Die Vernunft und ihre Feinde - Thilo Sarrazin - E-Book + Hörbuch

Die Vernunft und ihre Feinde Hörbuch

Thilo Sarrazin

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Beschreibung

Wo Logik und Empirie durch "alternative Fakten" ersetzt werden, weitet sich der Raum für ideologisch geprägtes Denken und es sinkt die Toleranz. Thilo Sarrazin beobachtet diese Tendenz in den letzten Jahren auf allen Seiten des politischen Spektrums und in vielen Medien. Sie passt nicht zum Geist der abendländischen Aufklärung und sie kann die Grundlagen unserer demokratischen und liberalen Gesellschaftsordnung infrage stellen. Sarrazin erläutert die Gefahren ideologischen Denkens für unsere Gesellschaft und unsere politische Kultur und beschreibt typische Irrwege. Ideologien wirken verlockend durch die trügerische Klarheit ihrer Rezepte und die Schlichtheit, mit der sie Gut und Böse trennen. Doch so stolpert die Menschheit in immer neue Irrtümer.

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Zeit:12 Std. 46 min

Sprecher:Armand Presser

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Thilo Sarrazin

Die Vernunft und ihre Feinde

Irrtümer und Illusionen ideologischen Denkens

„Distanzierungserklärung:

Mit dem Urteil vom 12.05.1998 hat das Landgericht Hamburg entschieden, dass man durch die Ausbringung eines Links die Inhalte der gelinkten Seite gegebenenfalls mit zu verantworten hat. Dies kann, so das Landgericht, nur dadurch verhindert werden, dass man sich ausdrücklich von diesen Inhalten distanziert. Wir haben in diesem E-Book Links zu anderen Seiten im World Wide Web gelegt. Für alle diese Links gilt: Wir erklären ausdrücklich, dass wir keinerlei Einfluss auf die Gestaltung und die Inhalte der gelinkten Seiten haben. Deshalb distanzieren wir uns hiermit ausdrücklich von allen Inhalten aller gelinkten Seiten in diesem E-Book und machen uns diese Inhalte nicht zu Eigen. Diese Erklärung gilt für alle in diesem E-Book angezeigten Links und für alle Inhalte der Seiten, zu denen Links führen.“

Impressum:

© 2022 Langen Müller Verlag GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten.

Satz und Ebook-Konvertierung: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-7844-8435-8

www.langenmueller.de

Inhalt

Einleitung

Kapitel 1

Wie das Leben meinen Denkstil prägte

Die frühen Jahre

Studium und erste Schritte im Beruf

Staatsdiener

Autor

Kapitel 2

Objektive Erkenntnis – Der kritisch-rationale Blick

Vernunft und Gefühl

Erkenntnis und Interesse

Die Möglichkeit sicheren Wissens

Die offene Gesellschaft

Der Marktmechanismus als erkenntnistheoretische Antwort auf die Probleme der Sozialplanung

Gefahren für die offene Gesellschaft

Kapitel 3

Die Ordnung der Natur – Mensch und Evolution

Geozentrismus und Universum

Evolution

Intelligenz

Erblichkeit

Männer und Frauen

Ethnien und Rassen

Demografie

Kapitel 4

Die geistige Ordnung – Religion und Ideologie

Religion

Religion als Ideologie

Ideologie als Religionsersatz

Ideologische Systeme mit Einfluss auf die Gegenwart

Ideologie durch Übertreibung

Fanatismus als Ferment des Wandels

Das Verhältnis von Ideologie zu Kunst und Kultur, Wissenschaft und Philosophie

Kapitel 5

Ideologie und die Ordnung der Gesellschaft

Die politische Ordnung

Die gesellschaftliche Ordnung

Die internationale Ordnung

Kapitel 6

Zur ideologischen Prägung der Ampel-Regierung

Schlussbemerkung

Anmerkungen

Dank

Register

Einleitung

Der Kern des gesamten menschlichen Fortschritts zu mehr Wissen und Erkenntnis ist das sogenannte evidenzbasierte Denken, das auf der Anwendung von Logik und Empirie auf die Erscheinungen der Wirklichkeit beruht. Es steht im Gegensatz zu Ideologie, Aberglauben und dem Herbeifantasieren von bloß gewünschten Wahrheiten. Es ist bedenklich, dass seit einigen Jahren in der westlichen Welt offenbar jene Minderheiten wachsen, die Wünsche, Fantasien und Vorurteile an die Stelle von positivem Wissen stellen. Solche Tendenzen werden auch von vielen Medien unterstützt, und sie finden sich auf der linken wie auf der rechten Seite des politischen Spektrums. Ich nenne einige aktuelle Beispiele:

Der größte Angriff auf die menschliche Vernunft, der den meisten von uns bis zum Eindruck des Ereignisses ganz undenkbar erschien, war der Angriff Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022. Seitdem wissen wir erneut: Das Böse und Irrationale ist in der Welt, und es richtet sich nicht nach unseren Wünschen.Auch ein Jahr nach der Erstürmung des Kapitols in Washington am 6. Januar 2021 durch fanatisierte Trump-Anhänger glaubten immer noch 70 Prozent der republikanischen Wähler, dass Donald Trump der Wahlsieg durch Fälschung gestohlen wurde, das ist immerhin ein Drittel der gesamten Wählerschaft.»Querdenker« und esoterische Impfgegner zweifeln den Nutzen und die Wirksamkeit von Impfstoffen gegen das Coronavirus an. Die Debatte über Pro und Contra des Impfens in der Coronapandemie hat teilweise die Grenzen kritischer Vernunft gesprengt.1Fundamentalisten im Christentum und im Islam verneinen die Gültigkeit der Darwin’schen Evolutionstheorie und bestehen auf einem wörtlichen Verständnis der Bibel und des Korans. Unter den religiösen Strömungen der Gegenwart haben diese Fundamentalisten einen wachsenden Einfluss.Fanatische Vertreter der Genderideologie verneinen die Existenz eines biologischen Geschlechts und verlangen, dass sich die gesellschaftliche Wirklichkeit ihren Fiktionen unterordnet.Linke Ideologen wenden sich gegen die Erkenntnis, dass auch die Struktur und die Reichweite des menschlichen Intellekts biologisch bestimmt sind und zum überwiegenden Teil genetisch determiniert werden. Sie hängen lieber dem Aberglauben an, dass der menschliche Geist beliebig formbar sei und alle wesentlichen Unterschiede zwischen den Menschen den Ungerechtigkeiten der Gesellschaft zuzurechnen seien.Zwei Jahrzehnte nach dem Terrorangriff vom 11. September 2001 verdrängen breite Strömungen in Politik und Gesellschaft die Gefahren des politischen Islam, solange er nur »gewaltfrei« auftritt, und nehmen es passiv hin, dass sich in den westlichen Einwanderungsgesellschaften an staatlichen Schulen religiöse Intoleranz ausbreitet und strenggläubige Muslime mehr und mehr die Regeln bestimmen. Insbesondere linke und grüne Politiker wollen von diesen Problemen nichts wissen.2

Wo Logik und Empirie an den Rand gedrängt werden und »alternative Fakten« an ihre Stelle treten, weitet sich der Raum für ideologisch geprägtes vorurteilsbeladenes Denken, und es sinkt die Toleranz: In den letzten Jahren und Jahrzehnten ist zu beobachten, dass sich die Toleranzräume und Toleranzbreiten in der Gesellschaft verschoben haben. Das prägt auch die Stoßrichtung politischer und moralischer Debatten. Während in Fragen der Kleidung, des guten Benehmens, der sexuellen Orientierung, der Einstellung zu Ehe und Familie eine große Liberalisierung stattgefunden hat, hat es auf anderen Gebieten eine erhebliche Verengung gegeben. Das gilt insbesondere für die kulturelle Haltung zu naturwissenschaftlichen und biologischen Erkenntnissen. Auch Diskussionen über Einwanderungsfragen und das Verhältnis der Geschlechter werden mehr und mehr ideologisch verengt. Eine solche Verengung passt nicht zum Geist der abendländischen Aufklärung. Soweit sie zur Intoleranz führt, kann sie ab einem bestimmten Punkt auch sicher geglaubte Grundlagen der demokratischen und liberalen Gesellschaftsordnung infrage stellen.

Der Unterschied zwischen dem Menschen und dem Rest der belebten Natur besteht in der menschlichen Denkfähigkeit. Unter den Menschen selber sind aber die Richtungen, in die sie ihre Verstandeskräfte einsetzen, sehr unterschiedlich. Unterschiedlich ausgeprägt sind auch der Drang, die eigenen Verstandeskräfte zu bemühen, und die Bereitschaft, sich den Zwängen von Logik und Empirie zu stellen.

Das »Menschsein« ergibt sich aber nicht nur aus den formalen Fähigkeiten des menschlichen Gehirns, sondern auch aus seiner biologischen Natur, also seiner sterblichen Körperlichkeit und seinem Antrieb, zu leben und sich mit der Welt auseinanderzusetzen. Darum wird auch künstliche Intelligenz (KI) den Menschen nie ersetzen können (ob sie sich irgendwann zur Herrschaft über ihn aufschwingen kann, ist eine andere Frage). Der spezifisch menschliche Verstand befähigt den Menschen grundsätzlich zu Erkenntnis und Wahrheitsfindung. Dieser Unterschied zur Tierwelt – insbesondere zu den höheren Säugetieren und den Primaten – ist allerdings nicht prinzipiell, sondern graduell. Über die Richtung des menschlichen Denkens, die Fragen, die der Mensch sich stellt, und die Wege, auf denen er sie beantwortet, entscheiden zum einen Herkommen, Sitte und erlernte Gewohnheiten, zum andern seine vorrationalen Lebensantriebe.

Einer der großen Unterschiede liegt dabei in der Frage, ob jemand sein Denken einsetzt, um bestimmte, vorher feststehende »Wahrheiten« zu bestätigen, oder ob er sich ergebnisoffen um objektiven Erkenntnisfortschritt bemüht. Im letzteren Fall sind zumeist Hypothesen und Vermutungen der Ausgangspunkt, die dann mit den Mitteln von Logik und Empirie bestätigt, weiterentwickelt oder verworfen werden.

Auf dem Weg des Zweifels und des fragenden Einsatzes von Logik und Empirie entstand die menschliche Zivilisation mit all ihren technischen Fähigkeiten und Fertigkeiten. Dazu zählt insbesondere die moderne Naturwissenschaft, die uns hilft, das menschliche Genom zu entschlüsseln, über die Entstehung der Welt nachzudenken und Schwarze Löcher im Weltraum zu entdecken. Die Erfolge des menschlichen Geistes in Mathematik, Informationsverarbeitung, Naturwissenschaften, Medizin und Maschinenbau zeigen eindrucksvoll, dass dem Menschen objektive Erkenntnis und systematischer Erkenntnisfortschritt grundsätzlich möglich sind. Nur so konnte die menschliche Lebenserwartung auf durchweg mehr als 70 Jahre steigen und die Erde zum Lebensraum für mittlerweile bald acht Milliarden Menschen werden.

Auch in allen Fragen des menschlichen Zusammenlebens und der richtigen Organisation menschlicher Gesellschaften sind objektive Erkenntnisse und systematischer Erkenntnisfortschritt grundsätzlich möglich. Das zeigt sich, wenn man die Zustände parallel existierender Gesellschaften und Staaten vergleicht und die Ursachen für die beobachteten Unterschiede erforscht. Schnell wird klar: Über den inneren Frieden, die verwirklichte Freiheit und die materiellen Lebensbedingungen in einer Gesellschaft entscheiden deren historisch entwickelte Kultur, die Sozialisation der Menschen und die von ihnen geschaffenen Gesetze und Institutionen. Im weitesten Sinne entscheidet also das Sozialmodell einer Gesellschaft über ihren Erfolg. Überall auf der Welt – in den Anden ebenso wie am Rand der Sahara – könnten die Menschen so reich wie in Schweden sein, wenn sie ähnliche Institutionen geschaffen hätten und ähnlich gebildet, diszipliniert und arbeitsam wären.

Menschen sind aber keine Maschinen, die sich einmal gesetzten Zwecken einfach unterordnen. In ihrer begrenzten Lebenszeit suchen sie sich ihren je eigenen Lebenssinn. Die Sinnfrage kann aber jeder Mensch grundsätzlich radikal unterschiedlich beantworten. Je freiheitlicher eine Gesellschaft ist und je mehr die materielle Not sowie der schiere Kampf ums Überleben aus ihr verdrängt werden, umso unterschiedlicher können die Lebensentwürfe sein und umso heftiger kann man über Sinnfragen streiten. Die große Kulturleistung der modernen westlichen demokratisch verfassten Gesellschaft besteht darin, dass sie die Sinnfrage quasi privatisiert hat. Das ist der tiefere Sinn der in allen demokratischen Gesellschaften verfassungsrechtlich garantierten Religionsfreiheit. Nach dem westlichen Ordnungsmodell sollen sich Staat und Gesellschaft grundsätzlich auf das Organisatorische beschränken. Ihren Lebenssinn müssen sich die Bürger selber suchen, den können sie nicht von der Gesellschaft erwarten.

Dieses Gedankenmodell ist bestechend einfach und der Kern des gesellschaftlichen Freiheitsversprechens der westlichen Moderne. Darin liegt aber auch ihre Achillesferse, denn das westliche Gedankenmodell kommt an seine Grenzen, wenn Bürger ihre Sinnsuche auf die Organisation der Gesellschaft projizieren. Daraus erwachsen die meisten Spannungen, die gegenwärtig westliche Gesellschaften erschüttern:

Die historisch gewachsene Sprache wird administrativ verändert, um im Sinne der Genderpolitik Gleichheitspostulate durchzusetzen, die im Zweifel auch biologische Unterschiede beiseiteschieben und notfalls verneinen.Die Begriffe und Organisationsformen von Ehe und Familie werden ihrer biologischen Fundierung beraubt, um jede sexuelle Beziehung zwischen zwei Menschen erfassen zu können. Selbst die Begriffe von Vater und Mutter werden ihrer biologischen Bedeutung entkleidet.Um der menschlichen Gleichheit willen werden genetische Unterschiede in Charakter, Fähigkeiten und Eigenschaften geleugnet und – wo dies beim besten Willen nicht funktioniert – gesellschaftlich und (jedenfalls in den Sozialwissenschaften) wissenschaftlich tabuisiert.Soweit diese normative Gleichheitsideologie zur Grundlage des staatlich gesteuerten Bildungswesens wird, verzichtet man auf die richtige Entwicklung der geistigen Ressourcen einer Gesellschaft und beeinträchtigt auf diese Art langfristig ihre Wissensgrundlagen.Gleichzeitig werden Aspekte von Sünde, Schuld, Erlösung und Gerechtigkeit im Übermaß auf die Gesellschaft projiziert. So nehmen die unterschiedlichsten Forderungen zur Organisation der Gesellschaft den Charakter eines Religionsersatzes an. In der Fülle der so entstehenden Widersprüche wird die Organisation der Gesellschaft gleichzeitig komplizierter und widersprüchlicher. Notwendige Reaktionen auf extern bedingte Veränderungen werden langsamer. Die Risiken für einen künftigen Niedergang werden größer.

Der so skizzierte Rahmen erklärt zahlreiche Spannungen, die gegenwärtig westliche Gesellschaften heimsuchen. Dazu gehören auch ein ideologisch geprägter Gleichheitsbegriff und eine fatale Neigung, Fragen, die aufs Tatsächliche zielen, moralisch zu belasten und unerwünschte Antworten mit moralischer Verurteilung zu sanktionieren.

Es wäre natürlich unpolitisch und auch sinnlos, die Diskussion von Zielen und Werten aus der gesellschaftlichen Debatte auszuklammern. Notwendig aber ist es, dafür zu kämpfen, dass dabei Logik, Empirie und die Grundlagen solider Wissenschaft nicht unter die Räder geraten. Diese Gefahr wird gegenwärtig in Politik und Medien immer deutlicher, und das ist der Anlass dieses Buches.

Ob es künftig noch gelingen kann, dieser Gefahr zu begegnen, ist durchaus offen. Vom Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde stammt die Erkenntnis, dass der moderne demokratisch verfasste Staat auf Voraussetzungen beruht, die er selbst nicht schaffen kann. Und der Dichter Bertolt Brecht schrieb 1953 nach dem gescheiterten Aufstand in der DDR, das Volk habe das Vertrauen der Regierung enttäuscht, und darum müsse sich jetzt die Regierung ein neues Volk suchen. Beide Äußerungen sprechen die Legitimations- und Vertrauensfrage an, die in jeder Staatsform und erst recht in der Demokratie beileibe kein Selbstläufer ist.

Historisch gesehen, kommt auch der menschlichen Demografie ein großer Einfluss zu, denn Fortpflanzungsneigung und Fortpflanzungserfolg verteilen sich je nach Denkstil unter den Menschen unterschiedlich. So gibt es auch bei den größten Extravaganzen, die sich die menschliche Kultur und Zivilisation leisten, immer wieder die Rückkehr zu einer Normalität. Das gilt für sexuelle Neigungen, aber auch für die Eigenarten der Geschlechter. Wer sich zu sehr in rationalen Zweifeln aufhält und darüber die Erzeugung und Aufzucht von Nachwuchs aus dem Auge verliert, wird seine ererbten Eigenschaften, seine Einstellungen und Neigungen nicht so weitergeben können wie andere.

Wirklichkeits- und wahrheitsorientiertes Denken ist aber grundsätzlich immer möglich. Es liegt letztlich allen Wissens- und Erkenntnisfortschritten zugrunde, die menschliche Zivilisationen ermöglicht haben. Das gilt für die Mathematik, die Naturwissenschaften, aber auch für die Anstrengungen der Philosophen und Sozialwissenschaftler, die Situation und die Antriebe des Menschen und die von ihm geschaffenen Formen menschlichen Zusammenlebens besser zu verstehen. Methodisch richtiges, an Wirklichkeit und Wahrheit orientiertes Denken dient nicht nur der Wissenschaft und dem Erkenntnisfortschritt, sondern auch der Förderung des menschlichen Wohls und dem Fortschritt der Gesellschaft. Falsches Denken kann wiederum das Gegenteil bewirken. Was »falsch« und was »richtig« ist, zeigt sich bei allen empirisch gehaltvollen Behauptungen und Sachfeststellungen an ihrem Abgleich mit der Wirklichkeit und bei allen abstrakten Feststellungen an ihrer Übereinstimmung mit den Gesetzen der Logik.

Die »Wahrheit« über einen beliebigen Sachverhalt ist zumeist komplex. Unterschiedliche Fragestellungen können so zu scheinbar widersprüchlichen Ergebnissen führen. Alles Wissen über die Wirklichkeit, das wir erwerben, hat zudem vorläufigen Charakter, bis wir eine bessere Erkenntnis erworben haben. Der Erkenntnisfortschritt ist grundsätzlich nie abgeschlossen, und die innere Offenheit dafür ist die Bedingung, dass es überhaupt Erkenntnisfortschritt gibt (»Ich weiß, dass ich nichts weiß«).

Der Gegenstand dieses Buches ist zwar nicht die Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie. Die Bezugnahme auf ihre Ergebnisse ist allerdings einer seiner Ausgangspunkte: Ich präzisiere, was unter »richtigem« Denken zu verstehen ist, und stütze mich dabei vor allem auf die von Karl Popper entwickelte Philosophie des Kritischen Rationalismus. Damit kontrastiere ich den Einfluss von religiös und ideologisch gefärbten Denkstilen. Diese können zu bestimmten Verzerrungen in Blickwinkel und Betrachtungsweise führen, die nicht nur der Wahrheitsfindung im Wege stehen, sondern für den menschlichen Erkenntnisfortschritt und für eine freie und offene Gesellschaft auch gefährlich werden können. Gerade das 20. und die ersten beiden Dekaden des 21. Jahrhunderts haben dafür schockierende Beispiele geliefert.

Unterschiedliche Denkstile führen zu unterschiedlichen Fragestellungen an die Wirklichkeit und färben auch die emotionale Sicht auf diese. Mit der schlagwortartigen Metapher vom »linken« oder »rechten« Denken sind die gegensätzlichen Denkstile einerseits treffend, andererseits aber unvollständig beschrieben. Quer dazu laufend ist der Gegensatz zwischen ideologischem und sachbezogenem Denken. Zur Frage des Einflusses von Denkstilen werde ich in dem Buch wiederholt zurückkehren. Der Einfluss unterschiedlicher Denkstile ist quasi sein Dreh- und Angelpunkt.

Ideologisches, magisches und religiöses vs. sachliches Denken

Der Mensch strebt danach, sich die Welt zu erklären, damit er sich in ihr zweckgerecht und mit Erfolg bewegen kann. Dieses Bestreben existiert grundsätzlich unabhängig vom Grad seiner geistigen Fähigkeiten und seines Wissens und unabhängig von Kultur, Gesellschaft und Lebensalter. Dabei spielen pragmatische Denkmuster eine Rolle, die sich rein lebenspraktisch bewährt haben. Aber auch gesellschaftliche und religiöse Normen sowie die eigenen Interessen, Begierden, Wünsche und Gefühle können hier einen großen und teilweise beherrschenden Einfluss ausüben.

Grundsätzlich ist es für die Qualität der Erkenntnis zwar ohne Belang, woher der Mensch seine Antriebe, Fragestellungen und vorgefertigten Denkmuster bezieht. Es gibt allerdings ein zentrales Unterscheidungskriterium:

Ist sein Erkenntnisinteresse mit offener Wissbegier auf die Wirklichkeit gerichtet, will er diese begreifen und verstehen, und ist er bereit, entsprechend dazuzulernen und sich gegebenenfalls auch eines Besseren belehren zu lassen?Oder schaut er auf die Wirklichkeit mit der Absicht, sich eine bestimmte bereits vorgefasste Meinung und Positionierung bestätigen zu lassen – auch um den Preis, dass sein Blick auf die Wirklichkeit und die Lehren, die er daraus zieht, grob verzerrt sind?

Ist Letzteres der Fall, dann hat sich der Mensch beim Denken Scheuklappen angelegt. Er tendiert dazu, nur noch jene Tatsachen zu sehen oder zumindest stärker zu gewichten, die seine vorgefasste Meinung bestätigen. Auf Abweichungen der Wirklichkeit von seiner vorgefassten Meinung reagiert er mit Ignoranz, Wut oder mit der Herabsetzung jener, die ein anderes Urteil haben als er.

Solche Blockaden aufgrund einer Präformierung der eigenen Meinung beruhen häufig auf intellektuellem Unvermögen oder geistiger Bequemlichkeit. Sie können aber auch daran liegen, dass jemand beim Denken geistig eine bestimmte ideologische oder religiöse Brille aufgesetzt hat. Nahezu jedermann rutscht aber leicht in eine solche erkenntnishemmende Einseitigkeit des Denkens hinein, wenn er in seinen Fragen an die Welt und ihre Wirklichkeit zu eng und zu einseitig ist. Er kommt dann in die Rolle dessen, der als einziges Werkzeug einen Hammer besitzt und aus diesem Grund überall einen Nagel sieht, den er einschlagen kann.

Zu der darin liegenden Gefahr und ihren Implikationen werde ich im Verlauf des Buches immer wieder zurückkehren.

Linkes, rechtes und ideologisches Denken

Als »linkes« oder »rechtes« Denken bezeichne ich die geistigen Flügel eines bestimmten Ausblicks auf die Welt, die nicht notwendigerweise ideologisch sind. Wohl aber sind sie durch Ideologie gefährdet, und dann führen sie zu jenen der Wahrheitsfindung abträglichen und für die Gesellschaft gefährlichen Verzerrungen des Denkens, die Gegenstand dieses Buches sind.

Der Kern linken und durch Ideologie gefährdeten Denkens liegt in der Fixierung auf Fragen der Gleichheit unter den Menschen und den damit verbundenen Vorstellungen von Gerechtigkeit. Ideologisch gewendet, führt dies zum Hass auf Reiche oder auf andere Weise in einer als ungerecht empfundenen Form Begünstigte. Wo linkes Gleichheitsdenken herrscht, ist der Neid selten fern, und auch Gewaltfantasien gehören dazu.3Der Kern rechten und durch Ideologie gefährdeten Denkens liegt in der Fixierung auf Abstammung, Tradition und Herkunft. Ideologisch gewendet, kann dies zu völkischem Denken und zu undifferenziertem Hass auf das Unbekannte, das Fremde und das kulturell Andersartige führen. Rechtes Denken wird dann besonders gefährlich, wenn das eigene Volk und seine Abstammung über ein bestimmtes Maß hinaus mystifiziert und mit einer besonderen historischen Bestimmung versehen werden: Hitler sah sich als Werkzeug einer »Vorsehung«, die die germanische Rasse zur Weltherrschaft führen sollte – das endete in Blutrausch und Völkermord –, und Putin begründete den Überfall auf die Ukraine mit der historischen Bestimmung der russischen Nation.Ideologisches Denken verabsolutiert ein bestimmtes Erklärungsmuster, das möglicherweise nur im Kopf des Ideologen besteht, zur absoluten Wahrheit. Es ordnet einem tatsächlichen oder vermuteten Übel einen Schuldigen zu. Bei dem oder den Schuldigen kann es sich um eine wie auch immer abgegrenzte Personengruppe, eine geistige Haltung, eine Organisationsform oder eine gesellschaftliche Institution handeln.

Der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse, aus der ostdeutschen Bürgerbewegung stammend und langjähriges Mitglied der SPD, zog Parallelen zwischen linker und rechter Identitätspolitik, legte bei beiden ihre demokratiefeindlichen Tendenzen offen und löste unter linken Sozialdemokraten einen Shitstorm aus, als er sich gegen die Cancel Culture wandte und die Opfer-Fixierung infrage stellte: »Opfer sind unbedingt zu hören, aber sie haben nicht per se recht und sollten auch nicht selber Recht sprechen und die Diskurse entscheiden.« 4

Sowohl »linkes« als auch »rechtes« Denken sind nicht per se schädlich oder gar verderblich. In maßvoller, selbstkritischer Dosierung gehört beides zu den legitimen Aspekten unterschiedlicher Weltbilder und den damit verbundenen Ausprägungen unterschiedlicher Fragestellungen an die Welt. Zudem gibt es ganz unterschiedliche Strömungen von gemäßigt bis sehr radikal, bei den Linken zum Beispiel Marxisten, Kommunisten, traditionelle Sozialdemokraten, Anarchisten, Linksliberale, Ökolinke, Postkolonialisten.

Es hat sich aber seit einigen Jahrzehnten in der Wirklichkeit westlicher Gesellschaften so ergeben, dass »linkem« Denken, auch wo es irrtumsgeneigt ist und nachweislich verderbliche Wirkungen hatte, oft ein pauschaler moralischer Rabatt gegeben wird, weil es doch so »idealistisch« und so »fortschrittlich« ist und Linke – so geht die Saga – meist das Gute wollen, auch wenn sie durch Übereifer und Ungeschick häufig das Schlechte bewirken mögen.

»Rechtes« Denken dagegen gilt vielen selbst dann als moralisch fragwürdig, wenn es vernunftgeleitet ist und auf die Wahrung und Sicherung bewährter Ordnungsmuster zielt. In diesem Denkstil bleibt der »Rechte« bis zum Beweis des Gegenteils immer ein potenzieller Bösewicht, dem man zumindest mangelnde Einsicht unterstellen muss, während man dem »Linken« ungeprüft unterstellt, dass er zumindest in die richtige Richtung denkt. Der von den Linken und Linksliberalen aufgebaute Buhmann rechten Denkens ist tatsächlich die Denunzierung aller nicht linken Positionen als rechts(radikal)5 und damit die implizite Verharmlosung von rechtem Extremismus, der nämlich damit aus dem politischen Fokus gerät.

Zur deutschen Gegenwart stellt Harald Martenstein kritisch fest, dass der »Kampf gegen rechts« vom Staat mit Millionen gefördert wird, während offenbar niemand auf die Idee kommt, einen »Kampf gegen links« auszurufen. Natürlich muss man demokratiefeindlichen politischen Extremismus von links und rechts gleichermaßen ablehnen. Martenstein weist darauf hin, dass derjenige, der nicht zwischen »rechts« und »rechtsradikal« unterscheidet, nur zum Schein gegen die Wiederkehr der Nazis, in Wirklichkeit aber gegen die Demokratie kämpft. »Der Gegensatz zwischen links und rechts war, von Anfang an, eine Konstante der bürgerlichen Gesellschaften. Ein Staat, dessen legitimes politisches Spektrum nur von halblinks bis linksextrem reichen darf, wäre nur noch eine halbe, eine gelenkte Demokratie. Die Grundrichtung wäre vorgegeben.«6 Tendenzen in die von Martenstein beschriebene Richtung gibt es in Deutschland seit Jahren. Sie führten bei der Bundestagswahl im September 2021 zum Niedergang der CDU, die, indem sie sich unter Angela Merkel vor allem »gegen rechts« abgrenzte, einen großen Teil ihrer Stammwählerschaft verlor.

Es kommt mir nicht darauf an, eine »linke« gegen eine »rechte« Betrachtungsweise auszuspielen. Unterschiedliche Betrachtungsweisen spiegeln legitime politische Präferenzen und auch unterschiedlich gewichtete moralische Schwerpunkte wider. Ein anders gerichteter Blick kann selbstverständlich auch die Bewertung derselben Tatsachen unterschiedlich färben. Entscheidend ist aber, dass man stets bemüht bleibt, Tatsachen und kausale Zusammenhänge so objektiv wie möglich zu sehen und den Blick auf die Wirklichkeit von den eigenen Gefühlen und Sichtweisen möglichst wenig verzerren zu lassen. Dies ist auch möglich, wenngleich zumeist nicht im Sinn vollständigen Wissens und unumstößlicher Wahrheit. Zur dabei eingenommenen Perspektive können auch linke, rechte oder religiöse Einstellungen gehören.

Wenn sich aber der ideologische beziehungsweise religiöse Blickwinkel verselbstständigt, kommt es zu Verzerrungen der Wahrnehmung und Einschätzung. Solche Verzerrungen beherrschen große Teile der Wahrnehmung und Debatte in Medien und Politik. Überraschend viele Sachfragen zur Wirklichkeit lassen sich empirisch, objektiv und wahrheitsorientiert betrachten und so in erheblichem Umfang »entpolitisieren«. Das werde ich an kontroversen Sachthemen, die die gesellschaftliche und politische Debatte dominieren, demonstrieren und ihnen dann die für diese Themen typischen linken, rechten und andere religiös und ideologisch getriebene Verzerrungen gegenüberstellen. Theorien rund um Identität, Diversität, Gender, Vorwürfe des Kulturalismus, des Rassismus, des kulturellen Rassismus haben im Kern immer die Idee der Gleichheit, die aber im Sinne tatsächlicher Gleichheit, oder – wo das nicht geht – Gleichwertigkeit, überzogen wurde.

Auch bei ganz unterschiedlichen Standpunkten kann der gemeinsame Blick auf Tatsachen und kausale Zusammenhänge immer wieder voreilige Bewertungen und divergierende Einschätzungen relativieren. Wenn aber der Blick auf die Wirklichkeit hinter den Wunsch zurücktritt, die eigenen Bewertungen und Einschätzungen möglichst bestätigt zu sehen, kann er sich in gefährlicher und für das objektive Urteil abträglicher Weise verzerren. Ideologisch bedingte Fehleinschätzungen können die Folge sein. Bei auf solcher Grundlage getroffenen politischen Entscheidungen ist dies häufig der Einstieg ins Desaster.

Schlüsselerlebnisse waren für mich in dieser Hinsicht seit 2010 die Konflikte mit der SPD, der ich seit 1973 als Mitglied angehört hatte. Die Publikation von Deutschland schafft sich ab hatte seit 2010 einen Entfremdungsprozess zwischen der SPD und mir eingeleitet. Der Parteivorstand strengte wegen des Buches ein Parteiausschlussverfahren gegen mich an, zog den Ausschlussantrag aber letztlich zurück. Ein erneutes Ausschlussverfahren – diesmal wegen des islamkritischen Buches Feindliche Übernahme – führte im Sommer 2020 schließlich zum Erfolg. In beiden Fällen lag der »Stein des Anstoßes« nicht darin, dass den Büchern sachliche, statistische oder logische Fehler nachgewiesen wurden. Der »Skandal« bestand vielmehr darin, dass ich Fragen stellte und Sachverhalte erörterte, die für die herrschende Parteilinie offenbar tabu waren:

Bei Deutschland schafft sich ab war die zentrale Quelle der Empörung meine Feststellung, dass Intelligenz überwiegend erblich ist, und die Erörterung der Konsequenzen daraus für Fragen der Demografie, der Bildungspolitik, der Integrations- und Einwanderungspolitik. Der renommierte Wissenschaftsjournalist Dieter E. Zimmer nahm seine Fassungslosigkeit darüber, wie die Führung der SPD den etablierten Erkenntnisstand der Intelligenzforschung bei der Polemik gegen mich ignorierte, zum Anlass, 2012 ein Buch zu veröffentlichen, in dem er den wissenschaftlichen Erkenntnisstand zur Erblichkeit von Intelligenz zusammenfassend referierte.7In Feindliche Übernahmeführte ich 2018 Erscheinungen wie das wirtschaftliche Zurückbleiben muslimischer Länder und die weltweit unterdurchschnittliche Bildungsleistung von Muslimen sowie andere gesellschaftliche Phänomene muslimisch geprägter Gesellschaften auf die kulturelle Prägung durch die Religion des Islam zurück. Am Tag der Publikation – also ehe irgendwer auch nur eine Zeile in dem Buch gelesen haben konnte – leitete der SPD-Parteivorstand ein erneutes Ausschlussverfahren gegen mich ein. In diesem Verfahren wurde keine einzige Tatsachenbehauptung aus dem Buch, keine einzige Zahl, die ich nannte, widerlegt. Man bemühte sich nicht einmal darum. Der Vorwurf gegen mich lautete auf »antimuslimischen Rassismus«. Ein von mir vorgelegtes Gutachten des renommierten Islamwissenschaftlers Tilman Nagel, in dem er die Anwürfe Stück für Stück widerlegte und ad absurdum führte, blieb im gesamten Verfahren unerörtert. Es ging offenbar gar nicht um die von mir beschriebenen Fakten und Sachverhalte, sondern ausschließlich darum, dass ich überhaupt einen kritischen Blick auf die kulturelle Prägung durch den Islam geworfen hatte. Das durfte aus der Sicht der Partei nicht sein.

Beiden Fällen lag ein missverstandenes, quasi außer Rand und Band geratenes Gleichheitspostulat zugrunde – eine typische ideologische Falle, in die linkes Denken immer wieder gerät. Die von mir diskutierten Sachverhalte sollen aus der Sicht des SPD-Parteivorstands möglichst gar nicht öffentlich erörtert werden, damit eine geistig fehlgeleitete Ideologie der Gleichheit nicht in argumentative Nöte gerät. So bereitet man den Weg für künftige Misserfolge in der Bildungs-, Integrations- und Einwanderungspolitik vor. Der wackere Olaf Scholz, mittlerweile deutscher Bundeskanzler, hat übrigens die mit meinem Parteiausschluss verbundene Ausblendung von Themen, die für die Zukunft Deutschlands zentral sind, uneingeschränkt mitgetragen. Diese von mir gemachten Erfahrungen mit strategisch eingesetzter Ignoranz gaben letztlich den Anstoß für dieses Buch. Mein Ausschluss aus der SPD erfolgte nicht, weil meine Analysen sachlich falsch gewesen wären – die Frage danach interessierte niemanden –, sondern weil die Art der Fragestellung und deren sachliche Resultate nicht zum vorgefertigten linken Denkschema passten. Deshalb ist es auch folgerichtig, dass die SPD seit einem halben Jahrhundert überall in Deutschland dort das Bildungswesen nach unten gebracht hat, wo sie länger an der Macht war.8

Die politischen Begriffe von »links« und »rechts« sind selbstverständlich relativ. Sie sind historisch wandelbar und setzen als geistigen Bezugspunkt die Existenz einer »Mitte« voraus. Diese kann aber örtlich, zeitlich und längs der großen Linien der Geschichte inhaltlich ganz unterschiedlich verortet sein. Das lässt sich anschaulich illustrieren mit dem Blick auf die Ergebnisse der Bundestagswahl 2021:9

Bundesweit waren die beiden »klassischen« Volksparteien, CDU/CSU und SPD, etwa gleich stark und kamen zusammen auf 49,8 Prozent. Die beiden Parteien links von der Mitte, Grüne und Linke, erzielten jeweils 14,8 beziehungsweise 4,9 Prozent. Die beiden Parteien rechts von der Mitte, FDP und AfD, kamen auf 11,5 beziehungsweise 10,3 Prozent. Das »linke« Lager (SPD, Grüne, Linke) erreichte zusammen 45,4 Prozent, das »rechte« Lager (CDU/CSU, FDP, AfD) erreichte zusammen 45,9 Prozent. Die annähernd gleichmäßige Verteilung der Stimmen auf die beiden Lager, mit einem leichten Vorsprung für das Spektrum auf der rechten Seite, entspricht der langjährigen Tradition in der Bundesrepublik Deutschland.Ganz anders waren die Verhältnisse im Land Berlin: Hier erreichten die Parteien auf der linken Seite des Spektrums 57,9 Prozent und die auf der rechten Seite des Spektrums lediglich 34,1 Prozent. Das steht in starkem Kontrast zu den Ergebnissen im Freistaat Sachsen: Die Parteien auf der linken Seite des Spektrums erreichten hier zusammen lediglich 37,2 Prozent, die Parteien auf der rechten Seite dagegen 52,8 Prozent.Noch krasser werden die Unterschiede, wenn man auf die Ebene der Wahlkreise geht: In Friedrichshain-Kreuzberg kamen die Grünen auf 36,7 Prozent der Zweitstimmen, die AfD erreichte dagegen nur 4,1 Prozent. Genau umgekehrt war es im Wahlkreis Sächsische Schweiz, Östliches Erzgebirge: Dort bekam die AfD 31,9 Prozent der Zweitstimmen die Grünen dagegen nur 5,3 Prozent.

Frauen in Kopftüchern, arabische Clans, eine offene Drogenszene im Görlitzer Park, ein vermüllter öffentlicher Raum und dysfunktionale Schulen halten die Wähler in Friedrichshain-Kreuzberg seit vielen Jahren nicht davon ab, grün oder anderweitig links zu wählen. Umgekehrt haben im südlichen Sachsen sanierte Innenstädte, gesunde Waldluft und eine im Vergleich zu Berlin sehr leistungsfähige öffentliche Verwaltung die Wähler nicht daran gehindert, die systemkritische AfD zur mit Abstand stärksten Partei zu machen und die Grünen ins Abseits zu stellen. Offenbar sind es eher die grundsätzlichen Einstellungen der Bürger als die tatsächlichen Verhältnisse, die das Wahlverhalten bestimmen: Die Bürger im südlichen Sachsen möchten keine Berliner Verhältnisse, darum wählen sie bevorzugt AfD. Die Bürger in Friedrichshain-Kreuzberg möchten keine sächsischen Verhältnisse, darum wählen sie bevorzugt grün. Wenn sich die Bürger regional nach ihren Lebensstilen sortieren und Wahlentscheidungen nach Maßgabe ihrer bevorzugten Weltsicht treffen, so kann dies zu einem erheblichen Auseinanderklaffen der politischen Verhältnisse führen.

Die gemeinsame Basis unterschiedlicher politischer Denkstile kann immer nur der Sachbezug auf die Wirklichkeit sein. Die Verankerung des eigenen Denkens in einer möglichst objektiven Analyse der tatsächlichen Verhältnisse kann jede Politik besser machen, egal ob sie links oder rechts fundiert ist. Umgekehrt wird es immer dort gefährlich, wo der eigene klare Blick auf die Wirklichkeit ideologisiert und auf diese Weise verzerrt oder vernebelt wird.

Zum Kampf zwischen unterschiedlichen Denkstilen gibt es historisch spannende Beispiele:

in der Astronomie die Auseinandersetzung zwischen geo- und heliozentrischem Weltbildin der Biologie zwischen Kreationismus und Evolutionstheoriein den Gesellschaftswissenschaften zwischen Marktwirtschaft und Sozialismus.

Aber auch alle Irrungen und Wirrungen der Gegenwart – von der Kernenergie über den Pflanzenschutz bis hin zur Gendertheorie und zur Identitätspolitik – spiegeln in ihren Kontroversen den Gegensatz zwischen richtigem (kritisch-rationalem vernunftgeleitetem) und falschem (ideologisch und religiös getriebenem) Denken.

In Kapitel 1 beschreibe ich die Entstehung meines persönlichen Denkstils aus meiner Biografie heraus. Zentral und wichtig ist die Erkenntnis, dass ein Denkstil als solcher niemals einen Wahrheitsanspruch erheben kann. Er ist einfach eine geistige Herangehensweise an die Welt. Das ändert aber nichts daran, dass die Wahrheit als solche unabhängig vom Denkstil des Betrachters einen objektiven Charakter hat. Je nach dem Standort und Denkstil des Fragestellers geraten dabei unterschiedliche Facetten derselben Wahrheit ins Licht. Es ist deshalb hilfreich, sich über den eigenen Denkstil Rechenschaft abzulegen und ihn im Diskurs auch gegenüber anderen offenzulegen: Kein Mensch beginnt sein Leben als eine leere Schiefertafel. Zu den angeborenen Neigungen und Eigenschaften des neugeborenen Menschen, die sich mit dem Aufwachsen biologisch herausbilden, treten der Einfluss der Familie, der umgebenden Gesellschaft sowie die Zufälle der Begegnungen und Lebenskreise, in die man gerät. Die in das Kapitel 1 integrierte knappe biografische Beschreibung meiner geistigen Entwicklung ist – so hoffe ich – ein anschaulicher Weg, um den Leser in einige der Überzeugungen und Gedankengänge einzuführen, die in diesem Buch eine Rolle spielen.

In Kapitel 2 diskutiere ich zunächst die erkenntnistheoretischen und philosophischen Grundlagen richtigen Denkens und stütze mich dabei insbesondere auf die Philosophie des Kritischen Rationalismus (Karl Popper). Sodann analysiere und beschreibe ich die methodischen Verzerrungen und geistigen Fehlschlüsse von Denkstilen, die glaubens- oder ideologiegetrieben sind und deshalb – ohne dass dies ihren Vertretern immer bewusst ist – nicht auf Wahrheitsfindung oder auf Wissensvermehrung, sondern auf die Bestätigung eines bestimmten Weltbilds gerichtet sind.

In Kapitel 3 setze ich mich mit jenen Einflussfaktoren für die menschliche Entwicklung auseinander, die sich aus Evolution, Biologie und Demografie ergeben. Mit dem so erworbenen methodischen Rüstzeug analysiere ich naturwissenschaftliche und gesellschaftspolitische Kontroversen in Geschichte und Gegenwart. Auch religiös oder ideologisch bestimmte Denkfiguren können den ehernen Rahmen, der sich aus den Naturgesetzen, aus Biologie und Evolution ergibt, nicht relativieren und schon gar nicht sprengen. Sie sind vielmehr gefährlich, weil sie ein sachlich verzerrtes Bild der Wirklichkeit und ihrer inneren Zusammenhänge liefern. Aber sie können den Menschen bei der Sinnsuche helfen und ihr Bedürfnis nach anschaulichen, einfachen Erklärungen befriedigen.

In Kapitel 4 stelle ich wesentliche Ausprägungen ideologischen Denkens in ihren ideengeschichtlichen Kontext und erörtere ihre Beziehungen zueinander. Ideologien jedweder Art können zwar die Einflüsse aus der Ordnung der Natur, wie sie sich aus den Naturgesetzen, aus Biologie und Evolution ergeben, in einem Willensakt negieren, sie können aber ihre Wirkungen nicht aufheben. Eine Ideologie ist wie der religiöse Glaube eine durch einen Willensakt geschaffene geistige Ordnungskategorie. Sie ist wirkmächtig nach Maßgabe ihres Einflusses auf das menschliche Bewusstsein. Und wo genügend Menschen glauben, mag es auch etwas Falsches, Gefährliches oder Unsinniges sein, prägen Religion und Ideologie die gesellschaftlichen Verhältnisse – unabhängig davon, ob sie in der Sache richtigliegen oder nicht.

In Kapitel 5 beschreibe ich den Einfluss von Ideologie auf die politische und gesellschaftliche Ordnung.

In Kapitel 6 lege ich die Sonde der Ideologiekritik an die im Dezember 2021 abgeschlossene Koalitionsvereinbarung der Ampel-Koalition und zeige, wie ideologisches Denken auch die politischen Pläne der im Dezember 2021 ins Amt gekommenen Ampel-Regierung prägt.

Kapitel 1

Wie das Leben meinen Denkstil prägte

Ich hatte stets Schwierigkeiten, meinen Denkstil und meinen Ausblick auf die Welt auf einer links-rechts-Skala adäquat einzuordnen. Die Orientierung am staatlichen Ordnungsrahmen, an bürgerlichen Tugenden, am Individuum und an der individuellen Leistung betrachten manche als »rechts«, obwohl ich das nicht so empfinde. Meinen Atheismus, meine Distanz zu Herkunft und Sitte empfinden manche als »links«, obwohl ich das anders sehe.

Für alle Menschen und auch für mich gilt: Die Art, wie jemand die Welt sieht, ist von seinen Eigenschaften als Individuum und den Prägungen, die er durch Herkunft und Erleben erfuhr, grundsätzlich nicht zu trennen. Woher kommen die Einstellungen, die Werte, die Interessenrichtung, die grundlegenden Meinungen, die einen prägen? Das alles bestimmt die Richtung, die man im Leben nimmt. Niemand kann von sich sicher sagen, was davon angeborene Eigenschaften sind, welchen Einfluss die Familie hatte, in der man aufwuchs, wie weit der jeweilige Geist der Zeit, der Umgang, den man pflegte, und die Schulen, in die man ging, für die Entwicklung unserer Interessen und den Weg, den wir individuell genommen haben, verantwortlich sind. Darum sind auch unterschiedliche Ausblicke auf dieselbe Sache grundsätzlich legitim. Auch da, wo man nach objektiver Erkenntnis sucht, sollte die Frage nach der subjektiven Perspektive nicht unter den Tisch fallen.

Deshalb widme ich dieses einleitende Kapitel auch der Frage, wie ich eigentlich zu den Perspektiven und Blickwinkeln kam, die Ausgangspunkt dieses Buches sind. Dazu schaue ich knapp und themenbezogen in die Eckwerte meiner geistigen Biografie. Nach der Meinung des Philosophen Karl Popper (1902–1994), Begründer des Kritischen Rationalismus, hat jeder denkende Mensch – bewusst oder unbewusst – eine Alltagsphilosophie und ist so quasi sein eigener Philosoph. Es mache, so Popper, für jeden Menschen auch Sinn, sich über die Voraussetzungen und Annahmen des eigenen Weltbilds und die daraus hergeleiteten Erkenntnisse und Einstellungen Gedanken zu machen.10 Die Gruppe der Berufsphilosophen betrachtete Popper kritisch, obwohl er sich selbst zu ihnen zählte. Er meinte, in der Philosophie gebe es wenig Neues, aber viel mystifizierenden Unsinn. Das meiste sei schon von wenigen großen Philosophen, vor allem von den griechischen Vorsokratikern, vorgedacht worden.

Philosophie ist für mich im Wesentlichen die Theorie, wie man Erkenntnisse über die Welt gewinnen und ihre Wahrheit überprüfen kann. Das hat schnell etwas Uferloses: Je intensiver man nachdenkt, umso größer erscheint der Kreis des eigenen Nichtwissens. Das geflügelte Wort von Sokrates »Ich weiß, dass ich nichts weiß« hat hier seine tiefere Bedeutung. Allerdings darf man es beim Beklagen der eigenen Unwissenheit auch nicht übertreiben. Jedes irdische Lebewesen, das sich in der ihm zugemessenen Lebensspanne mit Erfolg in der Welt behauptet, macht nämlich aus erkenntnistheoretischer Sicht etwas richtig. Sonst könnte es nicht Nahrung finden, sich gegen Feinde schützen und mit Erfolg fortpflanzen. Wo es etwas richtig macht, hat es einen kleinen Ausschnitt der Welt adäquat erfasst und bei seinen Handlungen berücksichtigt. Eine Katze zum Beispiel, die eine Maus aus der Deckung belauert und im plötzlichen Katzensprung fängt, hat bei der Auswahl der Deckung die Gesetze der Optik und bei der Bemessung des Sprungs die Wirkung der Schwerkraft adäquat beachtet, davon zeugt der erfolgreiche Mäusefang. Die Katze weiß etwas Richtiges über die Welt, anderes und vielleicht auch weniger als der Mensch, aber doch wohl mehr als ein Regenwurm. Alle Menschen wissen etwas Richtiges über die Welt und haben sich im Laufe der Zeit eine Alltagsphilosophie erworben, die – bewusst oder unbewusst – Denken, Handeln und Urteil bestimmt. Meine Alltagsphilosophie ist der Ausgangspunkt dieses Buches, und ich versuche, sie möglichst anschaulich aus meiner Biografie heraus zu entwickeln.

Die frühen Jahre

Meine Eltern verband eine Studentenliebe in Freiburg, und trotz ihres unterschiedlichen Charakters entschlossen sie sich Ende 1942 zur Heirat, ehe mein Vater nach seinem medizinischen Staatsexamen wieder als Truppenarzt an die Front musste. Mein Vater stammte aus einer westfälischen Familie und hatte eine englische Mutter. Seine Schwester verbrachte einen Teil ihrer Schulzeit im englischen Internat und war wegen ihrer Sprachkenntnisse während des Kriegs zeitweise Nachrichtensprecherin in den englischen Sendungen des deutschen Reichsfunks.

Meine Mutter lebte bis Januar 1945 mit ihren Eltern und ihrem jüngeren Bruder auf dem Gut der Familie in Westpreußen. Die beiden älteren Brüder waren 1942 in Russland gefallen. Mein Vater nahm ihr bei seinem letzten Fronturlaub im September 1944 das Versprechen ab, im Falle einer bedrohlichen Annäherung der Ostfront ihre Heimat unter allen Umständen rechtzeitig zu verlassen. Nach dem Zusammenbruch der Ostfront befolgte meine Mutter Ende Januar 1945 diesen Rat und kam nach abenteuerlicher Reise rechtzeitig vor meiner Geburt bei ihren Verwandten in Gera/Thüringen an. Dort wurde ich am 12. Februar 1945 im Städtischen Krankenhaus geboren.

Unmittelbar nach der Besetzung durch britische Truppen wurde meine Tante erste Dolmetscherin des britischen Stadtkommandanten in Recklinghausen und erfuhr auf diesem Weg sehr früh, dass das amerikanisch besetzte Thüringen ein Teil der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) werden würde. Ein britischer Militärlastwagen, der in Thüringen auf Versorgungsfahrt war, holte Ende Mai meine Mutter und mich in Gera ab. So kam ich in meine Heimatstadt Recklinghausen. Mein Vater wurde im September 1945 aus britischer Gefangenschaft nach Recklinghausen entlassen. Auch dabei war meine Tante hilfreich tätig.

Das Schicksal war somit der jungen Familie gnädig. Der Vater meiner Mutter verstarb 1946 in einem polnischen Lager. Meine Großmutter und der jüngere Sohn kamen im Frühling 1946 ohne Schuhe und Strümpfe in Berlin an und lebten bald auch bei uns in Recklinghausen. Uns ging es auch in meiner frühen Kindheit nach damaligen Maßstäben gut. Die Verhältnisse waren nach dem Krieg natürlich sehr bescheiden, aber mein Vater konnte als Arzt bei der Knappschaft seine Familie ernähren. Die vielen Trümmergrundstücke, die unser Haus mit der Mietwohnung im zweiten Stock umgaben, nahm ich als natürliches Umfeld wahr, ebenso die Lastwagenkolonnen mit britischen Soldaten, die regelmäßig durch unsere Straße fuhren.

Meine Mutter verwand den Verlust von Heimat und Besitz nur schwer und kreiste in Worten und Gedanken immer wieder – und je älter sie wurde, desto öfter – um das verloren gegangene Leben auf dem Gut im Osten. Meine Großmutter (Jahrgang 1895) trauerte um Mann und Söhne, der Verlust des Besitzes schien sie nicht weiter zu kümmern. Anfang der Fünfzigerjahre ließ sie sich für die CDU in den Stadtrat von Recklinghausen wählen und wurde in den folgenden 20 Jahren zu einem bekannten Gesicht der dortigen Kommunalpolitik. Mit manchen ihrer ehemaligen polnischen Angestellten auf dem nunmehr polnischen Staatsgut in Westpreußen hielt sie Briefkontakt und schickte ihnen Pakete. Aber sie weigerte sich stets, die alte Heimat zu besuchen. Ihr Umgang mit dem materiellen Verlust war souverän, und das strahlte sie auch aus. Aber ich wuchs gleichwohl in einer Familie auf, die von schmerzlichen Verlusterfahrungen geprägt war, und war sehr sensibel dafür.

Mein Vater, ältestes von vier Kindern, war im Alter von 15 Jahren Vollwaise geworden und machte sein Abitur an einem katholischen Internat. Er begann 1933 mit dem Studium der Germanistik, wechselte aber nach einigen Semestern zur Medizin, als der Zugriff der Nationalsozialisten auf die Studieninhalte zunahm und die Liste der verbotenen oder unerwünschten Schriftsteller immer länger wurde. Das Kriegsende erlebte er als Truppenarzt in Italien. Einer seiner Sanitätsgefreiten stammte aus Auschwitz, von ihm erfuhr er, was dort geschah.

Von seinem Selbstverständnis her war mein Vater vor allem ein Intellektueller und Literat, die Medizin war sein Brotberuf. Seit der Studentenzeit in den Dreißigerjahren bis ins hohe Alter publizierte er immer wieder Gedichte. Er hatte eine beeindruckende Gedächtniskapazität, konnte zahlreiche deutsche Gedichte und weite Strecken von Goethes Faust auswendig zitieren – was er dort, wo es passte, auch gerne tat. Die Interessen meiner Eltern überschnitten sich kaum. Was sie in ihrer siebzig Jahre währenden Ehe verband, blieb uns Kindern weitgehend unklar. Wahrscheinlich war es das Spannungsverhältnis zwischen dem intellektuellen Zugriff meines Vaters und dem emotionalen Zugriff meiner Mutter auf die Welt – verbunden mit dem Umstand, dass meine Mutter in ihrer Jugend eine sehr schöne Frau war.

Dem Erbe meines Vaters ist es wohl zu verdanken, dass ich zeit meines Lebens sehr viel las und den praktischen Anforderungen des täglichen Lebens immer wieder mit einer gewissen Distanz gegenüberstand. Dem bäuerlichen Erbe meiner Mutter schreibe ich einen erdverbundenen Zahlensinn sowie ein Gespür für wirtschaftliche Zusammenhänge und die damit verbundenen Interessen zu. Dass ich in einem Volk der Verlierer aufwuchs, war mir schon als Kind sehr früh bewusst. Dazu gehörten nicht nur die Trümmer um uns herum, sondern auch die Erzählungen meiner Mutter und meiner Großmutter über die verlorene Heimat und den Verlust von Vater, Mann und Söhnen. Die komplizierte Einbettung dieser Dramen in den Verlauf der deutschen Geschichte und die damit einhergehenden Fragen von Schuld und Sühne gingen an mir als Kind und Jugendlichem weitgehend vorbei.

In den physischen und seelischen Kriegstrümmern regte sich sehr früh hoffnungsvoll und auch für mich klar erkennbar der Wiederaufbau: Unsere Straße in Recklinghausen hatte noch 1951 – da war ich sechs Jahre alt – zu 80 Prozent in Trümmern gelegen. Vier Jahre später – vor dem Umzug in das von unseren Eltern neu erbaute Einfamilienhaus – sah ich von unserer Wohnung aus kein einziges Trümmergrundstück mehr. Selbst im fast völlig zerstörten Köln, das wir bisweilen mit dem Zug durchquerten, war die Ruinenlandschaft 15 Jahre nach dem Kriegsende weitgehend verschwunden. Auch mit dem für uns Kinder fühlbaren Lebensstandard ging es voran: 1952 konnte ich im Alter von sieben Jahren den Holzroller beiseitestellen und bekam den ersehnten Metallroller mit Ballonreifen. 1956 – ich wurde elf Jahre alt – bekam ich ein Jugendfahrrad mit blauer Metallic-Lackierung, und 1958 kauften sich unsere Eltern einen gebrauchten Opel Rekord.

Gebannt verfolgte ich schon als Kind den Wettbewerb der Wirtschaftssysteme und war mächtig stolz darauf, in einem westlichen Land mit funktionierender Marktwirtschaft zu leben. Gleichzeitig spürte ich überall die Angst – die Angst vor einem neuen Krieg, die Angst vor einer sowjetischen Invasion. Mit dem Drama des Ungarn-Aufstands wurde ich im Herbst 1956 im Alter von elf Jahren zum täglichen Zeitungsleser und habe damit bis heute nicht aufgehört.

Inmitten der Trümmer einer jüngst vergangenen Katastrophe, die meine frühe Kindheit und Jugend umgaben, und den Zeugnissen der fühlbar überall stattfindenden Aufbauleistung entwickelte ich ein Sensorium dafür, wie bedroht und keineswegs selbstverständlich das alles war. Meine lebenslange Faszination für die Organisation und die innere Mechanik von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft begann in jenen Jahren. Daraus speiste sich auch ein frühes Interesse an Erdkunde und Geschichte – den einzigen beiden Schulfächern, die mir Antworten auf die Fragen geben konnten, die mich schon früh fesselten.

Die evangelische Pfadfindergruppe, der ich mich mit elf Jahren anschloss, war ziemlich friedensbewegt und links. Unsere Gruppenführer, damals alle im Alter von 16 bis 19 Jahren, waren durchweg Pazifisten und Kriegsdienstverweigerer. In den wöchentlichen Treffen lernte ich die Hegel’sche Geschichtslehre von These, Antithese und Synthese kennen und erfuhr den Unterschied zwischen historischem und dialektischem Materialismus. Außerdem lernte ich, dass die von mir so geschätzte Marktwirtschaft zu Krisen neige und der nächste Kladderadatsch bestimmt nicht fern sei. Unser Gruppenführer, der uns all das beibrachte, verließ uns 1959 mit dem Abitur und studierte in Münster evangelische Theologie.

Im selben Jahr wurde ich konfirmiert. Unser junger Pfarrer Dietrich erklärte uns im Konfirmandenunterricht, es stimme nicht, dass wir Adolf Hitler die Autobahnen verdankten, der Autobahnbau habe schon in der Weimarer Republik begonnen. Im Sommer 1959 ging er in die DDR – damals im Westen SBZ genannt – und übernahm dort eine Pfarrstelle.

In diesem linken evangelischen Umfeld verbrachte ich bis zu meinem Abitur einen großen Teil meiner jugendlichen Freizeit. Dort war ich der Einzige, der gleichzeitig die Marktwirtschaft, die NATO und die atomare Aufrüstung verteidigte. Ich tat dies mit Verve und Überzeugung und gewöhnte mich früh an den über weite Strecken meines Lebens anhaltenden Zustand, in kontroversem Umfeld eine Minderheitenmeinung zu vertreten.

Im Gegensatz dazu war das altsprachliche Gymnasium, das ich nach der Volksschule bis zum Abitur besuchte, konservativ und sehr katholisch. Die aus grauer Vorzeit überkommene Schulsatzung erforderte, dass alle angestellten Lehrer katholisch waren. Eine Ausnahme gab es nur für den evangelischen Religionslehrer. Während meiner gesamten Schulzeit waren wir im evangelischen Religionsunterricht (zwei Wochenstunden) jeweils nur zwei bis vier Schüler. Meiner christlichen Grundbildung tat dies sehr gut. Unser Religionslehrer Werner Schneider war sehr aktiv in der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit und organisierte die jährliche Woche der Brüderlichkeit mit Veranstaltungen in der Aula unserer Schule. An Informationen über die deutschen Verbrechen an den Juden und an deren geistiger Aufarbeitung mangelte es mir in meiner Jugend nicht.

Ansonsten war aber der gesamte Schulbetrieb so politikfern wie nur möglich gestaltet, und die Lehrer waren betont neutral. Menschlich war vielen von ihnen die Prägung durch die Erlebnisse von Krieg und Diktatur anzumerken, und in der Unterstufe hörten wir viele Erzählungen aus Russland, Kreta oder Nordafrika. Wenn ein Lehrer solchermaßen ins Erzählen kam, waren wir sehr froh und lenkten nach Kräften das Unterrichtsgespräch dorthin, denn dann wurde es im Unterricht unterhaltsamer und weniger anstrengend.

Seit meinem siebten Lebensjahr hatte ich einen großen Lesehunger. Er entstand infolge einer Scharlacherkrankung im ersten Schuljahr. Schulbeginn war damals Ostern. Ende September erkrankte ich an Scharlach und musste gemeinsam mit meiner ebenfalls erkrankten jüngeren Schwester für viele Wochen in strenger Isolation das Bett hüten. So wurde damals diese hoch ansteckende Kinderkrankheit auskuriert. Eine Behandlung mit Antibiotika war damals nicht üblich. Wir hatten weder Radio noch Fernsehen, nur ganz wenige Bilderbücher und langweilten uns tödlich. Die Buchstaben des Alphabets hatte ich von April bis September teilweise erlernt, aber es reichte nicht, um richtig zu lesen. Unser Vater las uns abends nach der Rückkehr aus dem Krankenhaus immer Märchen aus den Sammlungen von Grimm und Bechstein vor. Es handelte sich um zwei alte Ausgaben in deutscher Schrift (Fraktur) aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, eine hatte Illustrationen von Ludwig Richter. Die beiden Bände blieben neben meinem Bett bis zur Vorlesestunde am nächsten Abend liegen. In zermürbender Langeweile betrachtete ich tagsüber in meinen endlosen wachen Stunden Richters Illustrationen und rätselte an den gotischen Buchstaben. Das ging so über Wochen, und als der November zu Ende ging, konnte ich die deutsche Schrift der beiden Märchenbücher einigermaßen fließend lesen. Nach meinem damaligen Lebensgefühl retteten mich diese beiden Bücher vor einem frühen Tod aufgrund von Langeweile. Danach gab es kein Halten mehr. Mit Lesenlernen war ich vier Monate vor dem Ende des ersten Schuljahrs durch, und auch Fragen der Rechtschreibung waren für mich nicht mehr von Belang. Die »saß« einfach aufgrund der vielen Lektüre, ohne dass ich sie jemals »geübt« hätte.

Mein Vater führte mich am Ende des ersten Schuljahrs in die Stadtbücherei und machte mich mit der Bibliothekarin bekannt. Dort ging ich künftig selbstständig hin. Bis zu drei Bücher durfte ich ausleihen, und die Bibliothekarin suchte mir das Passende aus. Das Paradies schien für mich greifbar zu sein, als die Stadtbücherei 1957 in das neu erbaute Stadthaus umzog und man sich die Bücher in der Kinder- und Jugendabteilung anschauen und selbst aus den Regalen nehmen durfte. Unsere enge heimatliche Wohnung empfand ich als einen unwirtlichen Ort. Als das älteste von vier Kindern wurde ich, wie mir schien, unentwegt zu irgendwelchen ungeliebten Aufgaben herangezogen. So entfloh ich gern zu Tante und Großtante, die zehn Gehminuten entfernt wohnten, mir nachmittags in ihrem großen Wohnzimmer mit vielen alten Büchern gern Unterschlupf gewährten und mich rechtzeitig zum Abendessen nach Hause schickten.

Zur Abwechslung ging ich aber auch gern 15 Minuten zum Herzogswall in das British Information Center Die Brücke (Recklinghausen lag ja in der britischen Besatzungszone), wo es in ruhigen Altbauräumen eine Präsenzbibliothek mit einer Abteilung für Kinder und Jugendliche gab. So wollten die Briten die Umerziehung der Deutschen zu guten Demokraten unterstützen. Als jugendliches Objekt dieses Umerziehungsprogramms las ich dort sämtliche Kinderbücher von Enid Blyton, aber auch Die Schatzinsel von Robert Stevenson.

Dieser Fluchtort wurde mir unentbehrlich, als meine Eltern begannen, sich über meine »Lesesucht« Sorgen zu machen und eine Lesebeschränkung auf zwei Stunden am Tag einführten. In dieses Arrangement bezogen sie auch den Aufenthalt bei meiner Tante und Großtante ein. Aber niemand konnte überprüfen, ob ich statt zu lesen, wie vorgeschrieben und erwünscht mit anderen Kindern auf der Straße spielte oder mich in die stillen Leseräume der Brücke zurückzog.

Im gedrechselten schwarz lackierten Hochlehnsessel bei meiner Großtante begannen auch meine historischen Neigungen. In der Bücherwand neben dem Sessel stand eine Illustrierte Weltgeschichte in vier Bänden aus dem Jahr 1908, die – in Halbleder gebunden und reich illustriert – auf 2000 Seiten im Quart-Format das gesamte historische Wissen der Zeit aus der Perspektive des wilhelminischen Bürgertums darstellte. Zuerst fesselten mich die Bilder, im Lauf der Jahre auch die Texte. Ich las im Band Geschichte der Neuesten Zeit – über die Französische Revolution, die Befreiungskriege, den deutsch-französischen Krieg 1870/71.11 Die Texte waren bildkräftig und anschaulich von einem königlichen Gymnasialdirektor verfasst. Ich las sie immer wieder zwischen meinem neunten und vierzehnten Lebensjahr. So wuchs in mir in jungen Jahren – ganz unbeeinflusst von Schule und Elternhaus – ein Fundament von historischen Fakten und Urteilen heran, auf dem alle späteren Lektüren aufbauten. Im Lauf meiner Schulzeit ergänzte ich dieses Fundament durch mannigfaltige weitere historische Lektüren. Der durchweg mangelhafte (und überdies lückenhafte) Geschichtsunterricht auf meinem Gymnasium spielte dabei überhaupt keine Rolle. Mein Vater hatte eine indirekte Rolle, indem er meine historischen Interessen durch Ausleihen aus der Stadtbücherei und Buchgeschenke lenkte. Seine eigenen Interessen waren nicht historisch und auch kaum politisch, sondern überwiegend literarisch mit einem gewissen philosophischen Einschlag.

Zu seinen Geschenken gehörten die Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts von Golo Mann und Der Dreißigjährige Krieg von Ricarda Huch, die ich beide im Alter von 16 Jahren las. So geriet mein etwas wilhelminisch geratenes Weltbild besser ins Lot, und auch Grauen und Absurdität des Kriegs wurden mir anschaulich nahegebracht. Aber nur wenige Bücher haben mein historisches und politisches Weltbild so geprägt wie die Lektüre zweier Werke von Winston Churchill: In My Early Life beschreibt er die ersten dreißig Jahre seines Lebens, unter anderem als Kavallerieoffizier in Indien und als Korrespondent im Burenkrieg. Es war der Bericht aus einer frohgemuten, optimistischen Welt, die mit dem Ersten Weltkrieg unterging. Die als Rowohlt-Taschenbuch erschienene deutsche Ausgabe las ich erstmals 1958 mit 13 Jahren und danach noch mindestens fünfmal.12 Churchills Alterswerk über den Zweiten Weltkrieg las ich 1964, im Jahr meines Abiturs.13 Glänzend zeigt er dort am Beginn des ersten Buches »Der Weg in die Katastrophe«, welche verhängnisvolle Rolle der von Rachegelüsten geprägte Friedensvertrag von Versailles für die weitere Entwicklung Europas spielte. Churchill illustrierte als Historiker, Politiker und Literat, um wie viel besser es um die Welt stehen könnte, wenn verantwortliche Politiker mehr Bildung und mehr gesunden Menschenverstand hätten.

Nicht zuletzt durch den Einfluss meines Vaters, der meine Lektüren unmerklich lenkte, las ich in meiner Schulzeit den klassischen Kanon der europäischen und amerikanischen Romanliteratur. Andere mochten sportlicher oder besser in Mathematik und Naturwissenschaften sein. Aber die ungeheure innere Bilderwelt, die ich aus der Lektüre von Romanen hatte und immer noch habe, wurde mir früh ein unvergleichlicher Besitz. Das gab mir in vielen Situationen Sicherheit. Der damit verbundene Reichtum der inneren Anschauung hat mir, da bin ich sicher, auch beruflich oft geholfen, denn er ist wie eine Festung, in die man sich bei Bedrängnis zurückziehen kann. Er bietet aber auch eine Fülle von Anregungen für das eigene Denken und Handeln, wenn es irgendwo an einer Stelle nicht recht weitergeht. Wie schon erwähnt, war ich seit dem Ungarn-Aufstand im Oktober 1956 ein täglicher Zeitungsleser und habe von dieser lästigen und weitgehend nutzlosen Angewohnheit trotz wiederholt gefasster gegenteiliger Vorsätze bis heute nicht lassen können. Täglich hofft man auf die erlösende Nachricht, die den Durchbruch zur nachhaltigen Lösung der zerrütteten Weltverhältnisse bringt oder zumindest deren Verständnis grundlegend verbessert. Natürlich hofft man vergebens. Auch an dem Tag meines Todes wird die Welt für Milliarden Menschen ein guter Ort und für andere Milliarden ein Jammertal sein. Am Tag meiner Geburt war es nicht anders, nur dass die Menschen zwischenzeitlich durch die Gesetze der Biologie ausgetauscht wurden und ihre Zahl sich erheblich vergrößert hat.

Aus der Zeitungslektüre, den verschiedenen historischen Werken und den Gesprächen im Elternhaus wurde mein Weltbild gespeist, den wechselnden Zeitgeist atmete ich sowieso ein. Regelmäßig besuchten wir unsere Verwandten in der DDR, die in Rostock und Gera lebten. Das graue tägliche Leben dort, die Schäbigkeit im öffentlichen Raum und der offenkundige Mangel an Perspektive bedrückten mich schon als Schüler jedes Mal, wenn ich dort zu Besuch war. Ich war froh, dass es die NATO und die Amerikaner gab, die uns vor solchen Verhältnissen bewahrten, und konnte nicht begreifen, wie ein intelligenter Mensch im Westen den östlichen Sozialismus gutheißen oder auch nur Marxist sein konnte. Meinen linken Freunden bei den evangelischen Pfadfindern, die zum großen Teil Pazifisten waren, begegnete ich darum mit völligem Unverständnis.

Gymnasialzeit

Meine schulische Laufbahn am Gymnasium vollzog sich mit einigen Unebenheiten. Die dreitägige Aufnahmeprüfung hatte ich anstandslos bestanden. Auf der Volksschule war ich zuletzt Klassenbester gewesen, hatte dort aber einen strengen Lehrer, der mir sehr auf die Finger sah und mich durch die Wucht seiner Persönlichkeit in seinen Bann schlug. Auf dem Gymnasium hatte ich dagegen viele Lehrer, von denen sich keiner für mich persönlich zu interessieren schien. Ich war stets friedfertig, aber notorisch unaufmerksam und wandte mich einfach innerlich vom Unterricht ab, wenn er mich gerade nicht interessierte, was überwiegend der Fall war. Eigentlich interessierten mich nur Erdkunde und Geschichte, in beschränktem Maße Biologie. Aber in Erdkunde und Geschichte brauchte ich auch nicht zuzuhören, weil ich die entsprechenden Schulbücher längst von Anfang bis Ende mehrmals gelesen hatte. So hatte ich zumeist schlechte Kopfnoten, insbesondere was Ordnung, häuslichen Fleiß und Beteiligung am Unterricht betraf.

In der Klasse gehörte ich zu den Jüngsten und lag im körperlichen Wachstum zurück. Von Jahr zu Jahr wurden die Noten ein wenig schlechter, und in der Untertertia (8. Klasse) brachte ich auf dem Herbstzeugnis vier Fünfen (Latein, Griechisch, Mathematik und Englisch) und zwei Sechsen (Physik und Sport) nach Hause. In der Mitte des Schuljahrs wurde ich eine Klasse zurückversetzt. Drei Jahre lang durchlief ich in der neuen Klasse bei mäßigen Noten eine im Großen und Ganzen ungefährdete Schullaufbahn. Aber vor Weihnachten brachte ich in der Untersekunda (10. Klasse) zwei blaue Briefe nach Hause: Versetzungsgefährdung! In Latein und Griechisch hatte ich jeweils in zwei Klassenarbeiten eine Fünf geschrieben. Eigentlich wollte ich mit den Pfadfindern nach Weihnachten im Sauerland wandern gehen, aber mein Vater strich die Reise: Jeden Tag während der gesamten dreiwöchigen Weihnachtsferien, selbst an den Feiertagen, musste ich je eine Seite Livius (Latein) und Xenophon (Griechisch) schriftlich übersetzen. Das war die gerade aktuelle Schullektüre. Mein Vater setzte sich jeden Abend mit mir hin und besprach die Korrekturen. Als die Schule wieder begann, wurde das tägliche Deputat auf eine halbe Seite gesenkt. Das Ergebnis war frappant. Nach einigen Wochen kannte ich den gesamten Wortschatz von Livius und alle Eigenheiten seiner Grammatik und konnte seine Texte praktisch fließend übersetzen. Auch mit den Texten von Xenophon fand ich mich gut zurecht. In Griechisch schrieb ich in den nächsten beiden Klassenarbeiten eine Drei und eine Drei +. In Latein gab es zunächst eine glatte Zwei, die zweitbeste Arbeit der Klasse. Bei der nächsten Arbeit wurde ich im großen Zeichensaal getrennt gesetzt. Oberstudienrat Klagges nahm mir gegenüber Platz und beäugte mich die ganze Zeit. Es wurde eine Zwei +, die beste Arbeit der Klasse. Bei der Zeugnisausgabe – in Latein bekam ich eine Drei – sagte er zu mir: »Sarrazin, aus dir werde ich auch nicht schlau.«

Ich aber hatte in den vergangenen Monaten die wichtigste Erkenntnis meiner gesamten Bildungslaufbahn gewonnen und verinnerlicht. Der plötzliche Erfolg durch die konsequente Zuwendung zu einem Gegenstand zeigte mir die tiefe Wahrheit von Erich Kästners Ausspruch »Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.«

Diese Erfahrung änderte mein Leben. Ich blieb zwar ein mäßiger und in der Summe recht fauler Schüler. Aber bis zum Abitur geriet ich nie mehr in eine Gefahrenzone. Ich hatte gelernt, meinen Arbeitseinsatz gezielt zu steuern. Und ich hatte gelernt, dass man, wenn es wirklich ernst wird, klotzen muss und nicht kleckern darf. Nie mehr in meinem Leben war ich am Schreibtisch von einer Leistungshemmung geplagt. Wenn ich faul war, war ich es mit vollem Bewusstsein, und ich war stets bemüht, mir über meine eigene Leistung nichts vorzumachen.

Extrem erstaunt war ich über die Latein- und Griechischkenntnisse meines Vaters, die auch dreißig Jahre nach seinem Abitur am Erzbischöflichen Gymnasium in Opladen wesentlich besser als die meinen waren. Wiederum fünfunddreißig Jahre später machte ich dann eine ähnliche Erfahrung mit meinen Söhnen. Am renommierten Mainzer Theresianum kamen sie in der lateinischen Lektüre nur bis Cäsar, ehe sie das große Latinum erwarben. Das Leistungsniveau, das mir noch abgefordert wurde, war offenbar undenkbar geworden. So bekam ich erstmals eine Ahnung davon, dass der Verfall des deutschen Bildungswesens auch vor den bürgerlichen Spitzeninstitutionen nicht haltmacht.

In der Oberprima (13. Klasse) hatte ich nicht die geringste Vorstellung über meine berufliche Zukunft. Allenfalls am Studium der Geschichte hätte ich Interesse gehabt, aber Lehrer wollte ich keinesfalls werden. Die Hälfte meiner Mitschüler hatte sich für das Medizinstudium entschieden, das wollte ich aber nicht. So gab ich aus Mangel an besseren Einfällen zum Abitur als Studienwunsch »Jura« an. Aber eigentlich war ich recht froh, dass die Wehrpflicht mir den Zwang zu einer schnellen Entscheidung abnahm.

Wehrdienst

Als Pfadfinder war ich es durch unsere Wanderungen im Sauerland und im Hochgebirge gewohnt, auch lange Strecken mit schwerem Gepäck zu bewältigen. Auch mit Zelten und Biwakieren kannte ich mich aus. Aber ansonsten merkte ich schnell, dass das Soldatische nicht zum Kernbereich meiner Fähigkeiten gehörte: Ich war ein schlechter Schütze, ein langsamer Läufer und für die aufmerksame Beobachtung des Geländes viel zu zerstreut. Bei einer Erkundungsübung sagte der Ausbildungsunteroffizier einmal bewundernd zu mir: »Sarrazin, bei diesem Spähgang wären Sie schon siebenmal erschossen worden.« Nach der Grundausbildung kam ich zu einer Radareinheit bei der aufklärenden Artillerie. Dort lernte ich das Vermessen. Die richtige Einmessung ist das A und O der Feuerleitung, und als Vermesser war ich auch sehr brauchbar. Vorgesetzte und Kameraden nahmen meine unsoldatische Zerstreutheit tolerant hin. Ich bekam quasi einen Intellektuellenbonus. Mein Fahrlehrer, ein altgedienter Oberfeldwebel, dehnte die Fahrten mit mir durchs Gelände immer endlos aus und ließ sich von mir während der Fahrt über die Einschätzung der Weltlage unterrichten. Von ihm bekam ich den Spitznamen »der Professor«.

Unsere mit zehn Mann belegte Stube umfasste neben zwei Abiturienten einen bunten Querschnitt der männlichen arbeitenden Bevölkerung. Wir waren gute Kameraden mit erheblichem Bierkonsum. Es waren helle Köpfe darunter, zum größten Teil Rheinländer.

Unsere Einheit war von Wuppertal nach Oldenburg verlegt worden. Im Rhythmus der vierteljährlichen Einzugstermine zur Wehrpflicht verliefen auch die Entlassungen und die Neuzugänge, und so wurde unsere Einheit allmählich immer unrheinischer und immer ostfriesischer. Das veränderte die Atmosphäre total. Die zumeist ländlichen Ostfriesen waren nicht so wortmächtig und flexibel wie die vorwiegend großstädtischen Rheinländer, wohl aber autoritätshöriger und bei übergriffigen Vorgesetzten verbal oft erkennbar hilflos.

Ich stand wenige Monate vor meiner Entlassung, als ich mitbekam, wie einem ostfriesischen Kameraden wegen einer geringfügigen verbalen Ausfälligkeit der Wochenendurlaub gestrichen und er als »Feuerwache« zum Kasernenarrest verdonnert wurde. Er war am Boden zerstört, die Angst um untreue Freundinnen war das ewige Thema. Ich hörte mir seine Klagen an und schlug ihm eine schriftliche Beschwerde vor. Er sah mich hilflos an, und ich diktierte ihm einen Text. Beschwerden nach der Wehrbeschwerdeordnung mussten nämlich eigenhändig niedergeschrieben oder mündlich zu Protokoll gegeben werden. Die Beschwerde hatte Erfolg. Am folgenden Montag standen drei Ostfriesen in meiner Stube und wollten von mir Beschwerden formuliert haben. Das grenzte an Meuterei, ich diktierte die Beschwerden und schärfte ihnen ein, unter allen Umständen darauf zu bestehen, dass sie den Text selbst formuliert hatten. 

Nun gab es kein Halten mehr. Vor unserer Stube bildeten sich Schlangen von Ostfriesen. Zwei wortmächtige Kameraden gingen mir beim Diktieren von Beschwerdetexten zur Hand. Der Batteriechef beauftragte seinen arroganten Leutnant mit der Untersuchung der vermuteten Meuterei. Alle Ostfriesen bestanden bei den Verhören strikt darauf, dass sie ihre Beschwerde ohne fremde Hilfe formuliert hätten. Die Angelegenheit wurde zum Kasernengespräch über unsere Batterie hinaus. Eines Tages wurde ich zum Bataillonskommandeur befohlen, einem Oberstleutnant. Er bot mir freundlich einen Platz an und fragte mich, ob ich etwas mit der Angelegenheit zu tun hätte. Ich verneinte. Er fragte nach den möglichen Gründen für die Beschwerden. Ich erläuterte ihm aus meiner Sicht die Führungsprobleme in unserer Einheit. Er wollte sich darum kümmern und fragte mich, ob ich denn sicherstellen könne, dass es keine weiteren Beschwerden mehr gebe, wenn alle disziplinarischen Ermittlungen eingestellt würden. Das sagte ich zu, und fortan hatten die Ostfriesen wesentlich weniger »Feuerwache«. Unversehens war ich eine Art Betriebsrat meiner Einheit geworden, und es hatte funktioniert. Ich lernte hier erstmals: Wer (gut) schreibt, der bleibt.

Bei meinen Vorgesetzten machte mich das nicht beliebter, und so musste ich meinerseits in meinen letzten Monaten vor der Entlassung viele »Feuerwachen« absolvieren und verbrachte die Wochenenden zumeist in der Kaserne. Um die Langeweile zu bekämpfen, kaufte ich mir Die Zeit und die