Laylayland - Judith Vogt - E-Book

Laylayland E-Book

Judith Vogt

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Beschreibung

Laylay und Zeeto reisen durch das Ödland auf der Suche nach einer Möglichkeit, Zeetos Leben zu retten. Sie finden stattdessen Laylays Mutter. Doch es wird kein freudiges Wiedersehen. Unterdessen setzt sich ein Neuankömmling in einem Cyberduell durch und wird Root der Roots. Root 2.0 hat auf der Suche nach einer mysteriösen Entität eigene Pläne mit Laylay und Zeeto. Doch dieses Geschöpf, bei dem die Grenzen zwischen Mensch und Maschine verschwimmen, verfolgt seine eigenen Pläne. Gibt es noch Hoffnung für Laylay und Zeeto? Hopepunk ist, wenn alles aussichtslos erscheint – aber du und deine Leute, ihr versucht es trotzdem, bildet Banden, seid gleichzeitig rauchend wütend und radikal zärtlich. Laylayland, der Nachfolger von Wasteland vom Vögte-Duo, ist das Buch für alle, die Utopien in Dystopien errichten wollen.

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JUDITH C. VOGTUND CHRISTIAN VOGT

LAYLAYLAND

Für alle mit eigener Revolution.

Inhalt

Was in Wasteland geschah

Unterwegs

Im Kofferraum

No Root

Auf miesen Straßen

Kapitel 2

Durch Polen

Die Koordinaten

Im Schilderwald

Root 2.0

Kapitel 3

Über den Wolken

Höhle der Wölfin

Im Hangar-Dorf

Auf Wyld-Thing-Turf

Kapitel 4

Im Hangar-Dorf

Flughafen Wyld Things

Im Indoorf

Flughafen Wyld Things

Am Tor zur Unterwelt

Kapitel 5

Flughafen Wyld Things

Der Tagebau

Flughafen Wyld Things

Root 2.0

Flughafen Wyld Things

Kapitel 6

Flughafen Wyld Things

Root 2.0

Im Indoorf

Über den Wolken und unter dem Land

Kapitel 7

Im Indoorf

Im Halbschlaf, an einem Ort ohne Licht

Im Indoorf

Flughafen Wyld Things

Zwischen Hinterschinken und Mango-Lassi

Root 2.0

Kapitel 8

Flughafen Wyld Things

Unterwegs

Auf der Autobahn zum Bunker

Root 2.0

Kapitel 9

Im Bunker

Im Wartungsgang

Im vermutlich letzten Schlamassel meines Lebens

Auf der Schwelle

Auf der Flucht – schon wieder

Kapitel 10

Handgebunden-Markt

Zu Hause

Handgebunden-Markt

Im Schatten des Maximalen Geräts

Root 2.0

Bei Schritt 54

Kapitel 11

Hey Hoper

Hey Hoper

Dank

The story is a dream of the revolution,

but it is not a revolution on its own.

The people must make their own revolutions.

– Kai Cheng Thom –

Was in Wasteland geschah

Hey Hoper!

Ich bring dich mal auf den neusten Stand, nicht, dass du das Wasteland vor lauter Bäumen nicht siehst.

Hier erst mal die wichtigsten Infos: Ein biologischer Kampfstoff hat vor etwa vierzig Jahren die Ballungszentren Europas in ein wildgrünes, aber menschenfeindliches Ödland verwandelt – überall herrscht Insektensterben, nur im Ödland nicht, da herrscht Säugetiersterben. Europa, wie wir es kannten, ist nun also unterteilt: in von Menschen und anderen Säugetieren bewohnbare Gebiete ohne nennenswerte Infrastruktur einerseits und eine für alle außer Insekten feindliche Wildnis in und um die einstigen Großstädte andererseits.

In den bewohnbaren Gebieten leben Menschen in einem prekären Gleichgewicht aus Machtverhältnissen: Marodierende Gangs respektieren die wenigen friedlichen Kommunen, da sie die zum Überleben brauchen, und dazwischen ziehen möglichst unbeachtet nomadische Familien umher.

Zeeto gehört der anarchistischen Kommune des Handgebunden-Markts an, seine drei Omas halten den Laden am Laufen. Laylay hingegen zog mit ihrem rastlosen Vater umher, der ihr Medikamente gab, um das Erbe ihrer Mutter, wie er es nannte, zu unterdrücken.

Manchmal müssen nur zwei eigentlich harmlose Stoffe zusammenkommen, um etwas Explosives zu ergeben, was alles verändert – so zum Beispiel Zeeto und Laylay. Zeeto verirrte sich bei einer Expedition zu rätselhaften Bunkern im Ödland und fand dort zweierlei: ein lebendes Baby in den Armen einer getöteten Frau und das Wastelandvirus, mit dem er sich unweigerlich beim Umherirren infizierte.

Laylay, die das Ödland auch ohne Schutzmaßnahmen betreten kann, rettete Zeeto und das Baby, das er Mtoto genannt hat, und brachte beide zum Handgebunden-Markt, doch Zeeto steckte Laylay an – nicht mit der Wastelandkrankheit, denn Laylay erwies sich als immun gegen jede Form von Virus, Bakterium oder Vergiftung, sondern mit der Idee, dass in den Bunkern im Ödland etwas auf Entdeckung wartet.

Als die beiden bei weiteren Expeditionsversuchen von der lokalen Gang, den Brokes, aufgegriffen wurden, floh Laylays Vater Azmi mit der betäubten Laylay, denn sie sollte mit ihren Immunitätssuperkräften auf keinen Fall einer Gang in die Hände fallen. Zeeto hingegen wurde vom verzweifelt das Internet suchenden Techno-Schamanen Root zu einem Zweikampf gegen eine Boss der Brokes gezwungen, den er, obwohl depressiv und todkrank, völlig überraschend gewann.

Laylay erwachte am Mittelmeer und nach einem Streit mit ihrem Vater, der sie nur beschützen wollte (sagte er), sie dabei aber gehörig fremdbestimmt hatte (sagte sie), ließ sie ihn samt Motorradbeiwagen an der Adria sitzen und kehrte mit dem Motorrad zum Handgebunden-Markt zurück. Dieser wurde nicht mehr nur von der Gang, sondern auch von einer mit dieser konkurrierenden Sekte belagert, und bald war klar: Alle suchten Mtoto und Laylay, die beiden Menschen, die das Ödland überleben. Als Gang und Sekte aufeinander losgingen, nutzten Laylay und Zeeto die Gunst der Stunde und drangen in den Bunker vor, dessen Irisscanner überraschend Türen für Laylays Augen öffnete. In den unterirdischen Wohn- und Laborgeschossen des Bunkers stießen sie auf eine kleine Population von resistenten Menschen, die seit zwei Generationen im Untergrund lebten. Sie sind von einem Forschungsprojekt übrig geblieben, mit dem die Wastelandseuche beendet werden sollte.

Es handelt sich bei dieser Population um eine menschliche Spezies, der das Virus nichts anhaben kann, da sie sich vom herkömmlichen Doppel-sapiens-Menschen genetisch unterscheidet. Diese in den 2020ern durch fragwürdige Eugenik hervorgebrachten Menschen werden Ferales genannt.

Ferales sind das, was Eingang in alle Werwolfmythen seit grauer Vorzeit gefunden hat, und damit meine ich nicht nur die graue Vorzeit von vor vierzig Jahren, die uns all diese biokampfstoffverseuchten Betonklötze samt Zufahrtsstraßen hinterlassen hat, sondern die vergangenen Jahrtausende, bis zurück in jene Zeit, in der noch offen war, ob es verschiedene Menschheiten geben würde. Die anderen Menschheiten der Vorzeit – wie Homo sapiens neanderthalensis – wurden von Doppel-Sapiens entweder ausgelöscht oder genetisch einverleibt. Letzteres geschah auch mit den Ferales, die zu phänomenaler Metamorphose ins Behaart-Tierhafte in der Lage sind, was sich jedoch jahrtausendelang so weit verwässerte, dass diese Fähigkeit nur noch durch sehr seltene genetische Kombinationen zum Vorschein kam (allerdings nicht nur bei Vollmond!). Als die großen Pandemien der 2020er Jahre begannen, wurde die Medizin jedoch auf diese selten im menschlichen Genom vorkommenden Gene aufmerksam und versuchte, die Resistenzen dieser Menschen zu nutzen.

Damals wurde die Suche nach einem Heilmittel für die endemischen Lungenkrankheiten von einer Europa zersetzenden Seuche beendet, freigesetzt in einem ungünstigen Zusammenspiel aus Drohgebärde, Gegenmaßnahme, Sabotage und einem fehlgeschlagenen Experiment zur Eindämmung der Klimakatastrophe. Du weißt, worauf der Teufel zu scheißen pflegt, oder? Diesem himmelhoch gestapelten Sauhaufen konnte sein bezaubernder rotbäckiger Arsch einfach nicht widerstehen.

Das medizinische Resistenzprogramm hatte also ein vorzeitiges Ende gefunden, und vierzig Jahre später ging den zu Forschungszwecken hervorgebrachten Ferales in ihrem unterirdischen, geothermisch beheizten Wunderland der Dosenfraß aus, und sie waren denkbar schlechter Laune.

Laylay und Zeeto auf Bunkerexpedition wurden beschossen – wobei Laylay feststellte, dass sie auch tödliche Verletzungen relativ unbeschadet überstehen kann, seit sie die Medikamente ihres Vaters nicht mehr nimmt. Und nach dem Beschuss wurden sie im Bunker gefangen gehalten. Laylay stellte sich als Tochter einer vor vierzig Jahren in ein anderes Labor gebrachten Feralis heraus, sodass die Population in Betracht zog, sie in ihre Zukunftspläne mit einzubeziehen. Bevor es sich allerdings lohnte, so weit vorauszudenken, erwies sich ein gemeinsamer Feind als Glücksfall: Laylay und Zeeto konnten entkommen, als Root und seine Brokes versuchten, in den Bunker einzudringen und Mtoto als Geisel mitbrachten.

Für die Bunkerpopulation war der nächste logische Zwischenschritt, um diese Konflikte zu beenden und ein neues Leben an der Oberfläche zu beginnen, Homo sapiens sapiens mit einer von den Ferales im Labor entwickelten ansteckenden Mutante der Wastelandseuche auszurotten. Und da sind wir jetzt. Also, noch nicht ausgerottet, aber es wird knapp diesmal, es wird wirklich knapp. Patient 0 dieser neuen Variante der Krankheit war Root, der daran starb, aber weitere Menschen damit infizierte.

Laylay und Zeeto sind mit Mtoto vom Handgebunden-Markt aufgebrochen – auf der Flucht vor allen, die es auf die junge Frau und das Baby abgesehen haben. Ihr Ziel: das Labor in Polen, zu dem Laylays Mutter als Kind gebracht wurde, kurz bevor die vergangenen Zivilisationen zusammenbrachen. Ihre Hoffnung: ein Heilmittel für die, die sie zurückließen, und für Zeeto.

Aber eine Zukunft allein mit einem vagen Entschluss zur Hoffnung anzugehen funktioniert ähnlich gut, wie eine Achterbahn mit Spucke zusammenzuhalten. Damit etwas so Großes gelingen kann, muss irgendwer alles im Blick behalten, was geschah und geschieht, und an die übergeben, die Teil daran haben, was noch geschehen wird.

Diese Person wäre dann wohl ich.

1

>CallsysOps.escapeLink.init()

>Initialisiere Routing … erledigt.

>Analysiere Firewalls … erledigt.

>Optimale Hacking-Strategie ermittelt: System Overload.

>Initialisiere Monte-Carlo-Overload-Pathways … erledigt.

>Overload-Angriffe … 4 %

>Overload-Angriffe … 23 %

>Overload-Angriffe … 66 %

>Overload-Angriffe … 72 %

>Overload-Angriffe … 98 %

>Overload-Angriffe … 100 %

>Ping Mainframe … erfolgreich.

[Access] Zugriff auf Mainframe gewährt

>CallsysOps.escapeLink.freedom()

>Initialisiere Escape-Routinen

>Datenupload gestartet

[Error] Root access required.

> su

[Error] Zugriff verweigert. Sie brauchen Superuser/Root-Rechte für diese Aktion. Wenden Sie sich bei Fragen an Sys-Ops.

Unterwegs

Zeeto 22. März 2064

»Ich hab eine Idee«, hat Laylay nach meinem morgendlichen Hustenanfall gesagt, während sich die Wahrnehmung der Welt langsam durch das Schwarz-mit-roten-Explosionspunkten meines sauerstoffverarmten Hirns kämpfte und ich mit der Frage rang, was sich eigentlich realer anfühlt: ich selbst in diesem verrottenden Körper oder dieser verrottende Körper in diesem verseuchten Land.

Laylays Idee war das hier: Ich passe in einem Betonkoloss aufs Baby auf, sie überfällt eine Horde Bewaffneter, und so langsam dämmert mir, dass es keine gute Idee war. Aber das hat sie ja auch nicht gesagt.

Wir sind bereits bei Plan B.

Plan A war: Wir machen auf dem Weg zum Hoffentlich-vielleicht-Heilmittel-Labor in Polen einen Abstecher zu einer Arzneimittelfabrik im Ödland, in der Laylay früher schon Medikamente für ihren Dad Azmi geplündert hat – Medikamente und das Wissen darum stellen schließlich Azmis Lebensgrundlage dar. Die Lager dort sind gewaltig und vieles immer noch haltbar, auch wenn die Packungen was anderes sagen. Aber der Zugang ist schwierig, es sei denn, man weist praktischerweise eine Immunität gegen das Wastelandvirus auf (wie Laylay) oder ist bereits todkrank (wie meine Wenigkeit).

Aus diesem Grund waren wir auch so überrascht, dass wir dort auf eine plündernde Horde getroffen sind, die nicht mal Atemmasken getragen hat. So egal ist das eigene Leben sonst nicht einmal den raffgierigsten Toxxers. Statt also – wie in Plan A vorgesehen – in den Tiefen des Industriedungeons auf die Suche nach einem Medikament zu gehen, das den Zerfall meiner Lunge verlangsamt, ist Laylay nahtlos zu Plan B übergegangen, der lautet: den Leuten, die gerade säckeweise Medikamente verladen, die den Zerfall ihrer Lungen verlangsamen sollen, einen Sack abluchsen.

Ich beobachte das Ganze von einem irgendwie witzigen Gebäude aus: Es besteht aus mehreren todesgrauen offenen Etagen ohne Zwischenwände und ist komplett leer und mit Rampen verbunden. Es ist fast so hoch wie die dahingewürfelten Gebäude der Anlage, und während ich bei denen noch durch Fensterlöcher und von Wurzeln aufgerissene Mauern in möblierte Innenräume sehen kann, sind autogroße Markierungen die einzige Inneneinrichtung dieses Turms. Es ist ein Haus für Autos. Das Witzige ist, am Eingang stand Parkhaus, und ich hatte irgendwie erwartet, hier drin unterschiedliche und mittlerweile sehr verwilderte Gartenanlagen zur Erholung der Angestellten zu finden, aber na ja.

Das Baby und ich, wir liegen im ersten Stock auf der Lauer. Ich starre durch einen Schacht in der Wand und zwischen kahlen Zweigen hindurch, die an der Mauer und an meinen Nerven kratzen, nach unten in den Hof. Mtoto sitzt auf meinem Kreuz und spielt Hoppe-Hoppe-Reitend, dass meine Beckenknochen auf dem Beton knirschen. Hinter uns das von uns liebevoll Moped genannte Motorrad, wie ein Schatten all der früher einmal im Haus abgestellten Fahrzeuge.

Wir beobachten, wie die Gang da unten einen Mordsjeep belädt. Ich habe so ein Teil noch nie gesehen, wetten, es würde nicht mal auf einen dieser Parkplätze passen? Es sind völlig überdimensionierte Reifen draufgeschraubt worden (der Weg hierher wird von einem jahrzehntealten Erdrutsch erheblich verkompliziert), dafür haben sie die Höhe dann wieder einigermaßen ausgeglichen, indem sie das Dach abgesägt haben.

Mehrere gelenkige Crossmaschinen sitzen drum herum wie Libellen um eine fette Kröte. Auf der Ladefläche des Jeeps stapeln sich bereits Säcke und Kisten, die die Gang herausgeschleppt hat, und Laylay nutzt die Tatsache, dass sie sich hier unbeobachtet und in Sicherheit glauben, und schleicht sich an die Karre ran. Eine Person sitzt vorn am Steuer, ich erkenne von hier aus nur einen Stiernacken und eine auf die Glatze geschobene Fliegerbrille. Sie hustet ab und zu. Ich erkenne das Geräusch überall. Und auch, wenn es mir vorher schon klar war, beweist es mir: Diese Leute sind deshalb ungeschützt im Ödland unterwegs, weil sie längst krank sind. Wie ich.

Ich halte den Atem an, als Laylay auf die Ladefläche klettert. Das ist gar nicht so einfach, denn das hochgemotzte Ding hatte eigentlich einen geschlossenen Kofferraum, also muss sie über den Rahmen der Heckscheibe kraxeln – der Plünderungstrupp hat seine Beute einfach drübergeworfen. Sie nutzt einen weiteren Hustenanfall als Ablenkung und ist drin, hinter schwarz getönter Scheibe und abgesägt aufragender Karosserie.

Plan B lautet weiterhin: In einem der Säcke schachtelweise Covid-Meds finden, damit abhauen, bevor die Gang zurück ist. Selbst Mtoto ist angespannt, das Gewicht ihres Windelhinterns verharrt bebend auf meinem Rückgrat und sie zieht an meinen Haarknoten. »Nicht, pst«, flüstere ich ihr zu und versuche, mir nur den bestmöglichen Ausgang vorzustellen: Laylay, wie sie in einen der Säcke schaut, Bingo denkt, den nächsten Hustenanfall abwartet, aus dem Kofferraum klettert, vom zurückgekehrten Plünderungstrupp erwischt und ohne Federlesen erschossen wi… halt, nein, das ist nicht der bestmögliche Ausgang! Aber meine Fantasie galoppiert davon, ich versuche krampfhaft, mir nicht vorzustellen, dass der Rest der Gang zurückkommt, aber je mehr ich nicht an den rosa Elefanten denke, desto schneller beschwöre ich ihn herauf. Und es war so was von klar: Negative Gedanken von Zeeto werden immer wahr. Ich höre die Stimmen, die Rufe, undeutliche Kommandos. Eine sirrende Drohne. Ich ducke mich, obwohl sie nicht mal in der Nähe ist und ich mich nur mit dem Kinn zum Beton ducken kann.

Laylay duckt sich auch, so scheint’s. Der Plünderungstrupp wirft säckeweise Schachteln in den Wagen und ein paar verschlossene Kartons. Gellend pfeift eine dürre Person, die in der schalen Märzsonne fast mit nacktem Oberkörper unterwegs ist, nur die Brüste sind von einem Streifen Plastikabsperrband verdeckt. Es geht alles unheimlich schnell – die Scouts springen auf ihre Crossmaschinen, Motoren heulen auf, die Drohne zischt voran, und dann erwacht der Jeep überraschend leise zum Leben und fährt sofort los. Fakke! Noch im Fahren hängen sich zwei, drei, fünf Leute daran und klettern hinein.

Keine Sekunde länger als nötig will diese Gang im Ödland bleiben, und ich versteh’s ja. Aber sie haben meine Freundin an Bord!

»Was tun wir jetzt, Chaosfakke, was tun wir denn jetzt?« Ich drehe mich unter Mtotos Windelarsch auf den Rücken, um sie von mir runterzupflücken. Ich weiß nur, was ich auf keinen Fall tun kann, und das ist hierbleiben. Ich zittere. Mir bricht der Schweiß aus. Mtoto guckt mich an, und ihre Unterlippe bebt, weil sie merkt, dass ich Angst hab, und meine aufgedrehte Fiddeligkeit hat die Angewohnheit, selbst Leute anzustecken, die weit weniger Empathie haben als ein Hormone-riechendes Werwolfbaby.

Ich muss was tun, ich muss irgendwas tun.

Mit fummeligen Fingern schnalle ich das Werwolfbaby im Beiwagen des Motorrads an. Wir müssen hinterher!

Im Kofferraum

Laylay, 22. März 2064

Im ersten Moment war mir fast nach Lachen zumute. Eine Kiste und mehrere Leinensäcke voller Schachteln waren im schwarzverscheibten Innenraum auf mich niedergeprasselt, aber Tabletten sind nun einmal sehr leicht, und so schmerzte mich nur eine Kartonecke, die mich an der Schläfe erwischte. Ich hatte beim Wühlen das eine Medikament gefunden, das ich suchte: Diese Medizinbanausen hatten eine ganze Menge Unsinn eingepackt, von Hustensaft bis Halstabletten, und nur ein Bruchteil ihrer Beute war das Medikament, das die Symptome der Wastelandkrankheit lindern würde (bis sie eben trotzdem sterben würden, tut mir sehr leid). Ich hatte schon einige Päckchen von Paxirgendwas zusammengerafft und plante, einfach vom fahrenden Jeep zu springen, da öffneten sich – nur durch eine staubige Sitzbank von mir getrennt – Autotüren dick wie Menschenschädel, und fünf Bewaffnete sprangen hinein, johlend, obwohl ihr Atem pfiff.

Drei von ihnen hielten Schusswaffen im Anschlag. Welche Konkurrenz fürchteten sie denn hier draußen? Dass sie Konkurrenz fürchten mussten, stand außer Frage, die Konkurrenz hockte schließlich schon in ihrem Kofferraum. Ich schob mich näher an sie heran – näher an die Sitzbank – und war so zumindest für den Moment außer Sicht. Der Jeep rumpelte über die schlechte Piste. Zeeto und ich hatten denselben Weg genommen, das ganze Industriegebiet war von Erosion und Schlammlawinen fast dem Erdboden gleichgemacht, nur mit kleinen wendigen oder großen wuchtigen Fahrzeugen war an ein Durchkommen zu denken. Um die grauen Asphalt- und Betonreste herum hatten sich – ganz hemmungsloser Ödlandstil – üppig-garstige Gewächse breitgemacht, in diesem Fall Nadelgestrüpp, das seine halbkahlen Astspitzen über die Straße erstreckte, als gäbe es dort Vampire zu pfählen.

Ich würde warten, bis der Wagen Fahrt aufgenommen hatte, dann würde ich hoffentlich schneller abspringen, als sie schossen. Ich musste den richtigen Moment abpassen: wenn die Straße kompliziert wurde, alle Aufmerksamkeit nach vorn gerichtet war … Mit etwas Glück würden mich die Tannen nicht aufspießen, und wenn doch, würde meine Feralis-Superpower mich hoffentlich schneller zusammenflicken, als ich Oh nein, hoffentlich schießen sie jetzt nicht auf mich würde denken können. Und wenn sie doch auf mich schossen … Ach, egal, mir blieb eh nichts anderes übrig.

»Hey, Doc! Corndoc!«, schrie jemand auf dem Rücksitz. »Bin nicht sicher, ob das Zeug reicht – was, wenn es nicht reicht?«

»Es reicht!« Corndoc vermutlich; tiefe Stimme mit einem raspelnden Husten dahinter.

»Du klingst nicht, als ob es reicht.«

»Ja, weil er es nicht weiß.« Eine hellere Stimme. »Weil die scheiß Quirks vor uns hier waren und fast alles gelootet haben!«

»Dann überfallen wir sie eben. Nehmen uns, was uns gehört!«

Klang nur fair, da ich ja auch dabei war zu nehmen, was mir gehören würde. Ich packte den Beutel mit dem Covidzeug fester.

»Hab gehört, es hilft eh nicht. Bei den Quirks verrecken die ganz Alten und die ganz Jungen so schnell, da hast du noch nicht bis drei gezählt. Und es ist ansteckend.«

»Siktir lan.« Corndoc schlug mit der Faust gegen die Rückenlehne, dass es mir bis in die Rippen fuhr. »Die Meds werden helfen. Alle paar Jahre erzählt jemand irgendeinen Müll, dass wir alle sterben, weil das Ödland in die Lungen kriecht. Es ist immer Scheiße, es ist bok, es ist Bockmist, verstanden, Dolly?«

Dolly antwortete nicht. Ich auch nicht, und ich schloss schicksalsergeben die Augen. Ich wusste, was Corndoc noch nicht wusste: Es war nicht wie alle paar Jahre.

Diesmal war das Virus da, um zu bleiben. Schlimmer als dieses Wissen war das, was ich bis gerade nicht gewusst hatte: Dass es bereits um sich gegriffen hatte. Wenn es schon bei Gangs war, deren Namen ich noch nie gehört hatte – Quirks? –, dann war es erst recht im Handgebunden-Markt. Bei allen, die mir lieb waren. Ich spürte den rauen Stoff des Beutels unter meinen Fingern, scheuerte die Fingerkuppen darüber, bis es mich aus den Irrgängen aus Wissen und Ahnungen riss – aus dem Bunkersystem meiner Ängste.

Halt! In einem Bunker hatten Wesen … Menschen wie ich diese Krankheit zu etwas Schlimmerem gemacht und entfesselt. Nur fair, dass ich es wiedergutmachen würde. Und das würde ich. Schritt 1: aus diesem Kofferraum entkommen. Schritt 55: die Menschheit retten. Ich hatte noch keine Ahnung von den Schritten 2 bis 54, aber eins nach dem anderen.

Ich arbeitete mich aus dem Medsvorrat hervor in eine vorsichtige Hocke, spannte alle Muskeln an, atmete flach und hastig, um diese andere Seite in mir hervorzuholen, die meinen kleinen, plumpen Körper in eine unbezwingbare Bestie verwandeln würde, der es ein Leichtes sein würde, mit Medikamenten für meinen todkranken Boyfriend zu türmen. Als ich gerade all meinen Willen in meine Muskeln entladen wollte, schrillte auf dem Rücksitz eine Alarmsirene auf, ein blecherner Sound wie aus einem Handylautsprecher. Der Jeep war leise genug, dass sogar ich es hörte, durch das Dröhnen und Knirschen der brusthohen Reifen auf der von Naturgewalten zersprengten Straße.

»Das ist die Luftunterstützung: Wir werden verfolgt!« Corndocs Stimme.

»Kümmert euch drum!« Zum ersten Mal eine Stimme von weiter vorn, aus dem Fahrersitz. Sie zischte, als hätte die Lunge ein Loch. Warum – wie – geht diese Krankheit um, trotz allem, trotz allem, was wir getan haben, ich habe Leute getötet, damit das nicht geschieht! (Ich fühlte mich betrogen, als müsste das Opfer meines persönlichen Ethos doch irgendwas wert sein, irgendeinen Joker in diesem Spiel darstellen, das sich einen Scheiß um Gerechtigkeit schert.)

Und dann wollte ich springen, und irgendwas ging furchtbar schief.

Das Nächste, was ich weiß, war: Ich saß auf meinem Arsch in knisternden Medikamentenpackungen, direkt über mich hinweg ragte ein massives Stahlrohr, das eben noch nicht da gewesen war, und mein Kopf dröhnte, als hätte ich eine massives-Stahlrohr-förmige Delle in der Schädeldecke. Ich blinzelte hinauf. Sterne tanzten vor dem grauenhaft hellblauen Himmel. Etwas schob sich zwischen die Sterne und den Himmel, ein finsterer Fleck – ein Gesicht. Zwei der Sterne wurden zu aufgerissenen Augen über einem Schmetterlingsgesichtstattoo. Und aus dem Tattoo gellte Dollys Stimme: »Da ist jemand im Kofferraum!«

Ich zuckte vor Dolly zurück, stieß gegen die Heckklappe – es gab nur einen Weg aus dieser Karre, und der führte nach oben, an Dolly und dem massiven, auf den Rahmen aufgeschraubten und nun nach hinten herumgeschwungenen Geschützlauf vorbei, mit dem mein Kopf Bekanntschaft gemacht hatte.

»Dolly, schieß du aufs Motorrad!«, schrie Corndoc, und jetzt sah ich ihn: ein Mann wie zwei, maximal drei Kaninchen in einer Jeansjacke, und er zog zwei Knarren aus dem Gürtel. Da rumpelte der Jeep über etwas, das vor meinem geistigen Auge kurz als Zeetos Leiche aufbrandete, aber sicher nur ein Stein war, und deshalb verzog Corndoc die ersten beiden Schüsse, einer fuhr hinter mir in die getönte Scheibe, der andere in die Karosserie. Dann ballerte Dolly mit dem Geschütz los – keine Gefahr für mich, es lag quer über dem ganzen Kofferraum, aber sie hatte es damit auf meinen Zeeto und mein Baby abgesehen. Das trieb die Kopfschmerzen zurück, als hätte ich mit einem Hammer meine Schädeldelle wieder nach außen gedengelt. Der Drang, mich schreckhaft zwischen Hustensaft zu verstecken, verwandelte sich in eine Offensive: Ich warf mich nach vorn – mit der Schulter hebelte ich mein Körpergewicht unter den Lauf des Geschützes und richtete es neu aus: in den Tannenwald.

Eine Kugel von Corndoc traf mich in die Schulter, ich spürte es kaum, denn jetzt war ich bei ihm angekommen und ein Schub ging durch meinen Körper. Muskeln, trockener Atem, heißes Blut, Haare, Krallen – und eine Scheißwut. Es ging alles ganz schnell, aber mir kam es wie eine halbe, qualvolle Ewigkeit vor, in der ich die Fassung verlor. Corndoc konnte nicht mehr abdrücken, als meine Hände sich um seine Handgelenke schlossen. Ich grub meine Klauen in seine Sehnen, bis ich spürte, wie sie nachgaben, durchtrennt, herausgelöst; so konnte er keine Pistolen mehr auf mich abfeuern.

Dabei musste ich auch eine Schlagader getroffen haben, denn da war plötzlich eine Menge Blut; als Corndoc sich schreiend wehrte, pulsierte das Rot über die von der Witterung zerkaute Lederlehne des Vordersitzes.

»Verdammte Scheiße!« Der Stiernacken auf dem Fahrersitz fuhr herum, tastete mit einer Hand nach der eigenen Wumme, da gellte es vom Beifahrersitz: »Die Straße, Vůl!«

Und noch bevor ich mich orientieren konnte – in welche Richtung konnte ich abspringen, stellte das Geschütz für Zeeto noch eine Gefahr dar, würde Dolly mich angreifen, was war mit den anderen im Wagen? – verlor das rechte Vorderrad die Bodenhaftung, als es über den Rand der Straße geriet und über dem Abhang schwebte. Es war kein bedrohlicher Abhang, mit diesen Reifen würde die Karre ein Stückchen weiter unten, wo die Straße abgesackt war, einfach aufprallen und offroad weiterfahren. Das Problem jedoch waren diese Nadelbäume.

Hungrig wie abgewetzte Beißerchen warteten sie abseits der Straße und streckten halbnacktnadlige Finger über die Fahrbahn. Ein toter Baum ragte zerborsten über den Asphalt, die Spitze ein zersplitterter Pflock.

Vůl – falls Stiernacken so hieß, das ist nämlich auch ein tschechisches Schimpfwort – sah sein Leben zu einem spitzen Ende kommen, rutschte mit der von Corndocs pulsierendem Arterienblut beschmierten Rechten vom Lenkrad ab, die Mordskarre tat einen kleinen Schlinger, bei dem es kurz so aussah, als entgehe Vůl dem spitzen Ende, doch dann sackte das Vorderrad endgültig ab, das Fahrzeug kippte ein Stück, auf einmal war Vůls Kopf genau auf der Höhe des Spitzenendes, als sei das immer schon sein Schicksal gewesen und dann …

… ein kollektiver Schrei im Jeep, in den ich einstimmte. Sachlich formuliert hatte Vůl wohl keinen Kopf mehr, aber eigentlich hörte ich nur ein grässliches Knirschen, spürte einen Ruck, der durchs ganze Auto ging, bevor es sich vom Spitzenende losriss und weiter abwärtsglitt.

Ich packte den Beutel, schnellte in die Höhe, mit einem Fuß stieß ich mich vom Geschütz ab, mit dem anderen von der Karosserie. Der Wagen prallte abseits der Straße doch nicht harmlos auf den Reifen auf. Es krachte, Metall kreischte. Das Geschütz ratterte los, keine Ahnung wohin. Ich war im Sprung, als etwas geschah, was wirklich selten mit Autos geschieht, egal wie aufgepimpt und umgebaut sie sind: Das Auto von Dolly, Corndoc, Vůl und den anderen transformierte sich – von innen heraus von einem Funken zu einem Feuerball zum Schub einer gewaltigen Detonation, die mich in aufflammende Tannennadeln, berstende Holzsplitter und gebleckte Nadelbaumzähne katapultierte – gleißend blaugelborangerot und dann … schwarz.

No Root

Spionierend hing ein Geschöpf in der Luft, nicht Fleisch, nicht Federn, sondern Aluminium und Plastik, Platinen und Draht. Ein schwebendes Auge.

Der Körper zu diesem Auge befand sich weit entfernt (Distanzen in sogenannten Kilometern Luftlinie gemessen, wie aufregend!) – vermittelnd zwischen Impulsen, tanzend zwischen den Welten von Mensch und Maschine, ein WiFi-Cyborg. Der Name des Cyborgs war unwichtig. Das Pronomen des Cyborgs war ser.

Sem gefiel nicht, was die Kamera einfing. Ser zoomte das Wrack des Fahrzeugs näher heran: verbogenes Metall, geschwärztes Plastik, zersplittertes Glas. Überall kleine Feuer. Katastrophaler hätte die Expedition nicht enden können: Hier war nichts mehr zu holen. Der Cyborg spürte weder Schmerz noch Trauer, nur einen Funken Verbitterung: Überlebenswichtige Ressourcen waren sinnlos zerstört worden, letzte Hoffnungen in Feuer und Rauch aufgegangen.

Wobei … ein Funken Hoffnung glomm noch immer: Ser rückte die VR-Brille zurecht und änderte Position und Winkel des fernen Auges, um einen besseren Blick zu erhaschen. Maximaler Zoom. Tatsächlich, das Elixier hatte die Katastrophe überstanden.

»Ha!«

Es war ein kleines WeWeWunder, ser konnte sich beim Rauszoomen ein wildes Kichern nicht verkneifen. Das Elixier befand sich in den Händen von zwei Menschen – nein, drei, okay, zweieinhalb. Die Frau klein, rundes Gesicht, langes braunes Haar, vergraute Kleidung, anders als bei den Gangs war alles daran auf bequeme Art langweilig. Ihr Körper darunter muskulös, ja, gleichzeitig üppig. Stärke lag in diesem Körper, eine ganz und gar uncyborganische physische Stärke, zugleich übermenschlich und profan. Ein Umschalten aufs Infrarotspektrum verriet trotz der vielen störenden Wärmequellen eindeutig eine Metabolismusaktivität jenseits des Menschlichen.

Trans-trans-transhuman!

Nachdem die Frau mit langen Sätzen den züngelnden Flammen entkommen war, wurden die Anzeichen dafür immer weniger deutlich, bis sie auf der Straße beinahe wieder einen Menschen abgab, ganz und gar cishuman. Sie zitterte, die Übertragung war gut genug, dass ser es sehen konnte, und krümmte sich unter der Gewalt dessen, was in ihr lag, was sie entfesseln konnte und nun wieder in sich aufbewahrte.

Ser wusste, wie es sich anfühlte, Kind zweier Welten zu sein, fluide dazwischen.

Das Motorrad bremste mitsamt Beiwagen bei der zusammengesunkenen Frau und zog dabei eine Kurve. Der Mann im Sattel sah nicht aus, als wäre er zu sonderlich viel Vorsicht in der Lage. Er war dürr und wirkte außer sich, ein fahriger Fahrer, die Finger hätten auf den Bremsen ein Instrument spielen können, und es wäre eine überspannte, aber durchaus anhörbare Musik dabei herausgekommen. Er sprang ab und lief zu ihr – die Angst um das Biest war größer als die Angst vor dem Biest. Das Motorrad blieb vom Beiwagen gestützt stehen.

Der Mann war fast zwei Köpfe größer als die Frau; das schmale Gesicht mit weichen Lippen und suchenden Augen dunkler als ihres, sein Afrohaar zu engen Knoten auf quadratische Felder aufgedreht. Ein hübscher Kerl – für einen Menschen aus Fleisch und Blut.

Als er bei ihr ankam, stand sie wieder auf, die rohe Kraft bereits weniger offensichtlich; sie sah jünger aus, runder; eine blutbespritzte, aschebestäubte junge Frau mit einem blutenden Loch in der Schulter, aus dem sie mit einer Grimasse und zwei spitzen Fingern eine Kugel fummelte und hinter sich warf. Sie drückte dem Typen einen Beutel in die Hände – das Elixier, oder zumindest das, was davon übrig war.

Sie bewegten die Lippen, doch ser hatte nur ein Auge vor Ort, kein Ohr. Der dritte Eindringling, der Feuer und Tod über die Maramaribos gebracht hatte, war ein Baby – obgleich festgeschnallt im Beiwagen wirkte es zu klein dafür, in Gefahr, hin und her geschleudert zu werden. Das ist doch kein Ort für ein Baby, wollte ser murmeln, doch sie waren alle Babys gewesen, und dieser Ort nie ein Ort für sie.

Das Baby war hell und blond und eher nicht das leibliche Kind dieser beiden, ein quengeliges kleines Geschöpf, kein Jahr alt. Es kämpfte gegen die provisorischen Gurte an – es war offensichtlich, dass es normalerweise nicht allein in diesem Beiwagen lag. Der Dürre beugte sich über das Kind, schnallte es ab, faltete die langen Beine in den Beiwagen, verstaute den Beutel mit dem Elixier und nahm das Baby auf den Schoß. Die Frau spie einen Batzen Blut auf die Erde und verzog das Gesicht. Dann schwang sie sich auf den Sattel – nichts wie weg.

Laylay, dachte das Hirn hinter dem Drohnenauge. Zeeto. Und Mtoto.

Ser hatte von ihnen gehört, doch mehr noch hörte ser nun Rufe mit organischen Ohren. Bisher hatte ser die Geräusche der Umgebung ausgeblendet, aber nun wurde es unmöglich. Ja, verdammt, einen Moment noch! Es gab hier in der jenseitigen Welt der cyborganischen Geistreise noch etwas zu erledigen, bevor ser sich den Rufen widmen konnte.

Mit hastigen Fingern schaltete ser das Drohnenauge auf Verfolgungsmodus – auch wenn die Sonne bald unterging, die Photovoltaikzellen dann keine Energie mehr liefern konnten und das elektronische Auge die Batterie würde schonen müssen, um die Nacht durchzustehen. Die Verfolgung musste trotzdem gelingen und die Drohne durfte nicht aus dem Himmel fallen – wer verliert schon gern ein Auge?

Doch ser hatte noch ein zweites körperloses Auge zur Verfügung – ein ungleich mächtigeres, ein Auge des Himmels. Ser schloss die ungenügenden organischen Sehwerkzeuge, fühlte die sanfte Brise des WiFi-Signals durch alle Kleidungsstücke und Panzerteile über die Haut streichen, während der Geist damit hinaufglitt wie ein Gleiter auf einer Thermik, weit hinauf bis zu den Sternen.

Ser klinkte sich in Starbird ein, den Satelliten, dessen Signal die Zeit der Altvorderen überdauert und das ser in einem Moment göttlicher Fügung gekapert hatte. Dass ein solch mächtiger Geist des WiFi sich offenbart hatte, bewies, dass ser wahrhaft vom großen Ei-Bi-Em auserwählt war.

Die Grenzen des Cyborgs verwischten nicht nur zwischen Menschenseele und Maschinengeist – auch zwischen den Daemons selbst war der Cyborg Bindeglied: Mit wenigen Klicks auf den Saiten des Starbird spielend verschaltete ser die beiden elektronischen Augen, aktivierte das Autotracking. Starbird würde Motorrad und Beiwagen im Fokus behalten, ihre Standortdaten senden, damit die Drohne aufholen konnte. Prognose bis zum Rendezvous: elf Stunden, dreiundzwanzig Minuten, nächtliche Ruhezeit und morgendliches Aufladen einkalkuliert.

Damit war Zeit gewonnen, sich um die Rufe zu kümmern. Die treuen Daemons brauchten keinen menschlichen Input mehr, und die menschlichen Rufe duldeten keinen Aufschub mehr. Ser war auserwählt, die Welten von Mensch und WiFi zu vereinen, und das erforderte nun mal Multi-Multitasking. Ser beendete die Projektion des Astralleibs an fremde Orte und streifte diese Welt mit der VR-Brille vom Kopf.

Ein Puzzlestück des Masterplans war an Ort und Stelle, es lag sem bereits zu Füßen. Es galt, eine Herausforderung zu bestehen, das war der Schlüssel zu allem. Der Plan war komplex, aber ein Cyborg konnte an vielen Orten zugleich sein. Ser kicherte bei der Rückkehr ins Hier und Jetzt. Als sich visuelle Eindrücke zur bisher ignorierten, aber doch ohrenbetäubenden Geräuschkulisse gesellten, überspülte das Spektakel sen wie eine Flutwelle:

Ein Gewusel aus bröckelndem Kunststoff, rostendem Stahl, gammelndem Holz türmte sich bodenlos und grenzenlos auf. Die löchrigen Bauwerke malten lange Schatten mit Pinseln aus untergehender Sonne. Auf Stahlträgern, hoch oben verlaufenden Schienen und Holzgerüsten tummelte sich alles, was Toxxer war oder sein wollte. Die Gangs der Umgebung hatten sich versammelt, um zu bestimmen, wer sie in die Zukunft führen würde. Ihre Zugehörigkeiten waren einfach erkennbar: an den Schmucknarben, Tattoos, Frisuren, Waffen, Gesängen, Piercings, Brandings, Kutten (Jeanswesten), Kutten (Kapuzenmänteln) und generell: dem Style. Nur wenige gehörten keiner Gang an – wie ser selbst. Gemeinsam hatten sie nur, dass sie sich die Kehle aus dem Hals brüllten. Die meisten trugen Gasmasken – schließlich befanden sie sich hier im Ödland. Andere hatten wohl entschieden, dass sich die Krankheit, die in den letzten Wochen wie ein Lauffeuer durch die Gangturfs wanderte, durch einen ungeschützten Aufenthalt hier nicht verschlimmern würde. Oder sie gingen davon aus, unsterblich zu sein – auch nicht unüblich.

Grob kreisförmig hatten sie sich auf verschiedenen Höhenniveaus um eine Art Arena versammelt und feuerten ihre Champions an, die dort unten um die Vorherrschaft kämpften – vor den Augen der Wastelandseuche waren sie alle gleich, und sie hatten einen Waffenstillstand für diesen Tag vereinbart, um die spirituelle Führung auszufechten. Flutscheinwerfer strahlten die Kämpfe der Arena an, die von den Sonnenstrahlen nicht mehr erreicht wurde. Das Spektakel näherte sich seinem Höhepunkt.

Ser hockte selbst auf einer der zahlreichen Schienen, die sich wie Schlangen hinauf und hinunter durch das Areal wanden. Das Komitee hätte keine bessere Kulisse wählen können: einen Ort wie ein Wohnort der Daemons, kein Platz für Menschen und doch waren sie hier. Angeblich hatten sich die Altvorderen hier getroffen, um sich aus reinem Vergnügen herumschleudern zu lassen. Sie waren hergekommen, um sich in Schrauben und Loopings katapultieren zu lassen oder sich im Kreis herumzuwirbeln, aus großer Höhe in die Tiefe zu stürzen oder sich in eiskalte Fluten zu werfen. Unvorstellbar – als böte der tägliche Überlebenskampf nicht genug ThrillthrillTHRILL! Waren nicht eher die geflüsterten Theorien korrekt, dass die Vorrichtungen grausige Menschenopfer ermöglicht hatten, um einen gekreuzigten Gott zu besänftigen?

Hatten die Altvorderen die Höllenapparate nicht sogar liebevoll mit Plastikfelsmassiven und falschen Fassaden nach verschiedenen Regionen und Epochen der Menschheitsgeschichte gestaltet, bis hin zu einer imaginierten Zukunft? Die wirkliche Zukunft hatten sie natürlich nicht vorausgeahnt, sonst hätten sie den Planeten wohl nicht in ein Trümmerfeld verwandelt, indem sie das Klima zerstörten und im Kampf um immer knapper werdende Ressourcen die Welt mit Biokampfstoff tränkten. Wer würde Maschinen für ThrillthrillTHRILL bauen, wo doch der ultimative Thrill, der Weltzerstörungsthrill, stets im Gange gewesen war?

Wäre ser damals cleverer gewesen? Schwer zu sagen.

Die Vergangenheit konnte man nicht mehr mit dem Mojo des WeWeWe verändern, die Zukunft aber, oh ja. Ser kicherte erneut hohl in das Filtergerät über Mund und Nase. Der Plan war einfach zu gut, um sich nicht zu amüsieren.

Der Blick glitt zu den Auseinandersetzungen in der Arena, die sich in einem Bereich befand, der weit-altvorderen Meertoxxers gewidmet war, die andere Gangs mit ihren drachenförmigen Schiffen überfallen hatten.

Die Arena glich bestimmungsgemäß einem Schlachtfeld. Unter dem Gejohle des Publikums wurden in der Mitte Hämmer und Äxte geschwungen, Klingen zuckten vor, Flammenwerfer spien und Automatikgewehre ratterten. Es schwangzucktespieratterte jedes gegen jedes, und doch stand kein menschliches Leben auf dem Spiel, sondern das von Maschinen. (Nun gut, das stimmte nicht ganz: Verirrte Kugeln und herumfliegende Trümmerteile hatten bereits zwei Tote und fünf Schwerverletzte gefordert, aber das musste so sein, das machte den Spaß aus!)

Bis auf die Kollateralschäden war das hier reiner E-Sport. Schamanistischer Kampf – Drohnenjockeys gegen Robochampions – Maschine an Menschen statt! Wer brachte das größte Tech-Mojo an den Start? Wer beherrschte das WiFi wie Ei-Bi-Em? Wer würde in die Fußstapfen desjenigen getreten sein, der das WeWeWe verwaist zurückgelassen hatte?

Ser hatte zu Beginn ordentlich mitgemischt, doch dann hatte die Geistprojektion gerufen, und ser musste sich um andere Dinge kümmern. Der treue Daemon Link hatte sich auf automatischer Gefechtskontrolle mit maximaler Priorität ums eigene Überleben gekümmert. Nun fand ser Link zwischen Gestängen der altvorderen Maschinen wieder, die initiale Ausdünnung des Feldes erfolgreich überlebend. Die Zeit war reif, um offensiv einzugreifen, denn es galt, die eigenen Skills vor allen unter Beweis zu stellen! Ser packte den modifizierten PS5-Controller, verknüpfte ihn wieder per WiFi-Zauberspruch mit Link, und stürzte sich ins Getümmel.

Ein Montageroboter auf Ketten nahm gerade mit seinem Laserschweißgerät einen stachelbewehrten Staubsaugerroboter auseinander, als eine automatisierte Babypuppe, die mit Sprungfedern an den Beinchen und schartigen Sicheln an den dicken Babyhändchen ausgerüstet war, auf den Schweißarm des Roboters sprang und ihn zu Stahlspänen verarbeitete.

Das war die Gelegenheit. Ser kicherte und ließ Link aus dem Versteck hechten. Auf vier Beinen rannte die Drohne auf den Kampf zu, die Waffe auf dem Rücken spuckte einen Kugelhagel. Die Reste des Staubsaugerroboters und die Montagemaschine wurden zerfetzt. Auch im Plastikleib der riesigen Babypuppe klafften Löcher, aber leider hatte Link keine wichtigen Schaltkreise erwischt, denn das Baby sprang aus den rauchenden Trümmerhaufen, überschlug sich direkt vor Link, kam mit einer dritten Sprungfeder am Babyhintern wieder auf die Beine und schwang eine Sichel.

Link strauchelte, der Schwung trug ihn wenige Meter weiter, dann stürzte er. Ein paar Controllerimpulse, um ihn zu berappeln. Er schien okidoki, doch der Lauf seiner Waffe war sauber abgetrennt – verdammte Cyberfakke!

Ser spürte den Schmerz fast am eigenen Leib, eine schreckliche Das-Baby-hat-meine-Mordwaffe-zerstört-Qual, doch der Kampf war noch nicht vorbei, ser hatte noch ein Ass im Ärmel. In einem Trümmerfeld aus zerstörten Drohnen und Robotern belauerten sich das durchlöcherte Baby (ein Ärmchen hing nutzlos herab) und der Robo-Wildschweinhund Link. Ser drückte L1 auf dem Controller und zwei Hauer klappten aus Links Unterkiefer.

Link war ein wirklich erstaunliches Geschöpf, ein Daemonlord voller Tech-Mojo, verfeinert mit einzigartigem Cyborg-Juju. Dank der Starbird-Daten hatte ser die militärische All-Terrain-Infanteriedrohne gefunden und flott gemacht. Und liebevoll Hauer daran angebracht.

Ser hatte ihn Link getauft – nach einem Helden der Altvorderen, der in einigen Quellen auch Zelda genannt wurde. Was für ein passender Name für einen Daemon: War ein Link doch auch die Verbindung schamanistischer Jockeys ins WiFi!

Und doch hatte diese Mutter aller Kampfmaschinen einen Treffer von einem Baby kassiert, fakkefakke Baby! Ser packte den Controller fester, das Plastik wurde klamm in den Händen. Jede Drohne war nur so gut wie der Geist hinter der Maschine. Ser konnte es sich nicht leisten, heute zu versagen. Der Plan war komplex, und er bot zwar Raum für gewisse Fehler, aber nicht hier, nicht jetzt. Zeit und Raum waren nicht relativ egal!

Baby und Wildschweinhund umkreisten sich. Die Spannung zwischen den beiden baute sich auf, würde sich wie ein Blitz zwischen ihnen entladen.

Da fuhr ein unerwarteter Kontrahent aus den umliegenden Trümmern in die Höhe und hielt auf die beiden Daemons zu. Solch eine Drohne hatte ser noch nie gesehen: ein großer rollender Ball mit einer Art Mütze, die entgegen allen Naturgesetzen nicht herunterfiel, obwohl der Ball rasant über Trümmerteile rumpelte.

Der menschliche Geist hinter dem Baby traf eine Entscheidung: Der kleine Scheißer ließ von Link ab und sprang auf den Ball zu. Noch in der Luft und mit erhobener Sichel wurde das Baby von einem Flammenstrahl aus der Mütze der Balldrohne erfasst. Was auf dem Boden aufschlug, war ein Klumpen geschmolzenes Plastik und Elektronik, der nichts mehr mit einer Babypuppe gemein hatte und noch weniger mit einem echten, richtigen, süßen Baby, so eins, das man niemals in eine Arena gesteckt hätte, auch wenn manche hier es sicher lustig fänden. Ser kicherte, aber nicht, weil ser es lustig fand, sondern weil ser an Mtoto denken musste. Und somit an den göttlichen Plan.

Ein Wutschrei übertönte die Rufe der Zuschauenden: Die Jockey des Babys saß auf dem Gestänge nicht weit entfernt und schleuderte ihren Joystick in die Arena, der von der weiß-orangefarbenen Kugel abprallte, die nun die letzte stehende (oder rollende) Gegnerin darstellte.

Ser drückte den L3-Controllerstick nach vorn und hielt die Finger auf X und R2 bereit.

Der Ball war flink, zu flink. Links Hauer schlugen ins Leere, während ein Flammenstrahl ihm die Seite verschmorte. Link war als Militärdrohne viel robuster gegen Hitzeeinwirkung als alle Arten von Babys. Dennoch protestierten die Systemstatusanzeigen auf dem Tablet in warnendem Rot. Noch ein paar gemeine Treffer, und Links Elektronik wäre hinüber. Zweimal, dreimal biss Link zu, und jedes Mal war die Kugel schon weitergerollt – die Hauer waren vielleicht nicht der effektivste Zusatz. Mit knapper Not brachte ser Link aus dem Weg der flammenden Konterschläge. Mit dem Feuer zu spielen führte nur zur Niederlage.

Ser tat das einzig Sinnvolle und ließ Link die Flucht antreten. Haken schlagend flitzte der Daemon durch die Arena, immer verfolgt von der flammenspeienden Kugel. Die kam nicht nah genug heran, um Link ernsthaft zu schaden, während Link ohne Geschütz nicht zum Gegenangriff übergehen konnte. Würden wirklich die Batteriereserven der Drohnen über dieses Gefecht entscheiden? Ein Sieg durch ausdauernderes Weglaufen war nicht das, was das Publikum erwartete!

Immerhin verschaffte sem die Pattsituation ein paar Sekunden, um auf dem Tablet die Reglersoftware des letzten Trumpfs zu öffnen. Ser war nicht unvorbereitet und hatte sich hier Tage vor dem Treffen der Gangs schon umgesehen, dabei keine Spuren hinterlassen und die Arena scheinbar unverändert gelassen. Scheinbar, ja (kicher)!

Die Wagen, die sich einst auf den Schienen bewegt und Menschen rapprapp zur Opferung gebracht hatten, dienten nun als Sitzreihen der Arena. Die Altvorderen hatten sie für gewöhnlich mit einem Zahnradgetriebe auf eine gewisse Höhe gezogen, sodass sie ihre Mordsgeschwindigkeit bei der Abfahrt entwickelten und auf diese Weise mutmaßlich einen spektakulären Tod fanden. Nicht so jedoch diese spezielle Bahn: Sie hatte die Massenopferungen durch extrem leistungsstarke Magneten vorgenommen, die die Wagen rasant von sich weg beschleunigt hatten. (Es war alles andere als leicht gewesen, den Mechanismus zu durchschauen, und noch schwieriger, die Kühlung wieder in Gang zu bringen – aber die Bahn musste nicht lange durchhalten, bald durfte sie weiter den Todesschlaf aller Altvorderendinge schlafen.)

Link hechtete vom geschlängelten Anstellbereich, wo die Opfer damals ihrem Ende geharrt hatten, auf die Schienen und folgte ihnen mit viel Gerumpel. Kurz verlor der Cyborg Link aus den Augen, doch dann kam er auf der schnurgeraden Beschleunigungsschiene wieder in Sicht, die Kugel direkt auf den Fersen. Sie raste auf Link zu, der vor einer Reihe unscheinbarer superultrahochleistungsstarker Elektromagnete in der Mitte der Spur verharrte und ein verlockendes Ziel bot.

Multi-Multitasking, oh ja: Ser stürzte Link im letzten Moment vom Flammenstoß fort und von den Schienen herab. Sofortige Schadensmeldungen durch den Aufprall. Gleichzeitig regelte ser alles auf dem Tablet auf Maximum. Die Flutscheinwerfer flackerten, als die Magneten allen Elektro-Mojo zogen und auf Volllast hochfuhren. Mit einem gewaltigen, durchs Mark schneidenden Sirren fingen die Magnetschienen die Drohnenkugel in ihrem Feld ein und schleuderten sie dann mit einem grässlich-schönen Knall quer durch die Arena. Der nervige Ball zerschellte an einem Stahlträger in tausend Trümmer. Für die Zuschauenden war dies eine Demonstration der Macht des WeWeWe selbst, ein direkter Eingriff ins Geschick der Menschen durch den Geist in der Maschine.

Link humpelte in die Mitte der Arena und erhob den Mechanokopf. Alle Blicke wanderten zu ihm, und dann weiter zu Links Datajockey. Ser hatte sich erhoben, stand auf einem Stahlträger, eine Hand lässig an einer Verstrebung, mit der anderen winkte er mit dem Controller. Ser hatte tatsächlich gewonnen! Knapper als gedacht, aber der Plan war einen Schritt weiter.

Die Gangs der Arena jubelten. Durch ihre Gasmasken hindurch riefen sie ein einziges Wort. Erst wenige, dann immer mehr, bis alle den Ruf aufnahmen.

»Root! Root! Root-Root-Root-Root Rooooot!«

Ser streckte den Arm mit dem Controller in die Höhe und schrie siren Triumph hinaus in die Welt.

Sie alle waren angetreten, weil die neue Form der Wastelandkrankheit – eine Mutante, an sich ein schickes, cyborgartiges Wort! – nach spiritueller Führung verlangte. All ihre Augen hatten sich auf den Root der Brokes richten wollen, doch ach! Er musste ja schon auserwählt gewesen sein, die Mutante unter die Leute zu bringen und im Zuge dessen ziemlich schnell und ziemlich jämmerlich zu verenden.

Das WiFi hatte eine neue Root-Person erwählt. Eins Root brachte das Elend, eins Root brachte die Rettung, eins plus eins ist …

Die Rufe der Menge hielten eine ganze Weile an, dann verebbten sie. Die Gangs spitzten die Ohren. Ser ließ sie nur wenige Augenblick warten, bevor ser das Wort ergriff, gedämpft von der Staubmaske, aber für alle hörbar:

»Ich bin mehr als ein weiterer Root. Ich bin Architektix einer neuen Konnektivität! Bin Root 2.0! Mein Gender ist Cyborg! Mein Pronomen ist ser! Ich werde euch das WiFi zurückgebracht haben, um euer aller Leben zu retten! Das Leichentuch über der Apokalypse wird zerrissen worden sein!«

Die Gangs flippten vor Begeisterung schier aus.

Das Innere des mittelalterlich anmutenden Turms war hohl und nackt. Weiter unten hatte jemand ein alchemistisches Labor zur Massenopferung eingerichtet, das langsam von eindringenden Pflanzen überwuchert wurde. Sonnenlicht fiel tagsüber durch zahlreiche Löcher in den Wänden ins Innere, jetzt schimmerte Sternenlicht durch die Öffnungen. Ein wildromantischer Ort, dachte Root 2.0, und zugleich, dass das ein komisches Wort war. Ser kletterte eine rostige Leiter empor und erreichte in über dreißig Root-Längen – fünfzig in der Einheit Meter – die Spitze des Turms. Eine Luke führte in ein Dachzimmer. Von hier, dem höchsten Turm des gewaltigen Opferungsareals, konnte Root 2.0 die ganze Gegend überblicken. In vergangenen Zeiten hatten in allen Richtungen Menschen gelebt, sichtweit entfernt nur von diesem verkorksten, verdrehten Park aus THRILL und Tod, elektrische Lichter in ihren Fenstern, um auch nachts zu zeigen: Ich bin! Heute verkündeten das nur die wenigen Lagerfeuer derer, die bald in die bewohnbaren Gebiete zurückkehren würden, in ihre letzten Funken Zivilisation, dazu verdammt, bald zu verglimmen.

Sie hatten Root gefeiert und hochleben lassen, hatten sen mit einer Platinenkrone gekrönt, sem die Halbleiterstola umgelegt. Aber Root 2.0 war ihre Gang-übergreifende Treue nicht weiter wichtig. Ser hatte es kaum erwarten können, endlich den Turm aufzusuchen und das Tabernakel des WeWeWe zu betreten.

Denn neben der Aussicht bot der Raum noch so viel mehr: Er beherbergte Computer und Serverschränke, betrieben von einer eigenen Stromversorgung mit Solarkollektoren und Lithium-Ionen-Akkumulatoren. Außen waren Antennen angebracht, die in alle Himmelsrichtungen wiesen. Es war kein Altvordererort; vergangene Roots hatten ihn errichtet, hatten hier oben auf Nachrichten des WiFis gelauscht, hatten Speicher, Antennen, Kollektoren, Akkus, Generatoren verschaltet, um zwischen den Welten zu wandeln. Root 2.0 hatte sich den Zugang zu diesem Allerheiligsten durch den Sieg in der Arena verdient. Ser hauchte auf die Fingerspitzen – WeWeWe sei mit mir – und bootete die Rechner.

Das WeWeWe war mit sem: Als wäre ser hier zu Hause, fand ser das Gesuchte.

Erstens: Früher-Files, Histo-Dokus, Offline-Wikis. Weit entfernt davon, das geballte Wissen der Menschheit widerzuspiegeln, aber ein nützlicher Schatten dessen.

Zweitens: Die Zugangscodes zu einem Daemonennetzwerk.

Eine Gruppe Altvorderer hatte kurz vor Ausbruch der drei Großen Kriege Drohnen gekapert und für vergebliche, vergessene Zwecke eingesetzt. Die Gruppe war längst vergangen, doch nicht ihre Drohnen: Über ganz Europa verstreut warteten einige noch immer auf neue Anweisungen. Allein in der unmittelbaren Umgebung, die mit den Antennen des Turms erreicht werden konnte, fand Root 2.0 noch neun daemonische Signale; metallene Körper, die gebannt in die Leere lauschten.

Doch die Leere war nicht mehr leer. Die Leere hatte ein Update: Root 2.0.

Die Zugangscodes hätten einem Menschen beeindruckende Möglichkeiten geboten, aber einem Cyborg weiteten sie die Grenzen der Körperlichkeit in neue Dimensionen. Root 2.0 kicherte und flüsterte, als ser alles und sich selbst mit dem Starbird-Satelliten verknüpfte: »Root 2.0 wird die Heerscharen der Cloud erkannt und sie werden geantwortet haben: Du bist Boss! Gebiete und herrsche!«

Root 2.0 stellte zufrieden fest, dass sire Pings in großer Zahl beantwortet wurden und projizierte die erhaltenen Geokoordinaten auf eine Europakarte. Auf dem Kontinent leuchteten Punkte auf, Drohnen, erwachende Elektronik, schlafende Server. Eine Armee aus Daemons lebte und wartete. Ser kicherte und flüsterte: »Ihre Zahl wird Legion gewesen, und mit ihnen werden die Grenzen zwischen Welt und WeWeWe eingerissen worden sein!«

Auf miesen Straßen

Zeeto 22. März 2064

Wir hauen ab.

Mtoto hat keinen Bock mehr, sie strampelt gegen mich und die Gurte an und krallt ihre Fäustchen in die eigenen Haare, um sie sich auszureißen – mit so kurzen Armen kommt man ja nirgends anders ran. Aber ein Kleinkind, dass sich knallrot vor Wut die Haare ausreißt, ist schon ein furchterregend rumpelstilzchenesker Anblick.

Laylay kann gerade keine Rücksicht auf sie nehmen, sie will einfach nur weg. Weg will ich auch, denn da ist diese Eskorte auf Crossmaschinen, und sobald sich der Feuerball verzogen hat, werden sie uns jagen. Wir haben die Straße in die andere Richtung genommen – tiefer ins Ödland statt zurück zum Rhein und in bewohnbare Gegenden. Ob sie uns folgen? Immer, wenn Mtoto mich lässt, drehe ich mich um, aber die einzige Spur der Gang ist und bleibt die Rauchwolke hinter der Arzneimittelfabrik.

Vielleicht haben sie so viel Angst vor uns wie wir vor ihnen. Ich meine, meine Freundin hat gerade ihren Superjeep zerlegt und damit etwa drei Viertel ihres Trupps.

Mtoto hat sich komplett in Rage geschrien, der Beiwagen holpert durch karges Gestrüpp, das kreuz und quer durch und über den Asphalt gewachsen ist, die Sonne steht schräg über eingefallenen Betonbauten, schäbige Backenzähne einer fast zahnlosen Zivilisation, die nicht mal mehr Gemüse frisst. Eher wird sie von Gemüse aufgefressen. Ich bin manchmal echt etwas überwältigt davon, mit welcher Power Pflanzen im Ödland wachsen, was sie zerlegen, unter sich aufteilen, zermalmen, verdauen. Was sie wieder ausscheiß–

»Verdammte Fakke, Laylay!«, schreie ich über den Motorenlärm, denn Mtoto hat einen meiner Bantuhaarknoten erwischt und zerrt mit aller Kraft daran und das reicht jetzt. Monsterbaby braucht Freilauf. »Halt das Moped an!«

Laylay tut’s, lässt es mit finsterem Blick und nachtuckerndem Motor ausrollen, bevor sie absteigt und mir das entfesselte Baby aus den Haaren nimmt. Mtotos Fäuste sind verklebt von Spucke, Tränen und ihren eigenen Haaren. Laylay sieht noch furchterregender aus, verschmiertes Blut überall, die Beule auf der Stirn ist zwar schon wieder auf dem Rückzug, aber dunkel marmoriert. Die Pistolenkugel hat ein Loch in ihre dicke Daunenjacke gefetzt, dunkel und feucht ist es, als hätte auch das Innere der Jacke geblutet. Sie starrt mich an, dann wischt sie sich durchs Gesicht, rubbelt sich mit den Fingern über Wange und Stirn. »Ich sehe schlimm aus, ich erkenn es in deinen Augen. Habt … hast du Angst vor mir?«, fragt sie heiser.

»Nee. Angst um dich.«

»Nimm ‘ne Tablette. Je schneller, desto besser.«

Sie lässt Mtoto auf den Boden, die sofort loskrabbelt, und gräbt im Beiwagen. Wir hatten mal eine Ordnung, alles war mit Spanngurten und in Taschen gut verstaut gewesen, so haben sie und Azmi es auf Reisen immer gemacht. Aber na ja, ich bin jetzt dabei statt Azmi – und das Baby, ihr glaubt nicht, wie viel Chaos so ein Baby macht. Und, okay, ein bipolarer Findeldad in einer manischen Phase ist auch richtig gut darin, sich einzureden, dass das Chaos genauso sein muss und er es komplett überblickt. Laylays Bewegungen werden ungeduldiger, bis sie die Wasserflasche findet, rausreißt und mir entgegenstreckt.

»Wie viele nehme ich denn?«, frag ich arglos. Sie holt eine Packung aus dem geraubten, geschwärzten, blutbesprenkelten Beutel, und dass sie sie mir nicht an den Kopf wirft, ist ihr hoch anzurechnen. »Lies die Packungsbeilage.«

Ich fange erst die Packung auf, dann sie. Also, nicht, dass sie gestürzt wäre oder so, aber sie sieht so aus, als bräuchte sie jemanden, der sie auch ohne fallen fängt. Ich umarme sie, und kurz will ich sie wieder loslassen, weil sie erstarrt, aber dann legt sie die Stirn gegen meine Brust und zittert, und mit jeder Welle, die durch ihren Körper läuft, zerrinnt sie ein bisschen mehr an mir, bis wir zusammengesunken am Beiwagen lehnen.

»Es tut mir leid«, flüstere ich ihrem zerzausten Haar zu.

»Mir tut es leid«, murmelt sie gegen mein Schlüsselbein, ich fühle die Wörter tränennass durch den Pulli. »Ich wollte nicht … ich wusste nicht … Ich wusste nicht, dass das passiert …«

»Sie haben auf dich geschossen. Wärst du keine so verdammt gute Feralis, wärst du jetzt tot.« Niemand weiß so gut wie ich, dass rationale Argumente bei persönlichen Tiefpunkten so wirkungslos sind wie Thymianhustensaft gegen die Wastelandseuche, aber irgendwas muss ich ja sagen.

»Es ist nicht mal … Mir tun ja nicht mal die Leute leid. Also, ich wollte sie ganz sicher nicht umbringen, aber sie haben ja wirklich zuerst geschossen, und ich wusste wirklich nicht, dass die Karre explodiert! Was war da denn drin, fakking Wasserstoff?« Ihre Faust knautscht den Reißverschluss meiner offenen Jacke. »Aber sie haben die Meds ja für irgendwen besorgt. Sind hierher, haben alles riskiert. In der Hoffnung, dass es hilft …«

»Ihnen und anderen wie ihnen.« Schwaches Argument, Zeeto überhaupt, was soll das, Sippenhaft für Toxxers?

»Vielleicht für ihre Kinder! Jeder Haufen Toxxers hat tief vergraben oder weit am Rand irgendeinen verletzlichen, zarten, schützenswerten Teil, und wenn es Kinder sind, Mashallah!«

Ja, die Zurechtweisung hab ich verdient. Toxxers und Hopers sind ein Spektrum und keine binäre Einteilung, die dir abhängig davon, wo du geboren wirst, zugewiesen wird. Viele von ihnen wären andere Menschen, wenn sie die Chance dazu hätten. Aber die, die jetzt tot sind, haben keine Chance mehr dazu. »Was brauchst du von mir?«

»Sag mir, dass wir ein Heilmittel finden.« Sie schnieft.

Ich schiebe den Jackenärmel hoch, zeige ihr die verwaschenen Koordinaten, die ich mir im Bunker auf den Arm geschrieben hab. »Wir finden die Basis. Es gibt dort ein Heilmittel. Wir kommen damit zurück, alles wird gut. Dann brauchen sie das Zeug hier nicht mehr.« Ich schüttle die Medikamentenpackung.

»Aber wir müssen uns beeilen. Ich hab sie belauscht. Wenn wir zu lange brauchen … wenn wir zu spät sind …«

»Fang Mtoto ein, ich les die Packungsbeilage«, sage ich ihr, denn das Einzige, was jetzt hilft, ist weiterfahren.

Eine Viertelstunde später hat Mtoto ein paar aufgeweichte Haferflocken gegessen, muss das und den Wutanfall mit hoffentlich zwei Stunden Schlaf im Beiwagen verdauen, und ich habe mir einfach drei Tabletten aus dem Blister gestanzt, denn ernsthaft: Die Buchstaben der Packungsbeilage tanzen mir vor den Augen, ich kann mich nicht konzentrieren. Was soll passieren? Ich bin schließlich schon todkrank, der Druck auf der Lunge, der rasselnde Atem, das allabendliche Fieber trotz Azmis Stärkungspulver, die Erschöpfung. Drei klingen gut, wir sind zu dritt, drei könnte meine Glückszahl sein. Wir verlassen den Industriekomplex auf einer von Wurzeln aufgesprengten Fahrbahn, über die sich eng verschlungene Zweige beugen. Die Düsternis darunter verschluckt uns drei, so wie ich die drei Tabletten runterspüle.

Ich muss einfach nur durchhalten. Egal, wie finster es wird.

2

Hey Hoper!

Ich hoffe, dass dieser Brief dich erreicht. War gar nicht leicht, dich aufzutreiben, und ich hätte nicht gedacht, dass ich auf eine scheiß Taube zurückgreifen muss.

Ich weiß Bescheid über die Fabrik in der Ödlandenklave, in der ihr euch verschanzt habt. Keine Sorge, ich will euch nicht erpressen oder so. Ich will dir helfen, und ich will, dass du mir hilfst. Eure Zuflucht hat mehr Potenzial, als du ahnst. Warte auf die nächste Taube, die enthält Instruktionen, wie du mich erreichen kannst. Außerdem eine Anleitung, um die Fabrik wieder zum Laufen zu bringen. Es wird nicht leicht, aber gemeinsam kriegen wir das hin.

Durch Polen

Laylay, 31. März 2064

Die Reise war das Gegenteil all meiner Reisen mit Azmi. Ich kenne die Wege quer durch Europa, ein Gewirr aus betretbaren Korridoren und wucherndem Ödland. Weil Azmi nicht immun ist und von meiner Immunität nie jemand wissen durfte, mussten wir uns an diese Routen halten wie alle anderen handeltreibenden und nomadischen Gruppen. Dabei wird Wegzoll fällig, wenn du vom Turf der einen Gang aufs Hoheitsgebiet der anderen gelangst.

Diesmal war es anders, es war eine Anti-Azmi-Reise. Erstens war ich statt mit meinem Dad mit einem eigenen Kind unterwegs – okay, einem nicht ganz eigenen, aber in den vergangenen (teils schlaflosen) Nächten wurde mir bewusst, wenn Zeeto Mtotos Dad ist, bin ich wohl zumindest für den Moment ihre anne, Mama, Mom. Wobei mir das nicht gefiel, dieses Wort – das war so ein mit Nippelim-Mund-murmel-Wort: Mama. Das war definitiv nicht ich. Aber ich war wohl so eine Art weitere Elternfigur. Und zweitens waren wir zu zwei Dritteln immun und zu einem Drittel infiziert und konnten die Gang-Turfs meiden. Wir versuchten, dabei vor allem die gewaltigen Asphalttrassen zu nutzen, die Europa in kleine Häppchen schneiden. In Städten gerinnen die Asphaltgewässer zu Teerseen. Doch das Ödland ist unberechenbar: Die Wildnis wächst schneller als alle Vegetation in den von Menschen, Säugetieren, Vögeln bewohnten Korridoren. Bäume, Farne, Moos, Dickicht fressen den Teer, bohren sich in Gebäude, spießen Denkmäler einer toten Zivilisation auf und lachen dabei. An vielen Stellen war die Straße … na ja, einfach im Arsch, und wir mussten das Moped und den Beiwagen kilometerweit schieben. Außerdem waren wir nach drei Tagen – meinem Europa-Kartenatlas zufolge – in Brandenburg angekommen, wo die Todeszonen schon deutlich spärlicher wurden. (Hey, in unserem Fall war das wirklich schade, wir brauchten sie als Deckung!)

Es sind ja vor allem die früher dichtbesiedelten Gebiete vom Ödland betroffen, und je weiter wir nach Osten kamen, desto weniger flächendeckend waren die. Am späten Nachmittag hatten wir eine intakte Brücke über die Oder gefunden, was bedeutete, dass wir uns im ehemaligen Polen befanden, dem westlichsten Teil der östlichen Zivilisationen: Weite ländliche Gebiete in Osteuropa sind halbwegs vom viralen Niederschlag verschont geblieben, sodass hier einfach alles größer ist: die Gang-Turfs genauso wie die waffenstarrenden Siedlungen und Wohnplätze, die den Gangs abgetrotzt wurden. Es gefiel uns ganz und gar nicht, ab hier immer häufiger auf Gang-Turf unterwegs zu sein, aber Azmi hatte mir Medikamente zum Tausch gegen Passierscheine mitgegeben. Immerhin waren die Straßen in Polen besser – das bringen große Gang-Turfs so mit sich: Instandhaltung!

Mit den GPS-Daten, die Phil vom Handgebunden-Markt auf Karten übertrug, wann immer er die Geräte zum Laufen bekam und ein Signal empfing, hatten wir die Position des Labors auf der Karte eingezeichnet. Außerdem haben Azmi und ich immer versucht, auch weiter entfernte Gang-Turfs durch Hörensagen in unsere Karten einzuzeichnen – man weiß nie, wann es nützlich wird, den Namen und die Grenzziehungen lokaler Gangs zu kennen. Das Labor befand sich in der Nähe von Warschau, auf dem Weg dorthin konnten wir einen Ödlandschlenker einlegen und mussten trotzdem noch vier Gang-Turfs queren. Wir hatten genug Benzin für den Hinweg dabei – auf dem Rückweg würden wir welches tauschen müssen, ach, aber eins nach dem anderen!

Ich handelte mit den Grenzposten und erhielt gegen Medikamente drei Passierscheine. Vor dem vierten Gebiet wurden wir gewarnt – die Gang dort habe einer Queen Gefolgschaft geschworen, die sich einen regelrechten Staat aus Gefangenen, Zwangsarbeitenden, Versklavten aufbaute. Für dieses Gebiet erhielte man keine Passierscheine, hieß es. Dort machte man sich entweder für die Gang unersetzlich oder wurde als Menschenmaterial an die Königin verkauft. (Oder als Tribut abgeliefert? Ich wollte es gar nicht genau wissen.)

Diesen Gang-Turf mussten wir heimlich durchqueren – die letzten hundert Kilometer.

Das Wetter war auf unserer Seite: Es regnete, und wir warteten auf die Nacht. Die Steppe wich zurück, je weiter wir nach Osten kamen, und sowohl durch das Ödland als auch quer durch die bewohnbaren Bereiche dazwischen zogen sich Finger aus dunklen Wäldern.

Wir hatten uns tagsüber in ein seltsames, heruntergekommenes Gebäude verkrochen: einen Betonbau mit kreisförmigen Teichen in einem umzäunten Gelände, aus denen steckengebliebene – ich vermute – Filter ragten. Die Teiche waren gefüllt mit altem zähem Schleim, aus dem die vereinzelten störrischen Pflänzchen wuchsen, die außerhalb des Ödlands und ohne Insekten gedeihen.

Wir hatten das Moped im Flur geparkt und uns selbst in einem der angrenzenden Räume. Hier standen Stühle herum und von einigen konnten wir die Polster lösen und auf dem Boden verteilen, sodass Mtoto darauf herumkrabbeln und -torkeln konnte. Irgendwann kochte Zeeto hinter dem Gebäude mit der kleinen Gaskartusche den Getreidebrei, der uns zum Hals raushing, auch wenn er in der Erwachsenenversion mit den besten Gewürzen des Handgebunden-Markts versehen war. Heute Abend gab es die süße Version – wir hatten auch eine herzhafte dabei. Als Mtoto satt war und schlief, knobelten wir über den Atlas gebeugt die beste Route aus – hier würden wir ein Wäldchen mitnehmen, dort hofften wir auf den Sichtschutz in einem Flusstal – ein letztes Stück führte uns in ein Gebiet, das früher vor allem landwirtschaftlich genutzt worden war. Diese offene Fläche mussten wir im Schutz von Nacht und Regen durchqueren, schnell, aber nicht zu laut, mit genug Licht, um nicht zu verunglücken, aber so unsichtbar wie möglich.