Gesundheit ist kein Zufall - Peter Spork - E-Book

Gesundheit ist kein Zufall E-Book

Peter Spork

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Beschreibung

Gesundheit ist ein Generationenprojekt

Was ist Gesundheit? Neue Erkenntnisse zeigen: Gesundheit ist kein Zustand, sondern ein Prozess. Und dieser beginnt weit vor unserer Geburt. Sogar Erfahrungen unserer Eltern und Großeltern sind molekularbiologisch in unseren Genen gespeichert. Anschaulich und spannend präsentiert Wissenschaftsautor Peter Spork, wie die Weitergabe von Gesundheit und Persönlichkeit funktioniert, und zeigt, wie wir unseren Kindern und Enkeln den Weg in ein langes, gesundes und glückliches Leben bereiten können.

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Zum Buch

Noch weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit ändert sich derzeit das Verständnis der Fachwelt von den sogenannten Volkskrankheiten. Forscher finden heraus, wie Gesundheit und Persönlichkeit entstehen und warum wir sie vererben: Die moderne Molekularbiologie erkundet Botschaften in den Zellen, die diesen ein Gedächtnis schenken und über ihre Widerstandskraft mitbestimmen. Gemeinsam mit biochemischen Informationen über die Lebensweise der Eltern und Großeltern, etwa deren Ernährungsgewohnheiten oder seelische Belastungen, entscheiden diese Botschaften zeitlebens mit darüber, wie unsere Zellen, Organe und Stoffwechselsysteme auf kritische Belastungen reagieren – ob sie auf Gesundheit und Resilienz programmiert sind oder auf vergleichsweise raschen Verfall. Peter Spork erklärt, warum Gesundheit ein Generationenprojekt ist und wie wir die zugrunde liegenden Prozesse steuern können. Er macht auch klar, wie wir als Eltern und Großeltern unseren Kindern und Enkeln den Weg in ein langes, gesundes und glückliches Leben erleichtern können.

Zum Autor

Peter Spork, geboren 1965, hat Biologie studiert und wurde im Bereich Neurobiologie/Biokybernetik promoviert. Seit 1991 ist er freiberuflicher Wissenschaftsjournalist (unter anderem für Die Zeit, Geo Wissen, FAZ, NZZ, Süddeutsche Zeitung, bild der wissenschaft) und gefragter Redner. Er hat mehrere populärwissenschaftliche Sachbücher veröffentlicht, darunter den Bestseller Der zweite Code (2009), und ist außerdem Autor und Herausgeber des Newsletter Epigenetik.

 

www.peter-spork.de

PeterSpork

GESUNDHEITIST KEINZUFALL

Wie das Leben unsere Gene prägt

Für meine Enkel – in Vorfreude

Inhalt

Vorwort

Wie wir werden, was wir sind

Einleitung

Was ist Gesundheit?

Gesundheit entsteht!

Teil I

Mehr als Lebensstil plus Gene: Der neue Blick auf Volkskrankheiten

Kapitel 1 · Vergesst die Gene! Vergesst die Umwelt!

Schritt für Schritt

Alte Zellen – alter Mensch

Erbe und Umwelt im Gespräch

Das Erbgut im Stresstest

Vom Trauma und den Folgen

Das Methusalem-Rätsel

Vergesst die Gene! Vergesst die Umwelt!

Kapitel 2 · Die Brücke zwischen biologischen und sozialen Prozessen

Intelligenz und Erbe

Vom Ende der Erbe-Umwelt-Diskussion

Genomik und Epigenomik: Beidhändig in die Zukunft

Die epigenetische Uhr

Die Brücke zwischen biologischen und sozialen Prozessen

Kapitel 3 · Ändern, wie wir leben – nicht, wie wir sind

Das ganze Leben auf einen Blick

Präzise Medizin – unpräzise Aussagen

Verblüffend gleich und doch verschieden

Fitte Dicke, kranke Dünne

Verblüffend verschieden und doch gleich

Die Wissenschaft von der Genaktivierbarkeit

Ändern, wie wir leben – nicht, wie wir sind

Teil II

Zwei Jahre für ein ganzes Leben: Über perinatale Prägung

Kapitel 4 · Sensible Phasen

»Macht den Müttern keine Vorwürfe!«

Stress im Sperma

Noch mehr Botschaften und die Frage nach dem Beginn des Lebens

Die ersten Schritte im Leben

Vom Erwachen der Sinne

Wenn das Gehirn gefordert ist

Sensible Phasen

Kapitel 5 · Prägung im Mutterleib

Zug um Zug

Unterschiedliche Startbedingungen

Eine Frage der Dosis

Der Fötus leidet mit

Zwei, die nicht für zwei essen sollten

Prägung im Mutterleib

Kapitel 6 · Vom Ursprung vieler Krankheiten

Die Stunde Null

Ein guter Start und seine Folgen

Über feste, schlechte und gestörte Bindungen

Die berühmten Ratten des Michael Meaney

Das biologische Substrat der Geborgenheit

Der Resilienzfaktor

Ontogenese der Gesundheit

Vom Ursprung vieler Krankheiten

Teil III

Die neue Biologie der Vererbung: Über transgenerationelle Epigenetik

Kapitel 7 · Botschaften für die Zukunft

Drei Generationen auf einen Blick

Vererbtes Trauma

Positive Wendung

Warum wir immer dicker werden

Spuren der Angst

Hunger und seine Folgen

Botschaften für die Zukunft

Kapitel 8 · Gesundheit beginnt in der Kindheit der Großeltern

Von Schwielen, Kröten und Giraffen

Sind wir wirklich eine Ausnahme?

Woher kommt die GermanAngst?

Wie weit das Erbe trägt

Gibt es eine zielgerichtete Evolution?

Die neue Biologie der Vererbung

Gesundheit beginnt in der Kindheit der Großeltern

Schlusswort

Freiheit und Verantwortung

Gesundheit ist kein Zufall

Dank

Anhang

Was ist Epigenetik?

Weitere Informationen zur Epigenetik

Glossar

Anmerkungen

Register

Vorwort

Wie wir werden, was wir sind

Manchmal könnte man meinen, Gesundheit sei Zufall. Warum wird einer krank, während der andere gesund bleibt – und das bei gleicher Lebensweise und manchmal sogar dann, wenn die Gene identisch sind? Wie kommt es, dass manche Menschen viel gesünder gelebt haben als andere und dennoch im Alter erkranken, während ihre Altersgenossen unverändert körperlich fit und geistig rege sind? Warum blieb der kettenrauchende Altkanzler Helmut Schmidt von Lungenkrebs verschont? Laut Statistik war sein Risiko sehr hoch, zwingend war die Erkrankung jedoch nicht. Vor allem aber passiert es in seltenen Fällen ja auch, dass jemand nie geraucht hat und dennoch Krebs bekommt.

Es sind die großen Fragen der Krankheitsvorsorge, die uns bewegen: Was schenkt uns die innere Kraft der Gesunderhaltung? Was ist Gesundheit überhaupt? Was können wir heute für eine gesunde und glückliche Gesellschaft von morgen tun? In diesem Buch werde ich neue Antworten liefern. Ich werde erklären, wie wir werden, was wir sind. Ich werde ein neues Konzept der Biologie der Vererbung vorstellen. Und ich werde zeigen, dass Gesundheit eines ganz bestimmt nicht ist: zufällig.

Das Auftreten einer Krankheit mag zwar in vielen Fällen dem Zufall geschuldet sein. Die Wahrscheinlichkeit aber, mit der dieses Ereignis eintritt, das Erkrankungsrisiko, ist oft beeinflussbar. Es ist eine Frage der Gesundheit. Folglich soll es in diesem Buch auch nicht um Schuld gehen. Mir geht es um den Blick voraus, um Vorbeugung. Denn die Wissenschaft findet gerade heraus, wie Gesundheit entsteht und warum wir sie vererben.

Die moderne Molekular- und Zellbiologie erkundet Botschaften in den Zellen, die diesen ein Gedächtnis schenken und über ihre Widerstandsfähigkeit mitbestimmen. Gemeinsam mit biochemischen Informationen über die Lebensweise der Eltern und Großeltern entscheiden diese Botschaften zeitlebens mit darüber, wie unsere Zellen, Organe und Stoffwechselsysteme auf kritische Belastungen reagieren – ob sie auf Gesundheit programmiert sind oder auf vergleichsweise raschen Verfall. Selbstverständlich spielen hier auch soziale Faktoren eine Rolle, etwa Wohlstand und Bildungsniveau der Eltern.

Diese Erkenntnisse helfen uns nicht nur, unseren eigenen Charakter und Körper besser zu verstehen. Sie verheißen auch neue, vielversprechende Rezepte für eine wirkungsvolle allgemeine Krankheitsvorsorge der Zukunft. Lassen Sie sich in die Welt der neuen Molekularbiologie entführen.

Die Sache ist es wert: Es geht um Ihre Gesundheit – und um die Ihrer Kinder, Enkel und Urenkel.

Hamburg, im Januar2017

»Illness of any kind is hardly a thing to be encouraged in others. Health is the primary duty of life.«

Oscar Wilde, The Importance of Being Earnest

Einleitung

Was ist Gesundheit?

Dieses Buch ist überfällig. Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit ändert sich derzeit der Blick der Fachwelt auf unsere Gesundheit und Persönlichkeit. Anders als viele Ärzte und Patienten noch immer denken, sind Erkrankung und Charakter eines Menschen nicht nur eine Summe aus Zufall, aktuellem Lebensstil und genetischem Schicksal. Gesundheit ist auch kein starrer, unflexibler Zustand. Und sie ist schon gar nicht die Abwesenheit oder das Gegenteil von Krankheit.

Lange galt, dass unsere Gesundheit einfach so da ist, im Sinne eines bei allen Menschen ähnlichen, je nach Glauben gott- oder naturgegebenen biologischen Programms. Doch ist es wirklich der Normalzustand, sozusagen der default mode, gesund zu sein? Werden wir gesund geboren? Sorgt unsere Biologie per se für unser Gesundsein?

Die meisten von uns werden dem zustimmen. Doch sind sie sich dabei der eher unerfreulichen Konsequenzen bewusst? Sie wären dann nämlich weitgehend selbst schuld, wenn sie eines Tages ernsthaft erkrankten. Wie viel positiver ist die umgekehrte Sicht: Danach erschaffen wir zwar überwiegend unbewusst, aber aktiv, in der pausenlosen Auseinandersetzung mit unserer Umwelt die besten Voraussetzungen für ein glückliches, gesundes Leben mit vielen positiven sozialen Kontakten bis ins hohe Alter.

Andreas Plagemann, Leiter der Abteilung für experimentelle Geburtsmedizin an der Charité in Berlin, begreift das Leben als »individuellen, permanent umweltabhängigen Entwicklungsprozess« – als »Ontogenese bis ins Alter«. 1 Unsere individuelle Vergangenheit entfaltet demzufolge eine fundamentale Macht. Die neueste Forschung zeigt: Molekularbiologische Strukturen in den Zellen verändern sich unentwegt als Reaktion auf Umwelteinflüsse. Sie speichern Informationen über unsere Vergangenheit.

Welche große Bedeutung diese Prozesse für uns und unsere Gesundheit haben, beginnen wir derzeit erst zu verstehen. Sie drängen den Faktor Zufall in den Hintergrund. Die Vergangenheit dagegen rückt als Gesundheitsfaktor nach vorne. Unser Verständnis von Gesundheit wandelt sich.

Plagemann ist Experte für perinatale Prägung, also der Wissenschaft von den bleibenden Einflüssen aus der Zeit im Mutterleib und im ersten Jahr nach der Geburt. Die vielen bahnbrechenden Erkenntnisse, vor allem aus den vergangenen fünf bis zehn Jahren, auf die er sich mit seiner Aussage bezieht, haben weit reichende Konsequenzen für den Umgang der Gesellschaft mit Kindern und Jugendlichen sowie mit werdenden und jungen Eltern. Offenbar wird ein großer Teil unserer Persönlichkeit und Widerstandskraft bereits in den 24 Monaten rings um unsere Geburt festgelegt.

Doch die neuen Erkenntnisse verändern unser Verständnis von Gesundheit noch aus einem weiteren Grund: Prägung scheint sogar Generationsgrenzen überspringen zu können. Die Gesundheit der Eltern beeinflusst danach auch die Gesundheit ihrer Kinder und Enkel. Das Phänomen der transgenerationellen Prägung gehört zu den aufregendsten Gebieten der modernen Biologie. Dem Anschein nach vererben wir neben unseren Genen nämlich auch erworbene Umweltanpassungen – und somit ein Stück weit unsere Gesundheit und Persönlichkeit.

Widerstandskraft und psychische Stabilität bis ins hohe Alter sind demnach eine Reaktion auf Jahre bis Jahrzehnte zuvor geschriebene und in den Zellen des Körpers gespeicherte molekularbiologische Botschaften. Gesundheit ist die Anpassungsfähigkeit von Körper und Geist an eine sich stets wandelnde, nicht selten bedrohliche und angriffslustige Umwelt. Sie ist die Gabe, positiv auf Belastungen zu reagieren und damit für zukünftige Herausforderungen besser gewappnet zu sein. Sie ist ein Prozess, ein Kontinuum. Gesundheit ist die aktive Leistung eines Organismus. Wir dürfen täglich neu um sie kämpfen. Und manchmal wächst sie sogar in der Auseinandersetzung mit einer Krankheit.

Es klingt absurd, aber wir können sogar gleichzeitig krank und gesund sein. Genau betrachtet ist das etwas ganz Natürliches, fast schon Zwangsläufiges. Wenn wir beispielsweise einen Schnupfen haben, sind wir krank, zugleich sorgt aber unsere Fitness dafür, dass wir rasch wieder genesen. Oder wenn wir eine krank machende Mutation eines bestimmten Gens geerbt oder uns ein Bein gebrochen haben: Bei guter Gesundheit wird das Bein rasch heilen, und im Umgang mit der schicksalhaften genetisch bedingten Einschränkung wird uns eine gute Gesundheit bestmöglich unterstützen.

Gesundheit ist eben auch relativ.

»Gesundheit ist kein Zustand, sondern eine Bereitschaft zur richtigen Reaktion auf Störfaktoren«, schreibt mein Kollege Richard Friebe in seinem empfehlenswerten Buch Hormesis.2 Auch wenn sein Thema ein anderes ist als hier – nämlich die positive Wirkung kleiner Portionen oder Dosierungen eigentlich giftiger Substanzen oder ungesunder, stressender Erlebnisse –, so wirft Friebe doch den gleichen, modernen Blick auf Gesundheit als ein permanentes hochdynamisches Kontinuum.

Diese Sicht ist nicht neu. Sie veranlasste in den 1970er Jahren den amerikanischen Soziologen Aaron Antonovsky, das Konzept der Salutogenese – der Gesundheitsentstehung – zu entwickeln. Auch viele moderne, systemisch denkende Psychologen, Psychosomatiker und Präventionsmediziner begreifen Gesundheit mittlerweile als Prozess. Bei vielen ihrer Kollegen und in der Öffentlichkeit hat sich diese Vorstellung aber noch nicht durchgesetzt.

Man vermisst die greifbaren Veränderungen im Körper, die die Entstehung der Gesundheit auf zellbiologischer Ebene begleiten. Doch was diesen Punkt betrifft, gibt es in jüngster Zeit dramatische neue Erkenntnisse: Die Molekularbiologie hat Strukturen aufgespürt und bis ins Detail erforscht, die der Zelle ein Gedächtnis und eine Identität schenken und damit Stück für Stück unsere Widerstandskraft und Persönlichkeit aufbauen.

Unsere Zellen erinnern sich also an Umwelteinflüsse und die Folgen des eigenen Lebensstils. Erfahrungen der Vorfahren sind in ihnen ebenso gespeichert wie Erlebnisse aus der Zeit um die Geburt und weitere Gegebenheiten aus dem bisherigen Leben. Das erklärt, warum uns manche Einflüsse aus der Vergangenheit für den Rest des Lebens prägen und wie es möglich ist, dass der Lebensstil unserer Eltern und Großeltern – etwa ihre Ernährungsgewohnheiten und seelischen Belastungen – auch über unser eigenes Wohlergehen mitentscheidet.

Mit der Erforschung dieser drei Ebenen des Gedächtnisses der Zellen beschäftigen sich die Wissenschaften der transgenerationellen und der gewöhnlichen Epigenetik sowie der perinatalen Prägung. In diesem Buch werde ich die wichtigsten neuen Erkenntnisse zu diesen Gebieten präsentieren mitsamt den Konsequenzen, die sich daraus für uns ergeben.

Zunächst wird es darum gehen, wie die allermeisten häufigen Krankheiten aus dem untrennbaren Zusammenspiel von Erbe und Umwelt resultieren. Das ist der erste Teil. Im zweiten Teil widme ich mich schließlich der Zeit vor und nach der Geburt: die unerhört prägende erste Phase eines jeden menschlichen Lebens. Sie beginnt kurioserweise schon drei Monate vor der Zeugung und endet mit dem ersten Lebensjahr. Werden Menschen jetzt in eine positive Richtung geprägt, dann profitieren sie davon ihr ganzes Leben. Sie sind regelrechte Glückskinder.

Doch unsere Erfahrungswelt, aber auch die Auslöser und Folgen unseres Handelns, wirken weit über das eigene Leben hinaus. Die Grenzen zwischen den Generationen verschwimmen – nicht nur kulturell und soziologisch, sondern auch biologisch. Im dritten Teil dieses Buches erkläre ich deshalb, wieso wir eine neue Biologie der Vererbung benötigen und wie diese aussehen könnte.

All das verändert den Blick einer Generation auf vorherige und nachfolgende Generationen. Und es verändert die Wahrnehmung eines jeden Menschen von sich selbst.

Gesundheit entsteht!

Wenn ich hier den Begriff Gesundheit verwende, geht es mir also nicht um die Abwesenheit von Krankheiten wie den unvermeidbaren gelegentlichen Schnupfen oder andere Infektionen wie Windpocken oder Grippe, die ja gewissermaßen zum Gesundsein dazu gehören. Manchmal schützen sie sogar vor einer späteren Erkrankung, und gefährlich sind sie nur in Ausnahmefällen. Ausnehmen möchte ich auch die sogenannten Erbleiden, mit denen sich die Disziplin der medizinischen Genetik beschäftigt. Diese Krankheiten sind selten, in ihren Auswirkungen fast immer tragisch und enden leider viel zu oft tödlich. Aber sie sind nicht die Folge des Zusammenspiels aus Erbe und Umwelt. Selbst mit einer blendenden Gesundheit können wir ihre Ursache nicht beseitigen – wir können diese Krankheiten höchstens in ihrer Entwicklung verzögern oder möglichst lange am Ausbruch hindern.

Dieses Buch behandelt vor allem die Widerstandskraft gegen komplexe Krankheiten, auch multifaktorielle Leiden genannt. Das sind Krankheiten, zu denen sehr viele Faktoren gemeinsam auf komplizierte, oft noch nicht im Detail verstandene Weise beitragen. Zu diesen Leiden zählen alle Volkskrankheiten, alle Zivilisations- und Altersleiden sowie die allermeisten anderen chronischen und psychischen Krankheiten.

Im Fokus stehen also jene Krankheiten und Krankheitsvorstufen, die wirklich alle Menschen etwas angehen und gegen die wir fast alle nahezu tagtäglich versuchen anzukämpfen: starkes Übergewicht bis hin zur Fettsucht, Typ-2 – Diabetes, Rheuma, Asthma, Allergien, Bluthochdruck, verkalkte Gefäße und andere Herz-Kreislauf-Störungen als Auslöser von Herzinfarkt und Schlaganfall, Depressionen, Ängste, Schlaflosigkeit und die vielen anderen psychischen Störungen, Altersdemenz, womöglich sogar Morbus Alzheimer – und Krebs natürlich. Gegen diese Krankheiten richtet sich unser wachsendes Bewusstsein für gesunde Ernährung, Fitness, Schlankheit, Schlaf, Entspannung.

Viele der Risikofaktoren für komplexe Krankheiten sind schon länger bekannt: die geerbten Genvarianten natürlich, aber auch unausgewogene Ernährung, mangelnde Bewegungsfreude, geringer Wohlstand und Bildung sowie Nikotin- und Alkoholkonsum und vieles mehr. Dennoch fällt es der Medizin noch immer schwer, diese Krankheiten zu verstehen oder gar effektiv zu behandeln. Einige besonders wichtige Faktoren wurden bislang nämlich weitgehend übersehen: die Art und Weise, wie die Gene in den einzelnen Zellen des Körpers reguliert werden – welche Gene besonders häufig und welche eher selten zum Einsatz kommen – sowie die frühe Prägung und die generationsüberschreitende Vererbung von Umweltanpassungen. Genau diese Faktoren, deren Einfluss früher oft als Zufall fehlgedeutet wurde, verändern derzeit den Gesundheitsbegriff. Wie sie genau aussehen und was das für jeden Einzelnen von uns bedeutet, ist wesentlicher Inhalt dieses Buches.

Multifaktorielle Krankheiten sind die eigentlichen Killer in der industrialisierten Welt. An ihnen sterben die meisten Menschen. Sie lassen uns rascher altern. Sie sind der Auslöser des Siechtums sehr vieler älterer Menschen. Wir alle würden ihnen nur zu gerne ausweichen. Und wenn wir in der Mittagspause mal wieder einen großen Umweg um das Fastfood-Lokal machen oder am Sonntag die Laufschuhe schnüren, hoffen wir, dadurch eben diesen Krankheiten zu entgehen.

Volkskrankheiten bestimmen zum Großteil auch die durchschnittliche Lebenserwartung der Bevölkerung, die übrigens fast überall, wo Frieden herrscht und wenig Hunger gelitten wird, ungebremst steigt. Das ist vor allem in den letzten Jahrzehnten wohl auch eine positive Folge des zunehmenden Gesundheitsbewusstseins. Wo dieses nachlässt, etwa in den bildungsfernen Schichten der USA, stagniert oder sinkt die Lebenserwartung mittlerweile.

Gesundheit ist nun mal kein Zufall. Aber dieses Buch zeigt auch, dass die Gesundheit eines Menschen nicht nur in seinen eigenen Händen und in dem geerbten, nicht beeinflussbaren Text seines Erbguts liegt. Heute wissen wir, Gesundheit ist ein generationsübergreifendes Projekt. Das Fundament unserer Lebenserwartung haben schon die Großeltern gegossen. Unser eigenes Gesundheitskontinuum wirkt bei unseren Enkeln fort – und vielleicht sogar darüber hinaus.

Genetische Erkrankungen sind übrigens auch an dieser Stelle nicht gemeint. Mir geht es letztlich um die nichtgenetische Vererbung der Gesundheit, also die Vererbung von Umweltanpassungen, um die Weitergabe der biomedizinischen Folgen des Lebensstils, etwa einer besonders gesunden Ernährung, einem Aufwachsen in Geborgenheit oder einem Leben mit viel körperlicher Anstrengung.

Wir sollten also umdenken, uns diesen neuen Begriff von Gesundheit zu eigen machen. Dann werden wir auch einen anderen Kurs in der Gesundheitspolitik einschlagen, den Fokus der Krankheitsvorsorge verlagern und vielleicht sogar unser Leben ändern. Es geht darum, das individuelle Schicksal und das Schicksal der kommenden Generationen noch mehr in die eigenen Hände zu nehmen.

Mein Antrieb zu diesem Buch war, ein klares, modernes und für viele Leser sicher auch überraschend neues Bild davon zu zeichnen, wie körperliche Gesundheit und eine ausgeglichene, sichere Persönlichkeit entstehen. Mein Ziel ist, die unerhörte Relevanz eines besonders wichtigen Ausschnitts der modernen Molekularbiologie aus der gesamten, hochkomplexen Materie herauszufiltern und ebenso spannend wie anschaulich und leicht verständlich aufzuarbeiten. Die Biologie des 21. Jahrhunderts ist sensationell, sie ist revolutionär und sie hat das Potenzial, Menschen zu begeistern und zu verändern.

Das Buch soll zeigen, wie unser Handeln oder Nichthandeln tief hineinwirkt in die mikroskopisch kleinen Kerne unserer rund 30 Billionen Zellen und inwiefern es mitunter Konsequenzen für unsere Kinder und Enkel hat. Die Abwehr chronischer und ernster seelischer wie körperlicher Krankheiten bis ins hohe Alter, verbunden mit dem möglichst langen Erhalt der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit, entsteht nach dieser Sicht aus der permanenten, unentwirrbaren und schicksalhaften Interaktion von Erbe und Umwelt. Um es möglichst kompakt auszudrücken: Gesundheit und Persönlichkeit sind maßgeblich beeinflusst vom Integral des Handelns und der Erfahrungen der Vorfahren, der eigenen Zeit im Mutterleib, den ersten wichtigen Monaten und Jahren nach der Geburt sowie dem ganzen langen Rest des eigenen Lebens.

Noch kürzer gefasst: Gesundheit entsteht! Wir dürfen uns um sie bemühen – natürlich nicht in jeder Minute, aber vielleicht wenigstens einmal pro Tag oder mehrmals in der Woche. Und wir dürfen eine Menge dafür tun, dass unsere Kinder, Enkel und Urenkel den Kampf um ihre Gesundheit etwas gelassener angehen können. Denn auch Gesundheit wird vererbt.

Diese Erkenntnisse betreffen jeden. Sie taugen zwar nicht, die Verantwortung für einen ungesunden Lebensstil bei Eltern und Großeltern abzuladen. Aber sie vermitteln die große Chance, unsere eigene Gesundheit ein Stück weit selbst zu erschaffen und darüber hinaus schon heute eine ganze Menge für die Gesundheit der Gesellschaft von morgen zu tun. Vermutlich werden wir dabei erkennen, wie die moderne Wissenschaft uns ganz sanft nötigt, etwas mehr Verantwortung für uns selbst und unsere Nachkommen zu übernehmen. Doch diese Verantwortung ist auch eine riesengroße Chance!

Dieses Buch soll erklären, motivieren, faszinieren, helfen, uns besser zu verstehen. Aber es sucht keine Schuldigen und liefert keine stupiden Gebrauchsanweisungen. (Ich bin ohnehin der Meinung, dass jeder Mensch im Grunde ein intuitives Gespür dafür hat, was für ihn und seine Gesundheit gut ist und was nicht.) Und hoffentlich bringt es die gesellschaftliche Debatte über neue Formen der Krankheitsvorsorge voran.

Als im Jahr 2009 mein erstes Buch zur Epigenetik erschien, kündigte ich eine Revolution an. 3 Seitdem habe ich die Fachliteratur intensiv verfolgt, Kongresse besucht und zahlreiche ausführliche Gespräche mit Forschern aus aller Welt geführt. Heute kann ich guten Gewissens behaupten: Die Revolution findet tatsächlich statt. Das Forschungsgebiet hat sich unfassbar rapide entwickelt. In den anerkanntesten Fachzeitschriften der Welt wurden reihenweise neue Erkenntnisse publiziert. Epigenetik und Genregulationsforschung haben die Biomedizin und die Psychologie grundlegend verändert.

Deshalb ist dieses neue Buch so wichtig. Immer mehr seriöse, von Haus aus eher vorsichtige Wissenschaftler akzeptieren die Bedeutung einer neuen Dimension der Erbe-Umwelt-Interaktion. Es ist dieser Rückenwind, der mich veranlasste, mich des Themas erneut anzunehmen. Der Fokus des Buches ist dabei allerdings ein völlig neuer. Es geht nicht darum, die Wissenschaft der Epigenetik zu erklären. Ich möchte zeigen, wie das Leben unsere Gene prägt, möchte veranschaulichen, warum unsere Persönlichkeit und Widerstandskraft ein Produkt der permanenten Erbe-Umwelt-Interaktion sind.

Lassen also auch Sie, geschätzte Leserin, geschätzter Leser, sich von der neuen Sicht auf unsere Gesundheit anstecken. Entdecken Sie die teils sensationelle Forschung, die diese Sicht freigeräumt hat. Und lassen Sie sich dabei vielleicht sogar von den Vorzügen einer positiven, aktiven Lebensweise überzeugen.

I

Mehr als Lebensstil plus Gene: Der neue Blick auf Volkskrankheiten

»Gesundheit, wie wir sie verstehen, ist in der Tat ein lebenslanges Projekt.«

Leroy Hood, Seattle 1

Kapitel 1

Vergesst die Gene! Vergesst die Umwelt!

Schritt für Schritt

Wann immer ich kann, gehe ich morgens eine Runde laufen. Mindestens 45 Minuten, manchmal auch eineinhalb Stunden bin ich an der frischen Luft, genieße den monotonen Rhythmus der Bewegung, den leeren Kopf, glitzernde Schneeflocken, kühlende Regentropfen oder wärmende Sonnenstrahlen. Meist gelingt das viermal in der Woche. Wer für einen Marathon trainiert, wird darüber herablassend lächeln. Wer Bewegung scheut, wird mich vielleicht sogar bewundern. Doch das alles ist relativ. Und es spielt keine Rolle. Jeder Mensch macht so viel Sport, wie er will. Jeder Mensch ist anders. Und das ist gut so.

Ich empfinde das Laufen jedenfalls als positiv. Die Stimmung steigt, die innere Rhythmik stabilisiert sich, ich kann mich später am Schreibtisch gut konzentrieren, werde abends früher müde, schlafe tiefer, wache tags darauf erholter auf. Rückenschmerzen sind mir weitgehend unbekannt, ich bekomme seltener Infekte, fühle mich insgesamt fitter, bleibe halbwegs schlank. Doch macht mich das Laufen auch gesünder? Bremst es das Altern? Verhindert es, dass ich später einen Herzinfarkt bekomme, Cholesterinsenker, Psychopharmaka oder Betablocker nehmen muss, zum Diabetiker werde und auch nicht stark übergewichtig, krebskrank oder dement?

Es gibt eine Menge epidemiologischer Daten, Längsschnittstudien und Bücher, die nahelegen, dass regelmäßige Bewegung ein Stück weit vor Herz-Kreislauf- und Stoffwechselerkrankungen, vor Alzheimer-Demenz und sogar vor vielen psychischen Leiden und manchen Arten von Krebs schützt, dass sie die mittlere Lebenserwartung der Menschen steigen lässt, dass Joggen zu guter Letzt also gesund ist. 2 Vor allem deshalb machen es ja so viele.

Das alleine würde mich allerdings kaum motivieren, schon deshalb, weil ich auf derart verallgemeinernde Aussagen eher skeptisch reagiere und die systematischen Schwächen vieler dieser groß angelegten, auf den Lebensstil von Menschen rein statistisch zurückblickenden Studien kenne.

Da ist also noch mehr, was mich antreibt. Und ich vermute, es ist schlichtweg das gute Gefühl, das sich beim Laufen einstellt! Dieses gute Gefühl war jedoch nicht immer da. Es ist hart erarbeitet. Es ist die Folge mühsamen Trainings und vieler quälender Läufe. Als ich nur selten joggte, waren eigentlich alle Läufe eine Tortur. Doch dieses Gefühl verschwand immer mehr, je regelmäßiger ich mich aufraffen konnte, die Laufschuhe anzuziehen. Irgendetwas passierte mit mir. Heute fühle ich mich mies, wenn ich nicht laufe.

Diese Erfahrung haben schon Millionen Menschen vor mir gemacht. Sie alle haben gespürt, wie sich ihr Körper und ihr Gehirn mit dem Training verändern. 3 Sportphysiologen und Biopsychologen können die Verwandlung sogar messen, etwa durch die Analyse von Pulsfrequenzen, Muskelumfängen, Regenerations- und Koordinationsleistungen, Reaktionszeiten, Stimmungswerten – oder schlicht über die für Leistungssportler so wichtigen Laktatwerte, also über das Tempo, in dem Milchsäure von der Muskulatur erzeugt und vom Körper wieder abgebaut wird.

Doch erst seit ein paar Jahren weiß man, was beim Training im tiefsten Innern von Körper und Geist genau vor sich geht: in den zahllosen, rund zehn Mikrometer kleinen Kernen der beteiligten Muskelzellen, im Fettgewebe, in anderen am Stoffwechsel mitwirkenden Organen und im Gehirn. Hier befindet sich die molekulare Basis der umfassenden Veränderungen, die das sportliche Training in unserem Körper und unserer Psyche auslöst. Hier finden sich wohl auch die Auslöser dafür, dass ich ein gutes Gefühl beim Laufen habe, und vielleicht sogar die Ursache, warum manche Menschen sportsüchtig werden.

Eine kuriose, aber nicht unbedeutende Nebenrolle bei der Entschlüsselung solcher Prozesse spielen ein paar eigenartige Trainingsfahrräder, die vor drei, vier Jahren im Auftrag des ehrwürdigen Karolinska-Instituts der Universität Stockholm aufgestellt und manipuliert worden waren. Dreiundzwanzig untrainierte junge Probanden durften – ganz im Dienst der Wissenschaft in einer »EpiTrain« (Epigenetics in Training) getauften Studie – auf diesen Ergometern drei Monate lang ihre Beinmuskulatur stärken. Das Besondere: Die Geräte hatten nur eine Kurbel und ein Pedal. Die angehenden Sportler, die immerhin viermal pro Woche eine Dreiviertelstunde auf den Ergometern schwitzten, radelten einbeinig. Welches Bein sie trainierten, war zuvor ausgelost worden. Das andere blieb ungeübt. 4

Während der drei Monate entnahmen die Forscher Gewebeproben und analysierten sogenannte epigenetische Strukturen in und am Erbgut der Muskelzellen. Mit diesen Strukturen beschäftigt sich die Wissenschaft der Epigenetik, was so viel wie Neben-, Über- oder Zusatzgenetik bedeutet. Epigenetische Strukturen – meist simple biochemische Anhängsel, etwa Acetyl-, Phosphor- oder Methylgruppen – beeinflussen, welche ihrer Gene eine Zelle benutzen kann und welche nicht. Sie wirken ähnlich wie Schalter oder Dimmer an einer Steckdosenleiste. Ist die Leiste abgeschaltet oder heruntergedimmt, haben die An- und Ausschalter an den angeschlossenen Geräten wenig oder gar keinen Einfluss mehr. Genauso bestimmen die epigenetischen Strukturen darüber, ob und wie gut die Zelle ein Gen überhaupt noch an- oder abschalten kann.*1

Die Gene befinden sich im Zellkern auf dem berühmten Erbgutmolekül DNA (Desoxyribonukleinsäure). Unsere Gene werden nicht nur von den Zellen an ihre Tochterzellen weitergegeben und von Eltern an ihre Kinder vererbt. Vielmehr bestimmen sie im Alltag einer jeden lebendigen Zelle maßgeblich, wie diese Zelle aussieht und welche Aufgaben sie erfüllt. Angestoßen durch bestimmte Proteine namens Transkriptionsfaktoren liest die Zelle einen bestimmten Satz an Genen ab. Sie erfüllt ein individuelles Programm. Dabei dient der Text der Gene als Bauanleitung für all die vielen Proteine, die die Zelle gerade benötigt. Das können Hormone, Enzyme, Baustoffe, die bereits genannten Transkriptionsfaktoren sein und vieles mehr.

Als eine zusätzliche Kontrollinstanz kommen die epigenetischen Strukturen ins Spiel. Ist ein bestimmter Abschnitt der DNA epigenetisch auf nicht aktivierbar gestellt oder auf schwer aktivierbar heruntergedimmt, sind die Transkriptionsfaktoren an dieser Stelle wirkungslos oder gebremst. Die Zelle kann die entsprechenden Gene nicht oder nur schlecht benutzen.

Die Schalter-Proteine können nämlich nur an solchen Stellen an die DNA binden, die epigenetisch auf das Andocken vorbereitet sind. Das Gleiche gilt natürlich auch für die Ablese-Enzyme, die angelockt von geeigneten Transkriptionsfaktoren den genetischen Code transkribieren, also auf ein Botenmolekül übertragen, das dann außerhalb des Zellkerns für den bauplangerechten Zusammenbau neuer Proteine sorgt. Auch diese Ablese-Enzyme benötigen ein geeignetes epigenetisches Umfeld, um einzelne Gene oder auch ganze Gruppen benachbarter, funktionell zusammenhängender Gene zu erfassen. Während Transkriptionsfaktoren und Ablese-Enzyme also die Aktivität der Gene bestimmen, entscheidet das epigenetische Programm darüber, welche Gene überhaupt aktivierbar sind.

Die Gesamtheit der epigenetischen Strukturen einer Zelle wird Epigenom genannt. Und dieses Epigenom legt fest, welche ihrer rund 23000 Gene eine jede menschliche Zelle wie gut benutzen kann und welche nicht. Ändert sich ein Epigenom, wandelt sich die Identität der entsprechenden Zelle. Sie wechselt sozusagen in ein anderes Programm, erhält eine andere Gebrauchsanweisung. Und weil sie dieses Programm meist noch beibehält, wenn das Training oder was auch immer die epigenetische Veränderung bewirkt hat, längst beendet ist, bildet das Epigenom eine Art zelluläres Gedächtnis für Umwelteinflüsse.

Doch zurück zu den Einbein-Radlern und den epigenetischen Strukturen in ihrer Muskulatur: Das dreimonatige Training blieb natürlich nicht ohne Effekt. Die Muskulatur veränderte sich rein äußerlich, und auch der Zellstoffwechsel stellte sich um. So weit war das zwar noch kein neues Resultat. Doch dieses Mal erfassten die Wissenschaftler – die Expertin für molekulare Sportphysiologie Maléne Lindholm und Kollegen – zusätzlich das epigenetische Gedächtnis der Muskelzellen.

Und tatsächlich waren die epigenetischen Schalter und Dimmer in den Zellkernen auch wirklich verantwortlich für den Trainingseffekt. Sie lagerten sich in den neuerdings so intensiv benutzten Muskeln um. Auf diesem Weg entstanden neue Genaktivierbarkeitsmuster, das heißt, der Satz an Genen, der den Zellen zur Verfügung stand, hatte sich gewandelt. Aus den einst schlappen, untrainierten Faserchen wurden – wenn man so will – vor Kraft und Energie strotzende, effizient arbeitende Bündel, wie man sie von umfassend trainierten Athleten kennt.

Was die Studie aber besonders elegant und aussagekräftig macht, ist der Einsatz der einkurbeligen Ergometer. Sie sorgen für eine statistisch saubere und wenig fehleranfällige Art der Ergebniskontrolle. All die spannenden molekularbiologischen Effekte zeigten sich nämlich nur in den trainierten Beinen der Probanden. Die Epigenome der untrainierten Beine, obgleich selbstverständlich genetisch identisch und allen Umwelteinflüssen außer dem Training in gleichem Maße ausgesetzt, blieben praktisch unverändert.

Im Detail entdeckten die Forscher an knapp 5000 Stellen des Erbguts Unterschiede zwischen dem trainierten und dem untrainierten Zustand. Der DNA-Code blieb natürlich unbeeinflusst. Aber seine Steuerung, also die epigenetische Gebrauchsanweisung, war eine von Grund auf andere. An einigen Stellen der DNA waren plötzlich Methylgruppen angelagert, bestehend aus einem Kohlenstoff und drei Wasserstoffatomen (CH3). An anderen Stellen hatten bestimmte Enzyme in den Zellen ebensolche Methylgruppen im Laufe des Trainings von dem Erbgutmolekül entfernt.

Schließlich schauten sich die Forscher die 800 deutlichsten systematischen Veränderungen genauer an. Besonders häufig betraf die Umprogrammierung sogenannte Enhancer – Verstärker-Elemente. Das sind Stellen, die auf jenem überwiegenden Teil der DNA liegen, der keine Codes für Proteine enthält und früher für überflüssig gehalten wurde. Man sprach damals sogar von Junk-DNA – Müll-DNA. Heute wissen die Genetiker: Ein Großteil jener vermeintlich unnützen DNA, die sagenhafte 98,5 Prozent des menschlichen Erbgut-Textes ausmacht, dient der Regulation der verbleibenden 1,5 Prozent Text, der tatsächlich Protein-Baupläne enthält. 5

Von den Enhancern weiß man beispielsweise, dass sie die Aktivierbarkeit benachbarter Gene und Gengruppen immer dann verbessern, wenn bestimmte Transkriptionsfaktoren an sie binden. Sie erhöhen also gezielt die Häufigkeit, mit der die Zelle diese Gene abliest. Kein Wunder, dass sich in den Zellen der Einbein-Fahrradfahrer auch die Genaktivität gewandelt hatte. Experten sprechen davon, dass sich das Genexpressionsmuster geändert habe. Oder anders ausgedrückt: Die Zellen hatten ein Stück weit ihre Bestimmung gewechselt. Sie erzeugten andere Biomoleküle als zuvor – das eine Enzym, den anderen Botenstoff vielleicht deutlich mehr, manch anderes Protein dafür messbar weniger. Der Zellstoffwechsel war ein anderer geworden. Das erklärt natürlich auch, warum das dreimonatige Training bei den Probanden für einen völlig anderen »Fitnesszustand« gesorgt hatte. Und diesen Vorgang bis ins molekulare Detail aufgeklärt zu haben, das war wirklich neu!

Exakt 4076 Gene wurden im Muskel des trainierten Beins mehr oder weniger stark abgelesen als im untrainierten Bein oder im gleichen Bein vor dem Training. Das ist immerhin ein knappes Fünftel aller Gene, die wir Menschen und damit all unsere Zellen überhaupt besitzen. Selbstverständlich waren darunter auch einige, von denen man längst wusste, wie wichtig sie für die Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit der Muskelzellen sind. Aber man entdeckte auch eine Menge neuer Gene, deren Funktion bislang noch unbekannt ist.

Mit Hilfe von Computern berechneten die Forscher schließlich, welche funktionellen Netzwerke jene Gene miteinander knüpften, deren Aktivierbarkeit das Training verändert hatte. Dabei zeigte sich: Die Netzwerke kümmern sich um Dinge wie den Muskelfaseraufbau, den Zell-Energiehaushalt, den Kohlenhydratstoffwechsel oder die Bildung von Fettgewebe, das als Energiespeicher dient. Diese neue Erkenntnis, dass sich durch eine simple sportliche Betätigung so viele verschiedene Gene für unsere Gesundheit aktivieren lassen, ist wirklich erstaunlich. Ohne Frage: Lindholm und Kollegen haben mit Hilfe ihrer geschickten Versuchsanordnung ein Stück weit entschlüsselt, wie Gesundheit entsteht.

Das Fantastische an dieser und vielen ähnlichen Untersuchungen aus den vergangenen Jahren: Sie entzaubern die jahrhundertelang so rätselhaft gebliebene Interaktion von Erbe und Umwelt. Und sie erklären, wieso Umwelteinflüsse unseren Körper und Geist auf Dauer verändern – prägen – können. Biologen können heute messen und direkt beobachten, was zuvor in einer Art Blackbox steckte und sich mühsam auf dem Papier oder am Computer, jedenfalls immer nur theoretisch, rekonstruieren ließ.

Es ist mittlerweile Fakt: Lebensstil und Umwelt verändern mitunter nachhaltig die Genregulation. Und das, was da milliardenfach und pausenlos in den winzig kleinen Kernen unserer Zellen passiert, sei es, wenn wir Fahrrad fahren, ausschlafen oder uns ausgewogen ernähren, ist letztlich das biologische Substrat für ein erstaunlich groß angelegtes, völlig neues Konzept von Gesundheit.

Alte Zellen – alter Mensch

Auch wenn wir es oft nicht wahrhaben wollen: Krankwerden ist ein passiver, natürlicher Prozess. Er ergibt sich zwangsläufig aus einem anderen natürlichen Prozess, den wir genauso wenig mögen: der Alterung der Körperzellen. Elizabeth H. Blackburn, australische Molekularbiologin und seit dem Herbst 2009 stolze Trägerin des Medizin-Nobelpreises, 6 sagte einmal: »Altern Zellen des Immunsystems, bekommen wir leichter Infektionen und können Entzündungen schlechter bekämpfen. Altern zudem die Zellen der Organe, verlieren sie ihre Widerstandsfähigkeit, und wir bekommen Diabetes, Alzheimer, Arteriosklerose, Herzinfarkt, Schlaganfälle oder Krebs. All diese Leiden sind nicht umsonst die Hauptkiller älterer Menschen.« 7 Das Zitat ist mittlerweile fast zehn Jahre alt, doch gerade der Umkehrschluss, auf dessen Bedeutung Blackburn schon seit langem hinweist, hat sich immer und immer wieder bestätigt: Alles, was die rund dreißig Billionen Zellen eines menschlichen Körpers bei ihrem Kampf gegen die Alterung unterstützt, erhält uns auf Dauer gesund.

Die aktive Leistung eines Organismus ist also das Gesundwerden, das Gesundsein und das Gesundbleiben. Körper und Geist kämpfen ununterbrochen dafür, jung zu bleiben. Und das können sie mehr oder weniger gut – nicht zuletzt in Abhängigkeit von den Bedingungen, in denen wir leben, in denen wir aufgewachsen sind und in denen unsere Vorfahren gelebt haben.

Alle Zellen reparieren zum Beispiel Mutationen, also meist zufällige oder infolge von Strahlung oder durch Giftstoffe ausgelöste schädliche Veränderungen des DNA-Codes. Würde das nicht geschehen, erkrankten wir täglich mehrmals an Krebs. Zudem sorgen vor allem die Stammzellen, die überall in Nischen der Gewebe sitzen und diese mit frischen Zellen versorgen, für ihr eigenes Jungbleiben. Mit dem Enzym Telomerase verlängern sie aktiv ihre Telomere. Diese Strukturen schützen das Erbgut bei einer Zellteilung davor, zerstückelt und womöglich falsch wieder zusammengebaut zu werden. Sind sie aufgebraucht, muss die Zelle sterben.*2 Deshalb werden sie auch als eine Art Lebensuhr bezeichnet, da sie sich in gewöhnlichen Zellen bei jeder Teilung verkürzen. Anders gesagt: Ohne das Enzym Telomerase kommen die Zellen ihrem Tod beständig näher.

Zu guter Letzt wirken fast alle Gewebe auch noch aktiv Entzündungen entgegen. Sie bekämpfen also je nach Umwelteinfluss mehr oder weniger gut den schleichenden körpereigenen Prozess, der letztlich am Anfang fast jeder Volkskrankheit steht.

Auf diesen und vielen weiteren Wegen entsteht Gesundheit jeden Tag neu! Und zwar – was wir mittlerweile alle verinnerlicht haben – auch durch eine gesunde Lebensweise. Doch gerade diese wirkt bei den Menschen unterschiedlich gut, weshalb wir uns bei Fragen der Ernährung und Bewegung auch ruhig ein Stück weit auf unsere Intuition verlassen dürfen.

Verantwortlich für all das ist die molekularbiologische Basis des komplexen Stoffwechselgeschehens. Diese Erkenntnis ließ und lässt zahlreiche Forscher im Erbgut nach Genen für Volkskrankheiten suchen – mit eher zweifelhaftem Erfolg. Zwar existieren ausgesprochen viele Gene, die das Risiko für viele Krankheiten je nach geerbter Variante positiv oder negativ beeinflussen. Doch jedes einzelne dieser Gene trägt fast immer nur zu einem verschwindend geringen Teil zur Gesunderhaltung bei. Die gemeinsame Regulation aller Gene – in eine eher gesund erhaltende oder das Alt- und Krankwerden beschleunigende Richtung – ist deshalb viel entscheidender als die Frage, welche der einzelnen Genvarianten man geerbt hat.

Mit der Erforschung der Genregulation und der Epigenetik kommt deshalb ein neuer maßgeblicher Aspekt ins Spiel. Für den gesunden Stoffwechsel in Körper und Gehirn sind nicht etwa einige wenige, je nach Krankheit besonders wichtige Genvarianten verantwortlich, sondern das gesamte hochkomplexe, in allen Zellen des beteiligten Organ-Netzwerks möglichst gut aufeinander abgestimmte Zusammenspiel Tausender Gene mit den molekularbiologischen Elementen, die sie regulieren. Deshalb ist es meist weniger entscheidend, welche Variante man bei einem einzelnen Gen geerbt hat. Ausschlaggebend ist vielmehr, welche Gene in den Zellen aktivierbar sind und welche nicht. Und genau dieser Faktor lässt sich ja, wie am Beispiel der einbeinigen Fahrradfahrer gesehen, durch relativ einfache Übungen immer wieder verändern.

Wir alle verhalten uns mal gesund, mal ungesund. Das ist ganz normal. Und es ist auch nicht verkehrt. Weil jedoch die Muster der Genaktivierbarkeit zwischen den Menschen verschieden sein können, reagieren die Zellen der einen auf die guten, die Gesundheit fördernden Einflüsse ein wenig sensibler als auf die schlechten – und umgekehrt.

Verantwortlich dafür sind natürlich die Gene selbst, doch auch der tagesaktuelle Lebensstil spielt eine Rolle. Allerdings ist das bei weitem nicht alles, denn der Lebensstil der vergangenen Jahre und Jahrzehnte ist ebenfalls in den Zellen gespeichert. Und es gibt die Phänomene der frühen Prägung und der epigenetischen Vererbung, mit denen ich mich aber erst im zweiten und dritten Teil dieses Buches beschäftigen werde.

Erbe und Umwelt im Gespräch

Fast schlagartig eröffnen sich der Wissenschaft derzeit also völlig neue Einsichten in die epigenetischen und genregulatorischen Prozesse einer Zelle. Dabei ist es noch gar nicht so lange her, da feierte die mittlerweile fast altertümlich anmutende klassische Genetik ihren Höhepunkt oder, wie manche Journalisten schrieben, »ihre Mondlandung«. Im Jahr 2003, exakt fünf Jahrzehnte nachdem James Dewey Watson und Francis Harry Compton Crick als Erste die chemische Struktur der DNA präsentierten, hatten zahlreiche Forscher aus aller Welt im Rahmen des Humangenom-Projekts den ersten 3,3 Milliarden Buchstaben langen kompletten Text einer menschlichen DNA entschlüsselt.*3

Das war fraglos eine der wichtigsten und großartigsten wissenschaftlichen Leistungen des 20. Jahrhunderts, und praktisch alle Inhalte dieses Buchs wären ohne die grandiose Vorgeschichte aus dem Zeitalter der Genetik undenkbar. Seit dem Jahr 2003 liegt endlich die Blaupause des menschlichen Lebens auf dem Tisch. Die genetischen Codes für sämtliche Proteine, die ein Mensch erzeugen kann, sind grundsätzlich bekannt. Und wir wissen auch: Die damals noch als Müll-DNA bezeichneten Abschnitte haben fast zur Gänze wichtige Funktionen. 8

Doch das Humangenom-Projekt schrieb eben »nur« die Vorgeschichte. Die aufregendsten Entwicklungen im Bereich der Molekularbiologie ereignen sich mittlerweile ganz woanders: jenseits der Gene, in den Regionen neben, zwischen, unter und über der DNA. Mit dem Jahr 2003 begann nämlich auch das »Zeitalter der Epigenetik«, so das Time Magazine,9 und der Genregulationsforschung. Seitdem beschäftigt sich die Molekularbiologie vor allem damit, wie Gene überwacht, auf aktivierbar oder inaktivierbar gestellt, an- oder ausgeschaltet, verstärkt oder heruntergedimmt werden.

So geht es zum Beispiel um die Frage, wie sich aus einer einzigen befruchteten Eizelle ein hochkomplexer Mensch mit rund 200 verschiedenen, aber genetisch fast identischen Geweben entwickeln kann. Oder es geht darum, wie man Stammzellen gezielt zu Nerven-, Bauchspeicheldrüsen-, Knorpel- oder anderen Zellen ausdifferenziert. Alles scheint inzwischen möglich: Forscher reprogrammieren fertige Hautzellen zu sogenannten induzierten pluripotenten Stammzellen zurück, aus denen dann wieder jeder menschliche Zelltyp werden kann. 10 Schon im Jahr 2010 fanden Forscher sogar heraus, wie man aus Bindegewebszellen direkt – also ohne den Umweg über die Stammzellen – Nerven-Vorläuferzellen erzeugt, die dann wieder zu den verschiedenen Arten von Gehirnzellen werden können. 11

In einer aufsehenerregenden Studie aus dem Jahr 2012 filterten chinesische Zellbiologen aus menschlichem Urin Gewebezellen, die dort immer in geringen Mengen herumschwimmen, und schrieben deren molekulare »Gebrauchsanweisung« so geschickt um, dass sich auch diese Zellen in Vorläufer von Nervenzellen verwandelten. 12 Sie heißen hUiNPCs, human Urine induced Neuron Progenitor Cells. Sie können in der Petrischale vermehrt und zu verschiedenen Zelltypen des Gehirns weiterentwickelt werden.

Wenn man Sie, geneigte Leserin, geneigter Leser, eines vielleicht gar nicht mehr so fernen Tages also als Patienten der neurologischen Abteilung eines Krankenhauses bittet, eine Urinprobe abzugeben, seien Sie nicht befremdet, sondern stimmen Sie bereitwillig zu. Es könnte durchaus sein, dass man Ihnen ohne medizinischen Eingriff Zellen für die Erforschung oder sogar Heilung einer neurodegenerativen Erkrankung wie Morbus Parkinson oder Alzheimer entnehmen möchte. Der entscheidende Vorteil dieser Zellen: Sie sind mit all Ihren anderen Zellen genetisch identisch und werden deshalb auch nicht von Ihrem Immunsystem abgestoßen.

Andere Forscher spritzen mittlerweile bestimmte, auch beim Menschen vorkommende Substanzen namens Mikro-RNAs, die in das Genregulationsgeschehen eingreifen, direkt in den durch einen Infarkt stark geschädigten Herzmuskel von Mäusen. Der hochspezifische, epigenetisch wirksame Botenstoff verändert dort das Genaktivitätsmuster und nötigt die Zellen zur Teilung. 13 Das verwundete Organ regeneriert, was es von Natur aus zumindest bei Mäusen und Menschen niemals macht, weshalb die Herzkrankheit ja auch so tragisch ist. Es könnte also sein, dass Herzinfarkte eines Tages einen großen Teil ihres Schreckens verlieren.

Diese Liste von unerhörten Erfolgen in der angewandten Genregulationsforschung ließe sich noch beliebig fortsetzen. Seit kurzem lässt man beispielsweise induzierte pluripotente Stammzellen gezielt zu sogenannten Inselzellen der Bauchspeicheldrüse ausdifferenzieren. 14 Diese sterben bei Menschen mit Typ-1 – Diabetes ab, weshalb sie kein Insulin mehr produzieren können. Genetisch identische Ersatzzellen, auf die man nun tatsächlich hoffen darf, wären hier ein wirklicher Segen.

Doch es geht mir in diesem Kapitel um etwas anderes, nämlich um das, was diesen Beispielen gemein ist: Die Forscher verändern in keinem der Fälle irgendwelche Gene. Sie lassen die DNA unberührt. Sie manipulieren stattdessen die Steuerung des Erbguts. Sie spielen mit den epigenetischen Programmen der Zellen, nicht mit ihrer genetischen Basis.

Genau an diesem Punkt setzt auch das vorliegende Buch an. Denn der einfachste, natürlichste und selbstverständlich auch nebenwirkungsärmste Ansatz zur Veränderung von Epigenomen und Genexpressionsmustern ist das Leben selbst. Treffen wir im Laufe unserer Existenz immer mal wieder die richtigen Entscheidungen, dann bewegt sich der dynamisch-kontinuierliche Prozess namens Gesundheit weiter in die richtige Richtung.

Die einzelne Zelle reagiert letztlich auf irgendwelche Einflüsse von außen, die ihr Programm verändern. Das können künstliche oder körpereigene Botenstoffe sein, aber natürlich auch Umwelteinflüsse: Sport, Ernährung, Geborgenheit und vieles mehr. Moderne biochemische Analysemethoden erlauben den Molekularbiologen und Genetikern mittlerweile den direkten Blick auf das, was dabei passiert. Sie können ganze Epigenome lesen und Genaktivitätsmuster in einzelnen Zellen entziffern.

Der bekannte Stammzellforscher Rudolf Jaenisch vom Whitehead Institute in Boston, USA, nannte die Epigenetik schon vor neun Jahren »die Sprache, in der das Genom mit der Umwelt kommuniziert«. Anders als in der Ende 2014 publizierten Stockholmer Studie mit den einkurbeligen Ergometern und ähnlichen Untersuchungen war es damals noch kaum möglich, dem Erbe-Umwelt-Gespräch sozusagen in Echtzeit zu lauschen.

Der zeitweise ebenfalls am Karolinska-Institut forschende Franzose Romain Barrès machte im Jahr 2012 Schlagzeilen, weil er und seine Kollegen zeigen konnten, dass Sport die Molekularbiologie des Muskels bereits binnen zwanzig Minuten verändert. 15 Damals hatten die Ergometer noch zwei Kurbeln und die 14 Probanden durften mit beiden Beinen strampeln.

Wie Barrès mir später erzählte, war er selbst über das eindeutige und in seiner Konsequenz nicht zu unterschätzende Resultat der kleinen Studie erstaunt: Die Forscher nahmen vor und nach dem zwanzigminütigen Ergometer-Training winzig kleine Stanzproben der Muskulatur und analysierten die epigenetischen Markierungen in den Zellkernen. Die Bewegung hatte dort sogar schon nach einer derart kurzen Zeit zielgenaue Veränderungen induziert. Drei Gene mit den ebenso unaussprechlichen wie für Laien unwichtigen Kürzeln PPAR-δ, PGC-1α und PDK-4 waren vor dem Training weitgehend auf inaktivierbar gestellt. Nach dem Training waren die Gene auf einmal aktivierbar geworden. Und dieser Effekt war umso stärker, je intensiver die Testpersonen in die Pedale getreten hatten.

Dass die Molekularbiologie der Zellen derart schnell und genau auf den Impuls von außen reagierte, war schon erstaunlich genug. Entscheidend war jedoch die Beobachtung, dass die Zellen diese drei Gene nun auch tatsächlich deutlich mehr benutzten als zuvor. Die epigenetische Umgebung und die Aktivität anderer Gene blieben dagegen unverändert.

Spannend ist das Resultat vor allem deshalb, weil alle drei Gene am menschlichen Energiestoffwechsel mitwirken. Werden sie vermehrt abgelesen, verbrennen wir mehr Energie. Das heißt auch, unser Risiko für Übergewicht und letztlich auch für Alterskrankheiten wie Typ-2 – Diabetes sinkt. Hier, in dieser äußerst dynamischen molekularbiologischen Reaktion auf Bewegung, könnte also tatsächlich ein Teil der Erklärung dafür liegen, warum Menschen, die in jungen Jahren viel und gerne Sport treiben, im Alter seltener und später krank werden.

Allerdings muss man an dieser Stelle äußerst zurückhaltend sein mit Spekulationen: Romain Barrès erklärt, seine Daten »sagen nichts darüber aus, wie nachhaltig die Veränderungen in den Zellen wirklich sind«. Es ist sehr wahrscheinlich, dass der gezielte biochemische Umbau am Erbgut nur vorübergehend ist und den Zellen erst dann langfristiger erhalten bliebe, wenn die Probanden über Wochen oder Monate hinweg immer wieder auf das Ergometer stiegen.

Ich gebe gerne zu: Auch an diese Zusammenhänge denke ich manchmal, wenn ich meinen morgendlichen Lauf antrete. Je häufiger ich laufe, desto größer ist wohl die Wahrscheinlichkeit, dass sich in meinem Körper nachhaltig etwas zum Guten verändert. Dieser Gedanke motiviert ungemein.

Bestätigt werden solche Überlegungen durch die Studie mit den Einbein-Radlern. Sie analysierte eine deutlich längere Trainingsperiode von drei Monaten und brachte viel umfangreichere epigenetische Veränderungen in den Muskelzellen ans Licht als das Experiment von Barrès. Doch es gibt noch eine weitere Untersuchung mit einem wichtigen Resultat, das in die gleiche Richtung weist und die anderen Studien bestätigt.

Wieder geht es um ein Experiment unter schwedischer Leitung, dieses Mal angeführt von Tina Rönn von der Lund University in Malmö. 16 Es zeigt einmal mehr, wie sehr sportliche Betätigung unseren Stoffwechsel verändert und dass es eben diese Veränderungen sein dürften, die viele Sportler auf Dauer und mitunter sogar bis ins hohe Alter vergleichsweise schlank und gesund erhalten.

Rönn und Kollegen verordneten 23 unsportlichen Männern ein sechsmonatiges Trainingsprogramm. Dann verglichen sie Markierungen an den Genen von Fettzellen, die vor und nach dem Zeitraum entnommen worden waren. Ein Unterschied fand sich grob am Drittel aller Gene, um genau zu sein, bei 7663 Stück.

Das unterstrich zwar eindrucksvoll, auf wie viele Gene so komplexe Umwelteinflüsse wie Sport einwirken, besagte für sich betrachtet allerdings noch nicht viel. Denn messen kann man im Körper gerade auf molekularer Ebene immer eine ganze Menge. Entscheidend ist jedoch die Frage, ob die Unterschiede auch eine physiologische Relevanz haben. Und tatsächlich wurden auch hier die Forscher fündig: Bei 18 jener Gene, deren epigenetische Umgebung auf das Sportprogramm reagiert hatte, war schon länger bekannt, dass ihre Aktivität definitiv das Übergewichtsrisiko eines Menschen beeinflusst. Und von 21 anderen ebenfalls betroffenen Genen wusste man bereits, dass sie sich je nach Variante oder Aktivität auf das Risiko auswirken, eines Tages am Typ-2 – Diabetes zu erkranken.

Nun folgte auch in dieser Untersuchung der dritte, entscheidende Schritt der Indizienkette, nämlich die Beantwortung der Frage, ob die molekularen Veränderungen, die das sechsmonatige Sportprogramm ausgelöst hatte, auch tatsächlich die Aktivität der Gene verändert hatte. Erst wenn diese Frage ebenfalls bejaht werden kann, darf man mit Fug und Recht von einer echten Interaktion zwischen Erbe und Umwelt sprechen. Und auch jetzt hatten die Forscher Erfolg. Denn immerhin bei sechs der epigenetisch veränderten Gene benutzten die Zellen diese Gene hinterher in einer anderen Stärke als zuvor.

»Unsere Studie zeigt direkt die positive Wirkung von Bewegung«, freuten sich die Wissenschaftler. Die biologische Basis der Speicherung von Körperfett lässt sich durch regelmäßigen, über sechs Monate hinweg ausgeübten Ausdauersport eindeutig verändern. Wohlgemerkt: Es geht hier nicht um irgendein Organ, es geht um das Organ, das sehr viele Menschen nicht besonders mögen und von dem sie gerne möglichst viel loswerden würden. Es geht um das Fettgewebe.

Allein dieses Resultat sollte uns dazu ermuntern, mal wieder das Fahrrad oder die Laufschuhe aus dem Keller zu holen. Der innere Schweinehund, der einen ständig von der Nutzlosigkeit all seiner Bemühungen um eine bessere Gesundheit überzeugen möchte, hat angesichts moderner Molekularbiologie jedenfalls deutlich weniger Argumente auf seiner Seite als früher. Zumal die Effekte sehr viel tiefer in die menschliche Biologie eingreifen als andere mehr oder weniger denkbare Lösungen: Dass sich die Genregulation der Fettzellen dauerhaft verändert, wenn man einige von ihnen von einem Schönheitschirurgen absaugen lässt, darf jedenfalls bezweifelt werden.

Im ersten Moment mag die wichtigste Erkenntnis der neuen Studien zwar simpel erscheinen. Jeder weiß, dass Sport den Körper verändert. Doch es ist ein himmelweiter Unterschied, ob man Zusammenhänge nur einfach aufgrund seiner alltäglichen Erfahrung oder mit Hilfe epidemiologischer Daten vermutet – oder ob man sie in ihrem Mechanismus verstanden hat und in ihrem biologischen Substrat beobachten und womöglich beeinflussen kann.

Das Entscheidende an diesen neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen ist: In Zukunft wird man den Erfolg einer Änderung des Lebensstils messen, gezielt begleiten und sinnvoll unterstützen können. Und man hat schon heute gute Argumente gegen Skeptiker, die den positiven Einfluss einer gesunden Lebensweise anzweifeln. Ihnen zufolge beruhen die vielen epidemiologischen Befunde lediglich auf Korrelationen: Theoretisch ist ja auch tatsächlich denkbar, dass schlicht jene Menschen, die wegen einer bestimmten ererbten Veranlagung gerne Sport treiben oder sich mit wenig Fett und Zucker sowie reichlich frischem Gemüse ernähren, aufgrund der gleichen Veranlagung und nicht etwa wegen ihres Lebensstils gesünder sind als andere.

Genau das widerlegt nun aber die moderne epigenetische und genetische Forschung. Sie zeigt klar und unmissverständlich: Erbe und Umwelt »sprechen« miteinander. Die Gesundheit eines Menschen ist nicht die bloße Summe beider voneinander unabhängiger Komponenten, sondern viel, viel mehr. Sie ist das Produkt des beständigen, teils hochdynamischen, teils lang anhaltenden Zusammenwirkens von Erbe und Umwelt.

Und das heißt eben auch: Unser Handeln wirkt. Immer!

Das Erbgut im Stresstest

Selbstverständlich sollte man so grundlegende Aussagen wie im vergangenen Unterkapitel nicht auf der Basis einiger weniger, noch dazu sehr kleiner Studien treffen. Aber das tue ich auch gar nicht. Nicht nur in Schweden wird in Sachen Erbe-Umwelt-Kommunikation geforscht, und nicht nur Experimente zum Einfluss des Sports auf die menschliche Genregulation tragen zu diesen Erkenntnissen bei.

Es gibt längst eine Fülle von Tierexperimenten, die ähnliche Schlüsse nahelegen. Es gibt sogar eine Reihe weiterer Studien mit Menschen. Dabei geht es nicht nur um Bewegung oder Sport als Umwelteinfluss, sondern auch um Ernährung, psychische Erfahrungen und vieles mehr. Besonders gut erforscht ist der Einfluss von starkem, anhaltendem, manche sagen auch chronischem oder toxischem Stress.

Der ist weniger das, was wir meinen, wenn wir uns mal wieder »total gestresst« fühlen. Stress ist vor allem eine sinnvolle und in Maßen sogar die Gesundheit und Konzentration fördernde biologische Reaktion, die man am besten über den Anstieg von Stresshormonen wie Cortisol im Blut messen kann. Nur auf Dauer und im Übermaß wird Stress schädlich, mitunter sogar gefährlich.

Doch es ist gar nicht so einfach, mehrere Menschen einer vergleichbaren Dosis an Stress auszusetzen und ihre Reaktionen darauf zu messen. Nur mit einer solchen Methode kann die Wissenschaft aber aussagekräftige Ergebnisse erzielen. Deshalb wurde vor geraumer Zeit der sogenannte Trierer Stresstest entwickelt. Der Biopsychologe Dirk Hellhammer und Kollegen dachten sich in der pfälzischen Stadt eine Prozedur aus, die sich inzwischen weltweit etabliert hat. 17 Mit diesem Test können Wissenschaftler die Folgen einer stressreichen sozialen Interaktion miteinander vergleichen, egal wer, wann und wo getestet wird. Dazu muss das Verfahren natürlich standardisiert, also immer wieder gleich, sowie mit einfachen Mitteln unter Laborbedingungen reproduzierbar sein. Und: Da der Test nun mal stressen soll, ist er alles andere als angenehm.

Die Testpersonen werden einer Art Prüfungs- oder Bewerbungssituation ausgesetzt. Zunächst sollen sie vor zwei Prüfern, die hinter einem Tisch platziert sind, einen kurzen Vortrag ausarbeiten, den sie im Anschluss frei halten müssen, ohne dass sie dabei auf ihre Notizen zurückgreifen dürfen. Der Vortrag soll drei Minuten dauern. Es folgen zwei Minuten mit kniffligen Fragen, später auch noch schwierige Rechenaufgaben. Beenden sie ihren Vortrag zu früh, müssen die Probanden entsprechend mehr Fragen beantworten oder werden aufgefordert, weiterzureden. Zwischen den Prüfern steht gut sichtbar eine Kamera und filmt ausschließlich die Prüflinge. Außerdem läuft – ebenfalls nicht zu übersehen – ein Tonband mit.

Die Prüfer schauen betont neutral. Auch ihre Körpersprache darf keine wohlwollende soziale Zuwendung signalisieren. Vor der Prüfung werden den Testpersonen Blut- und Speichelproben abgenommen und ein Pulsmesser angelegt. Dass es eigentlich nur darum ging, sie auf besonders unangenehme Art unter Druck zu setzen, erfahren die Prüflinge erst nach dem Test. Zuvor glauben sie, man wolle tatsächlich ihre Leistung bewerten.

Im Trierer Stresstest soll in möglichst standardisierter Form gemessen werden, wie Menschen auf sozialen Stress reagieren.

© Dirk Hellhammer, Trier

Dank fortlaufender Probenentnahme von Blut oder Speichel sowie der permanenten Pulskontrolle erfassen die Forscher über den gesamten Zeitraum hinweg die biologische Stresskurve ihrer Probanden (die übrigens sehr oft deutlich von deren Selbsteinschätzung abweicht). Entscheidend ist dabei, wie rasch und stark das Stresshormon Cortisol während des Tests ansteigt, aber auch, wie schnell der Stress nach der Befreiung aus der Situation wieder verfliegt. Beide Komponenten sind wichtig. Denn für unser allgemeines Stressniveau und das Risiko, eines Tages eine Stresskrankheit zu bekommen, spielt es sowohl eine Rolle, wie leicht wir uns stressen lassen, als auch, wie gut wir Stress abbauen können.

Mit Hilfe des Trierer Stresstests sind schon unzählige Studien über Stress und seine Wirkung entstanden. In diesem Buch wird er uns öfters begegnen, denn eine Reihe der Versuche haben auch die Auswirkungen der starken sozialen Belastung auf die Molekularbiologie untersucht.

Im Jahr 2012 machte beispielsweise ein Ergebnis von Biopsychologen um Eva Unternaehrer und Gunther Meinlschmidt von der Universität Basel Schlagzeilen: Akuter sozialer Stress, gemessen im Trierer Stresstest, verändert danach schon nach verblüffend kurzer Zeit das Gedächtnis der Zellen. 18 Die Forscher fanden in den Blutproben ihrer Probanden nämlich nicht nur den typischen Anstieg des Stresshormons Cortisol. In den Zellkernen von Immunzellen veränderte sich zudem die epigenetische Steuerung der DNA.

Am Gen des Empfängerproteins für das Hormon Oxytocin waren schon zehn Minuten nach Ende des Stresstests vermehrt Methylgruppen angelagert. Weitere achtzig Minuten später hatte die DNA-Methylierung an dieser Stelle auf einmal stark abgenommen. Vorausgesetzt, die gleichen Veränderungen ereignen sich auch in Gehirnzellen, haben solche Einschnitte zumindest theoretisch bedeutsame Auswirkungen auf die Psyche der Betroffenen.

Besonders schlüssig ist, dass in diesem Experiment, wo gezielt die Wirkung von starkem sozialem Stress getestet wurde, das Oxytocin-System betroffen ist. Oxytocin ist ein Hormon, das wichtig für die Entwicklung und Aufrechterhaltung der Bindungsfähigkeit bei Tieren und Menschen ist. Wir reagieren auf soziale Zuwendung und Körperkontakt mit einer Ausschüttung von Oxytocin. Umgekehrt fördert Oxytocin in unserem Gehirn die eigene Fähigkeit, sich unseren Mitmenschen zuzuwenden, in sie einzufühlen und an sie zu binden. Außerdem wirkt das Hormon wie ein Beruhigungsmittel. Es senkt das biologische Stressniveau und sorgt für Entspannung.

Etwas flapsig wird Oxytocin deshalb auch als »Kuschelhormon« bezeichnet. Nicht nur Nagetiere schütten das Hormon tatsächlich besonders heftig aus, wenn sie sich aneinanderkuscheln. Auch wenn menschliche Eltern ihre Säuglinge streicheln, stillen oder in den Arm nehmen und wiegen, steigt auf beiden Seiten der Oxytocinspiegel. Am berühmtesten ist die Reaktion der Präriewühlmäuse: Wenn sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben paaren, löst das – angetrieben durch das Kuschelhormon – eine lebenslange monogame Paarbeziehung aus. Präriewühlmäuse sind sozusagen die Weltrekordhalter der Bindungsfähigkeit.

Auch das ist übrigens ein spannendes Beispiel für eine hochdynamische und dabei erstaunlich stabile Erbe-Umwelt-Interaktion. Durch die Paarung verstellt sich in einer bestimmten Region des Gehirns der Wühlmäuse der epigenetische Code der Rezeptoren für die Hormone Oxytocin und Vasopressin. Ein Effekt, der sich sogar künstlich mit Medikamenten auslösen lässt. Die Wühlmaus-Weibchen binden sich dann an das nächstbeste, halbwegs bekannte Männchen – ohne sich je mit ihm gepaart zu haben. 19 (Aber bevor Sie jetzt auf dumme Gedanken kommen: Selbstverständlich wirkt das Medikament in dieser Form nur bei Wühlmäusen, nicht bei Menschen.)

Zurück zu den Versuchen mit uns Zweibeinern: Dass starker Stress unser Oxytocin-System umprägen kann, ist womöglich ein kleiner Hinweis darauf, dass Präriewühlmäuse und Menschen im Laufe ihrer Evolution vor ewig langer Zeit einen gemeinsamen Vorfahren hatten. Je nachdem, welche Funktion die jeweiligen Zellen haben, könnte eine Neuregulierung des Gens für den Oxytocin-Rezeptor allerdings sehr unterschiedliche Folgen haben. Darauf weist Gunther Meinlschmidt, Leiter der Basler Studie, hin. Der Botenstoff in den verschiedenen Teilen von Körper und Gehirn transportiere viel zu unterschiedliche Botschaften. Aus den Resultaten dürfe man also noch keinerlei Rückschlüsse auf tatsächliche physiologische, durch den Stresstest ausgelöste Veränderungen ziehen.

Seine Relevanz erhalte das Ergebnis aus einem anderen Grund: »Wir konnten grundsätzlich zeigen, dass akuter Stress in kürzester Zeit epigenetische Veränderungen bewirkt.« Das Wechselspiel zwischen Erbe und Umwelt findet also nicht nur in Muskeln und Fettgewebe, sondern auch im Blut und sehr wahrscheinlich im Gehirn statt. Auch diese Erkenntnis ist absolut neu.

Interessanterweise beschreiben Unternaehrer und Meinlschmidt in einer 2015 veröffentlichten Studie ganz ähnliche Veränderungen am Gen für den Oxytocin-Rezeptor in weißen Blutzellen auch bei erwachsenen Menschen, die in ihrer frühen Kindheit vernachlässigt worden waren. 20 In diesem Fall ist auch der Rezeptor eines weiteren, für das Gehirn wichtigen Botenstoffs betroffen: des Wachstumsfaktors BDNF (brain-derived neurotrophic factor).

Einer noch neueren Studie von der gleichen Forschungsgruppe zufolge scheint häufiger Stress der Mutter während der Schwangerschaft sogar das Gen für den Oxytocin-Rezeptor im Blut der Neugeborenen zu beeinflussen. 21 In diesem Fall hat die Prägung vermutlich positive Folgen für das Kind: Ist dieses Gen besonders aktiv, sollte das Kind an den entscheidenden Stellen ungewöhnlich viele dieser Oxytocin-Rezeptoren besitzen und entsprechend gut auf das Hormon ansprechen. Und da Oxytocin bei Menschen wichtig für soziale Prozesse wie die Eltern-Kind-Bindung und die Anpassung an Stress ist, spekulieren die Forscher, der Stress der Mutter habe per Prägung im Mutterleib dafür gesorgt, dass die Kinder womöglich besonders widerstandsfähig gegenüber einer belastenden Umwelt sind.

Keine Frage: Die Wissenschaft ist hier auf einer heißen Spur, die ich im zweiten Teil dieses Buchs ausführlich verfolgen werde, wenn es um die wichtige Zeit während und nach der Schwangerschaft geht. Zunächst möchte ich schlicht festhalten, wie tiefgreifend es sich auf unsere Physiologie auswirken kann, wenn wir unseren Lebensstil ändern oder aus irgendeinem Grund psychisch extrem belastet werden. Die Regulation der Gene in unseren Zellen reagiert permanent und dynamisch auf die Umgebung. Das gilt sehr wahrscheinlich auch im komplexesten, rätselhaftesten und wichtigsten all unserer Organe: dem Gehirn.

Vom Trauma und den Folgen

Es gibt zunehmend Hinweise, dass prägende Veränderungen der Genaktivierbarkeit in den Zellen des Gehirns an psychischen Leiden wie Depressionen, Angsterkrankungen, Bipolarer Störung, Autismus, Borderline-Syndrom oder Schizophrenie beteiligt sind. 22 Während der frühen Kindheit – bei Menschen etwa bis ins Alter von zwei Jahren – wandeln sich die Epigenome der Gehirnzellen besonders stark. Hier dürften sich Veränderungen niederschlagen, die mit der Reifung des Gehirns und den ersten wichtigen Lernschritten einhergehen.