, die schlimmer war als das Zirkusleben, soviel wusste ich, und das war der Jahrmarkt.

Zirkus also, hatte ich gedacht, als Diaz nach neuen Artisten suchte, und gleichzeitig mit mir war noch eine ganze Handvoll weiterer Akrobaten, Helfer und Schaukämpfer zu Diaz’ Truppe gestoßen.

Alteingesessene wie die bärtige Selma, das Wiesel Fernando – der sich aus dem Kanonenrohr abschießen ließ – und Gran Agosto – der stärkste Mann der … nun, vermutlich zumindest der baskischen Dünenlandschaft – sahen immer noch ein wenig auf uns Neuankömmlinge herab. Den verwirrten Herrn Iko, der immerhin bereits seit dem Aufenthalt in Venedig mit an Bord war, schienen sie allerdings trotz seiner Marotten schon als Stammmitglied in die Arme geschlossen zu haben.

Meine wenig edle und doch vielversprechende Abstammung von den berühmten Badi, die bereits Jahrhunderte zuvor indische Maharadschas begeistert hatten, brachte jedoch immerhin Tigro und Selma dazu, mir bereits mehr Sympathie entgegenzubringen als dem arroganten französischen Akrobaten Michel und seinen beiden Schwestern. Diese kamen soeben mit fliegenden Haaren und Mähnen wieder hinter die Bühne geprescht, die Musik verharrte auf einer schrillen Note und flaute dann ab – durch den Lärm in der Manege hatte ich das Akkordeon, die Tröten und Trommeln unseres Einmann-Orchesters Jorge kaum noch gehört.

Michel sprang aus dem Sattel und warf mir die Zügel zu.

„Abreiben“, befahl er in seinem schrägen Spanisch, und ich lächelte schmal und antwortete: „Ich bin selbst gleich dran.“

Er zuckte nur die Achseln, warf je einen Arm um seine Schwestern und drückte ihnen Küsse auf die Wangen. Er pries sich und sie auf Französisch und schritt mit ihnen hinter die Trennwände.

„Trou de cul“, sagte ich, und der Rappe schnaubte mir weißen Speichelschaum entgegen. Tigro nahm mir die Zügel aus der Hand. Er schmunzelte.

„Ich mache das“, sagte er, als hätte ich auch nur überlegt, die Arbeit zu übernehmen – dazu war ich im Moment gar nicht in der Lage. Nicht nur meine Abneigung gegenüber dem Franzmann, sondern auch das Lampenfieber, an das ich mich nie würde gewöhnen können, hielt mich an Ort und Stelle, und meine Knie zitterten.

Yue wandte sich vom an den Rändern bereits erblindenden Spiegel auf dem größeren der beiden Schminktische zu mir um. Die Frauen halfen sich für gewöhnlich gegenseitig mit den Frisuren und der Schminke, doch auch dabei blieb Yue lieber für sich. Sie hatte sich Arme und Hals mit breiten, perlmuttschimmernden Schuppen beklebt. Ihr Anzug war auch dicht mit Schuppen bestickt, und ihr Haar, zu einem festen Knoten gebunden, glänzte, als sei sie gerade aus dem Wasser getaucht. Ihre Mandelaugen lagen feurig unter der abenteuerlich-grünen Farbe auf ihren Lidern, auf ihrem kleinen Mund bildete der Lippenstift ein rotes Herz. Ich starrte sie an, und sie trat Schritt für Schritt näher, bis sie direkt vor mir stand. Sie lächelte nicht.

„Bist du soweit?“

„Wann … wann sind wir dran?“

„Kesmir montiert in der Spitze das Seil um. Lass uns hochgehen.“

Ich versuchte, von einem Fuß auf den anderen zu treten, doch selbst dazu war ich zu gelähmt.

„Ich … kann nicht.“

Sie verzog den herzförmigen Mund. Ihr Blick war kalt.

„Schon wieder? Das Gleiche hast du in Gibraltar behauptet. In Madrid auch, und dabei sagst du, du machst das schon dein ganzes Leben lang.“

„Ja, und denk dir nur: Dabei geht es mir immer so“, gab ich zu.

Einer ihrer Mundwinkel hob sich.

„Ferenc“, seufzte sie. Wir sprachen Spanisch. Es war nicht unsere Muttersprache, aber die des Zirkus’. Yue besaß einen größeren Wortschatz, sprach aber mit ausgeprägterem, wenn auch lieblichem Akzent. Meinen Namen betonte sie auf eine Weise, die mir einen wohligen Schauer über den Rücken sandte. „Wehe, du lässt mich hängen“, fuhr sie erbarmungslos fort.

„Hängen lassen soll er dich, Schätzchen“, warf Selma ein und gab mir einen Klaps auf die Schulter. „Fallenlassen wäre schlecht.“

Von oben sah das Mammut noch kleiner aus. Ich fand ohnehin, dass es eine eher bescheidene Größe besaß, doch bei dem Letzten seiner Art durfte man nicht wählerisch sein. Besonders die Kinder waren begeistert, und der Dompteur Jeevan führte sein Tier nah an die Sitzränge heran, so dass die Mutigen das zottige, braune Fell berühren konnten.

Das Lampenfieber war noch da, doch immerhin litt ich nicht unter Hypsiphobie. Ich weiß, es klingt seltsam, dass Akrobaten, die in der Luft auf Trapezen schwangen oder ohne Netz und doppelten Boden über Seile liefen, an Höhenangst leiden konnten, doch es war durchaus nicht selten. Wahrer Mut entwickelte sich eben erst durch das Überwinden der Ängste – und da ich keine Angst vor Höhe (oder vielmehr Tiefe) hatte, konnte ich auch keinen Mut in mir finden und stand zaghaft auf der Plattform, mit Füßen wie Eisklumpen. Erneut schenkte Yue mir diesen verständnislosen Blick.

„Ich habe schon für die chinesische Kaiserin auf dem Seil getanzt“, hatte sie in Gibraltar gesagt, und ich musste kein Chinesisch verstehen, um zu wissen, was unausgesprochen mitschwang: „Du wärst nicht gut genug dafür.“

Ich straffte mich. Verfluchtes Lampenfieber.

Eine Gestalt sah vom Fuß der Leiter, die in den Sattelgang führte, zu uns herauf. Sie pfiff leise, doch wir hörten den Laut trotz des Jubels der Kinder.

„Kesmir, komm her!“, rief Tigro leise. „Ich muss zum Luftschiff rüber, da ist Licht! Da macht sich jemand zu schaffen!“

„Was soll das heißen?“, zischte Kesmir übellaunig. Er schnallte gerade das Sicherheitsseil an meinem Gürtel fest. Es würde mich am Trapez festhalten – Yue dagegen sicherten nur meine eigenen Hände und Arme. Ich schluckte bei den sich ständig wiederholenden Gedanken. Fallenlassen wäre schlecht …

Kesmir zog heftig am Sicherheitsseil. Ich zwang mich zu einem Grinsen.

„Hält“, sagte ich.

Er nickte. „Ich komme“, teilte er Tigro mit, und der verschwand aus meinem Blickfeld.

„Hals- und Beinbruch!“, wünschte der Osmane und ließ uns auf der Plattform allein. Ich sah Yue an. Hier war es dunkel, alle Scheinwerfer, deren Glühlampen Herr Iko so hervorragend durch einen Generator mit elektrischem Strom versorgte, waren auf das Mammut gerichtet.

Yue sah gleichsam durch die Wand des Zirkuszelts hindurch und schloss kurz die Augen. Sie ließ die Schultern kreisen, dabei raschelte der Stoff.

Dann verließ das Mammut die Manege, Jorges schrille Zirkusmusik brandete wieder auf, die Zuschauer klatschten – und die Scheinwerfer suchten sich am bunten Zeltstoff entlang in Schlangenlinien zu uns hinauf, gelenkt von Moritz Smið, dem menschlichen Aquarium aus Baden, denn jeder von uns musste vor und nach den eigenen Auftritten noch Handgriffe erledigen, um die anderen in Szene zu setzen.

Das Publikum atmete hörbar ein, als es uns auf der kleinen metallenen Plattform sah. Yue hob die Arme, die Bewegung ihrer Schuppen fing das Licht – und dann tauchte sie in die Luft, als würde sie von Wasser aufgefangen.

Unter ihr, dort, wo eigentlich ein Netz hätte hängen sollen, um ihren tollkühnen Sturz zu bremsen, starrten dämmrig erleuchtete Gesichter mit offenen Mündern zu uns herauf. Jeder andere Zirkus hätte ein Netz gespannt.

Aber dies hier war der Circo Apocalástico – ich seufzte weniger als einen Wimpernschlag lang, und auf der im Schatten verborgenen Plattform oberhalb des Vorzelts entließ Pedro das zweite Trapez pünktlich auf seine Schwungbahn.

Die erste Dame kreischte auf. Ein Kind schrie und sprang von seinem Sitz, den Finger erhoben, während Yue fiel, den Rücken durchgebogen wie eine Turmspringerin – als wären die Zuschauer des linken Flügels das Wasser … Donnerhall durchdrang das Zelt, als Jorge, der siebzehn Instrumente gleichzeitig spielte, Yues Sturz mit der Dampforgel in Szene setzte. Das Trapez und Yue trafen einander in der Luft. Sie packte es und vollzog sogleich eine irgendwie unmöglich aussehende Drehung über der Stange – mein Zeichen. Ich biss die Zähne zusammen, nahm den einen möglichen Schritt Anlauf auf der kleinen Plattform – und tauchte ihr mit meinem Trapez hinterher.

Unter mir verzerrten sich die Gesichter, die Stimmen, das Licht und die Geräusche. Kaum hatten meine und Yues Bahn sich gekreuzt, packte sie meine Beine, schlang ihre Arme um meine Unterschenkel und verließ ihr eigenes Trapez, das Pedro am Seil zu sich zurückzog.

Wenn Yue mit mir durch die Luft flog, war ich im Prinzip Inventar. Sie kroch an mir hoch, ließ sich kopfüber von meinen Füßen baumeln, sie griff mit ihren kleinen Händen bei ihren unmöglichen Bewegungen überall hin, und ich ließ mich nur in den richtigen Abständen mal mit Kniekehlen, mal mit den Armen vom Trapez baumeln oder gab uns Schwung.

Ich war schon auch ganz gut darin. Aber kein Mensch wollte einem drahtigen kleinen Zigeuner zusehen, wenn er auch einer schlangengleichen bildhübschen Chinesin zusehen konnte, die glitzerte und sich wand wie ein Fisch im Wasser. Mein Anzug war dunkel, ein Schemen nur, den der umherirrende Scheinwerfer ab und an erfasste. Die Zuschauer riefen „Ah!“ und „Oh!“, als das Trapez tiefer sackte, nun in weiterem Bogen pendelte, und Yues stoßweiser Atem fast die schwarzen Haare der baskischen Bauern unter ihr traf. Ich hielt sie, sie stemmte sich herauf und schmiegte sich an mich, kopfüber Rücken an Rücken, und ich spürte, wie ihr Brustkorb sich hob und senkte.

Nun wurde der erste Applaus laut – die Menschen machten ihrer Begeisterung Luft, obwohl in meinem Kopf alles nur in Schlieren hin und her ging, hin und her … Dazu der einzige Gedanke: Fallenlassen wäre schlecht!

Doch ich war Ferenc aus der Familie der Badi, und ich wäre sicherlich nicht im Circo des Señor Diaz gewesen, wenn ich jemals jemanden fallengelassen hätte, ohne dass es Teil der Nummer gewesen wäre!

Apropos Teil der Nummer: Pedro warf nun wieder das Trapez – Gottlob, wir waren noch auf Linie, und Pedro verstand sich auf den Takt unserer Nummer und den Schwung unseres menschlichen Pendels, und so öffnete ich meine Finger, als wir am höchsten Punkt waren, und unter dem Geschrei der Zuschauer stürzte Yue erneut in die Tiefe.

Außerdem brannte das Vorzelt.

Auch dies war ein guter Grund für das doch mittlerweile unverhältnismäßige Geschrei. Yue jedoch fiel – ihr Körper drehte sich zusammengezogen, streckte sich dann impulsiv, als auch sie das züngelnde Feuer wahrnahm, sie verfehlte das Trapez um nur eine Handbreit – und fasste dann, bevor ich mich in der Hoffnung, sie zu retten, in die Tiefe stürzen konnte, mit der Linken nach ihrem eigenen Trapez. Daran rauschte sie mitten in die Flammen, die zwar noch nicht heiß brannten, aber schon freudig am Zeltstoff emporleckten. Ich schrie auf, doch mein Trapez schwang quer zum Vorzelt, und ich konnte nichts dagegen unternehmen, dass der hervorquellende Rauch die Blume des Fernen Ostens verschlang. Ich starrte nur wenige Sekunden, während Jorges Musik auf einer gequälten Note abbrach und alle durcheinanderschrien. Es gab nicht einmal Applaus, als Yue mitsamt ihrem Trapez wieder aus dem Qualm herausbrach wie ein Phönix aus der Asche. Ich konnte nicht behaupten, dass irgendetwas an ihr rauchte oder Feuer gefangen hatte, doch ihr Trapez trudelte ebenso wie meines, und ich war mir gar nicht mehr so sicher, dass wir heil von hier oben herabkommen würden. Würde sich bei einem Zeltbrand denn noch jemand finden, der uns sanft auf den Manegenboden hinablassen würde?

Yue presste den Mund zu einem schmalen Strich zusammen, entschlossen stellte sie sich auf der Querstange des Trapezes auf, tat einen Sprung auf mich zu, um nicht erneut in die Flammen zurückgetragen zu werden – und erneut schrien meine Gedanken mich an, sie nicht hängen zu lassen.

Ich bekam sie zu fassen; nur ihre und meine Hände, keine akrobatischen Wunder, doch wer hätte schon urteilen mögen in dieser Minute, in der die Panik auch den Letzten vom Sitz aufscheuchte und sich das ganze Kapital des Señor Pablo Cervantes Diaz in Rauch aufzulösen begann?

Wir arbeiteten beide daran, dem Trapez Schwung zu nehmen. Es pendelte an seiner niedrigsten Stelle, schwang dadurch jedoch auch ungeheuer schnell über der Mitte – und nur über dieser Mitte, dem Sand der Manege, konnten wir es wagen, abzuspringen.

Zusammen ließen wir uns am Trapez herunter und baumelten nun nebeneinander an der Stange. Der Manegenboden raste heran, und doch würden wir nicht tiefer als drei Meter daran herankommen und uns vermutlich beim Sprung die Beine brechen.

„Ferenc“, brüllte sie. „Jetzt!“

Wir ließen los. Mit einem Knall lösten sich Seile über uns, und die Zeltspitze folgte unserem Beispiel und sauste in die Mitte der Manege herab. Bogenlampen knallten, das Licht flackerte ungnädig und erlosch. Das Geschrei rauschte in unseren Ohren.

Dann kam der Aufprall.

Fahrtenbucheintrag [7. Juni 905 A. N.]

Heute erreichten wir Island, den ersten Meilenstein der Expedition. Dieses Land Eisland zu nennen! Das kann nur jemandem vor der Langen Nacht eingefallen sein, denn welches Land der nördlichen Hemisphäre könnte man nun nicht Island nennen? Wenn man mich fragen würde: Ich schlage Rauchland vor. Waren es nicht genau diese Vulkane unter uns, die vor fast tausend Jahren dafür gesorgt haben, dass die Lange Nacht über die Welt hereinbrach? Es hat etwas, diese Übeltäter einmal von Nahem zu sehen!

Ich zähle vier schwarze Säulen, die bis zum Himmel ragen; aus den Vulkanen, deren Gipfel die Eispanzer der Gletscher durchbrechen. Die Insel scheint nicht völlig Teil unserer Welt zu sein – fremd, unwirklich. Ein Schleier aus Dunst verschlingt die Sonne, und ein schwefliger Geruch beißt in der Nase. Kaum ein Mensch bekommt dieses Schauspiel zu Gesicht, doch stehen wir erst am Anfang unserer Reise. Kurs Nord-West. Sturmwolken am Horizont.

– T. H.

Unerfreulicher Besuch

Nummer: Die menschliche Fackel

Staub und Sand sind alles, was die Manege dir geben kann – und natürlich Applaus, frenetischen Jubel und Hochrufe. Wenn aber das Publikum gerade unter den Schreien „Feuer, Feuer!“ aus dem Zelt flüchtet, dann gibt sie dir nur Staub und Sand, riecht nach Pferden und in diesem Fall sogar nach Mammutmist.

Ich hustete. Etwas Schweres lag auf mir, und ich spürte noch den Nachhall. Etwas Wuchtiges hatte sich höchstens zehn Zentimeter neben meinem Kopf in den Boden gerammt – ein Balken oder vielleicht sogar einer der wenigen Eisenträger, die das Zirkuszelt hielten. Der Zeltstoff hatte sich auf mich gesenkt und mich mit etwas, das sich anfühlte, als hätte eine mannshohe Hand mir eine Ohrfeige verpasst, in eine kurze Ohnmacht befördert.

Yue bewegte sich teils neben, teils auf mir. Schlangengleich glitten ihre Gliedmaßen wieder an die Stelle, an die sie gehörten, während ich mir vorkam, als sei ich in hundert Teile zerbrochen. Mein Schädel dröhnte.

„Ferenc“, keuchte sie außer Atem. Ich sah sie nicht, dunkel lag der Zeltstoff auf uns – und nun roch ich noch etwas anderes als Pferde: das Feuer, den Rauch an ihr, in ihrem Kostüm, ihrem Haar, das sich aus dem Knoten gelöst hatte und dessen Strähnen ich an meinem schweißnassen Hals spürte.

„Hoch mit dir! Schnell!“ Sie stemmte sich gegen das dicke, imprägnierte Leinen. Nach wie vor war ich darunter blind, doch nun zeichnete der Schein von Feuer seine irren Schemen gegen den Stoff. Etwas trampelte ganz in der Nähe – ich betete, dass es nicht das Mammut war.

„Was?“

Yue zerrte an mir, und ich stemmte mich erst auf die Knie, dann auf die Füße. „Wie … wie kann das … Ikos verdammte Lampen …?“

„Nein … da waren Männer, als ich durch die Flammen schwang! Komm, Ferenc, da ist ein Riss in der Plane!“

Ohne Widerstand zuzulassen arbeitete sie sich vor. Da tat sich eine Öffnung auf, drohend flackerten die orangen Flammen auf der anderen Seite.

Wenn tatsächlich jemand absichtlich den Circo niederbrannte – Soldaten? Hatten nun doch die Ængländer Spanien den Krieg erklärt? –, dann war es nicht die schlechteste Idee, einfach unter der Plane zu bleiben und zu beten, dass der Stoff direkt über uns kein Feuer fing. Dass man uns übersehen, vergessen würde.

Ich war niemals beim Militär gewesen. Wo ich herkam, auf dem Balkan, führte man gerade ein Scharmützel nach dem anderen, und alle jungen Burschen waren verpflichtet, sich dort für Venedig gegen die Osmanen zu stellen.

Aber ich war Roma, und wir Roma ließen Hähne und Hunde an unserer Stelle kämpfen – und Venezianer.

Der Zirkus war niemals lang genug an einem Ort, um herauszufinden, wofür genau es sich zu kämpfen lohnte. Den Zirkus ließ jeder ziehen – der Osmane, der Venezianer, der Habsburger.

Außer, wenn der Angriff den Zirkus traf. Dann wünschte man sich zum ersten Mal, man hätte im Balkan schon ein paar Osmanen erschossen und Ahnung von solchen Dingen.

Pablo Cervantes Diaz hatte Ahnung. Ich wusste damals noch nicht, ob er wirklich im Krieg gewesen war oder ob er einfach nur eine eindrucksvolle Stimme, genug Autorität und ein gerüttelt Maß Phantasie sein Eigen nannte – doch sein Befehl durchdrang Panik, Schreie und das Gebrüll der Flammen.

„Apocalástico! Zu mir!“, schrie er mit seinem Bass, und sofort war klar, wo die Feindeslinie verlief. Yue stolperte, und diesmal zog ich sie aus dem Gewirr von abgestürzten Seilen und Tuch. Wir änderten die Laufrichtung. Die Angst hatte uns Herdentiere dorthin führen wollen, wo die Zuschauer schreiend von den ramponierten Rängen stolperten. Jemand – Eindringling oder Ausbrecher? – hatte einen großen Riss in die Wände geschnitten, und dort stolperten sie nun hinaus, während hinter ihnen die so empfindlichen Glühlampen in Glassplitter explodierten und die Leitungen mit sattem Gestank verschmorten.

Für uns jedoch – für uns war der Zirkusdirektor zum General geworden, und der Akrobat zum Soldaten.

„Apocalástico!“, herrschte er uns dem Rauch und Krach zum Trotz wieder an. Wir sammelten uns am Sattelgang zum Appell.

Ich sah mich um – trotz des Feuers herrschte Finsternis im Sattelgang. Das Reißen der Seile und der Sturz der Zirkusspitze hatten auch hier die Planen in Mitleidenschaft gezogen, doch noch stak der hintere Teil des Zeltdaches auf Verstrebungen, und die Planen vermittelten uns die Illusion, wir stünden mit dem Rücken zur Wand.

Ich sah Michel und seine Schwestern, alle drei mit den stumpfen Krummsäbeln bewaffnet, die sie als Mongolen getragen hatten. Selma umklammerte eine Axt, ihr rechter Arm zitterte. Gran Agosto, wie stets während der Vorstellung mit einem rotgestreiften Unterhemd bekleidet, das sein Muskelspiel zur Schau stellte, hatte sich mit einer seiner Hantelstangen bewaffnet. Herr Iko hielt ein Gerät oder einen Teil eines solchen in Händen, das ab und an einen blauen Blitz spuckte, und er gab jedes Mal ein hektisches Zucken von sich, wenn es das tat. Die schwarze Anquntu hätte ich in der Dunkelheit fast übersehen, hätten die zwei kleinen Messer zwischen ihren Zähnen und weitere zwischen ihren Fingern nicht das Licht der Blitze gespiegelt.

Pablo Cervantes Diaz hielt seinen Degen vor sich, blankgezogen, die Klinge matt, so dass sie nichts spiegelte und doch alles einfing. Sein Schnurrbart wirkte buschiger als zuvor, als hätte er sich die geölte Gesichtszier gerauft. Wie ein kriegslustiges Walross starrte er uns entgegen.

„Ferenc, Yue! Ihr lebt!“, grollte er, als sei es eine Drohung. „Hinter mich, Kinder, und nehmt euch eine Waffe!“

In diesem Moment jedoch hörten wir Tigros Schrei.

Selma wiederholte ihn mit nur einer Sekunde Verspätung direkt neben meinem Ohr.

„Sie haben meinen Jungen!“

„Still!“, befahl Diaz, und wir gehorchten alle.

Während wir stillstanden und starrten, schälten sich die Silhouetten aus den Flammen. Sie gingen sehr aufrecht, fast ungeniert, zwanglos – wie Dämonen auf dem Weg zur täglichen Seelenernte. Um sie züngelten die Flammen, am Boden zu ihren Füßen schienen mitten in Staub und Sand neue Brandherde zu entstehen.

Sie trugen klobige Waffen, aus denen Feuerzungen leckten – mehr konnte ich nicht erkennen. Zwischen ihnen zappelten zwei Männer, gepackt an den Armen, die ihnen offenbar auf den Rücken gebunden waren, und schrien panisch inmitten des sie umgebenden Feuers.

„Kesmir und Tigro“, brummte Diaz, die Brauen zusammengekniffen. Selma schluchzte auf. Der Rauch biss uns in den Augen. Herr Iko flüsterte: „Es sind neun. Neun Dämonen …“

„Was wollt ihr von uns?“, schrie Diaz. „Lasst meine beiden Männer frei!“

Ich erwartete ein Hohnlachen von diesen Kreaturen des Teufels. „Wir wollen nicht nur deine zwei Männer“, kam stattdessen im verrücktesten Spanisch, das ich je gehört habe, zurück. Es war nicht in der Satzstellung oder der Bildung der Worte verrückt – obwohl er Schwierigkeiten mit dem gerollten „r“ hatte. Er betonte die Worte sehr merkwürdig und gab dadurch Ausdrücken Gewicht, denen eigentlich keines inne lag. „Wir wollen euch alle.“

Langsam schälten sich mehr Details als nur ihre Silhouetten aus dem trügerisch flackernden Licht. Mit Grausen sah ich, dass die Männer mit dem seltsamen Akzent keine Gesichter besaßen, sondern flache, dunkle Ebenen unter eng am Schädel liegenden Hauben oder Kapuzen. Statt Augen blickten uns zwei große schwarze Gläser daraus entgegen, die mich an Insekten erinnerten.

„Shellys“, presste Iko hervor. „Automaten!“

„Ængländer!“, murmelte Agosto und bekreuzigte sich.

Diaz schnaubte wütend und hielt den Degen vor sich, als wolle er sich mit neun unmenschlichen Gestalten um das Wohl und Wehe seines Zirkus’ schlagen.

Sie verharrten – hinter ihnen brannte es, zwischen ihnen und uns lagen die Trümmer der hohen Krone des Hauptzelts.

Ein beständiges Geräusch schwieg im Prasseln der Flammen: die Dampfmaschine, die den Strom für die Glüh- und Bogenlampen lieferte, und deren Wummern vor und während der Aufführungen unser steter Begleiter war. An ihre Stelle war das Röhren des Feuers getreten, eines unwägbareren Monstrums!

Langsam richteten zwei der Dämonen die schweren, unförmigen Waffen, die sie über die Schulter geschnallt trugen, auf Kesmir und Tigro. Kleine Flammen züngelten aus den langen, bronzenen Läufen der Waffen, deren Mündungen zu Tierfratzen gearbeitet waren.

Herr Iko sog direkt neben mir die Luft ein, so deutlich, dass ich mich erschreckt zu ihm umwandte, obwohl meine Freunde im brennenden Circo einen Flammentod zu sterben drohten.

Zum Glück wehte der Wind vom Meer her und fegte den Rauch von uns weg, die Seitenwand des Circo war auch eingebrochen. Der Ruß und die Angst bissen uns trotzdem in den Augen – Fetzen von verbranntem Tuch wirbelten umher, Glut und Holzsplitter und Sägespäne …

Iko beugte sich an mir vorbei, seine Lider flatterten, als sähe er die Dämonen gar nicht mehr, als hätte sich ein Vorhang zwischen seinem Geist und allem Äußeren geschlossen. Sein Adamsapfel hüpfte auf und ab, als er wiederholt heftig schluckte.

„Bronzene Waffen und die Fratzen darauf …“

Das hätte auch mir längst auffallen müssen. Yue flüsterte: „Er hat recht! Wie auf den Trümmern an der Küste!“

Die Feuerspeier, die die Fremden trugen, waren mit ähnlichen Bronzegusslinien verziert, ich sah das Feuer darauf schimmern. Die Öffnungen der flammenspeienden Läufe zeigten die gleichen bizarren Kreaturen …

„Wir töten diese beiden Männer“, unterbrach ihr Anführer uns ruhig, und dieser Satz war völlig fehlerfrei.

„Nein!“, schrie Selma, und ich spürte, dass nicht viel fehlte, und sie hätte sich auf die Angreifer gestürzt.

Diaz packte die bärtige Dame am Arm und schrie: „Was müssen wir tun, damit ihr sie freilasst?“

Der Wortführer wandte Diaz das ausdruckslose, flache Gesicht mit den schwarzen Insektenaugen zu. Sein Kinn unter der schwarzen flachen Maske war leicht gehoben, als nähme er Diaz’ Degen-Herausforderung an.

„Zeigt uns, wie man das Luftschiff fliegt.“

„Welches Luftschiff zur Hölle?“, fluchte Diaz.

„Eures.“

„Ihr wollt … ihr brennt meinen Circo nieder, nur um … mir dann auch noch das Luftschiff zu rauben? Seid ihr von Sinnen?“

„Es tut mir leid“, sagte der Dämon.

„Das glaube ich nicht“, blaffte Diaz und rang mit seiner Fassung.

„Wollt ihr eure Gefährten sterben sehen?“

„Das ist eine billige Nummer! Eine Schmierenkomödie!“, schrie Diaz, doch Selma fiel vor dem Direktor auf die Knie.

„Bitte! Bitte nicht meinen Jungen, bitte, Pablo, tu, was sie sagen!“

Die Dämonen starrten uns stumm an, nur zwei von ihnen hielten die Blicke ihrer gläsernen Insektenaugen fest auf Tigro und Kesmir gerichtet, die ihrem Verderben mit zusammengepressten Lippen entgegensahen.

Diaz’ gefürchtete Zornesader pochte auf seiner Stirn. Er raufte sich erneut den Schnauzbart.

„Ohne den Circo kann ich betteln gehen“, brummte er mit flacher Stimme, und er schien es nicht den herzlosen Kreaturen zu sagen, sondern uns.

„Aber es sind neun, und sie haben … Feuerwerfer“, stotterte Iko. „Ich … ich will Ihren Circo nicht mit meinem Leben verteidigen, Señor Cervantes Diaz. Entschuldigen Sie.“

Diaz’ Blick wanderte prüfend über uns. Ich hob entschuldigend die Brauen.

„Wir sind Artisten“, stimmte Jorge Herrn Iko zu. Als Waffe hielt er nur seinen Paukenschlägel in der Hand. Die Pauke, die Mundharmonika und das Akkordeon trug er noch umgeschnallt.

„Nicht gerade eine Kompanie. Compañia Apocalástica“, seufzte Diaz, dann erhob er die Stimme wieder. „Ich gebe euch mein Luftschiff – ihr lasst uns leben?“

„Ihr zeigt uns, wie man es steuert.“

„Wir … wir zeigen …“

Ein anderer von ihnen redete in einer Sprache, die ich nicht zuordnen konnte. Stammten sie aus dem fernen Asien – oder gar aus dem feurigen Inneren der Erde?

„Ihr begleitet uns“, korrigierte sich der Wortführer, „und steuert uns gut, zu unserem und eurem Wohl. Dann lassen wir euch frei, wenn wir dort sind.“

„Wo dort?“, gellte Michels Stimme – die ersten Worte, die er sagte. Er klang nicht, als habe er vor, Spanien zu verlassen.

„Wir haben Karten. Ihr werdet es wissen“, sagte der Rädelsführer. Sie senkten die Waffen nicht, als sie langsam nähertraten. Wir hoben unsere Hände – und ergaben uns.

„Wenn diese Linie die Küste ist“, flüsterte Diaz mit aschfahlem Gesicht, „dann … dann ist das …“

„Der Atlantik“, vollendete Iko bang den Satz.

Diaz schob das seltsame Ding, das die Fremden „Karte“ nannten, von sich. Seine Pranke zerknüllte es dabei, doch ich sah auch, dass Gänsehaut die schwarzen Haare auf seinen Unterarmen zu Berge stehen ließen.

Die Dampfmaschinen dröhnten unter uns im Kesselraum, während die Apocalástica an Höhe gewann.

Ich sah zu Yue hinüber, die aus einem der seitlichen Bullaugen des Steuerstands hinaussah, die Lippen fest zusammengepresst.

Dort unten, das las ich aus dem Profil ihres entsetzten Gesichts, als spiegle sich das Bild darin – dort unten brannten die Reste des Circo. Wir schwiegen. Die verzerrten Bronzemäuler der Flammenwaffen bedrohten uns nach wie vor, und ich wollte gar nicht daran denken, wie gierig sie sich über den Wasserstoff in unseren Gaszellen hermachen würden …

Die Artisten umstanden das Gestell mit der Karte, auf die der Wortführer der Dämonen stumm gewiesen hatte. Es war ein seltsames Gebilde, nicht aus Papier, sondern aus Tuch, und es war bestickt, aber nicht so, wie ich Stickerei kannte. Ich war kein großer Geograph, doch selbst mir wurde bewusst, dass die Knoten keinesfalls zufällig in den Stoff geraten waren: Sie bildeten Küstenlinien und Städte – vielleicht sogar Windströmungen –, und die Atlantikküste Spaniens war klar zu erkennen.

Mit Tigro und Kesmir als Geiseln hatte man uns alle in die Gondel des Luftschiffs gezwungen. Hinter uns brannte unsere Existenz nieder – die Pferde flohen auf den Spuren des panischen Publikums. Herr Iko hatte inmitten von Qualm und Rauch alles zusammengerafft, was er an Zauberrequisiten finden konnte, als hinge sein Leben davon ab. Auch das auf ihn gerichtete Flammenmaul mit der furchtbaren, heraushängenden bronzenen Zunge hatte ihn nicht im Mindesten beeindruckt, obgleich er keinesfalls ein mutiger Mann war.

Diaz’ einzige Sorge hatte dem Mammut gegolten. Es war ein melancholisches Tier ohne großen Lebenswillen, und demzufolge hatte es sich trotz der Flammen nicht von seinem Pflock befreit, sondern stoisch neben dem Zelt in Rauch und Hitze ausgeharrt. Diaz hatte es losgemacht, den dunklen Rüssel getätschelt und es wie selbstverständlich mit zum Luftschiff genommen, an dem die Dämonen in lederner Rüstung und mit schwarzen Masken wie aus Glas warteten.

Die Abreise war schneller als sonst vonstattengegangen.

Normalerweise mussten wir das Zelt und das Gradin abbauen und verzurren, Requisiten verstauen, Tiere in den Laderaum führen und versorgen. Wir mussten unsere Rollen ablegen und in die der Æronauten schlüpfen: Jeder von uns hatte beim Ablegen des Luftschiffs etwas zu tun, und wenn das nur hieß, die Taue aufzurollen, die Ladung zu sichern und alle Türen richtig zu verschließen.

Wir verließen dann die Welt des Circo und betraten den Mikrokosmos einer zivilen Æronautenmannschaft, wie sie zu Hunderten die Frachtrouten Europas befahren.

An diesem Tag jedoch ließen wir die Trümmer unserer schillernd-bunten Existenz am Boden zurück. Die Apocalástica, das breit gestreifte Tuch der Gashülle mit dem verschnörkelten Schriftzug kennzeichnete sie nach wie vor als Zirkus, unbeeinflusst von den am Boden rauchenden Überbleibseln seiner gewöhnlichen Ladung, war nun in den Händen von Geiselnehmern, die uns hinaus auf den eisigen, sturmgepeitschten Atlantik zwingen wollten.

Übers Meer. Hinaus ins Eis, von dem niemand wiederkehrte. Dorthin, wo der Finger des nun stummen Wortführers auf der Knotenkarte gezeigt hatte. Mir wurde schlecht.

Jeder Bewegung unsererseits folgte eines der bronzenen Mäuler. Als ich einen Schritt zurücktrat, zu Yue, dem Bullauge und der Sicht auf den verheerten Platz unseres Broterwerbs, folgte mir sofort ein Lauf, richtete sich auf mich, als ahne er eine schlechte Absicht in dieser Bewegung. Die beinah spiegelnd glatte lederne Maske mit den Augengläsern jedoch blieb unbewegt.

Ob darunter ein menschliches Gesicht lag und ob es lebendig oder – wie bei einem Shelly, einem dieser legendären Automaten aus Leichenteilen – tot war, wussten wir immer noch nicht zu sagen.

Ich hob beschwichtigend die Hände, doch das flammenlechzende Maul blieb auf Yue und mich gerichtet.

Letztlich waren wir natürlich in der Überzahl. Aber was nutzte uns das? Wir waren keine Kämpfer. Keiner von uns war verrückt genug zu glauben, einen Sprung aus dem Luftschiff überleben zu können – ohne Netz und doppelten Boden. Wir konnten keine Pläne schmieden, denn diese Geschöpfe verstanden unsere Sprache. Wir konnten uns nicht weigern, denn niemand von uns wollte sterben.

„Ich weigere mich“, sagte Diaz in diesem Augenblick. Ich riss meinen Blick von Yue los – eigentlich hatte ich hinausschauen wollen, nachsehen, ob dort wirklich Flammen loderten, oder ob es sich vielleicht um einen Traum handelte, in dem das, was vorhin passiert war, schon wieder zur Unwirklichkeit verblasst war.

Diaz’ Gesicht war hart, sein Kiefer mahlte.

„Ob ich jetzt hier sterbe oder bei dem Versuch, Sie und Ihre Bande von Verbrechern nach Asien zu bringen, macht keinen Unterschied! Niemand hat den Atlantik je überquert, oder wenn, ist er nie zurückgekommen. Dies ist, wie Sie sich hoffentlich bewusst sind, ein Zirkusluftschiff. Wir fahren von Stadt zu Stadt und schlagen unser Zelt auf. Wir haben keine ausgewiesenen Navigatoren an Bord. Keine Vorräte, denn Sie haben die Vorstellung, die selbige auffüllen sollte, jäh beendet. Die Apocalástica ist weder ein Expeditions- noch ein Militärschiff und nicht tauglich, lange Strecken durch Stürme und Unwetter zurückzulegen.“

Der Maskierte starrte Diaz mit seinen Glasaugen an und reagierte nicht. Diaz schob das glattrasierte Kinn vor, seine Schnurrbartenden sträubten sich, als habe Iko ihm einen elektrischen Schlag versetzt.

Die Maschinen wummerten, als könnten sie die Stille nicht ertragen. Schließlich sprach der Maskierte.

„Wir müssen.“

„Sie müssen? Nur zu! Tun Sie sich keinen Zwang an! Ich setze Sie gern am Rand eines spanischen Militärpostens ab – vielleicht in Santander? Dann suchen Sie sich ein anderes Schiff und überfallen das. Ich vermute, dass dann Ihre Überlebenschancen besser stehen.“

Widerwillig ruckte der Kopf des Wortführers, während die anderen bloß lauschten. Verstanden sie Diaz? Was, wenn die neun Maskierten wirklich nur Shellys waren, lebende Leichen, die nur auf den Befehl warteten, uns alle mit ihren grässlichen Feuerspuckern anzugreifen?

„Wir landen und nehmen Proviant auf. Aber erst mal fahren wir nach Westen.“

„Sie sind verrückt! Ich fordere Sie auf, mich zu töten, denn ich werde Ihnen nicht helfen. Auf dem Meer können Sie weder Proviant noch Kohle aufnehmen! Wenn es zwischen den europäischen Gestaden und Asien noch Inseln gäbe, um die Vorräte aufzufüllen, wären nicht unzählige Expeditionen verendet!“

Herr Iko zappelte mit den langen Armen, was einen Ruck mit einem Feuerwerfer zur Folge hatte. Das Maul, das zuvor auf Diaz gerichtet gewesen war, fletschte nun die Zähne in Ikos Richtung. Diaz hatte die Arme ausgebreitet und die Brauen gefährlich zusammengezogen, als wolle er in dieser Pose auf den Tod warten. Ich hielt die Luft an.

„Señor Diaz“, wisperte Iko. „Ich denke …“

Ich dachte es auch in diesem Moment – etwas später als Herr Iko, doch ich bezweifelte auch nicht, dass bei einem Mann, der sich so viel mit Blitzen beschäftigte, auch die Geistesblitze einfach ein wenig schneller waren als die meinen.

Der Anführer der Fremden griff an sein Kinn und zog seine dunkle, glatte Maske mitsamt den Schutzgläsern herunter. Er streifte die Kapuze ab, die ihn vor den Flammen geschützt hatte. Dichtes schwarzes Haar, dem unseres Zirkusdirektors nicht unähnlich, kam zum Vorschein, es war zu einem straffen Knoten am Hinterkopf gebunden. Seine Züge waren zugleich fremd und vertraut. Seine Augenpartie legte die Annahme nahe, er stamme von einem fernöstlichen Volk ab, jedoch nicht eindeutig chinesisch wie Yue. Seine Haut war dunkel wie die der meisten unserer Truppe, die buntgemischt aus allen Mittelmeerstaaten stammte. Der Mund unter der breiten Nase und den hohen Wangenknochen hatte etwas Spöttisches. Ich hielt es zunächst für möglich, dass er vielleicht aus Indien sei wie meine Ahnen.

Dennoch – etwas Fremdes haftete ihm an. Etwas, das seiner Miene entströmte. Er atmete dieses Fremde, es klang in seiner Stimme mit, umgab ihn wie das Licht eines Scheinwerfers.

„Wir kommen von dort. Wir kennen die Überfahrt“, sagte er, und Diaz ließ die Arme sinken, als habe man die Luft aus ihm herausgelassen.

Herr Iko nickte. „Aber ja, genau das … hatte ich auch gerade sagen wollen, Señor Diaz!“

Yue war ebenfalls herumgefahren.

„Woher kommen Sie?“, flüsterte sie und trat auf den Mann zu. Er musterte sie kalt und lächelte.

„Aus Tawantinsuyu, dem Land des göttlichen Glanzes. Unser Land beherbergt tausend Ströme und hundert Gipfel, doch ihr kennt es nicht. Es liegt dort, wo ihr nur Meer vermutet.“ Er lachte. „Wir haben das Meer zu Schiff überquert! Eisberge, Wellen und Salzwasser – und ihr fürchtet die Luft?“ Hohn troff aus seinen Worten. „Ihr seid unsere Gefangenen. Glückliche Gefangene, die Tawantinsuyu sehen dürfen, das nie ein Europäer zuvor sah!“

Erneut diese Stille, die nur das Treiben im Kesselraum störte. Dort waren Fernando, Gran Agosto und der kleine Pedro damit beschäftigt, uns in die Luft zu heben – doch eine Richtung hatten wir noch nicht eingeschlagen, und so trieb das Luftschiff um seinen Ankerplatz, wie ein Schaulustiger um einen besonders faszinierenden Unfall.

Herr Iko, der zuvor so zittrig gewirkt hatte, zuckte die Achseln. „Von mir aus. Ich bin fertig mit Europa. Es war nie besonders freundlich zu mir, und Sie sind zu neunt – das ist eine gute Zahl. Aber gestatten Sie die Frage: Wenn Sie tatsächlich ein Mensch von … von jenem Land jenseits des Atlantiks sind …“

„Tawantinsuyu“, zischte der Fremde.

„Ich versuche, es mir zu merken. Tawantinsuyu. Wie kommt es, dass Sie Spanisch sprechen?“

„Wie kommt es, dass Sie Spanisch sprechen?“, antwortete der Fremde. „Ihre Eltern lehrten Sie eine andere Sprache.“

„S… Serbisch“, gab Iko staunend zu. „Ich … ich habe Spanisch gelernt. Ebenso wie Italienisch, Deutsch und Französisch.“

„Genauso wie wir, und Ænglisch dazu“, lächelte der Fremde.

„Warum sprechen die anderen nicht? Sind sie Menschen wie Sie? Wie viele Jahre waren Sie in Europa, um all das zu lernen?“

„Zu kurz. Doch die Zeit drängt. Sapa Inka erwartet unsere Rückkehr.“

„Hat er … gibt es einen Nachrichtenaustausch zwischen Ihnen und Ihrer Heimat?“, drängte Iko und schien uns andere vergessen zu haben.

„Wir reden darüber, Serbe, wenn wir über dem Meer sind“, versprach der Fremde. „Der Serbe will den Ozean überqueren. Wer schließt sich ihm an? Alle anderen werden wir von Bord werfen.“

„Wollen Sie Iko zum Steuermann machen?“, zischte Diaz. „Sie sind von Sinnen. Die Apocalástica braucht ihren Capitán.“ Sein Blick schweifte umher.

„Nein!“, rief Michel. „Das geht nicht! Ich … ich will nicht über dem Meer verrecken! Ich ‘abe Familie!“

Der Fremde nickte einem seiner maskierten Begleiter zu. Der trat auf Michel zu und stieß ihn mit dem Lauf der schweren Waffe von uns anderen weg. Seine Schwestern schrien auf und beschworen die Bewaffneten, ihn zu verschonen. Gehetzt sah Michel zwischen uns hin und her.

„Ich will auch nicht“, sagte Selma mit ihrer dunklen Frauenstimme. „Aber ich bleibe. Meinem Jungen zuliebe.“

Kesmir nickte. „Dienstag ist Soufflétag“, murmelte er schicksalsergeben.

Yue starrte die Fremden immer noch an, etwas sprach aus ihrem Blick, doch diese Sprache verstand ich nicht. Schließlich biss sie die Zähne zusammen und nickte ebenfalls.

Michel schrie: „Ihr wollt alle diesen Wahnsinn zulassen? Wir werden sterben!“

„Aber nicht heute“, sagte Selma einfach. Sie schob den Lauf, der auf Michel gerichtet war, sanft zur Seite. Michel hob abwehrend die Hände und hieb sie frustriert gegen die stählerne Außenwand der Gondel.

„Sacrebleu!“, fluchte er. „Na gut. Nicht ‘eute.“

Seine Schwestern fielen ihm um den Hals und plapperten auf Französisch auf ihn ein.

Ich hatte nicht genickt, hatte aber auch nicht darauf bestanden, durch einen tiefen Fall oder einen Flammenstoß exekutiert zu werden, und somit schien man anzunehmen, ich sei einverstanden. Wer bestand schon darauf zu sterben, wenn ihm die Option offenstand, erst am nächsten Tag, am übernächsten oder womöglich erst ein paar Jahre später das Zeitliche zu segnen?

Jeevan räusperte sich. Der schweigsame, kahle Inder mit der roten Mütze, die ihn aussehen ließ wie ein Schwefelholz, hatte das Mammut, das er hütete, nur ungern im Laderaum alleingelassen, doch die Fremden hatten darauf bestanden, uns alle im Steuerstand zusammenzutreiben wie eine Herde Schafe. Alle – außer den dreien unten im Kesselraum, doch auch bei ihnen war Bewachung abgestellt.

„Ich möchte anmerken, wenn das erlaubt ist, die Kostbarkeit des Circo, das Mammut Rana, braucht Heu, Stroh und Äste. Wir haben nur noch drei Tagesrationen. Bitte um Vergebung für diese Bemerkung.“

Die Kieferlinie des Fremden wurde hart, und ich wusste, er würde nun vorschlagen, dass das Mammut allen, die das Schiff nun verlassen wollten, vorangehen könne.

„Es … ist ein sehr genügsames Tier“, eilte Jeevan sich zu sagen.

Ein sehr genügsames Tier, das am Tag um die achtzig Pfund Nahrung brauchte und in der Vergangenheit abwechselnd für den Ruin und für den finanziellen Segen des Circo gesorgt hatte.

„Bitte!“, presste Jeevan hervor und schielte flehend zu Diaz. Dieser pflichtete Jeevan bei. „Es ist … eine Attraktion. Wo auch immer wir hinfahren – die Menschen lieben es. Sicher auch … da, wo Sie herkommen.“

„Wir werden keine Verzögerung dulden“, sagte der Sprecher unserer Entführer. „Aber … wir folgen der Küstenlinie nach Westen. Wenn eine Scheune oder ein Gut auf dem Weg liegt …“

Diaz nickte schnell, und Jeevan legte die Hände aneinander und verbeugte sich kurz.

„Dann heißt die Richtung nun Westen. Bis ich den Kurs korrigiere“, stellte der Anführer fest. „Greift uns an, vergiftet unser Essen oder versucht, unsere Waffen zu stehlen, und ihr seid tot. Wir sind Krieger, und ihr seid bloß … wie sagt man es? Dumme Auguste.“ Er lächelte schmallippig. „An die Arbeit.“

Fahrtenbuch [8. Mai 905 A. N.]

Ob Ekkenekkepen oder Jesus, irgendjemand muss unsere sterblichen Hinterteile durch eine Wundertat aus diesem Chaos gerettet haben. Keine Verluste unter der Besatzung, die Schäden am Luftschiff werden morgen behoben sein. Der Sturm hat uns jedoch weit gen Süden vom Kurs abgebracht. Die nördlichen Gletscher sind nicht mehr auszumachen. Es schien aber auch nicht so, als hätte uns der alte Kurs irgendwohin bringen können, wo eine Menschenseele überleben könnte – also war es scheinbar wirklich ein Wink Ekkenekkepens, dass wir uns die Reise über endlose Gletscher sparen können. Ich beschließe, dem alten Meermann zu glauben und ein Risiko in Kauf zu nehmen. Kurs West, über das offene Meer.

– T. H.

Vergangener Soldatenruhm

Nummer: Schabernack mit Dame

Was ist das?“, fragte ich Gran Agosto und wendete die Epaulette in meinen Fingern. Ein geflochtener Rahmen aus goldener Schnur zog sich um die Schulterklappe und die Stickerei eines kleinen stilisierten Ballons unter zwei Pfeilen.

„Das Erkennungszeichen der Spanischen Luftwaffe“, klärte mich der starke Mann auf. Die Mimik seines runden Gesichts war minimal, wie stets, und seine Stimme leise und ein wenig unbeholfen. „Diaz hat mich gebeten, es dir zu geben.“ Er hob eine Hand und schob sein kurzes, dunkles Haar wieder in den akkuraten Seitenscheitel, den er bevorzugte. Sein Gesicht hatte etwas Kindliches, obwohl er sicher die Vierzig bereits überschritten hatte, und das zusammen mit der Tatsache, dass er vor allem durch seine Muskeln begeisterte, ließ einen annehmen, er sei nicht besonders klug. Besonders klug war er auch nicht, aber doch gescheiter, als seine Unbeholfenheit mit Wörtern und seine Pausbäckchen einen glauben machten.

„Was soll ich damit?“, flüsterte ich.

„Das hat er nicht gesagt.“ Agosto wandte sich ab und zuckte die Achseln, deren Muskeln sich durch das marineblaue Hemd abzeichneten. „Nicht lange reden, das hat er noch gesagt.“

Gehorsam schob ich das Abzeichen in die Tasche meiner fellgefütterten Jacke und sprach nicht darüber. Wenn das Luftschiff aufstieg, sank die Temperatur an Bord stetig, und nicht wenige von uns meldeten sich manchmal freiwillig zum Dienst an den Kesseln, in denen das Feuer steter Fütterung bedurfte. Kälte hin oder her, mir gelang es meist, Fernando, unsere menschliche Kanonenkugel, zu überreden, an meiner Stelle zu schaufeln.

Herr Iko machte seine Sache sehr gut, sofern er denn überhaupt eine Sache machte