Die Vermessung des Lebens - Peter Spork - E-Book

Die Vermessung des Lebens E-Book

Peter Spork

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Beschreibung

Das Ende aller Krankheiten? Wie die neue Wissenschaft der Systembiologie uns hilft, gesund zu bleiben

Weltweit forschen Wissenschaftler mit Hochdruck daran, den menschlichen Körper ganzheitlich zu verstehen, von der kleinsten Zelle bis zum gesamten Organismus, von der Psyche bis zum Umwelteinfluss. Mit moderner Technik und neuen Algorithmen entschlüsseln Systembiologen die unfassbar vielen Stoffwechselvorgänge und Verhaltensmuster, die unsere Existenz ausmachen. Ihre Erkenntnisse wachsen täglich – und werden die Medizin revolutionieren. Je besser wir wissen, wie Krankheiten entstehen, desto eher können wir sie verhindern. In seinem neuen Buch zeigt Bestsellerautor Peter Spork, welche Chancen diese zukunftsweisende Wissenschaft für jeden von uns birgt: Schon bald werden wir in der Lage sein, unsere eigene Gesundheit und Fitness zu steuern, sodass wir besser gegen chronische Krankheiten geschützt sind und das Altern verlangsamen.

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Seitenzahl: 414

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Zum Buch

Weltweit forschen Wissenschaftler mit Hochdruck daran, den menschlichen Körper ganzheitlich zu verstehen, von der kleinsten Zelle bis zum gesamten Organismus. Mit moderner Technik und neuen Algorithmen entschlüsseln Systembiologen die unfassbar vielen Stoffwechselvorgänge und Verhaltensmuster, die unsere Existenz ausmachen. Ihre Erkenntnisse wachsen täglich – und werden die Medizin revolutionieren. Je besser wir wissen, wie Krankheiten entstehen, desto eher können wir sie verhindern. In seinem neuen Buch zeigt Bestsellerautor Peter Spork, welche Chancen diese zukunftsweisende Wissenschaft für jeden von uns birgt: Schon bald werden wir in der Lage sein, unsere eigene Gesundheit und Fitness zu steuern, sodass wir besser gegen chronische Krankheiten geschützt sind und das Altern verlangsamen.

Zum Autor

Peter Spork wurde im Bereich Neurobiologie/Biokybernetik promoviert und gilt als einer der »führenden Wissenschaftsautoren hierzulande« (DLF). Seit 30 Jahren schreibt er für viele deutschsprachige Zeitungen und Magazine. Er gibt den Newsletter Epigenetik und das Online-Magazin Erbe & Umwelt (RiffReporter.de) heraus. Seine Bücher wurden in zehn Sprachen übersetzt, darunter Der zweite Code (2009), das weltweit erste populärwissenschaftliche Sachbuch zur Epigenetik. In seinem SPIEGEL-Bestseller Gesundheit ist kein Zufall (DVA, 2017) plädiert er für ein neues Verständnis von Gesundheit und für eine neue Biologie der Vererbung.

Besuchen Sie uns auf www.dva.de

Peter Spork

Die Vermessung des Lebens

Wie wir mit Systembiologie erstmals unseren Körper ganzheitlich begreifen – und Krankheiten verhindern, bevor sie entstehen

Deutsche Verlags-Anstalt

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Copyright © 2021 by Deutsche Verlags-Anstalt, München in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Covergestaltung: FAVORITBÜRO, München Coverabbildung: ConnectVector/Shutterstock.com Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN 978-3-641-24941-0V002
www.dva.de

Für Susanne, weil auch das stabilste System ein großes Herz braucht

Inhalt

Vorwort: Rechnen Sie mit dem Besten

Einleitung

Lernen aus der Coronakrise

Den Gesundheitsprozess lenken

Kapitel 1:Das ganze Leben auf einen Blick – Gesundheit ist nicht linear

Wie alt bin ich wirklich?

Gesundheit ist berechenbar

Das Leben verstehen

Vom linearen zum systemischen Denken

Eine neue Ära

Gesundheit als lebenslanges Projekt

Netzwerk innerhalb von größeren Netzwerken

Rechenleistung statt Religion

Digitaler Zwilling

Der Traum von der Gesundheitsmedizin

Kapitel 2:Krankheit verhindern, bevor sie entsteht – Von der Medizin zum Leben in Gesundheit

Was ist Leben?

37 Billionen Wunder

Organe in der Petrischale

Krankheit verstehen

Das Leben auf null zurücksetzen

Die Hand am Schalter der Zell-Identität

Das Altern begreifen – und vielleicht aufhalten?

Wir bleiben immer länger jung

Fliegende Heuschrecken und die Biokybernetik

Wie Computer uns das Leben erklären

Digitale Medizin

Die Zukunft der Medizin

Leben in Gesundheit

Kapitel 3:

Der Gesundheits-Navigator

Theorien von Systemen

Wenn Mathematik auf Biologie trifft

Rechnen in der Coronakrise

Im Reich der Differenzialgleichungen

Die Systembiologie entdeckt die Molekularbiologie

Hinterm Differenzial geht’s weiter

Daten, Daten, noch mehr Daten

Wie die Medizin in zehn Jahren aussehen wird

Auf dem Weg zum neuen Menschen

Die technische Evolution

Kapitel 4:

Gene sind keine Determinanten

Warum wir noch viel mehr Daten brauchen

Genomik: Die Basis, aber nicht viel mehr

Jedem Menschen seinen Gen-Pass

Epigenomik: Identität und Gedächtnis der Zellen

Transkriptomik: Die Welt der Abschriften

Proteomik: Das Leben lesen

Warum die Systembiologie viele Omiken braucht

Mikrobiomik: Metasystembiologie für den Metaorganismus 233

Mit der Ernährung die Gesundheit steuern

Die Darm-Hirn-Achse

Metabolomik: Speichel, Blut, Urin

Mini-U-Boote in der Blutbahn und Jackentaschen-Labore 249

Warum Sie nicht immer Ihrer Intuition vertrauen sollten

Wearables und Co.: »Made of blood, sweat and data«

Wer bin ich?

Psychologie, Soziologie, Biologie – endlich unzertrennlich 266

Kapitel 5:Das Ende der Medizin? Der Anfang der Gesundheit!

Aus der Krise gerechnet

Der Schritt, der die Medizin überflüssig macht

Wie aus Medizin Begleitung wird

Datenschutz und Datenmacht

Wollen wir das wirklich?

Gesünder leben, angenehmer altern, leidloser sterben

Anhang

Dank

Anmerkungen und Literatur

Personen- und Sachregister

Vorwort: Rechnen Sie mit dem Besten

Haben Sie schon einmal von Systembiologie gehört? Vermutlich nicht. Aber das wird sich ändern. Denn diese Wissenschaft drängt immer mehr ans Licht der Öffentlichkeit. Das Interesse hat seinen guten Grund: Schon seit Jahrzehnten vermessen Systembiologinnen und Systembiologen weitgehend unbemerkt das Leben und berechnen die Zukunft von Lebewesen. Sie sagen deren mögliches Schicksal voraus. Wegen der rasanten Fortschritte der Biologie und der Computerwissenschaft gelingt ihnen das immer besser. Im Laufe der Coronakrise tauchen sie sogar in TV-Talkshows auf und stellen ihre Prognosen für den weiteren Verlauf der Pandemie vor.

Indem die Systembiologie unser Leben ein Stück weit simuliert, schaut sie für uns Menschen in die Kristallkugel. So beantwortet sie Fragen wie: Was passiert mit uns, wenn wir bestimmte Maßnahmen gegen das neue Coronavirus ergreifen? Oder aber: Was kann ich heute gezielt für meine persönliche Gesundheit tun? Oder: Wie kann ich Krankheiten verhindern, bevor sie entstehen?

Die Antworten der Systembiologie, die meist auf sehr komplexen mathematischen Formeln basieren, helfen uns, die beste aller möglichen Zukünfte auszuwählen, indem wir gezielt auf diese hinleben. Damit eröffnet uns die Wissenschaft eine wunderbare Chance: Sie wird uns ein Leben in Gesundheit ermöglichen. Sie wird uns erlauben, mit dem Besten zu rechnen.

Eines Tages werden wir dank Systembiologie unsere Gesundheit selbst definieren und steuern können. Wir werden unser Leben so gestalten können, dass wir den Prozess, aus dem heraus die Gesundheit täglich neu entsteht, in vielen kleinen Schritten positiv ­beeinflussen. Die Wahl, welchen Schritt wir jeweils gehen und welchen nicht, wird bei uns liegen. Wir werden in Freiheit, aber im Bewusstsein der Verantwortung für uns selbst und unsere Umwelt Gesundheitsentscheidungen treffen. Zaghafte Ansätze dafür existieren bereits.

Eines Tages werden Krankheiten deshalb sehr viel seltener werden. Und die wenigen unausweichlichen Leiden sowie das Altern werden erträglicher sein als heute. Dank Systembiologie wird die heutige Medizin, die im Grundverständnis fast immer nur gegen ein bestehendes Leiden gerichtet ist, von einer Medizin abgelöst, die unsere Gesundheit steuert. Wer seine Gesundheit selber lenkt, benötigt die herkömmliche Medizin im Grunde nicht mehr.

Begleiten Sie mich also in eine neue Welt, in der die Wissenschaft auch Ihr Leben ganzheitlich begreifen und berechnen kann. Es gibt keinen Grund, sich davor zu fürchten.

Hamburg, im Februar 2021

Einleitung

»Die Rettung hält sich an den kleinen Sprung in der kontinuierlichen Katastrophe.«

Walter Benjamin1

»Gesundheit ist die Fähigkeit, sich anzupassen.«

Georges Canguilhem2

Lernen aus der Coronakrise

Die Krankheiten besiegen, vielleicht sogar das Altern und die quälenden Schmerzen? Wer wollte das nicht? Dieser Wunsch treibt die Wissenschaft seit Menschengedenken an. Er hat sie zu beachtlichen Erfolgen geführt. Und in absehbarer Zeit ist sie vielleicht sogar so weit, die Medizin überflüssig zu machen oder sie durch etwas Besseres zu ersetzen.

Die durchschnittliche Lebenserwartung steigt und steigt, einige gefährliche Infektionskrankheiten – manche bedrohlicher als die aktuelle Plage Covid-19 – sind fast oder ganz ausgerottet, andere dank Impfungen oder Antibiotika harmlos geworden: Pocken, die Pest oder Polio zum Beispiel. Säuglinge müssen kaum noch sterben. Chirurg*innen3 transplantieren lebenswichtige Organe. Die Stamm­zellforschung beginnt, Mini-Organe in Petrischalen zu züch­ten.4 Selbst die ersten einst tödlichen Krebsarten haben ihren Schrecken verloren.

Dennoch scheint die alltägliche Medizin diesen Entwicklungen fast tragisch hinterherzuhinken. Dank moderner Techniken können wir heute das Erbgut lesen, die Arbeit einzelner Zellen auf molekularer Ebene über längere Zeit hinweg aufzeichnen, das Gespräch zwischen Erbe und Umwelt belauschen, unsere Mitbewohner im Darm und auf der Haut analysieren, den Einfluss einer Psycho­therapie auf die Genregulation erfassen. Wir sind dabei, das Leben in seiner Gänze zu vermessen. Das ermöglicht uns, es grundsätzlich zu verstehen und damit auch den Prozess zu begreifen, der unsere Gesundheit ist.

Doch die Medizin ficht all das nicht an. Für sie ist Gesundheit noch immer das Gegenteil von Krankheit. Und Krankheiten definiert sie nach wie vor über wichtige Symptome oder betroffene Organe. Wer indes immer nur die Krankheit bekämpfen will, ist auf ihre Existenz geradezu angewiesen. Viel besser wäre doch, sich auf die Gesundheit zu konzentrieren. Auch wirtschaftlich werden die meisten Gesundheitssysteme in absehbarer Zeit den aussichtslosen, zu spät ansetzenden Kampf gegen die Krankheiten nicht mehr bewältigen können. Es wird höchste Zeit, stattdessen in ein Leben in Gesundheit zu investieren.

Die Medizin sollte endlich lernen, sich nicht immer wieder von der Krankheit in die Irre leiten zu lassen, wenn sie doch in Wirklichkeit der Gesundheit auf der Spur ist. Sie muss zur Gesundheitswissenschaft mutieren.

Wie wichtig das ist, zeigt uns überdeutlich die aktuelle Corona-Pandemie. In den großen biomedizinischen Forschungszentren dieser Welt wird fieberhaft nach Mitteln gegen das Virus SARS-CoV-2 gesucht. Bis vor Kurzem hatte die breite Öffentlichkeit kaum eine Ahnung, was in all den Laboren passiert. Doch die neue Infektionskrankheit wirkt wie ein Brennglas, das unser aller Aufmerksamkeit auf die Wissenschaft fokussiert.

»Wir arbeiten mit Technologien des 21. Jahrhunderts an Krankheitsdefinitionen aus dem 19. und 20. Jahrhundert«, sagt der Pharmakologe Harald Schmidt: »Im Grunde verstehen wir von so gut wie keiner Erkrankung die zugrunde liegenden Mechanismen.«5 Der Professor an der Universität Maastricht ist wie viele andere Pionier*innen auf der ganzen Welt dabei, das zu ändern. Er betrachtet das Geschehen im Körper systemisch – als komplexes Netzwerk. Auf diesem Weg will der Mitherausgeber der Fach­zeitschrift Systems Medicine »Erkrankungen ganz neu definieren«. Ausschlaggebend für die Einordnung als Krankheit sollen nicht mehr ein paar Symptome oder betroffene Organe sein. Stattdessen möchten die Forscher*innen verstehen, was sich innerhalb des biologischen Netzwerks, das der Körper als untrennbares Ganzes bildet, im Krankheitsfall in die falsche Richtung entwickelt.

Die Medizin wäre dann nicht mehr an simplifizierende lineare Monokausalketten gefesselt. Sie konzentrierte sich nicht mehr da­rauf, Symptome von Leiden zu bekämpfen, deren wirkliche Ursache im Dunkeln liegt. Es ginge dieser Medizin darum, Erkrankungen als Zustände in nichtlinear geregelten, biologischen, psychologischen und soziologischen Systemen zu begreifen. Es ginge ihr um die Beziehungen, in denen die unzähligen Elemente eines solch hochkomplexen Netzwerks zueinander stehen. Und es ginge ihr um die Veränderungen dieser Beziehungen über Stunden, Monate und Jahre hinweg.

Das klingt kompliziert. Und ja: Es ist kompliziert. Aber auch hier lernen wir am Beispiel der Coronakrise dazu. Wir alle können plötzlich Exponentialfunktionen lesen. Wir wissen, warum es während der ersten oder auch der zweiten Welle – im exponentiellen Wachstum der Epidemie – so wichtig war, auf die Verdoppelungsrate der gemeldeten Infektionen zu schauen. Wir wissen zudem, warum uns im späten Frühjahr – im linearen Wachstum – vor allem die Reproduktionszahl R interessierte und im Sommer 2020 – als es  kaum noch Infizierte gab – die bloße Zahl der Neuinfektionen. Wir haben begriffen, welch epidemiologisch, gesundheitspolitisch und biomedizinisch wichtige Botschaft sich hinter dem Hashtag #FlattenTheCurve verbirgt. Wir haben verstanden, dass räumliche Isolation Sinn macht. Wir haben gelernt, Abstand voneinander zu halten, regelmäßig zu lüften, Hände zwanzig Sekunden lang zu ­waschen und Mund-Nasen-Bedeckungen zu tragen, vor allem auch, weil wir Risikogruppen schützen wollen.

Noch niemals zuvor dürften so viele Menschen zur gleichen Zeit das Gleiche getan – oder manchmal auch nicht getan – haben, ­alleine im Interesse der Krankheitsprävention, als während der Corona­krise in den Jahren 2020 und 2021. Man stelle sich nur vor, wir ließen mit der gleichen Sorgfalt auch gemeinschaftlich das Rauchen, Saufen und Zu-Früh-Aufstehen sein.

Eine Wissenschaft, die in Regelsystemen und in Netzwerken denkt, die biologische Prozesse berechnen und in die Zukunft fortschreiben kann, würde uns dabei jedenfalls motivieren und unterstützen. Denn sie kann das Leben und die Gesundheit mithilfe neuer Computertechniken simulieren und zuverlässige Prognosen erstellen, wie beide sich unter bestimmten Vorbedingungen wandeln. Würden wir uns in einem nächsten Schritt an diesen Berechnungen orientieren, um möglichst gesund zu bleiben, wäre das eine echte Präventionsmedizin. Man könnte auch sagen, es wäre eine Gesundheitsmedizin, oder – völlig radikal gedacht –, es wäre im Grunde überhaupt keine Medizin mehr.

Denn diese neue Wissenschaft wüsste Krankheiten zu verhindern, ehe sie überhaupt ausgebrochen sind. Sie wüsste uns zu heilen, bevor wir krank werden. So könnte ein böses kleines Virus ­einen Trend beschleunigen, den die Gesellschaft seit Langem verschläft: Wir müssen uns allmählich verabschieden von einer Medizin, die immer nur Krankheiten bekämpft. Wir sollten stattdessen ein modernes Leben in Gesundheit erschaffen.

Den Gesundheitsprozess lenken

Die Wissenschaft, von deren Zukunft ich hier träume, gibt es schon seit rund hundert Jahren. Ihren Namen hat sie seit einigen Jahrzehnten. Es ist die Systembiologie. Trotzdem ist dieses Buch meines Wissens das erste deutschsprachige und weltweit gesehen eines der ersten allgemeinverständlichen Bücher über Systembiologie. Ich werde Ihnen darin vorstellen, was Systembiologie genau ist, wie sie funktioniert und wie wir alle davon profitieren können. Ich werde darin aber auch das Ende der Medizin, wie wir sie heute kennen, in Aussicht stellen. Aber das ist kein Grund, sich zu ängstigen. Im Gegenteil: Ich werde Ihren Mut wecken, sich auf ein besseres Leben einzulassen, auf ein Leben in Gesundheit, auf die Gesundheit der Zukunft, auf das Zeitalter der Systembiologie.

Um die Komplexität des Lebens zu durchdringen, bedient sich die Systembiologie der Mathematik. Mit ihrer Hilfe kann sie biologische Prozesse berechnen, Prognosen erstellen und die Gesundheit bereits zu einem Zeitpunkt gezielt unterstützen, zu dem noch keine Beeinträchtigung erkennbar ist. Wie gut dieser Ansatz funktioniert, wissen wir längst. Systembiolog*innen bringen die medizinische Forschung und die Gesundheitswissenschaften schon seit Jahren voran. Sie helfen dabei, Gesundheit, Krankheit und das Altern immer besser zu verstehen. Die Ausbreitung von Infektionskrankheiten wie Covid-19 ist nicht zuletzt dank der Systembiologie so gut verstanden.

Verglichen mit den komplexen, meist schleichend verlaufenden, massenhaft auftretenden Volks- und Altersleiden oder all den psychischen Krankheiten sind Infektionen jedoch regelrecht simpel und sehr gut erforscht. Deshalb beugen wir ihnen auch oft effektiv vor, indem wir unsere Biologie systemisch verändern. Mit Impfungen regen wir das Immunsystem an, passende Antikörper zu bilden. Auch im Kampf gegen das neue Coronavirus wird das ein wichtiger Teil der Lösung sein. Die ganze Welt hofft zur Zeit auf nichts sehnlicher als auf genügend Corona-Impfstoff. Seit Dezember 2020 ist die erste Substanz bei uns zugelassen, womöglich gehören Sie sogar zu den ersten Menschen, die geimpft worden sind. Früher oder später wird uns die Impfung hoffentlich aus der Umklammerung der Pandemie befreien.

Trotzdem macht die Aussicht auf eine Vormachtstellung der Wissenschaft vielen Menschen Angst. Biomedizinische Forschung braucht immer mehr Daten. Sie ist regelrecht süchtig nach Daten. Sie liest genetische und epigenetische Codes von möglichst vielen Menschen, erfasst alle Proteine, die einzelne Gewebe unter bestimmten Voraussetzungen erzeugen, analysiert Laborwerte, wertet Fitnesstracker aus und vieles, vieles mehr. Die Daten werden schließlich dazu benutzt, Algorithmen zu optimieren und mit ihrer Hilfe das Leben und die Gesundheit zu simulieren.

Viele Menschen fürchten eine solche fast vollständige Vermessung ihres Lebens. Sie fühlen sich ausgeliefert. Wer möchte schon, dass mathematische Formeln über sein Leben bestimmen? Aber glauben Sie mir: Diese Angst ist unbegründet. Es geht hier nicht um Macht. Niemand wird Ihnen Ihre Freiheit rauben. Im Gegenteil, Sie werden in einem Leben in Gesundheit an Freiheit gewinnen. Auch wenn es uns derzeit – mitten in der Coronakrise – schwer fällt, daran zu glauben.

In absehbarer Zeit werden wir aber hoffentlich fast alle gegen Covid-19 zumindest eine Zeit lang immun sein. Bis dahin werden Forscher*innen das neue Virus, seine Herkunft, seine Übertragung von Mensch zu Mensch, seine hoffentlich nicht allzu teuflische Wandelbarkeit und die Reaktion des menschlichen Immunsystems auf den Erreger grundlegend verstanden haben. Und dann werden wir dem Ziel nahe sein, dass möglichst viele Menschen gar nicht erst die schlimme neue Krankheit bekommen. Dass sie gesund bleiben.

Die eigentliche Bedrohung ist ja nicht das Virus selbst. Es ist der Umstand, dass es für uns Menschen neu ist und unser Immunsystem noch nicht gelernt hat, mit ihm umzugehen.

Wir sind seit Langem auf dem Weg in eine naturwissenschaftlich denkende und handelnde Medizin. Aber wir sind noch nicht am Ziel. Medizin, wie wir sie heute kennen, ähnelt an vielen Stellen eher einem Kunsthandwerk als einer Wissenschaft. Das lehrt uns nicht zuletzt die Hilflosigkeit in den ersten Monaten der Coronakrise.

Das heißt aber auch, die Medizin muss vom Konzept der Krankheit Abstand nehmen. Sie darf sich nicht mehr nur darauf konzentrieren, Krankheiten zu bekämpfen. Sie muss sich der Gesundheit zuwenden. Gesundheit ist jedoch nicht das Gegenteil von Krankheit. Gesundheit ist der Prozess, der uns anpassungsfähig und vital erhält, der uns hilft, eine Krankheit zu besiegen oder mit ihr besser zu leben. Gerade chronisch kranke oder alte Menschen benötigen aus diesem Blickwinkel betrachtet eine besonders gute Gesundheit. Nach der gängigen Definition gelten sie aber als krank.

Es ist die Systembiologie, die uns derzeit an das Ende der Medizin denken lässt. Denn eine Medizin, die sich auf die Gesundheit konzentriert, ist keine Medizin im herkömmlichen Sinn mehr. ­Aktuell erreicht die biomedizinische Forschung eine systemische, komplexere, der Gesundheit und dem Leben zugewandte Ebene. Weil das eine positive Entwicklung ist, weil wir alle davon profitieren werden, ist dieser Anfang vom Ende der klassischen Medizin eine gute Nachricht.

Eines Tages werden völlig neue Krankheitserreger, aber auch die zahlreichen anderen Auslöser von Leiden aller Art, hoffentlich so früh entdeckt, durchschaut und ausgemerzt sein, dass es erst gar nicht mehr zu Pandemien und ausufernden Volkskrankheiten kommt. Basis nicht nur dieses Fortschritts wird das Sammeln der unendlich vielen individuellen biomedizinischen Gesundheits­daten sein.6 Doch dann wird die Entwicklung weitergehen. Wir selbst werden in großen Bereichen unsere eigenen Ärztinnen und Ärzte sein.7 Die Mechanismen des Alterns werden verstanden und manipulierbar sein.8 Die Daten werden dank Künstlicher Intelligenz, maschinellem Lernen und gigantischer medialer Vernetzung eine präzise, personalisierte und treffsichere Medikation ermöglichen.

Natürlich werden wir aufpassen müssen, dass unsere Daten vor allem uns nutzen und nicht irgendwelchen skrupellosen Geldvermehrern. Schon heute gibt es gute Ansätze, wie das gelingen könnte.

In der Wissenschaft deuten sich also dramatische Veränderungen an. Schon seit Längerem wandelt sich das Verständnis von Krankheit und Gesundheit. Ich selber habe darüber in meinem Buch Gesund­heit ist kein Zufall geschrieben. Wir sind dabei, das Leben neu zu vermessen. Also beginnen wir endlich auch, es ganzheitlich – systemisch – zu verstehen. Wie das genau geschieht und was die ersten Resultate sind, davon handelt dieses Buch.

Das erste Kapitel zeigt, dass Systembiologie und eine darauf aufbauende Präzisionsmedizin beides brauchen: die akribisch feine Analyse der allerkleinsten Elemente und den Versuch, das komplexe System, das diese Elemente miteinander bilden, ganzheitlich zusammenzusetzen. Danach erkläre ich die Biologie hinter der Systembiologie, zeige also, wie die moderne Wissenschaft die Elemente des Systems immer besser erforscht. Im dritten Kapitel geht es um die Systembiologie selbst. Wie gelingt es ihr, aus der Vermessung des Lebens Modelle für die Zukunft zu berechnen? Anschließend schildere ich, wo all die vielen Daten herkommen, die eine moderne Systembiologie erst möglich machen, um zum Abschluss meine Vision eines Lebens in Gesundheit zu entwerfen – übrigens nicht ohne mich mit den wichtigsten Argumenten der Kritiker*innen auseinanderzusetzen.

Eines Tages werden wir dann hoffentlich zielsicher den Kipppunkten aus dem Weg gehen können, die unseren Organismus aus dem Gleichgewicht bringen. Das wird der Moment sein, in dem wir uns im Zustand der Gesundheit befinden. Unser Organismus wird uns dabei helfen, diese Gesundheit aufrechtzuerhalten. Er tut es im Grunde heute schon die meiste Zeit. Denn komplexe Systeme sind erstaunlich stabil.

Der Vergleich zum Klimawandel drängt sich auf. Auch dieser ist ein komplexes systemisches Problem. Und auch diesen können Klimaforscher*innen bereits weitgehend simulieren. Sie kennen die Auslöser der ansteigenden Temperaturen auf der Erde, und sie wissen dank guter Prognosen sogar, wie die Menschheit dafür sorgen kann, dass die entscheidenden Umschlagmomente auf dem Weg in die Klimakatastrophe nicht erreicht werden. Das größte Problem in diesem Feld ist derzeit, dass die Menschheit zu träge zum Umdenken und Handeln ist.

In Sachen Gesundheit lernen wir täglich dazu. Im Idealfall wird die Gesellschaft der Wissenschaft immer mehr vertrauen. Sie wird auf die Expertinnen und Experten hören und sie finanziell wie ideell und politisch bestmöglich unterstützen. Dann sollte sich unser aller Leben zunehmend verbessern, und jeder von uns wird in seine individuelle biomedizinische Zukunft blicken.

Natürlich werden wir Menschen dennoch immer wieder leiden und eines Tages selbstverständlich auch sterben müssen. Aber ich bin überzeugt: Es wird erträglicher sein als heute.

Kapitel 1

Das ganze Leben auf einen Blick –Gesundheit ist nicht linear

»Man sollte eigentlich nicht mehr von Medizin sprechen, man sollte von Gesundheit sprechen.«

Ernst Hafen1

»Wir beginnen schon heute in ersten Ansätzen, das Leben vorherzusagen. Das ist ein unheimlich gutes Gefühl.«

Nikolaus Rajewsky2

Wie alt bin ich wirklich?

Vor fünf Jahren feierte ich meinen fünfzigsten Geburtstag. Es war ein tolles Fest, ein wunderbarer Tag, viele Freunde und Familienmitglieder freuten sich mit mir. Ich war glücklich und zufrieden, wähnte ich mich doch im besten Alter und konnte gleichzeitig bereits auf ein erfülltes Leben zurückblicken. Doch unlängst kamen Zweifel. Was wäre, wenn mein kalendarisches Alter vom biologischen abwiche? Was, wenn mein Körper viel älter wäre, als er eigentlich sein dürfte? Oder jünger? Wer weiß das schon?

Wie gerne wüsste ich, wie gesund ich wirklich bin – welche Spuren die Erfahrungen im Mutterleib, meine Kindheit, mein Lebensstil, der viele Sport, die durchgemachten, nicht allzu ernsten Krankheiten hinterlassen haben. Wie gerne wüsste ich, wie all diese Dinge meine Biologie veränderten. Wie sie mich programmiert – geprägt – haben. Ob ich längst auf dem Weg zum alten Mann bin, mit einem großen Risiko, an Volkskrankheiten zu erkranken, und einer nur noch kurzen Lebenszeit. Oder ob ich biologisch gesehen fast noch jugendlich bin und entsprechend viel Zeit vor mir habe.

Ein bekannter Spruch lautet: Man ist immer so alt, wie man sich fühlt. Demzufolge bin ich noch keine Fünfzig. Oft höre ich auch das Kompliment, ich sähe viel jünger aus, als ich sei. Aber auch das geht wohl vielen Menschen so.

Der Umstand, dass ich beginne, über mein biologisches Alter nachzudenken, dürfte typisch für mein Alter sein. Es interessiert Menschen über fünfzig nicht etwa aus Eitelkeit, sondern weil die Frage danach noch zwei weitere Aspekte beinhaltet, die im sechsten Lebensjahrzehnt allmählich essenziell werden: Habe ich im bisherigen Leben für meine Gesundheit manches richtig gemacht? Und: Wie lange habe ich vermutlich noch zu leben?

Seit dem Jahr 2011 kann man erste Antworten darauf geben. Der in Frankfurt am Main geborene und in Deutschland aufgewachsene US-amerikanische Biostatistiker und Genetiker Steve Horvath stellte damals ein Verfahren vor, das inzwischen als Horvath’s clock oder epigenetische Uhr berühmt geworden ist.3 Der Forscher von der University of California in Los Angeles hatte einen Algorithmus ausgetüftelt, der einige wenige sogenannte epigenetische ­Markierungen am Erbgutmolekül Desoxyribonukleinsäure (DNA) von Blut- oder Speichelzellen benutzt, um das Alter der zugehörigen Menschen möglichst präzise zu messen.

Über diese epigenetischen, also neben- oder zusatzgenetischen, Anhängsel habe ich bereits zwei Bücher geschrieben.4 Sie werden auch hier noch eine Rolle spielen. Zunächst genügt aber die Information, dass diese epigenetischen Marker unsere Zellen auf gewisse Art programmieren und dass sich diese Programmierung offenbar im Laufe des Lebens systematisch wandelt. Nichts anderes als diese Veränderung wertete Horvath aus und fand damit das bislang beste Werkzeug zur Bestimmung des biologischen Alters, das wir Menschen kennen.

Erstaunlicherweise ticken die epigenetischen Uhren in all den vielen Zelltypen eines einzelnen Körpers im annähernd gleichen Takt. Zwischen verschiedenen Menschen kann das so gemessene Alterungstempo aber auch sehr unterschiedlich sein. Die Umwelt, der Lebensstil, aber auch der Zufall reden dabei wohl ein gewich­tiges Wörtchen mit. Die ersten mithilfe der neuen Methode ge­wonnenen Resultate waren jedenfalls so verblüffend einheitlich, ­reproduzierbar und überzeugend, dass die Kolleg*innen Horvaths Idee anfangs nicht ernst nahmen. Sie lehnten die Publikation seiner Resultate mehrfach ab. Was für eine Fehleinschätzung! Und was für ein Glück, dass der Ansatz schließlich doch veröffentlicht wurde. Ginge es nach mir, bekäme der Biostatistiker dafür alsbald den Nobelpreis für Physiologie und Medizin.

Denn schon im Jahr 2013 war Horvaths Algorithmus so weit optimiert, dass er das Alter eines Menschen auf plus/minus 3,6 Jahre genau erfasste.5 Inzwischen haben sein Team, aber auch andere Arbeitsgruppen die Methode weiter verbessert. Die zugrunde liegenden Berechnungen werden auf spezielle Fragestellungen zugeschnitten. Geht es zum Beispiel darum, die Gesundheit eines Menschen abzuschätzen und seine Lebenserwartung vorherzusagen, lohnt es sich, zusätzlich zu den epigenetischen Markie­rungen Informationen über den Lebensstil in die Kalkulation mit einzubeziehen. Ein Algorithmus namens PhenoAge nutzt deshalb neben den epigenetischen auch altersabhängige physiologische Daten. Ein anderer Test namens GrimAge lässt beispielsweise mit einfließen, ob die Menschen rauchen oder nicht.6 Seit Herbst 2018 gibt es sogar einen käuflichen Selbsttest, der ausschließlich epigenetische Daten auswertet und auf plus/minus 2,5 Jahre genaue Angaben zum biologischen Alter eines Menschen machen soll.7

All diese Analysen verraten uns letztlich, wie rasch wir im Laufe des bisherigen Lebens gealtert sind und vermutlich weiter altern werden. Sind wir dabei schneller als der Durchschnitt, ist unser biologisches Alter höher als das kalendarische und unsere Lebens­erwartung vermindert. Altern wir aber langsamer, sind wir eigentlich jünger, als es im Pass steht, und dürfen darauf hoffen, mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit besonders lang zu leben. 

Klar, dass ich diesen Test sofort machen musste. Unser biologisches Alter ist das beste denkbare Maß für die individuelle Gesundheit eines Menschen – diesen permanenten, Generationen überschreitenden Prozess der Anpassung, den ich in meinem Buch Gesundheit ist kein Zufall vorgestellt habe.8

Die Kalibrierung des Tests ist dabei denkbar einfach. Zunächst werden möglichst viele Menschen eines Jahrgangs und Geschlechts mit dem Test analysiert. Ihr Durchschnittsresultat ist dann das biologische Alter des Durchschnittsmenschen und zwangsläufig identisch mit seinem kalendarischen Alter. Denn so ist das biologische Alter definiert: als die mittlere biologische Verfassung aller Männer oder Frauen gleichen Jahrgangs.

Man kann auf diese Art übrigens auch sehr gut das Alter eines Menschen abschätzen, den man gar nicht kennt. Besitzen Kriminologen von einem Täter nichts außer einer Blutspur, reicht das heute bereits für eine halbwegs genaue Altersbestimmung aus. Das per Horvath’s clock ermittelte biologische Alter weicht ja in der Regel nicht allzu weit vom kalendarischen ab.

Wer indes wie ich sein Alter kennt, für den hält der Test viel Spannenderes parat: Das biologische Alter besagt, ob und wie deutlich die eigene Verfassung tendenziell eher in die Richtung jüngerer oder älterer Durchschnittsmenschen geht. Damit verrät es nicht nur, wie schnell man altert, sondern letztlich auch, wie gesund man lebt.

Ich war mit meinem Ergebnis jedenfalls zufrieden: Die Analyse einiger Mundschleimhautzellen aus meiner Speichelprobe ergab, dass ich biologisch ungefähr so alt bin wie durchschnittliche 50-jährige Männer. Das heißt, ich bin im Laufe meines Lebens fünf Jahre oder etwa zehn Prozent langsamer gealtert, als es statistisch für mich normal wäre. Und mein Risiko für Alterskrankheiten ist – ­vorausgesetzt, es gibt keine außergewöhnlichen anderen Gefahren – um das gleiche Maß geringer, als es für mein Alter typisch wäre.

Ich habe also Glück gehabt und vermutlich auch so einiges richtig gemacht. Vor allem aber: Geht der Trend so weiter und geschieht nichts Unvorhergesehenes, bedeutet das Ergebnis auch, dass ich mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit rund zehn Prozent länger lebe, als es Männer meines Geburtsjahrgangs im Mittel tun. Schöne Aussichten.

Ein paar Erklärungsansätze für meine vergleichsweise gute Gesundheit mag es geben: Ich mache viel Sport, achte auf ausgewogene Ernährung, wenig Dauerstress und ausreichend Schlaf. Aber das sind natürlich keine Patentrezepte. Auch Wissenschaftler*innen, die mich vermessen, werden – Stand heute – keine Antwort darauf haben. Dafür gibt es für solche Fragestellungen noch viel zu wenige Daten. Außerdem suchen sie in aller Regel nicht nach den Ursachen von Gesundheit. Sie fahnden nach Auslösern von Krankheit.

Deshalb ist der nobelpreiswürdige Test auf das biologische Alter in meinen Augen eines der vielen aktuellen Anzeichen einer neuen Ära. Anders als die klassische Medizin betrachtet er keinen linearen Zusammenhang: hier das Fieber, dort die Grippe, hier die Gen­variante, dort die Erbkrankheit, hier die Fehlernährung, dort der beginnende Diabetes. Der Test auf das biologische Alter behandelt meine ganze Existenz wie eine geschlossene Box und misst einfach nur das Resultat all dessen, was mich und mein Leben bislang geprägt hat. Er erfasst mich als Gesamtheit, liest ganzheitlich, was das unfassbar viele Beziehungen umfassende, hochkomplexe System meiner Existenz ausmacht – und wie es auf äußere Veränderungen oder einen bewusst gewählten Lebensstil reagiert.

Gesundheit ist berechenbar

Auch wenn die Erfassung des biologischen Alters derzeit teuer und aufwendig ist, verraten die ersten publizierten, noch nicht allzu belastbaren Vorstudien, wohin die Reise geht. Die Biologin Raphaëlle Chaix und Kolleg*innen veröffentlichten Hinweise, dass Menschen, die seit vielen Jahren regelmäßig meditieren, zumindest im höheren Alter etwas langsamer altern als nicht meditierende Menschen. Außerdem verläuft der Alterungsprozess der Meditierenden offenbar umso langsamer, je länger sie die Technik bereits ausüben.9

Solche Beispiele zeigen, mit welch kleinen Stellschrauben sich Gesundheit beeinflussen lässt. Durch seinen Lebensstil, in dem Fall regelmäßiges Meditieren, kann der Mensch in sein eigenes organismisches System eingreifen, um seine Gesundheit zu stabilisieren – völlig ohne Medizin. Sehr viel mehr Aufmerksamkeit erhielt zu Recht eine sensationell anmutende Studie des US-Amerikaners Gregory Fahy, über die bereits weltweit berichtet wurde, noch ehe sie publiziert worden war. Der Alterungsforscher hat neun Männer im Alter von 51 bis 61 Jahren ein Jahr lang mit einem experimentellen Anti-Alterungs-Programm behandelt und dann ihr Blut von Steve Horvath mit dessen neuesten epigenetischen Verfahren analysieren lassen.

Das unglaubliche Ergebnis: Nach der Behandlung waren die Männer biologisch gesehen im Schnitt eineinhalb Jahre jünger als zu deren Beginn. Ihr Alterungstempo war also nicht nur gebremst, sondern sogar umgekehrt worden. Genau genommen wurden sie um zweieinhalb Jahre verjüngt, denn es war ein Jahr seit dem Beginn des Experiments vergangen. Bei einem der Männer sollen sogar die zuvor ergrauten Haare zu ihrer ursprünglichen Farbe zurückgekehrt sein.

Seit die gedruckte Studie10 vorliegt, wissen wir genauer, worin das Anti-Aging-Programm von Fahy und Kolleg*innen bestand: Sie gaben den Probanden Wachstumshormon, um den Thymus zur Regeneration anzuregen. Dieses Immunorgan liegt unter dem Brustbein und stellt bei älteren Menschen seine Arbeit ein. Das ist ein normaler Prozess und nicht gefährlich, aber es gibt viele Hinweise, dass ein aktiver Thymus uns jung hält, weil er dem Körper hilft, die Alterung fördernde entzündliche Prozesse zu unterbinden.

Weil das Wachstumshormon aber auch das Diabetesrisiko erhöht, erhielten die Testpersonen zusätzlich die Diabetesmittel DHEA und Metformin. Nachweislich gelang es Greg Fahy, das Thymuswachstum anzuregen sowie das Immunsystem positiv zu beeinflussen und das biologische Alter der Probanden zu senken. Darüber, wie der Effekt zustande kam, kann aber selbst er nur spekulieren: »Es sind vermutlich immunologische und nicht-immunologische Mechanismen, die gemeinsam die epigenetische Alterung umkehren.«11 Die Aussagekraft der Studie ist zudem gering: Sie war schlicht zu klein, und es fehlte eine Vergleichsgruppe von Probanden, die Placebos erhielten.

Solche Mängel werden zukünftige Projekte vermutlich ausräumen. Dank der Algorithmen der Biostatistiker werden wir aus bestimmten Daten im Speichel oder Blut von Versuchspersonen ziemlich genau berechnen können, wie sich deren Gesundheit unter bestimmten Lebensumständen verändert.

Wenn wir die epigenetischen Wandlungen, die unser Leben begleiten, verstehen lernen, können wir aber noch viel mehr. Wir gewinnen einen systemischen Einblick in das Altern. Wir verstehen im Idealfall, welche Mechanismen uns zunächst erwachsen und dann gebrechlich werden lassen – und haben damit die Hand am Lenkrad unserer Widerstandskraft, unserer Anpassungsfähigkeit, unserer Gesundheit. So gesehen ist Gesundheit – die Aufrechterhaltung der Anpassungsfähigkeit – nichts anderes als ein die Alterung bremsender Prozess. Man könnte auch sagen: Das Altern – nicht die Krankheit – ist das Gegenteil von Gesundheit.

Sheraz Gul ist britischer Biochemiker und Leiter der Abteilung für Wirkstoffsuche am Fraunhofer-Institut für Molekularbiologie und Angewandte Ökologie in Hamburg. Er hat mit Kolleg*innen den neuen Selbsttest auf das epigenetische Alter entwickelt, den auch ich ausprobiert habe. Gul wird regelrecht euphorisch, wenn er darüber nachdenkt, was man damit alles anfangen kann: »Die epigenetische Uhr verrät uns nicht nur unser Alter, sie zeigt auch, welche Teile des Erbguts in unseren Zellen mit dem Älterwerden systematisch anders reguliert werden.« Derzeit suche man anhand dieser Daten gezielt nach Wirkstoffen, die eben diese Regulation veränderten und damit auch das Alterungstempo sowie das Risiko für Alterskrankheiten beeinflussen könnten.

Mit der weitgehend auf Zufälle vertrauenden herkömmlichen Wirkstoffsuche haben solche Ansätze nichts mehr gemein. Hier wird direkt in das System des Lebens geblickt. Es ist die lange geforderte Aufklärung und zielgenaue Ausnutzung der mechanistischen Zusammenhänge lebendiger Prozesse.

Doch bleiben wir bei den epigenetischen Uhren: Überall auf der Welt helfen sie der Wissenschaft, Gene und von den Genen codierte Proteine aufzuspüren, die zur Alterung beitragen. Viele davon wurden bislang noch gar nicht mit dem Altern in Verbindung gebracht – haben damit aber offensichtlich etwas zu tun. Und natürlich experimentieren die Forscher*innen parallel mithilfe ­kultivierter Zellen als Modellsysteme, ob und wie man im Interesse der Gesundheit irgendwie in die beteiligten Prozesse eingreifen kann.

Auch Gul und sein Team verfolgen diesen Ansatz. Die Auswertung der epigenetischen Alterungsdaten ist dabei nur ein winziger Ausschnitt. »Es gibt Milliarden frei zugänglicher molekularbiologischer Daten in öffentlichen Datenbanken«, sagt der Biochemiker. Gespeichert sei dort so ziemlich alles, was man über die verschiedensten Biomoleküle aus den verschiedensten Geweben kranker oder gesunder, junger oder alter Menschen bisher herausgefunden hat. Diese Daten wollen Forscher*innen überall auf der Welt mithilfe neuester Computertechnik und Software nutzen, um den ­Ursachen von Krankheiten nachzuspüren. Denn, so Gul, »bislang kennen wir die Ursachen der allermeisten Krankheiten noch gar nicht«.

Letztlich soll es gelingen, »Krankheiten in besonders frühen Stadien zu identifizieren. Und sie dann vielleicht sogar zu bekämpfen, bevor sie die Kontrolle übernehmen«, sagt Gul. Vor allem bei den vielen Volks- und Altersleiden ginge es bislang »meistens nur ­dar­um, sie einfach irgendwie zu managen«. Man wolle den Menschen ein möglichst gutes Leben mit der Krankheit bescheren. Die Krankheit wirklich in ihrer ganzen Komplexität verstehen und ihr ernsthaft vorbeugen oder sie effektiv bekämpfen, könne man derzeit oft noch nicht. Am Ende der vielen neuen parallel verlaufenden Entwicklungen dürfte aber ein erstaunlich genauer Blick in das systembiologische Netzwerk der altersbedingten und komplexen Krankheiten und der Gesundheit als wichtigste Prozesse des Lebens stehen, der genau das möglich macht.

Doch wieso hat man früher nicht so weit gedacht?, frage ich Gul bei der Besichtigung seines Labors. »Wir hatten einfach nicht die technischen Voraussetzungen dafür«, ist die lapidare Antwort. Er zeigt auf einen Stapel unscheinbarer grauer Kästen, nicht viel größer als zwei Reihen aus drei übereinandergestapelten Mineral­wasserkisten. Es ist ein Screening-Roboter der neuesten Generation. »Das Ding kostet unglaublich viel Geld, und es kann viele wichtige Experimente auf dem Weg zu neuen biomedizinischen Wirkstoffen machen: Es testet die Wirkung Tausender Substanzen auf Hunderte verschiedener Zelltypen in kürzester Zeit«, sagt Gul.

Der Hochdurchsatz-Screeningroboter führt sogenannte Bio­assays aus: standardisierte und automatisierte Tests, die Wirkstoffe auf ihren Einfluss auf Zellen und Gewebe untersuchen. Das nur äußerlich unscheinbare Gerät analysiert und vergleicht dabei die Daten, wählt gezielt neue Substanzen aus und ermittelt zudem, wie die Zellen molekularbiologisch auf die jeweiligen Substanzen reagieren. Parallel versuchen Gul und sein Team auch noch die mögliche Wirkung der Substanzen auf lebendige Organismen in Computern zu simulieren.

Diese ersten Beispiele veranschaulichen, wohin uns die neue Wissenschaft der Systembiologie führen wird: Statt der klassisch eindimensionalen Betrachtung von Auslöser, Krankheit und Symptom wird es um die ganzheitliche Betrachtung der Gesundheit mithilfe neuester technischer Verfahren gehen. Und um den Versuch, die Gesundheit mit mehr oder weniger gezielten Interventionen an geeigneter Stelle im Netzwerk unserer Biologie möglichst lange zu erhalten. Diese Interventionen können übrigens so ziemlich alles sein: der Mittagsschlaf zur rechten Zeit, eine Runde Sport, die gezielte Ernährungsumstellung, eine Psychotherapie, die Unterstützung einer stabilen Eltern-Kind-Bindung in früher Kindheit, aber natürlich auch ein zielgenau wirkendes Medikament.

Die Systembiologie möchte verstehen, wie ich als ganzer Mensch mit meinem Erbe, meiner Umwelt und meiner Vergangenheit funktioniere. Und eines Tages wird sie mithilfe dieses Ansatzes sogar Vorhersagen machen können, wie es mir gelingen könnte, gesünder zu sein – oder anders gesagt: noch langsamer zu altern.

Dazu bedient sie sich der Mathematik. Es ist der Versuch, biologische Prozesse mathematisch zu beschreiben und die Gesundheit zu berechnen. Steve Horvath ist als Erstem gelungen, aus bestimmten Markierungen an der DNA das Alter eines Menschen zu kalkulieren. Das erlaubt nun sogar Prognosen über die Lebens­erwartung dieses Menschen. Und es ermöglicht wissenschaftliche Studien darüber, wie wir die gegenläufigen Prozesse des Alterns und der Gesundheit gezielt und individuell beeinflussen können.

Dieses Beispiel fasst perfekt zusammen, wo die Systembiologie derzeit steht. Dank der großen Fortschritte der Biomedizin erhält die Wissenschaft immer mehr Daten über das Leben im Allgemeinen. Sie vermisst dann aber auch das Leben Einzelner und kann damit dessen Verlauf immer präziser und detaillierter beschreiben. Die Entwicklung zuverlässiger Algorithmen macht den mathematischen Blick in die mögliche Zukunft eines Lebewesens genauer und individueller.

Die Kristallkugeln der Systembiologie klaren sich also zunehmend auf. Bevor ihre mathematischen Prognosen aber derart exakt werden, dass wir damit weite Teile unserer Gesundheit steuern könnten, muss die Wissenschaft vor allem die kleinsten Bestandteile des Lebens, die Zellen und Organe, noch um einiges besser kennenlernen als heute. Im aktuellen Fokus der Systembiologie befindet sich deshalb beides: die Kalkulation und Simulation des großen Ganzen mit den komplexen Beziehungen zwischen seinen zahllosen Elementen und die Erforschung der komplizierten Mechanismen innerhalb dieser winzigen Einzelteile.

Das Leben verstehen

Das biologische Alter ist also mithilfe der Systembiologie berechenbar geworden. Doch was verrät das Alterungstempo eines Menschen über die systemisch-mechanistischen Zusammenhänge in seinem Inneren? Kann man ein System überhaupt verstehen, wenn man es noch nicht mal auseinandernimmt? Dieser Einwand scheint gerechtfertigt. Aber er ist falsch.

Zunächst ist es gar nicht unbedingt die Aufgabe der Systembiologie, das Leben besonders gut zu verstehen. Sie möchte vor allem Prognosen darüber erstellen, wie ein individuelles Leben unter bestimmten Umweltbedingungen und mit einem bestimmten Lebensstil verläuft. Allerdings gelingt dies erst dann hinreichend zuverlässig, wenn man das Leben zuvor auch wirklich begriffen hat. Messen wir das biologische Alter, erfassen wir die Antwort des gesamten Systems. Das ist gut. Das ist schon viel. Aber es bringt uns nicht entscheidend voran. Beginnen wir hingegen, das System – den Organismus – im wörtlichen Sinn auseinanderzunehmen und seine Einzelteile isoliert zu untersuchen, geht es kaputt. In diesem Dilemma steckt die biomedizinische Forschung seit Jahrhunderten.

Doch genau an diesem Punkt sind derzeit gewaltige Änderungen zu verzeichnen. Zwei sich perfekt ergänzende Trends, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben, tragen dazu bei: Da ist das immer akribischere Sammeln von Daten, die von möglichst vollständigen Organismen in möglichst natürlichen Lebensumständen gewonnen werden. Mit ihrer Hilfe können Mathematiker immer besser rechnen, ohne die biologischen Systeme antasten zu müssen.

Und da ist die haarkleine, bis auf die molekulare Ebene reichende Erforschung der Zellen als minimale Lebenseinheiten. Es ist das maximale Zerlegen der Organismen in ihre kleinstmöglichen Bestandteile. Beide Trends laufen parallel, aber sie schließen auch die Lücke zwischen sich. Denn ihre Resultate vergrößern die jeweiligen Blickfelder, die deshalb stetig aufeinander zulaufen. Treffen sie sich irgendwann in der Mitte, ist die Systembiologie am Ziel.

»Die Einzelzellbiologie ist das Ding der Zukunft«, sagt Nikolaus Rajewsky, Leiter des Berliner Instituts für medizinische Systembiologie. Er koordiniert gemeinsam mit der Pariser Epigenetikerin Geneviève Almouzni eines der ambitioniertesten aktuellen europäischen Forschungskonsortien. Es heißt LifeTime und möchte das Leben auf der Ebene der Zellen umfassend begreifen, so wie es bislang noch nicht möglich war. Dieses Konsortium soll hier stellvertretend für die vielen ähnlichen Ansätze stehen, mit denen es der Forschung überall auf der Welt derzeit gelingt, immer mehr Elemente eines biologischen Systems aufzuspüren und mehr über das große Ganze zu erfahren, als es der symptomorientierten Biomedizin herkömmlicher Prägung bisher gelingen konnte.

Der bereits zitierte Pharmakologe Harald Schmidt aus Maas­tricht verweist in diesem Zusammenhang auf Menschen mit zu hohem Blutdruck: »95 Prozent aller Bluthochdruckpatienten werden mit essenzieller Hypertonie diagnostiziert – was sehr wissenschaftlich klingt, aber lediglich bedeutet: Sie haben Bluthochdruck, aber wir wissen nicht warum.«12 Das Problem: Zu hoher Blutdruck ist gar keine Krankheit. Er ist ein Symptom.

Ähnlich erging es bisher der Molekularbiologie. Was sie ermittelte, waren Informationen über riesige Zell-Mixturen. Es war ein unkonkretes Ereignis, irgendein Protein zum Beispiel, das plötzlich in großen Mengen erzeugt wurde oder gar nicht mehr. Oft war das Resultat nicht fein genug aufgelöst, weil man es nicht auf eine bestimmte Zelle, oft noch nicht einmal auf einen bestimmten Zelltyp oder ein Organ beziehen konnte.

Anders ausgedrückt: Der Hinweis auf den systemischen Zusammenhang des Merkmals ging allzu oft verloren. Genau das ändert die Einzelzellbiologie zwangsläufig. Denn sie misst, was auf der Ebene einer Zelle geschieht. So erfasst sie immer auch, welches exakt definierte Geschehen zum Gesamtsystem des beschriebenen Lebens zu einem bestimmten Zeitpunkt beiträgt. Diese vielen kleinen Elemente lassen sich theoretisch wieder zu einem großen Ganzen zusammenbauen. Es könnte einst gelingen, das System Mensch aus seinen winzigsten Einheiten neu zu konstruieren – und sei es auch nur am Computer. Spätestens dann wird es möglich sein, den Effekt auch winzigster Veränderungen, die auf der zellulären Ebene stattfinden, zu kalkulieren.

Es klingt utopisch und ist vermutlich auch nicht bis ins letzte Detail nötig. Aber sind die 37 Billionen Zellen eines menschlichen Körpers erst mal wirklich allesamt verstanden, kann man damit beginnen, diesen Körper virtuell auferstehen zu lassen.13 Spätestens dann fusioniert die Einzelzellbiologie mit dem zweiten großen Trend der gegenwärtigen Systembiologie: dem Datensammeln und der Auswertung mit neuester, als Künstliche Intelligenz bezeich­neter Informationstechnik, also dem maschinellen Lernen und seinem Teilgebiet, dem Deep Learning, das auf künstliche neuronale Netze zurückgreift.

Diese Netze bestehen nicht aus echten Nervenzellen, es sind lediglich Algorithmen, die sich an den Rechenmethoden der Natur orientieren. Sie lernen deshalb auch ähnlich wie unser Gehirn, indem sie sehr, sehr oft immer wieder immer andere neue Ansätze ausprobieren und hinterher überprüfen, ob das Ergebnis besser oder schlechter geworden ist.

So gesehen existiert die Systembiologie schon lange. Und genau genommen gibt es sogar drei Spielarten der Systembiologie: Erstens die ursprüngliche, klassische Variante, die wir seit vielen Jahrzehnten kennen. Sie versucht, das Leben mit mathematischen Gleichungen zu beschreiben. Zweitens die moderne mathematisch-informationstechnische Systembiologie, die Daten über Daten sammelt. Sie versucht, mithilfe modernster Verfahren der Informatik die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen, um in die Zukunft eines Lebens zu blicken. Und drittens die physiologische Systembiologie, die das Leben bis ins kleinste Detail erforschen, mechanistisch verstehen, präzise über längere Zeiträume hinweg beschreiben und zumindest virtuell zu einem Ganzen zusammensetzen möchte. Alle drei haben ein großes Ziel, das sie nur gemeinsam erreichen werden: die Vermessung des Lebens.

»Ich verstehe unter Systembiologie nur, dass man mithilfe der Mathematik vorhersagen kann, was in einer lebenden Struktur passiert«, sagt Nikolaus Rajewsky. Sein Berliner Institut führt nicht umsonst den zunehmend populären Begriff Systembiologie im ­Namen. Aber er hat längst begriffen, dass man eigentlich erst dann von Systembiologie sprechen sollte, wenn die drei Zweige fusionieren. Und das Spannende dabei: Auch dieser Moment scheint fast erreicht.

»Die Daten sind eigentlich da, um Systembiologie zu machen. Wir werden in der Lage sein, viel früher als heute zu entdecken, wo sich krank von gesund trennt. Und dann werden wir rechtzeitig intervenieren. Wir werden Fehlentwicklungen auffangen, bevor sie überhaupt eine Rolle spielen.« Das erzählt mir Rajewsky, als ich ihn in seinem blitzneuen, gerade erst von Kanzlerin Angela Merkel eröffneten, top ausgestatteten Institut besuche. Während er mich durch die modernen Labore und Versammlungsräume führt, mir Details der offenen Architektur nahebringt und seine Mitarbeiter*innen vorstellt, wird klar: An diesem Ort versucht man tatsächlich, ausgetretene Pfade zu verlassen und im kreativen, aus vielen Disziplinen zusammengesetzten Team sowie mithilfe modernster Technik Neues zu entdecken.

»Wir wollen die Gesetze verstehen, nach denen Zellen und Organe innerhalb eines Organismus funktionieren«, sagt Rajewsky. Und natürlich wolle man auch die Mechanismen ergründen, die aus diesen Gesetzen resultierten. Beides gehöre zusammen. Eines Tages hoffe man, vorhersagen zu können, wie sich Zellen und andere biologische Systeme in der Zukunft verändern werden. Online-Kaufhäuser könnten heute ja auch schon erstaunlich genau berechnen, welche Produkte ihre Kunden als Nächstes kaufen würden. So ähnlich müsse man sich das vielleicht vorstellen.

Alle existierenden menschlichen Zelltypen sollen komplett durch­leuchtet werden: ihre Genetik und Epigenetik, ihr Stoffwechsel, ihre Entwicklung, ihre Biochemie. Zudem möchte die Wissenschaft begreifen, wie die Zellen sich zu Organen zusammenfinden und wie diese mit anderen Organen kommunizieren, sodass komplex funktionierende Lebewesen wie wir entstehen. Aber das eigentliche Ziel all dessen besteht darin, so früh wie möglich festzustellen, wenn in diesem System etwas schiefläuft. Anders gesagt: Die Krankheit bereits erkennen und behandeln, bevor sie dem biologischen System Mensch etwas anhaben kann. Es wäre die perfekte Krankheitsprävention. Es wäre eine Art Hightech-Gesundheitsmedizin. Und es wäre der erste Schritt auf dem Weg zu einer gelebten Systembiologie.

Die perfekte Ergänzung der Einzelzellbiologie ist dabei die Entwicklung von Modell-Organen. Solche Organoide werden schon heute aus Zellkulturen gezüchtet. Es gibt Mini-Gehirne, Mini-Nieren, Mini-Herzen, Mini-Lebern und vieles mehr. Sie sind das ideale Werkzeug, um zu sehen, wie die möglichst rundum erforschten einzelnen Zellen im Verbund funktionieren.

»Im Grunde geht es uns darum, endlich zu verstehen, wie in einem Organismus Krankheiten entstehen. Und zwar ganz genau: Zelle für Zelle sowie im Verlauf der Zeit«, definiert Rajewsky den Zweck des LifeTime-Projekts auf einer Eröffnungskonferenz im Frühjahr 2019. Schon zu Beginn beteiligten sich mehr als 120 Wissenschaftler*innen von 53 Instituten aus 18 europäischen Ländern sowie 60 Unternehmen daran.

Eine derart weitläufige Zusammenarbeit ergibt sich zwangsläufig aus dem multidisziplinären Ansatz der Systembiologie. Die verschiedenartigsten modernen Methoden aus unterschiedlichsten Bereichen sollen zum Einsatz kommen: Neben den Organoiden werden zum Beispiel Hochdurchsatzverfahren zur Analyse genetischer, epigenetischer, proteomischer und vieler anderer Eigenschaften von Zellen eingesetzt. Stammzellforschung, Genetik, Molekularbiologie, Gentechnik und Epigenetik sind nötig, um das Leben auf der Ebene der Zellen umfassend zu analysieren. Was das alles im Einzelnen ist, erkläre ich später.

Moderne Mikroskoptechnik und andere bildgebende Verfahren unterstützen diese Forschung ebenso wie neueste Verfahren aus der Computer- und Informationstechnik. Die Bioinformatik wird versuchen, die gigantischen Datenmengen, die zwangsläufig anfallen, in den Griff zu bekommen, oder sie wird ihre Computer so programmieren und füttern, dass diese mithilfe Künstlicher In­telligenz bislang verborgene Muster und Zusammenhänge im Geflecht des Lebens aufspüren.

Die beteiligten Forscher*innen stammen aus der Biologie, Physik, Informatik, Mathematik, Medizin, Soziologie, Ethik und Ökonomie. »Alle Mitglieder von LifeTime gehören zu den Besten ihrer jeweiligen Disziplin. Sie leisten Visionäres«, sagt Rajewsky. Es könnte gut sein, dass er recht behält.

Vom linearen zum systemischen Denken

Gregory Bateson (1904–1980) war ein großer britischer Biologe, Anthropologe, Soziologe und Philosoph. Er versuchte stets, die Zusammenhänge des Lebens kybernetisch zu begreifen. Es ging ihm also um das Zusammenwirken vieler ineinander verwobener Regelkreise, aus denen etwas Lebendes, Fühlendes, Gebendes, Nehmendes, Denkendes und Handelndes entsteht. Etwas prosaischer kann man die Kybernetik schlicht als die Wissenschaft von Steuerung und Regelung bezeichnen.

Doch egal wie, es ist kein Wunder, dass Bateson nebenbei ein wichtiger Systemtheoretiker war. Denn auch die systemische Betrachtung lebendiger Prozesse hat zum Ziel, möglichst alle beteiligten Abläufe gemeinsam zu erfassen und zu beschreiben. Weil Bateson nicht nur das Verhalten von Tieren wie Delphinen oder Tintenfischen erforschte, sondern auch viel mit Psycholog*innen zusammenarbeitete, versuchte er seine Erkenntnisse zusätzlich auf menschliche Beziehungen zu übertragen. Das machte ihn zu einem der Mitbegründer der Systemtherapie, einer mittlerweile etablierten Richtung der humanistischen Psychologie und Familientherapie.

Diese hat mit der Systembiologie etwas Zentrales gemein: Sie geht das Beschreiben und Lösen von Problemen weniger dadurch an, dass sie sich auf die einzelnen Elemente konzentriert als darauf, wie diese miteinander in Beziehung stehen und sich mit der Zeit verändern. Im Vordergrund steht Netzwerkdenken, das Geschehen innerhalb einer Familie zum Beispiel. Bateson war es nicht so wichtig, wie ein einzelner Mensch oder ein einzelnes Tier tickte. Ihn interessierte, wie dieser Mensch in seinem sozialen Gefüge auf andere wirkte – und andere auf ihn. Dieses Denken passte perfekt in die Zeit der späten 1960er und frühen 1970er Jahre, als viele junge Menschen sich gegen die autoritären Strukturen der Generation ihrer Eltern auflehnten.

Nora Bateson, die Filmregisseurin, Autorin und jüngste Tochter des großen Gregory, erinnert sich gerne an ihre Kindheit im legendären Esalen Institute in Big Sur bei San Francisco, USA. Bis heute widmet man sich dort der interdisziplinären humanistischen Wissenschaft. Vor allem damals ging es bisweilen auch ziemlich esoterisch und spiritistisch zu. Dass das nicht nur zum Zeitgeist passte, sondern auch neue Einsichten und wichtige Ideen brachte, betont Nora Bateson gerne: Man könne aus dem, was in dieser Zeit »an diesem speziellen Ort« geschah, »sehr viel darüber lernen, wie sich Systeme verändern«. Wichtig sei den Menschen damals vor allem gewesen, was zwischen ihnen geschehen sei. Es habe eine besondere »Verrücktheit des Denkens« gegeben, die es den Individuen erlaubt habe, wissenschaftlich neue Wege zu gehen. »Man konnte neue Ideen ausprobieren, und man konnte Sachen sagen, die man anderswo nicht aussprechen durfte.«

Um das zu verdeutlichen, gibt sie in ihren Vorträgen manchmal Anekdoten zum Besten. So auch dieses Mal, als sie auf dem Metaforum Kongress im Jahr 2019 in Abano Terme, Italien, nach mir redet. Sie spricht über ihre Warm Data Lab genannten Ideen, wie Menschen auch über komplexe Themen miteinander ins Gespräch kommen können. Und sie erzählt von ihrem Vater. Rückblickend lassen einen manche ihrer Geschichten nur den Kopf schütteln. In den frühen 1970er Jahren aber war das, was in Esalen geschah, für die einen skandalös und für die anderen das Symbol des Aufbruchs in eine neue Ära.

Hin und wieder besuchten Seminaristen und Wissenschaftler*innen von anderen Universitäten das Institut, erzählt Bateson, »alle fein angezogen«. Eigentlich erwarteten sie eine förmliche Begrüßung. Doch was begegnete ihnen nicht selten als erstes, nachdem sie mühsam schwitzend in ihren angepassten Klamotten den weiten Weg zum entlegenen Institut hinter sich hatten? »Fünfundzwanzig hüpfende Penisse«, grinst Nora. Denn oft hätten auf der großen Wiese vor dem Hauptgebäude von Esalen »große Gruppen nackter Männer Volleyball gespielt. Den Leuten sind die Augen übergegangen.«

Der ganze Saal lacht. Die Pointe sitzt. Ähnlich komisch dürfte es gewesen sein, als die Bewohner des Instituts aus einer Laune heraus alle mit riesigen selbstgebastelten Pyramidenhüten herumgerannt sind, wie Bateson weiter erzählt. Doch egal wie oft sich diese Szenen tatsächlich abgespielt haben, sie klingen glaubhaft. Die Forscher*innen, Spiritist*innen und Esoteriker*innen am Institut mochten flippige Klamotten und trieben viel Sport, den sie – ganz im Geiste ihrer freiheitsverliebten Zeit – am liebsten nackt machten. Und weil sie gleichzeitig keinen Wert auf Etikette legten, scherte es sie nicht, ob und wann sich Besucher angesagt hatten. Sie waren ohnehin immer willkommen. Sie mussten sich nur auf den Anblick einiger unbekleideter Wissenschaftler*innen beim Volleyballspiel gefasst machen.

Nora Bateson verschweigt nicht, dass auch ihr als Kind manches befremdlich vorkam von dem, was die Erwachsenen damals veranstalteten. Unter dem Deckmantel des Visionären bekamen natürlich auch eine Menge Scharlatane und Narzissten Gelegenheit zur Selbstdarstellung. Gregory Bateson war angeblich oft der Erste, der deren Ideen als unwissenschaftlich oder den Naturgesetzen wider­sprechend bloßstellte. Was aus dieser Zeit bis heute aber bleibt, ist eine ernst zu nehmende neue Sicht auf die Welt. Die systemische Psychotherapie ist anerkannt, und niemand wird ihr ihre Berechtigung absprechen wollen.