Wunschdenken - Thilo Sarrazin - E-Book

Wunschdenken E-Book

Thilo Sarrazin

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Beschreibung

Werden wir gut regiert? Oder bleibt die Politik hinter ihren Möglichkeiten zurück? Und wenn das so ist – woran liegt das? Gibt es Techniken guten Regierens? In seinem Bestseller beschreibt Thilo Sarrazin die Mechaniken von Politik, ihre typischen Fehler und die Gründe für den Erfolg oder Misserfolg von Gesellschaften. Er verdeutlicht, warum die Träume von einer besseren Gesellschaft oft nichts Gutes hervorgebracht haben. Von hier schlägt er den Bogen zu den Fehlern der aktuellen deutschen Politik, von der Einwanderung bis zur Energiewende. Er erklärt die tieferen Ursachen und gibt seine Antworten auf die großen Fragen zur Zukunft Deutschlands.

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THilo Sarrazin

Wunschdenken

Warum Politik so häufig scheitert

Aktualisierte Neuausgabe des 2016 bei DVA erschienenen Buches Wunschdenken

© 2022 LMV, ein Imprint der Langen Müller Verlag GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Satz und Ebook-Konvertierung: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-7844-8432-5

www.langenmueller.de

„Distanzierungserklärung:

Mit dem Urteil vom 12.05.1998 hat das Landgericht Hamburg entschieden, dass man durch die Ausbringung eines Links die Inhalte der gelinkten Seite gegebenenfalls mit zu verantworten hat. Dies kann, so das Landgericht, nur dadurch verhindert werden, dass man sich ausdrücklich von diesen Inhalten distanziert. Wir haben in diesem E-Book Links zu anderen Seiten im World Wide Web gelegt. Für alle diese Links gilt: Wir erklären ausdrücklich, dass wir keinerlei Einfluss auf die Gestaltung und die Inhalte der gelinkten Seiten haben. Deshalb distanzieren wir uns hiermit ausdrücklich von allen Inhalten aller gelinkten Seiten in diesem E-Book und machen uns diese Inhalte nicht zu Eigen. Diese Erklärung gilt für alle in diesem E-Book angezeigten Links und für alle Inhalte der Seiten, zu denen Links führen.“

Inhalt

Einleitung

1

Weshalb einige Gesellschaften Erfolg haben und andere nicht

Zur Entwicklung des Menschen

Zur Entwicklung der Zivilisation

Klima, Geografie, Umwelt

Herkunft und Abstammung

Kulturelle Tradition

Religion

Institutionelle Rahmenbedingungen

Kognitives Kapital

Gesellschaftliches Vertrauen und Sozialkapital

Freiheit und Sicherheit

2

Träume und Fantasien vom glücklichen Zusammenleben

Grundsätzliches zur Entwicklung der demokratischen Staatsform

Von der Rolle der Religion

Zum religiösen Kern der Ideen von der menschlichen Gesellschaft

Utopien der Vergangenheit

Was wir von Utopien lernen – und warum sie so gefährlich sind

Utopien der Gegenwart

Die offene Gesellschaft

Der Marktmechanismus als erkenntnistheoretische Antwort auf die Probleme der Sozialplanung

3

Gegenstand, Regeln und Prinzipien guten Regierens

Grundsätzliches zum Miteinander in demokratischen Gesellschaften

Zum Aktionsraum von Politik

Positive Regierungsziele

Illegitime Regierungsziel

Zehn Regeln für den guten Regenten

Grundsätze guter Regierung

Wandel der Staatsaufgaben, Fließen der Institutionen

Über die Grenzen der Demokratie

Über den Einfluss des Einzelnen

Zur Rolle der staatlichen Bürokratie

Zur Effizienz des staatlichen Handelns

4

Wie politische Fehler entstehen und was sie bewirken

Fallstudien aus der deutschen Politik

Der souveräne Staat und seine Grenzen

Staat und Währung

Wohlstand

Bildung

Demografie und Einwanderung

Gerechtigkeit

Klima und Umwelt

Metagründe des Versagens

5

Wie ich die Weltlage sehe und was ich mir für Deutschland wünsche

Deutschland in der Welt

Was wir uns und anderen schulden

Wie wir zum Weltfrieden beitragen können

Wie wir anderen Ländern am besten helfen können

Wie wir mit den Flüchtlingsströmen aus Vorderasien und Afrika umgehen sollten

Deutschland in Europa

Die Zukunft Europas braucht sichere Grenzen

Souveränität und Würde der Völker

Zur staatlichen Gestalt der Europäischen Union

Deutschland bei sich zu Hause

Das kulturelle Erbe achten und pflegen

Einwanderer richtig auswählen und integrieren

Mehr Kinder aus stabilen Familien

Begabungen nutzen und entwickeln

Arbeit für alle!

Zu den Hobbys der Gesinnungsfetischisten

Grenzen der Erkenntnis – offene Zukunft

Anmerkungen

Personenregister

Sachregister

Einleitung

Nach dem Erscheinen von Deutschland schafft sich ab wurde ich oft gefragt, ob ich nicht ein Buch schreiben wolle, wie man es besser macht. Das hat so seine Tücken, denn das Gute und Richtige ist tendenziell weniger eindeutig als das Schlechte, Falsche oder Fehlerhafte.1 Menschen und Gesellschaften, Völker und Staaten entziehen sich vorgegebenen Rastern, wie immer sie aussehen. Überdies führen bestimmte Wege unter dem einen oder anderen Aspekt zwingend ins Unglück, während man auf anderen Wegen Unglück vermeiden und die Chancen auf Glück erhöhen kann. Die Bedingungen dafür arbeite ich in diesem Buch heraus, leite sie aus der menschlichen Geschichte her und stelle die Mechanik von Politik, ihre Einbettung in die menschliche Natur und ihre typischen Fehler so anschaulich dar, wie ich kann.

Die Fehler deutscher Politik haben mir dabei viel Anschauungsmaterial geliefert. Die ursprüngliche Abfassung des Buches überschnitt sich mit dem wohl größten Fehler der deutschen Nachkriegspolitik, der undurchdachten und utopischen Politik der Bundesregierung in der sogenannten Flüchtlingskrise 2015/2016, deren Langzeitfolgen mittlerweile immer deutlicher werden. Als im August 2010 das Buch Deutschland schafft sich ab erschien, in dem ich unter anderem vor den Gefahren einer falschen Einwanderung und eines radikalen Islam warnte, ließ die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel über den Regierungssprecher Steffen Seibert erklären, dergleichen sei »nicht hilfreich«, und betrieb meine Entlassung aus dem Vorstand der Deutschen Bundesbank. Dass es den Überbringer schlechter Nachrichten hart treffen kann, dafür gibt es viele Beispiele in der Geschichte. Ich konnte damals meine bürgerliche Ehre nur mit Mühe retten.

Es gibt gut regierte und schlecht regierte Länder. Das gilt im historischen Vergleich, es gilt aber auch, wenn man zu einem beliebigen Zeitpunkt den Blick über die Welt schweifen lässt und sie betrachtet, wie sie gerade ist. Das gilt global. Aber selbst im regionalen oder auch nationalen Rahmen stehen besser und schlechter regierte Einheiten recht unverbunden nebeneinander. Ad hoc und mit wünschenswerter Eindeutigkeit lässt sich kaum sagen, wodurch sich der Unterschied denn nun ergibt. In der Summe macht Deutschland einen wesentlich besser regierten Eindruck als Frankreich, und dieser Eindruck lässt sich durch die Wirtschafts- und Sozialdaten leicht erhärten. Aber was sind die Ursachen solcher Unterschiede?

Selbst innerhalb von Nationen gibt es große Unterschiede. Diese zeigen sich zum Beispiel, wenn man beliebige Daten des Bundeslandes Bayern mit jenen des Bundeslandes Bremen vergleicht. Da beginnen aber auch schon die Probleme mit der Faktenanalyse und der Ursachenzuschreibung. Der Bürgermeister von Bremen kann in jeder beliebigen Diskussionsrunde faktenreich darstellen, weshalb Bremen mindestens genauso gut regiert wird wie Bayern und aus der Ungunst der Umstände das Beste gemacht hat. Die Bremer loben ihre hohe Abiturientenquote, und die Bayern loben den Umstand, dass ihre Schüler wesentlich mehr lernen – selbst wenn sie kein Abitur machen. Das Beispiel zeigt bereits, dass ganz wesentlich subjektive Ziele und Maßstäbe darüber bestimmen, was man für gutes Regieren hält und was nicht: Wer die Gleichheit formaler Bildungsabschlüsse in den Mittelpunkt stellt und in der Tiefe seines Herzens das Abitur für alle möchte, wird eine andere Bildungspolitik betreiben als jener, der das individuelle Leistungsvermögen herausfordern und möglichst gut entwickeln will. Andere Menschenbilder bedingen eben auch andere Politikentwürfe.

Wer als deutscher Politiker der Meinung ist, dass alle Menschen auf der Welt, sobald sie die deutsche Grenze passiert haben, vor dem Grundgesetz die gleichen Rechte und an den Sozialstaat die gleichen Ansprüche haben sollten, wird eine andere Flüchtlings- und Einwanderungspolitik betreiben als jener, der die Interessen der deutschen Bevölkerung in den Mittelpunkt stellt.

Stellen wir uns vor, die UNO versammelte in einem Konklave einen neokonservativen Republikaner aus dem amerikanischen Mittelwesten, einen Muslimbruder aus Ägypten, einen grünen Fundi aus Kreuzberg und einen Wirtschaftsexperten aus der chinesischen KP mit dem Auftrag, gemeinsame Ziele und Maßstäbe guten Regierens zu entwickeln. Unterstellen wir ferner, alle vier seien intelligent, gebildet und guten Willens. Dennoch werden sie nach ihrem Konklave mit großer Wahrscheinlichkeit nicht mehr vorzuweisen haben als den gemeinsamen Willen, Kriege zu vermeiden und den Hunger in der Welt zu bekämpfen. Wer Maßstäbe guten Regierens entwickeln will, kommt um Wertmaßstäbe nicht herum. Solange man die Existenz einer letzten und höchsten göttlichen Instanz ausschließt – denn das ist bereits eine Wertung –, sind Werte grundsätzlich beliebig und stehen in keinem Rangverhältnis zueinander. Allerdings unterliegen sie den universalen Gesetzen der Logik – ebenfalls eine Wertung – und sollten möglichst widerspruchsfrei gestaltet werden, damit sie sich nicht gegenseitig aufheben und das auf ihnen gegründete politische Handeln ad absurdum führen.

Der Kern von Politik ist erstens das Erringen, der Ausbau und die Verteidigung von Macht und zweitens ihr Einsatz für die Ziele, die angestrebt werden. Macht ist nach Max Weber die Fähigkeit, einem anderen seinen Willen aufzuzwingen. Sie ist Voraussetzung und Instrument politischer Gestaltung. Ohne Macht kann man weder gut noch schlecht regieren.

Wer die politische Macht hat, kann Gesetze und die unterschiedlichsten Statuten und Regularien des Staates und der Gesellschaft ändern, selbst wenn die Möglichkeiten dazu vielfach formalisiert und begrenzt sind. Das gilt für die überkommene Stammesgesellschaft ebenso wie für die moderne parlamentarische Demokratie. Nur unter autokratischen und diktatorischen Regierungsformen lassen sich solche Begrenzungen teilweise – und nur sehr selten und dann auch nur für kurze Zeit ganz – aufheben.

Politisches Denken und Handeln ist von Motiven, Zielen und Wünschen geleitet. Diese können auf die Gestaltung der Gesellschaft oder auf die eigene Rolle in ihr gerichtet sein. Der politisch Handelnde kann Utopist, Idealist, Realist, machthungriger Psychopath oder schlicht ein Ausbeuter oder Umverteiler von Ressourcen sein, auf die er durch politische Macht Zugriff erhält. Ein Wahrheitssucher ist er eher nicht, denn mit der Wahrheit hat der politische Akteur im Regelfall abgeschlossen.

Wer nach Erkenntnis, nach künstlerischer oder wissenschaftlicher Selbstverwirklichung strebt, geht eher nicht in die Politik, und wer nur schlicht seinen Lebensunterhalt sichern, seinen Wohlstand mehren und seine Familie ernähren will, wird sich ebenfalls nicht der Politik verschreiben. Zu allen Zeiten und in allen gesellschaftlichen Systemen war die Politik das Geschäft einer kleinen Minderheit.

Wer in die Politik strebt, muss Macht wollen, und er muss seine Ziele zäh und beharrlich verfolgen können. Denn aus den Wechselwirkungen von politischen Motivationen, dem Charakter von Politik und den inneren Gesetzen des politischen Handelns erwachsen immer wieder typische Fehler und Irrtümer, die dem politischen Prozess quasi immanent sind. Diese typischen politischen Fehler passieren auch in Staaten und Gesellschaften, die im Weltmaßstab vorbildlich sind. Wir werden generell weit unter unseren Möglichkeiten regiert, auch das Deutschland der Gegenwart.

Wenn man die Natur solcher Fehler erkennt und Wege findet, ihre Entstehung wie ihre Auswirkungen einzuschränken, dann steigen die Chancen für gutes Regieren. Die großen Fortschritte der Menschheit in Kultur und Zivilisation sind nicht zuletzt erzielt worden, weil der Raum des Politischen eingehegt und mit Regularien versehen wurde. Auch dies war ein durch und durch politischer Prozess, denn er beruhte auf politischen Entscheidungen. Letztlich ist alles Handeln politisch, auch die Einhegung von Politik und ihre Unterordnung unter höherrangige Ziele, die immer wieder neu verhandelt werden müssen. Der preußische König Friedrich II. erkannte dies, wovon Generationen von Schulkindern durch die Geschichte des Müllers von Sanssouci erfuhren. Der arme Mann hatte sich vom König nicht einschüchtern lassen und entschlossen gezeigt, das Berliner Kammergericht anzurufen. Friedrich hatte daraufhin eingelenkt, was er als absoluter Herrscher nicht hätte tun müssen.2

Viele Zeitgenossen beklagen die Unsinnigkeit oder Schädlichkeit bestimmter politischer Entscheidungen auf Gebieten, von denen sie etwas verstehen, und wundern sich, dass die Politik auf sachliche Argumente einfach nicht hören will. Man denke nur an die argumentativen Breitseiten, die renommierte Ökonomen in großer Eintracht Ende 2013 und Anfang 2014 gegen die neuen gesetzlichen Regelungen zum Mindestlohn abfeuerten. Zu ihrem fassungslosen Erstaunen erreichten sie damit die Politik großenteils gar nicht, denn hier wirkten gleich mehrere Mechanismen politischer Verzerrung oder Fehlsteuerung in die entgegengesetzte Richtung. In diesem Buch analysiere ich die Ursachen und den Charakter politischer Verzerrungen und Fehlsteuerungen und beschreibe Vorkehrungen und Regeln, die dem entgegenwirken.

Die Historikerin Barbara Tuchman klagte vor drei Jahrzehnten: »Warum agieren die Inhaber hoher Ämter so oft in einer Weise, die der Vernunft und dem aufgeklärten Eigeninteresse zuwiderläuft? Warum bleiben Einsicht und Verstand so häufig wirkungslos?«3 Sie sprach von »Torheit«, und damit hatte sie recht. Sie analysierte solche Torheit anhand schlagender historischer Beispiele vornehmlich aus dem Bereich der Außenpolitik. Und doch taugt der Begriff Torheit nur zur Beschreibung, nicht zur Erklärung. Denn es ist die Dynamik widersprüchlicher Elemente und Motive, die politisches Handeln objektiv töricht werden lässt, weniger die Dummheit und Borniertheit des einzelnen Politikers. Das Problem liegt eben nicht auf der Ebene des Verstandes – dann könnte man der politischen Torheit leicht vorbeugen, indem man einen Mindest-IQ für Politiker vorgibt –, sondern auf der Ebene der Gefühle.

Keinesfalls unterschätzen darf man das Potenzial der Politik zur Desinformation in komplexen Sachfragen – vor allem dann nicht, wenn diese im Bündnis mit einem großen Teil der Medien verbreitet wird. Ein Beispiel: Selbst gebildete und verständige Zeitgenossen scheuen die inhaltliche Befassung mit Währungs- und Haushaltsfragen. Meistens glauben sie das, was dazu in den Medien steht, oder überschlagen die entsprechenden Artikel gleich ganz. So haben Politik und Medien freie Bahn. Beide interessieren sich in ihrer Mehrheit aber gar nicht für die Währungsfrage als solche, sondern ausschließlich für den europäischen Gedanken: Der Euro soll das Zusammenwachsen Europas fördern, und darum muss man an ihm um jeden Preis festhalten.

Man hat in den Neunzigerjahren sehr wohl noch versucht, den durchaus bekannten Risiken entgegenzuwirken, aber dazu hätte die somnambule politische Klasse zumindest die Absicht erkennen lassen müssen, sich an die von ihr selbst formulierten vertraglich fixierten Vorgaben zu halten. Doch es zeigte sich wieder einmal: In zentralen Fragen ist diese politische Klasse nicht willens, die logischen Implikationen symbolischer politischer Akte vorauszuberechnen und die absehbare Entwicklung auf ihre Handlungen rückwirken zu lassen.

Ergeben sich solche Mängel quasi zwangsläufig aus dem Wesen von Politik? Und welches könnten die Heilmittel beziehungsweise Präventionsmaßnahmen sein? Gut organisierter Wettbewerb nach klaren Regeln, mehr Transparenz, mehr Dezentralität und mehr Delegation?

Natürlich ist es nicht seriös, die aufgeführten Mängel einfach der Politik anzuhängen. Die handelnden und Macht ausübenden Politiker sind stets auch ein Spiegel der Gesellschaft, aus der sie stammen: In einem gesellschaftlichen System des Klientelismus zum Beispiel, in dem Beziehungen, Gefälligkeiten und Korruption dominieren, wird ein Politiker, der sich dieser Instrumente nicht bedient und sie nicht quasi verinnerlicht hat, gar nicht erst an die Macht gelangen. Das ist das vielfach unterschätzte Problem der Governance in einem Staat wie Griechenland. In einer Stammesgesellschaft, wie sie in großen Teilen Afrikas und in vielen arabischen Staaten dominiert, spielt das Leistungsprinzip bei der Elitenauswahl nur eine geringe Rolle, und für die politischen Führer ist es selbstverständlich, dass sie vor allem die eigene Familie und den eigenen Stamm bedenken. Der unentschlossene Zauderer und Reformfeind François Hollande war 2012 auch deshalb französischer Präsident geworden, weil die Franzosen damals mehrheitlich keinen tatkräftigen Reformer als Präsidenten wollten. Die Wiederwahl seines Nachfolgers Emmanuel Macron wiederum ist 2022 bedroht, weil auch er notwendige Reformen nicht zustande brachte und die Franzosen sich außerdem vor ebendiesen Reformen fürchten. Die Persönlichkeiten und Ziele handelnder Politiker spiegeln die Widersprüchlichkeit ihrer Wählerschaft. Nur wenige starke Geister können sich den darin liegenden Zwängen entziehen. In einem komplexen Wechselspiel erschaffen sich Gesellschaften und politische Systeme »ihre« Politiker, und diese wiederum verändern die Gesellschaften und die politischen Systeme.

Allgemeine Mängel des menschlichen Denkens und Entscheidens haben nirgendwo eine so große praktische Relevanz wie im politischen Raum. Im privaten Bereich oder in Wirtschaftsunternehmen wird man nämlich mit den Folgen seiner Irrtümer nicht immer unmittelbar, aber doch relativ schnell konfrontiert. Nur in der Liebe, in der Religion und in der Politik ist es möglich, über längere Zeit Wunschträumen nachzuhängen. Willenskraft und Redetalent können in politischen Spitzenämtern und erst recht in politischen Diskussionen über weite Strecken tragen. In der Wirtschaft endet solch ein Unterfangen dagegen oft schon im übernächsten Bilanzjahr.

Jede Vorstellung von guter Politik beruht implizit oder explizit auf einem normativen Bild vom Menschen, seinem Glück und seiner Bestimmung, und dieses Bild vom Menschen ist in ein bestimmtes Bild von der menschlichen Gesellschaft eingebettet. Ein empirisch gehaltvolles und einigermaßen korrektes Bild von Mensch und Gesellschaft entsteht aber nicht durch einen normativen Willensakt, auch nicht durch religiöse Offenbarung oder philosophisches Grübeln, sondern vor allem durch unser vermeintliches oder tatsächliches Wissen über die menschliche Natur und die menschliche Geschichte. Dieses Wissen mag tiefer oder oberflächlicher, vollständiger oder unvollständiger, aktuell oder veraltet sein. Es wird immer unterschiedliche Perspektiven eröffnen und damit auch unterschiedliche Urteile begründen können. Damit ergeben sich zwingend auch unterschiedliche Maßstäbe, was dem Menschen frommt und was eigentlich die Kriterien guter Politik sind. Jeder grundsätzliche Streit über diese Maßstäbe ist seiner Natur nach uferlos, gleichzeitig aber sachlich geboten und sowieso unvermeidlich, wenn die Welt nicht in Stillstand verfallen soll. Früher oder später wird man feststellen, dass man dabei ohne Werturteile, die man einfach setzt, nicht auskommt. Jede Fragestellung, jedes Sachinteresse ergibt sich aus menschlichen Antrieben und wird damit zwangsläufig von Werturteilen gesteuert.

Diese kommen letztlich aus dem vorrationalen Raum emotionaler Antriebe und sind damit niemals im strengen Sinn beweisbar. Zudem haben unsere Handlungen oder die Handlungen des Staates neben der gewünschten Wirkung immer zahlreiche Nebenwirkungen. Diese müssten umfassend abgewogen werden, was aber selten möglich ist und kaum jemals ausreichend geschieht. Mit der Ethik wird es häufig umso schwieriger, je näher die konkrete Entscheidung rückt. Angela Merkel antwortete am 14. September 2015 auf die Kritik an ihrer Entscheidung, die deutschen Grenzen für die Flüchtlinge über die Balkanroute zu öffnen: »Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.«4 Die größte politische Torheit, die ein deutscher Regierungschef seit dem Zweiten Weltkrieg beging, wurde moralisch begründet, während ihre Nebenwirkungen verdrängt oder missachtet wurden.

Gutes Regieren braucht Werturteile. Soll Politik aber erfolgreich sein, reichen moralische Maßstäbe nicht aus.

1

Weshalb einige Gesellschaften Erfolg haben und andere nicht

Unsere Motivationen und Antriebe, unsere Hoffnungen und Ängste wohnen in uns und sind integraler Teil unserer Persönlichkeit. Vieles davon teilen wir mit den Menschen um uns herum. Aus diesem Umfeld und aus dem Zustand der Gesellschaft, wie wir ihn wahrnehmen, entwickeln wir unsere Forderungen an die Politik. Niemand muss sich dazu erst historische Kenntnisse aneignen, denn wir alle tragen ein umfangreiches Wissen in uns, das unsere Sicht auf die Welt prägt, und zwar unterschiedlich nach

der regionalen und staatlichen Herkunft, der Generation, dem Bildungsstand und der Schichtzugehörigkeit, den Zufälligkeiten des Elternhauses, Freundeskreises, der Lektüre und der Reiseerfahrung.

Dieses Wissen ist oft unbewusst. Es kann falsch oder unausgegoren sein und hat dann einen gleitenden Übergang zum Vorurteil. Aber wirkmächtig ist es in jedem Fall und trägt viel zu dem bei, was man Volkscharakter nennt. So wird jenes deutsche Lebensgefühl, das die Angelsachsen gerne »German Angst« nennen, offenbar mitgeprägt von den traumatischen kollektiven Erfahrungen der Deutschen im Dreißigjährigen Krieg (1618–1648), als das Land kreuz und quer von großenteils ausländischen Heeren durchpflügt wurde und in einer Generation 40 Prozent seiner Menschen verlor. Ähnliches erlebten sie rund anderthalb Jahrhunderte später in abgemilderter Form während der napoleonischen Kriege.1

Philosophen und Staatstheoretiker haben für Theorien und Erklärungen immer wieder die Geschichte bemüht, und die Politiker haben für ihre Zwecke gerne auf propagandataugliche historische Mythen zurückgegriffen oder diese geschaffen. Kaum ein Volk, kaum eine Religion und kaum eine Kultur kommen ohne historische Mythen aus:

Der römische Staatsdichter Vergil leitete in seiner Äneis die Gründung Roms aus dem Untergang Trojas ab und verlieh somit dem Römischen Reich eine Legitimation, die ebenso alt war wie Homers Ilias.Das Alte Testament beschreibt nicht nur die Entstehung der Welt, sondern erzählt auch die Geschichte von Gottes auserwähltem – jüdischem – Volk.Noch heute nehmen die Kreationisten in den USA – immerhin ein Drittel der amerikanischen Bevölkerung – wörtlich, was in der Bibel steht, etwa dass die Welt von Gott in sieben Tagen erschaffen wurde und 6000, höchstens 10000 Jahre alt ist, dass mithin die Erkenntnisse der Physik und der Evolutionsbiologie über die Welt und die Entwicklung des Lebens falsch sind.Historische Mythen entstehen immer wieder neu: Der türkische Präsident Tayyip Erdoğan erheiterte die westlichen Medien im Sommer 2014 mit der Behauptung, muslimische Seefahrer hätten Amerika bereits vor Kolumbus entdeckt. Das ist Ausdruck des Bemühens, Behauptungen über eine religionsimmanente Rückständigkeit der islamischen Kultur durch eine Erzählung abzulösen, die die Überlegenheit dieser Kultur begründen soll.Die Nazis erfanden den Mythos von der Überlegenheit der germanischen Rasse, und der Marxismus erfand den Mythos von der gesetzmäßigen Stufenentwicklung der menschlichen Geschichte, die zwangsläufig zur Überwindung des Kapitalismus und zur klassenlosen Gesellschaft führt.In den USA, in Russland und bei den meisten europäischen Völkern (besonders anschaulich bei den Briten, den Franzosen, den Spaniern, den Serben) gibt es eine historische Erzählung, die »beweist«, dass und weshalb das jeweilige Volk wahlweise das vortrefflichste, von der größten Tragik heimgesuchte oder vom schlimmsten Leid geprüfte ist.

Die Existenz falscher oder zumindest höchst merkwürdiger historischer Mythen ist kein Argument gegen die Nützlichkeit historischen Wissens für politische Zwecke, auch wenn jede historische und politische Konstellation anders ist und nur weniges, was wir historisch wissen, in eine andere Zeit, ein anderes Umfeld linear übertragen werden kann.

Dass jede Situation neu und anders ist, gilt als Binsenweisheit: Zu allen Zeiten wusste der fähige Heerführer, dass die Logik einer jeden kriegerischen Auseinandersetzung eine andere ist, und verließ sich darum nicht auf platte Analogien zu vorangegangenen Feldzügen. Gleichermaßen ist jede Wirtschaftskrise anders als die vorhergehende. Die politische Antwort darauf kann also nicht mechanisch sein. Sie ist aber, wenn sie adäquat ist, durch intelligente Anwendung früherer Erkenntnisse geprägt. Bis ins 18. Jahrhundert hinein war das historische Wissen im Allgemeinen eher rudimentär. Wo es nicht ausreichte, wurde es durch Glauben beziehungsweise durch theologischen Rat aufgefüllt. Dem kam im Zweifelsfall ohnehin höhere Autorität zu als der schieren Beobachtung der Wirklichkeit. Daneben gewann ganz allmählich der Fortschritt in der naturwissenschaftlichen Erkenntnis und im technischen Können wachsende Bedeutung für die Politik. Es waren nämlich Kompass und Sextant, die den Seefahrern der Neuzeit zur Herrschaft über die Meere und zur Erschließung neuen Reichtums verhalfen und keineswegs die Gebete der Geistlichen. Das merkten auch die besonders Frommen unter den Fürsten.

Zur Entwicklung des Menschen

In den letzten 200 Jahren hat die Menschheit ein ungeheures Wissen über den Ursprung der Welt, die Entstehung des Lebens, die Entwicklung des Menschen und die menschliche Geschichte angehäuft. 1859 veröffentlichte Charles Darwin Die Entstehung der Arten und 1871 Die Abstammung des Menschen. Wir wissen seitdem, dass der Mensch in seiner Entstehung und Entwicklung grundsätzlich kein von der Natur abgesonderter Teil, sondern deren integraler Bestandteil ist, und dass er im komplexen Prozess der Evolution wie alles Leben auf der Welt durch natürliche Auslese geformt wurde und weiter geformt wird. Diese Erkenntnisse wurden durch die empirische Psychologie, die Evolutionsbiologie und die genetische Forschung zu einem immer detaillierteren Bild von der menschlichen Natur und von der Evolution des Menschen zusammengefügt.

Wir wissen heute, dass nicht nur die menschliche Intelligenz, sondern auch alle anderen psychischen Eigenschaften überwiegend erblich sind2 und fortlaufend durch die natürliche Selektion weiter geformt werden.3 Durch die Fortschritte in der DNA-Forschung gelingt es auch immer besser, die Anlage zu unterschiedlichen Eigenschaften und Persönlichkeitsmerkmalen konkret im Erbgut nachzuweisen.4 Selbst der klassische Gegensatz von Leib und Seele kann heute als aufgelöst gelten. Das, was wir als menschliches Bewusstsein empfinden, ist quasi der Spiegel des Körpers im Hirn und existiert in ähnlicher Form auch bei anderen höheren Lebewesen.5 Auch sittliches Empfinden kann dem Grad der Funktionsfähigkeit bestimmter Hirnareale zugeordnet werden.6

In die Politik scheinen diese Erkenntnisse bis heute nicht vorgedrungen zu sein. Nachdem man die Ideologie des Sozialdarwinismus verworfen und eugenische Überlegungen aus dem Raum der Politik und der Politikberatung gänzlich verbannt hatte, schien Anfang der Siebzigerjahre bei dem Thema der natürlichen Evolution allgemein der Konsens zu herrschen, dass die Darwin’sche Entwicklungslehre zwar grundsätzlich gültig sei, für den Menschen aber keine praktische Relevanz habe, denn erstens sei die natürliche Evolution des Menschen lange vor dessen Auszug aus Afrika, also vor mindestens 100000 Jahren, zum Stillstand gekommen, und zweitens seien die menschlichen Eigenschaften und Fähigkeiten im Wesentlichen sozial vermittelt, also weitgehend formbar durch Politik und Gesellschaft.

1975 veröffentlichte der renommierte Biologe und Ameisenforscher Edward O. Wilson sein Buch Sociobiology. Darin strukturierte er »die Kenntnisse im Sozialverhalten zu der neuen auf der Populationsbiologie aufbauenden Disziplin [...], aus der später die Evolutionspsychologie hervorgehen sollte«.7Mit seinen Erkenntnissen löste der Autor einen Skandal aus. Der gerne von Geisteswissenschaftlern und Journalisten erhobene Vorwurf des »Biologismus« hat seinen Ursprung in dieser Debatte. Wilson und anderen Soziobiologen wurde vorgeworfen, Rassismus, Sexismus, Ungleichheit, Sklaverei und Völkermord zu verteidigen. Ihre Vorlesungen wurden gestört, Universitäten sagten Auftritte ab, weil sie Tumulte befürchteten.8 Seitdem hat die Evolutionspsychologie die damaligen Erkenntnisse erheblich vertieft und weiterentwickelt. Sie sind heute bei aller Diskussion im Detail grundsätzlich unstreitig. 2012 fasste Wilson den Erkenntnisstand wie folgt zusammen:

»Alle Einheiten und Prozesse des Lebens folgen den Gesetzen der Physik und Chemie; und alle Einheiten und Prozesse des Lebens sind in der Evolution durch natürliche Selektion entstanden.« Auch die komplexesten Formen des menschlichen Verhaltens sind letztlich biologisch begründet und stellen »Spezialisierungen dar, die unsere Primaten-Vorfahren über Millionen von Jahren ausgebildet haben«. Entsprechend schränken auch »die Sinneskanäle des Menschen unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit« ein, sofern wir diese Grenze nicht durch Hilfsmittel überwinden. Der »unzerstörbare Stempel der Evolution« wird dadurch bestätigt, »wie Programme zur genetischen Bereitschaft und Gegenbereitschaft die geistige Entwicklung bestimmen«.9

Als unabhängige Wesen sind wir genauso frei wie der Löwe in der Savanne. Aber wegen unserer ungleich größeren Hirnkapazität ist die Bandbreite und umweltbezogene Formbarkeit unseres Verhaltens wesentlich größer. Die von vielen Philosophen immer noch behauptete Freiheit des menschlichen Willens ist jedoch nichts, was den Menschen vor anderen Lebewesen auszeichnet, vielmehr vermittelt »das unbewusste Entscheidungszentrum des Gehirns«, so Wilson, »dem Zerebralkortex die Illusion unabhängigen Handelns«. Der freie Wille ist letztlich biologisch begründet, denn »unsere Entscheidungen sind nicht von sämtlichen organischen Prozessen zu entkoppeln, die unser persönliches Gehirn und unsere Kognition entstehen ließen«.10

Das Schwanken des Menschen zwischen Altruismus und Egoismus, das »jeden von uns halb zum Heiligen, halb zum Sünder« macht, erklärt Wilson aus der »natürlichen Multilevel-Selektion«: Auf einer höheren Ebene »konkurrieren Gruppen mit Gruppen und fördern kooperative soziale Merkmale bei den Mitgliedern derselben Gruppe. Auf der unteren Ebene konkurrieren Mitglieder derselben Gruppe so miteinander, dass eigennütziges Verhalten gefördert wird.«11

Auf die »Gruppenselektion als Hauptantriebskraft der Evolution« ist zurückzuführen, dass »der Mensch sich zur Zugehörigkeit zu einer Gruppe genötigt fühlt und die eigene Gruppe als konkurrierenden Gruppen überlegen erachtet«.12 Andererseits löst das Spannungsverhältnis zwischen Gruppen- und Individualselektion bei jedem einzelnen Menschen widersprüchliche Impulse aus. Wilson hält „die Konflikte, die sich aus der Multilevel-Selektion ergeben“, für den „Urquell der Geistes- und Sozialwissenschaften. Der Mensch ist fasziniert von anderen Menschen, so wie alle anderen Primaten von ihren eigenen Artgenossen fasziniert sind. Es bereitet uns nie endendes Vergnügen, unsere Verwandten, Freunde und Feinde zu mustern und zu analysieren [...] Wir sind Genies darin, die Absichten der anderen zu lesen, die ja selbst auch in jedem Moment mit ihren eigenen Engeln und Dämonen kämpfen. Um den Schaden zu begrenzen, den wir mit unseren unvermeidlichen Fehltritten anrichten, haben wir unsere bürgerlichen Gesetzbücher.«13

Die Evolutionsforscher müssen weit in die Vergangenheit zurückgehen. Aber die Ergiebigkeit archäologischer Stätten sinkt dramatisch mit wachsendem Alter. Aus der Zeit vor 15000 Jahren und früher, dem Datum der frühesten menschlichen Siedlungen, gibt es außer einigen Knochenfunden fast nichts. Doch gerade hier haben die in den letzten Jahrzehnten erzielten Fortschritte bei der Erforschung des menschlichen Genoms der Erforschung der menschlichen Geschichte, insbesondere der Vor- und Frühgeschichte, eine neue Dimension hinzugefügt. Aus der menschlichen DNA lassen sich weitgehende Schlüsse über die regionale Herkunft und ethnische Zusammensetzung der Vorfahren eines Menschen ziehen. Heute lässt sich anhand der DNA-Analyse von archäologischen Funden menschlicher Überreste und von heute lebenden Menschen immer präziser nachvollziehen, woher ihre Vorfahren kommen und wie sich die unterschiedlichen Grade der genetischen Verwandtschaft über die Welt verteilen. Die daraus entstehende »Genetic History« des Menschen wird zunehmend wichtiger nicht nur für die Früh- und Vorgeschichte, sondern auch für die letzten 2000 bis 3000 Jahre. Selbst für das Mittelalter liegen bereits zahlreiche genetische Studien vor.14

Vor ca. 60000 Jahren machte sich eine sehr kleine Gruppe von etwa 150 Menschen des Typs Homo sapiens, also des modernen Menschen, von Ostafrika über eine damals bestehende Landbrücke (oder Inselkette) zur Arabischen Halbinsel auf. Aus dieser »Urzelle« breitete sich in den folgenden Jahrtausenden die menschliche Besiedlung über die Welt aus. Dies geschah nicht in groß angelegten Wanderungen – die Menschen lebten und starben zumeist da, wo sie geboren wurden –, sondern indem kleine Gruppen einige Kilometer weiterzogen und sich dort niederließen. Da diese Menschen sich lediglich auf lokaler Ebene vermischten, kann die DNA jener, die weiterzogen, unterschieden werden von derjenigen derer, die blieben.15 Die kleine Gruppe, die Afrika verließ, umfasste nur einen Bruchteil des damaligen menschlichen Erbguts. So kommt es, dass heute die genetische Variation der Menschen in Afrika selber viel größer ist als im gesamten Rest der Welt.16

Die weitverbreitete Ansicht, die menschliche Evolution sei bereits vor dem Auszug aus Afrika zum Stillstand gekommen oder sie vollziehe sich so langsam, dass sie in historischen Dimensionen ohne praktische Relevanz sei, oder sie beziehe sich nur auf Oberflächliches wie die Farbe von Augen, Haut und Haar, ist mit dem aktuellen Erkenntnisstand der Genforschung also nicht vereinbar.17 Vielmehr führten und führen die Bedingungen von Umwelt und Kultur kontinuierlich zur genetischen Anpassung auch innerhalb relativ kurzer Zeiträume.18 Je nach den Unterschieden im physischen, geografischen, zivilisatorischen und kulturellen Umfeld waren und sind davon die Rassen, Ethnien und sozialen Gruppen unterschiedlich betroffen, sodass sich auch unterschiedliche genetische Antworten entwickeln, die sich wiederum auf die kulturelle und zivilisatorische Entwicklung auswirken.19 Nicholas Wade schließt daraus, dass »Evolution und Geschichte keine voneinander getrennten Prozesse« sind, »wobei der eine auf den anderen folgt wie der Wechsel zwischen königlichen Dynastien. Eher ist es so, dass Evolution und Geschichte einander überlappen, wobei die historische Periode einen immer noch anhaltenden Prozess des evolutionären Wandels überlagert.«20 Über die ganze Welt sind »die Menschen als Individuen sehr ähnlich, aber Gesellschaften unterscheiden sich stark wegen evolutionsbedingter Unterschiede im sozialen Verhalten«.21 Bezogen auf die Gegenwart ist es keineswegs belanglos, wie sich politische Entscheidungen auf die weitere menschliche Evolution auswirken.

Zur Entwicklung der Zivilisation

Die Entwicklung des Menschen bis zu seiner heutigen Gestalt mit allen ihren Differenzierungen – also zu seinem »So-Sein« in all seiner Vielfalt – fand, wie die gesamte Entwicklung der Natur und des Lebens, ohne einen Schöpfer oder Spiritus Rector im ursprünglichen Wortsinn wildwüchsig statt. Ordnung kam in diesen Wildwuchs durch die natürliche Selektion: Nur was funktionstüchtig oder wandlungsfähig ist oder in einer ökologischen Nische vorübergehend keinem Selektionsdruck unterliegt, überlebt.

Genauso wildwüchsig verliefen von Anfang an die allmähliche Ausdifferenzierung und die weitere Entwicklung von Kultur und Zivilisation von der Urgeschichte bis zur Gegenwart. Einige Meilensteine in dieser Entwicklung zähle ich im Folgenden auf:

die Entstehung und Entwicklung von Sprache,22die Nutzung des Feuers, die Entstehung und Verbreitung einfacher Werkzeuge und Waffen sowie deren allmähliche Weiterentwicklung,die Entstehung von Weltbildern in Form von Religionen,Pflanzenzucht, Ackerbau und der Beginn der Sesshaftigkeit,der Übergang von den Kleingruppen der Jäger und Sammler zu größeren Einheiten wie Stämmen und später Staaten,die Gewinnung und Verarbeitung von Metallen, zunächst Bronze, später Eisen,die Erfindung von Schrift und die Entstehung erster Hochkulturen,die Ausbildung wissenschaftlichen Denkens und die Entstehung der Naturwissenschaften,die systematische Erforschung und Entdeckung der Welt,die technischen Erfindungen und die bis heute anhaltende wissenschaftlich-technische Revolution,die durch die Fortschritte bei Ernährung und Medizin ausgelöste Explosion der Weltbevölkerung unddie Veränderung von Flora, Fauna und Klima durch die Ausbreitung des Menschen über die Erde und seine Vermehrung.

An allen diesen Entwicklungen waren menschlicher Geist und menschliches Handeln millionenfach als ursprüngliche Verursacher beteiligt. Und doch folgte die Entwicklung nie einem Plan. Sie war vielmehr genauso wildwüchsig wie die gesamte Evolution von Mensch und Natur. Menschliches Handeln beeinflusste, da es die Umweltbedingungen änderte, gleichzeitig auch seine weitere Evolution: Wir sehen dies am immer graziler werdenden Körperbau, am kleiner werdenden Gebiss, an der Verschlechterung der Zähne, an der Veränderung sensorischer Fähigkeiten, an der Anpassung des Immunsystems und an der Veränderung von Krankheitsbildern.

Die Entwicklung von Kultur und Zivilisation hat mit Politik, Regierungsformen, guter und schlechter Regierungspraxis (wie immer man die Maßstäbe setzt) nur mittelbar zu tun. Ihre eigentlichen Antriebe können so nicht erklärt werden: Als ein Urmensch vor ca. 1,5 Millionen Jahren erstmals einen Stein zu einem Faustkeil behaute, gab es sicherlich kein Komitee von Dorfältesten, die das Design vorgaben, begutachteten, verwarfen und so quasi eine steinzeitliche Technologiepolitik betrieben. Es gab allerdings ein geistiges Klima, in dem einzelne Menschen über die Verbesserung von Werkzeugen und Waffen nachdachten. Als Albert Einstein, technischer Angestellter dritter Klasse beim Schweizer Patentamt in Bern, vor 110 Jahren über den Grundlagen der Relativitätstheorie brütete, geschah das nicht, weil ein Politiker die Kernspaltung und damit die Atombombe geplant hätte. Allerdings trieb ihn das geistige Klima seiner Zeit zu seiner Forschung an, und der Besuch des Gymnasiums in München sowie des Polytechnikums in Zürich befähigten ihn dazu.

Der Raum für Politik entsteht überall dort, wo sich Menschen zur Verfolgung gemeinsamer Ziele zusammenfinden oder aus bestimmten Zwecken einem kollektiven Zwang unterworfen werden. Da die Entwicklung von Kultur und Zivilisation nie möglich gewesen wäre ohne Zusammenschlüsse, die zu einer sozialen Ordnung führten, wäre sie auch ohne Politik nie möglich gewesen.

Genauso notwendig war eine ausreichende Ernährungsbasis. Dennoch lassen sich Kultur und Zivilisation kausal weder auf politische Strukturen noch auf Ernährung zurückführen. Beide waren lediglich notwendige Bedingungen – unter einer Vielzahl von anderen – dafür, dass eine Entwicklung überhaupt stattfinden konnte – oder eben nicht. Der Verlauf dieser Entwicklung war zu jeder Zeit gänzlich offen.

Ob und in welchem Grad Maßstäbe guten Regierens überhaupt in die Wirklichkeit umgesetzt werden können, hängt in erster Linie vom Entwicklungsstand einer Gesellschaft ab. Darum ist es zweckmäßig, sich damit zu befassen, welche Faktoren einen hohen Entwicklungsstand fördern und welche ihn behindern oder verhindern. Die meisten Erfolgsmaßstäbe sind dabei hoch miteinander korreliert: So haben Gesellschaften, in denen es wenig Gewalt gibt, gemessen am kaufkraftbereinigten Bruttosozialprodukt pro Kopf, in der Regel einen hohen Grad bürgerlicher Freiheiten, eine gute Volksgesundheit, einen guten Bildungsstand und einen hohen Lebensstandard.

Dabei spielen Erfahrungen aus der jeweiligen Geschichte für die Entwicklung der Gesellschaften eine besondere Rolle. Besonders interessant ist, welche Faktoren im 18. Jahrhundert die industrielle Revolution ausgelöst haben und noch immer zur naturwissenschaftlichen Erkenntnis und zum technischen Fortschritt beitragen, durch die sich die Lebensbedingungen der Menschen so nachhaltig verändert und ihre Ernährungsbasis dermaßen vergrößert haben, dass heute siebenmal so viele Menschen auf der Welt leben können wie noch vor 200 Jahren.

Der Wirtschaftshistoriker David S. Landes untersucht in seinem profunden Werk Wohlstand und Armut der Nationen, wie die industrielle Revolution entstand und sich über die Welt verbreitete. Er zeigt, dass sich der Ursprung der industriellen Revolution im England des 18. Jahrhunderts sowie ihre schnelle Übernahme und Fortführung in den USA und weiten Teilen Europas durch eine Mischung von kulturellen und institutionellen Faktoren schlüssig erklären lässt. Der Rest der Welt nahm die Einflüsse des Westens mit unterschiedlicher Geschwindigkeit und unterschiedlicher Intensität auf und tat sich mit einer entsprechenden Modernisierung der Staaten, Gesellschaften und Volkswirtschaften teilweise leicht, teilweise bis heute schwer. Auch diese Unterschiede können jeweils aus kulturellen, institutionellen und politischen Traditionen erklärt werden. Dabei zeigt sich, dass sich jene Gesellschaften eher entwickeln, die bereits Hochkulturen waren, eine ausgebildete Staatlichkeit hatten und/oder in einer Tradition von Arbeitsethik und hoher Bildungsneigung standen.23

Historisch gesehen schuf die wissenschaftlich-technische Entwicklung Europas seit dem ausgehenden Mittelalter die Voraussetzungen für die industrielle Revolution. Diese begann Anfang des 18. Jahrhunderts in England, verbreitete sich bis Mitte des 19. Jahrhunderts im nördlichen und westlichen Europa und in Nordamerika, abgeschwächt und zeitlich verzögert auch im östlichen und südlichen Europa. Ende des 19. Jahrhunderts sprang sie auf Japan über und erfasste schließlich – zumindest mit ihren technischen Erkenntnissen und ihren Produkten – die ganze Welt. Durch die Verbreiterung der Ernährungsbasis und die Verbesserung der Volksgesundheit führte sie zu einem explosiven Anstieg der Weltbevölkerung. Dieser hält in Afrika und Teilen von Asien nach wie vor an.

Es gibt eine reiche historische, ideengeschichtliche, soziologische und ökonomische Forschung darüber, weshalb sich die wissenschaftlich-technische Revolution und in ihrer Folge die industrielle Revolution gerade in Europa, genauer im Norden und Westen Europas und in Nordamerika – also im westlichen Abendland – vollzog. Diese ist nicht nur aus historischer Sicht spannend und aufschlussreich, sondern enthält auch Hinweise auf die kulturellen Bedingungen nachhaltiger Entwicklung: David Landes verdichtet seine Erklärung zu drei wesentlichen Faktoren:

die wachsende Autonomie und innere Unabhängigkeit des forschenden Geistes,die Herausbildung einer auf Messung und Empirie beruhenden wissenschaftlichen Methode unddie »Erfindung der Erfindung« durch die systematische Verbreitung und Vermehrung des Wissens in einem kulturell in dieser Hinsicht recht homogenen Raum.24

Der britische Historiker Niall Ferguson identifiziert sechs Faktoren für die Entwicklung der westlichen Zivilisation:

politischer Wettbewerb (zwischen den Staaten) und wirtschaftlicher Wettbewerb (zwischen den Individuen),Wissenschaft auf der Grundlage von Messung und Empirie,gesicherte Eigentumsrechte und Herrschaft des Gesetzes,medizinischer Fortschritt auf naturwissenschaftlicher Grundlage,industrielle Produktion von Konsumgütern undArbeitsethik im Sinne einer bestimmten Geistes- und Lebenshaltung.25

Die US-Ökonomen Daron Acemoğlu und James Robinson heben die Rolle institutioneller Faktoren, insbesondere Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und gesicherte Eigentumsrechte, hervor. Für sie ist die Glorious Revolution in England, mit der das Parlament und damit das demokratisch erlassene Gesetz 1688 endgültig Vorrang vor der Macht des Königs erhielt, der eigentliche Wendepunkt in der modernen Politik-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte.26

Die Beschäftigung mit der Vergangenheit in ihrer ganzen farbigen Fülle ist immer wieder faszinierend und bietet mit dem Reichtum an Fallbeispielen und Analogien viel Lehrreiches für Gegenwart und Zukunft. Zum Glück muss aber niemand die Vergangenheit wiederholen: Wer ein Smartphone bedienen oder das Internet nutzen will, muss sich nicht in der Geschichte der Fernmeldetechnik auskennen. Für die gedeihliche Entwicklung von Staaten und Gesellschaften reicht es aus, jene Institutionen auszuformen, die heute wichtig sind, und den Bürgern jene Mentalitäten und Kenntnisse zu vermitteln, die jetzt und in Zukunft wichtig sind. Warum gelingt das je nach Region und Staat nur mit sehr unterschiedlichem Erfolg? Weshalb haben einige Teile der Welt die vom Westen ausgehende wissenschaftlich-technische Kultur sehr gut adaptiert und stehen mittlerweile selber an der Spitze (oder sie sind auf dem Weg dorthin), während andere Teile der Welt erkennbar gar nicht Schritt halten und sogar mehr oder weniger in Unordnung und Gewalt versinken? Gemessen an den Maßstäben der wissenschaftlich-technischen Welt erscheinen manche Kulturen, Religionen und Ethnien besonders erfolgreich, andere dagegen besonders erfolglos.

Soweit man Erfolg oder Misserfolg überhaupt konkret messen kann, sind die daraus zu gewinnenden Erkenntnisse nicht trivial. Sie können uns helfen zu erkennen, was gesellschaftlich zu tun ist und was vermieden werden sollte, wenn man den Lebensstandard und die Lebensqualität in einer Gesellschaft verbessern oder zumindest sichern will. Allerdings stößt man dabei immer wieder auf das bekannte Henne-Ei-Problem: Offenbar hängen ökonomische, kulturelle, religiöse, historische und geografische Faktoren auf komplexe Weise miteinander zusammen und bedingen sich gegenseitig. In logischer Hinsicht muss man zwischen der Feststellung von Unterschieden und ihrer Erklärung trennen. Feststellungen sollten abgesichert sein und Erklärungen nicht voreilig.

Ich werfe zunächst einen globalen Blick auf die gebräuchlichste Messziffer für den Wohlstand eines Landes, nämlich auf das um Unterschiede in der Kaufkraft bereinigte Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf der Bevölkerung:27 Von den 30 reichsten Ländern auf der Welt lagen im Jahr 2019 20 in Europa, eines in Nahost, fünf in Ostasien und zwei in Ozeanien. Davon haben 21 Länder als vorherrschende Religion das Christentum, eines den jüdischen Glauben, fünf stehen in der Tradition konfuzianischen Denkens. Von den 30 ärmsten Ländern auf der Welt liegen 24 in Afrika, drei in Ozeanien, zwei in Asien und eines in der Karibik. 14 von ihnen haben den Islam als Mehrheitsreligion. Unter den insgesamt untersuchten 193 Ländern haben 68 ein Pro-Kopf-BIP über dem Weltdurchschnitt von 21.900 Dollar. Davon liegen 34 in Europa. Die 30 reichsten Länder liegen allesamt in Zonen mit gemäßigtem oder kaltem Klima. Unter den 30 ärmsten Ländern gilt das nur für Afghanistan.

Die mit diesen wenigen Kennziffern zusammengefassten Unterschiede sind einfach da. Sie spiegeln sich auch in zahlreichen anderen Unterschieden bei Gesundheit, Bildung, bürgerlichen Freiheiten, Umweltbedingungen wider. Die Wirkung dieser Unterschiede kann man sich nicht brutal genug vorstellen: Während der Stadtbewohner in Singapur sich eines (kaufkraftbereinigten) Sozialprodukts pro Kopf von 101000 Dollar erfreut und die Mitteleuropäer es sich bei einem Sozialprodukt pro Kopf zwischen 50000 und 60000 Dollar gut gehen lassen, geht es bei den Griechen mit einem Sozialprodukt pro Kopf von 31600 Dollar bereits erheblich bescheidener zu, und sie beklagen das ja auch entsprechend. Ihr Los ist jedoch weitaus besser als das der Bürger von Ghana, die mit 5700 Dollar im Jahr auskommen müssen und die meisten ihrer Ärzte und Ingenieure nach Europa senden, damit sie dort für die heimischen Großfamilien Geld verdienen. Aber auch in Ghana kann man sich steinreich fühlen, wenn man den Vergleich mit den zehn ärmsten Staaten Afrikas anstellt, denn dort beläuft sich das Sozialprodukt pro Kopf nur auf 800 bis 1600 Dollar.

Das war von der Geschichte nicht vorgezeichnet. Als Ghana – seit seiner Gründung einer der erfolgreicheren afrikanischen Staaten – 1957 unabhängig wurde, übernahm es von der britischen Kolonialmacht dasselbe britische Recht und eine genauso wohlgeordnete britisch geprägte Verwaltung wie sechs Jahre später die in die Unabhängigkeit entlassene Kronkolonie Singapur. Beide hatten sogar ein vergleichbares Sozialprodukt pro Kopf. Allerdings schien das rohstoffreiche Ghana die bessere Ausgangsbasis zu haben. Auch in Südkorea war das Pro-Kopf- Sozialprodukt 1960 nicht höher als das von Ghana; heute beträgt es das Achtfache.

In der ökonomischen Forschung spricht man vom »langen Schatten der Geschichte«. Das hat zu einem wachsenden Interesse an wirtschaftshistorischen Forschungen geführt, mit deren Hilfe langfristige Ursachenketten rekonstruiert werden können. So hat man zum Beispiel herausgearbeitet, dass Ereignisse wie die Reformation oder die Kolonialisierung unterschiedliche Bildungsniveaus in Gesellschaften hervorgerufen haben mit entscheidenden Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung.28

Es gibt also viel zu erklären. Solche Erklärungen können nie ganz vollständig und zwingend schlüssig sein. Ich persönlich glaube, dass jeder der Punkte, die ich nachfolgend anführe, einen gewissen Erklärungsbeitrag leistet, dass die einzelnen Punkte je nach Situation aber ganz unterschiedlich zusammenwirken.

Klima, Geografie, Umwelt

Gegen Kälte kann man sich durch entsprechende Kleidung und geeignete Unterkünfte schützen. Einen Schutz gegen Hitze gab es vor der Erfindung der Klimaanlage, also bis vor 90 Jahren, nicht. Deshalb ist in heißen Ländern der Rhythmus des Tages wie auch die gesamte Lebensaktivität der Hitze angepasst. Hohe Temperaturen fördern zudem die Ausbreitung gefährlicher Parasiten und Krankheiten. In tropischen Gebieten fällt zwar reichlich Regen, aber eben nicht zuverlässig. Das erschwert nachhaltigen Ackerbau. Auch die Vorratshaltung ist eine andere als in Europa. Da die Jahreszeiten wenig ausgeprägt sind, ist die Notwendigkeit, Vorratshaltung und Vorsorge zu betreiben, gering. So entstehen andere Parameter für jene persönlichen Eigenschaften, die den Lebenserfolg fördern oder beeinträchtigen. Alle Hochkulturen entstanden in gemäßigten Zonen, nicht in den Tropen. Mit wachsender Nähe zum Äquator gab es schon immer weniger Entwicklung; noch heute liegen die weitaus meisten unterentwickelten Länder zwischen dem nördlichen und südlichen Wendekreis.29

Zivilisatorische Entwicklung geht stets mit Handel und dem Transport von Gütern einher. Auch darum siedelten sich die Menschen gerne entlang großer Ströme an oder wählten die Küstennähe dort, wo es geschützte Häfen gab. So boten das Mittelmeer und später auch die zerklüfteten Küsten Nordeuropas spezifische Entwicklungsmöglichkeiten, die es im Binnenland abseits großer Staaten in diesem Ausmaß nicht gab. Das verschaffte den begünstigten Regionen, ob in Europa oder anderswo, einen Entwicklungsvorteil. Auch ermöglichte der Wasserreichtum Europas mehr Viehzucht und die Entwicklung besonders starker Zug- und Lasttiere, was sowohl für die Landwirtschaft als auch militärisch von Vorteil war.30

Eine differenzierte Zivilisation und frühe Hochkulturen entwickelten sich bevorzugt in Regionen, in denen sich eine Bewirtschaftung mit Wasser entwickelte. Diese Wasserwirtschaft schuf den Zwang zur Zusammenarbeit, und das führte schließlich zu staatlichen Strukturen und förderte Planung und Kooperation. So kam China früh zu einer hoch entwickelten Landwirtschaft und einer Ausformung von hierarchisch aufgebauten Großstaaten.31 Immer wieder gingen aber auch ganze Völker, Staaten und Kulturen zugrunde, weil sie ihren Lebensraum durch Raubbau an knappen Ressourcen zerstört hatten oder mit extern verursachten Umweltveränderungen nicht fertigwurden.32

Herkunft und Abstammung

Geht ein Nigerianer in Berlin über den Kurfürstendamm, so weiß jeder, dass seine Vorfahren oder er selbst aus Afrika kommen. Er fällt auf, selbst wenn er in der dritten Generation ein gut integrierter Deutscher ist. Genauso geht es einem blonden Skandinavier in Peking auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Ein Pole in Berlin fällt dagegen kaum auf, zumal dann nicht, wenn er nach einiger Zeit in der Stadt gut deutsch spricht.

Unterschiede nach Herkunft und Abstammung sind zu einem empfindlichen Thema geworden. Wer sie anspricht, wird unter Umständen des Rassismus bezichtigt, und doch gibt es sie in großer Zahl: Die kleine Gruppe der Juden europäischer Abstammung hatte und hat eine ganz unverhältnismäßige Bedeutung für Wissenschaft, Wirtschaft und Literatur. Ausgewanderte Chinesen bilden in Ostasien eine Führungsschicht in Handel und Wirtschaft, weit über ihren Bevölkerungsanteil hinaus. Eine ähnliche Führungsschicht bilden eingewanderte Inder in vielen afrikanischen Staaten.

Die Statistiken in den USA zu Bildung, Einkommen und Lebenserwartung zeigen seit vielen Jahrzehnten eine stabile Schichtung nach ethnischer Herkunft. Dabei liegen Ostasiaten deutlich vor den Weißen.33 Die persönliche Abstammung hat einen erheblichen, viele Generationen übergreifenden Einfluss auf Aufstieg und soziale Schichtung. Das gilt für sehr unterschiedliche Völker und Kulturen und kann offenbar auch durch soziale Umstürze und Revolutionen kaum außer Kraft gesetzt werden. Selbst im egalitären Schweden ist die soziale Mobilität sehr gering, heute nicht schneller als im 18. Jahrhundert und im Tempo vergleichbar mit der in den USA oder Großbritannien.34 Und auch im heutigen China sind die Nachfahren ehemaliger Mandarine durchweg weit oben in der Gesellschaft angesiedelt.35 Europa hat seit dem 19. Jahrhundert stark vom Unternehmertum und von den wissenschaftlichen Leistungen der sehr kleinen jüdischen Minderheit profitiert. Ähnlich profitieren heute die USA extrem stark von ihren indischen, chinesischen und koreanischen Wissenschaftlern und Ingenieuren. Die Dominanz der USA in der digitalen Welt wäre ohne sie gar nicht denkbar.

Die Frage, wie sich beim Herausragen (oder Zurückbleiben) bestimmter Herkunftsgruppen genetische Faktoren und kulturelle Dispositionen mischen, wird an dieser Stelle nicht weiter erörtert. Sofern kulturelle Dispositionen die Ursache sind, haben diese offenbar über Generationen hinweg eine erstaunliche – beziehungsweise beunruhigende – Stabilität. Der englische Wirtschaftshistoriker Gregory Clark kommt bei seiner international vergleichenden Studie zur sozialen Mobilität mithilfe der Namensforschung zum Ergebnis, dass der soziale Status überwiegend durch die genetische Fitness bestimmt wird.36

Kulturelle Tradition

Unter kultureller Tradition verstehe ich die Summe der vermittelten Erfahrungen, der sozialen Gewohnheiten, des überlieferten Wissens und der kulturellen und technischen Fertigkeiten. Auch grundsätzliche Einstellungen zum Leben, zur Arbeit, zur Familie gehören dazu. Die Summe der kulturellen Traditionen macht den Unterschied zwischen einem Chinesen und einem Deutschen oder einem Bürger Ghanas aus. Zur kulturellen Tradition gehören auch die überlieferten Herrschaftsformen, die nicht jede Art von Demokratie für jedes Land gleich geeignet machen. Allerdings sind auch hier kausale Zurechnungen selten eindeutig. So bezweifelt William Easterly, langjähriger Direktor bei der Weltbank, im Hinblick auf Südkoreas Erfolg die beliebte These, dieser sei auch durch die ursprünglich autokratischen Strukturen des Landes angetrieben worden: »A more plausible country story is that this positive change in freedom, combined with a long experience with technology, made possible rapid technological catch up growth.«37

Die technisch-wissenschaftliche Revolution erwuchs aus der kulturellen Tradition Europas. Ihre schnelle Übernahme und geschickte Adaption an die eigenen Traditionen fällt offenbar den durch die eigenen Hochkulturen geprägten Völkern des Fernen Ostens besonders leicht. Japan brauchte nach der Meiji-Restauration nur wenige Jahrzehnte, um zum Westen aufzuschließen,38 und die Entwicklungssprünge, die Länder wie Südkorea, Singapur und Taiwan in den letzten 50 Jahren vollbracht haben, verschlagen uns immer noch den Atem. An der Intelligenz der Nigerianer oder Ghanaer kann es nicht liegen, dass die Entwicklung ihrer Gesellschaften so weit hinterherhinkt, denn dann wären ihre Ingenieure und Ärzte nicht so begehrte Arbeitskräfte in Europa und Nordamerika. Auch die notorische Rückständigkeit Andalusiens, Süditaliens oder Griechenlands in der Europäischen Union gibt Rätsel auf. Am Geld kann es nicht liegen. Diese Regionen werden seit Jahrzehnten mit Subventionsmilliarden überschüttet. Es gibt offenbar soziale Traditionen, die stärker sind als Finanzen und Institutionen.39

Innerhalb von Nationen können Unterschiede in der kulturellen Tradition auch das unterschiedliche Abschneiden ethnischer Gruppen erklären.40 Ich sehe hier eine große Blackbox, gefüllt mit vielen interessanten Untersuchungen und allerlei Vermutungswissen.41 Diese Blackbox könnte sich allerdings auch als eine große Büchse der Pandora erweisen, wenn man sie öffnet. Darum belasse ich es bei folgender Aussage: Die kulturelle Tradition und der Umgang mit ihr sind entscheidend für den Weg von Völkern, Staaten, Gesellschaften und Einzelnen. Sie prägen viel länger und intensiver, als man sich das vorstellen kann und möchte.

Max Weber diskutiert in seiner Abhandlung Die protestantische Ethik und der »Geist« des Kapitalismus am Beispiel der Schriften Benjamin Franklins, wie sich zunächst der von Franklin in anschauliche Bilder gefasste kapitalistische Geist verbreiten musste, ehe die kapitalistische Entwicklung selbst stattfinden konnte, und wie dann die Dynamik der Entwicklung den Unternehmer und Arbeiter in einem bestimmten Sinn formte. In jenen Ländern, die ein anderes Bewusstsein hatten, etwa Italien, waren zwar Geldgier und Erwerbstrieb genauso ausgeprägt, aber das abstrakte Pflichtbewusstsein reichte nicht aus, um den kapitalistischen Erfolg in gleichem Sinne zu ermöglichen.42 Man mag wie Weber den Zusammenhang mit der puritanischen Mentalität herstellen oder nicht. Entscheidend ist die Erkenntnis, dass ein wie immer entstandenes Bewusstsein – quasi eine Konzeption des Geistes – das gesellschaftliche Verhalten entscheidend prägt, wenn es um sich greift.

Religion

Ich meine mit Max Weber, dass der Vorsprung Nordeuropas und Nordamerikas bei der industriellen Revolution und der wirtschaftlichen Dynamik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts auch durch die aktive, kritische Rolle bestimmt wurde, die dem evangelischen Christen von seinem Glauben zugewiesen wurde. Wie sich bei den französischen Hugenotten zeigte, wurden ja die Nachdenklichen, Gebildeten und im Durchschnitt Erfolgreicheren durch den Protestantismus in weit höherem Maße angezogen. Auch wenn man die kausale Erklärung Webers anzweifelt oder ablehnt, bleibt doch das Faktum, dass seit dem 17. Jahrhundert in ganz Europa und in Nordamerika Prosperität und Industrialisierungsgrad eng mit der Verbreitung des protestantischen Glaubens korrelieren.43 Erst im 20. Jahrhundert hat sich diese Verbindung teilweise etwas gelockert.

Für Deutschland ist seit Langem bekannt, dass Protestanten unter den Wissenschaftlern überrepräsentiert sind. Auch unter der gesamten Führungsriege der deutschen Politik dominieren Protestanten, das gilt selbst für die CDU.44 Man hat die kulturelle Dominanz der Protestanten in Deutschland teilweise auf den »Pfarrhauseffekt« zurückgeführt. Während evangelische Pastoren sehr kinderreich waren, hatten katholische Priester keine legitime Nachkommenschaft. Die quantitativen Auswirkungen waren erheblich, wenn man bedenkt, dass zum Beispiel im Königreich Baden noch vor 120 Jahren fast die Hälfte aller katholischen Abiturienten Priester wurde.45

Der im Vergleich zu den Katholiken höhere wirtschaftliche Erfolg der Protestanten lässt sich auch durch ihr höheres Bildungsniveau erklären. Dieser Zusammenhang ist heute noch sichtbar. Ursächlich war die Forderung Luthers, alle Protestanten müssten die Bibel lesen können. Dies führte seit dem 16. Jahrhundert zu einem höheren Schulbesuch protestantischer Kinder und zu einem entsprechenden Bildungsvorsprung der Protestanten. Ähnlich wirkte wohl auch im Judentum die seit dem 2. Jahrhundert nach Christus bestehende »religiöse Norm, dass Väter ihre Söhne im Lesen der Thora unterrichten sollten«.46

Nimmt man Religion ernst, so wirkt sie in jedem Falle bewusstseinsprägend und kann bei dem wirklich Gläubigen niemals eine bloße Zutat sein. So wie Europa insgesamt durch das christliche und Nordeuropa und Nordamerika besonders durch das protestantische Denken geprägt wurden, so wurde der Ferne Osten durch Konfuzius geprägt. Über den Einfluss dieser Philosophie auf den wirtschaftlichen Aufschwung Chinas in den letzten Jahrzehnten besteht wohl kein Zweifel.

In allen Ländern, in denen Muslime eine Minderheit darstellen, gehören sie vorwiegend den unteren Schichten an. Das beobachten wir auch in Europa, wo sich muslimische Minderheiten erst in den letzten Jahrzehnten durch Einwanderung gebildet haben. Viele führen das auf Benachteiligungen in den Gastländern oder auf den niedrigen sozialen Status in den Herkunftsländern zurück. Das kann an dieser Stelle dahingestellt bleiben. Erklärungsbedürftig ist jedoch, dass in allen Ländern mit muslimischer Mehrheitsbevölkerung Christen, Juden und Parsen zu den oberen Schichten gehören, soweit sie dort Minderheiten bilden.47 Diesen Elitestatus haben sie über mehr als 1000 Jahre der Endogamie bewahrt und ausgebaut. Gregory Clark führt dies auf die traditionelle Kopfsteuer für Nichtmuslime in islamischen Ländern zurück. Diese machte eine Konversion zum Islam finanziell lohnend. Dem finanziellen Anreiz gaben am ehesten jene Nichtmuslime nach, die wirtschaftlich weniger erfolgreich waren. Mit der Konversion zum Islam schieden so die weniger Erfolgreichen auch als Heiratspartner für ihre ehemaligen Glaubensgenossen aus. Die Folge dieser über viele Jahrhunderte anhaltenden Entwicklung war, dass in islamischen Staaten die religiösen Minderheiten eher in der oberen Hälfte der Bevölkerung angesiedelt sind, was die Verteilung der angeborenen Fähigkeiten angeht.48

Viele Richtungen des praktizierten Islam fördern weder Wissbegier noch Forschergeist noch unabhängiges, kritisches Denken.49 Dafür spricht auch der große Anklang, den fundamentalistische Einstellungen und Verschwörungstheorien bei den Muslimen in Europa finden.50 Dass sich in Afrika und Asien die relative Rückständigkeit islamischer Völker auch in den Wirtschaftsdaten niederschlägt, hat schon der Vergleich des Pro-Kopf-BIP am Beginn dieses Kapitels gezeigt. Wie sie sich den Anforderungen der modernen Welt in Zukunft stellen wollen, müssen diese Völker selbst entscheiden. Von außen können allenfalls Ratschläge und Bildungsangebote an sie herangetragen werden.

Speziell bei der Rolle der Frau überschneiden sich im islamischen Kulturkreis kulturelle und religiöse Tradition.51 Offenbar hat die Hoffnung getrogen, zumindest unter den nach Europa eingewanderten Muslimen werde sich mit der Zeit eine liberalere Auffassung zur Rolle der Frau quasi automatisch durchsetzen. Vielmehr ist zu beobachten, dass teilweise sogar das Gegenteil geschieht.52

Institutionelle Rahmenbedingungen

Beim Zusammenbruch des Ostblocks 1989 bis 1991 befanden sich die Ukraine und Polen wirtschaftlich in einer sehr ähnlichen Lage. Ukrainer und Polen verbindet eine lange Zeit gemeinsamer Staatlichkeit, die Sprachen sind ähnlich. Unterschiedlich waren vor einem Vierteljahrhundert Art und Tempo der institutionellen Reformen: In Polen gab es bereits 1990 mit dem Balcerowicz-Plan, benannt nach dem damaligen Finanzminister Leszek Balcerowicz, ein umfassendes Paket harter Reformen, die von Subventionsstreichungen und konvertibler Währung bis zur Freigabe des Außenhandels reichten. Dies brachte hohe soziale Kosten, aber auch einen Schwung für die wirtschaftliche Entwicklung mit sich, der bis heute anhält. In der Ukraine dagegen, die sich 1991 aus der Sowjetunion löste, fehlen noch immer stabile Institutionen und unabhängige Gerichte. Die Verwaltung ist korrupt und wenig qualifiziert. Unternehmen haben Erfolg dank politischer Protektion und nicht, weil sie gute Produkte herstellen.53 Das Wohlstandsniveau und die Wirtschaftsentwicklung beider Länder trennen mittlerweile Welten: Die Polen leben fast sechs Jahre länger als die Ukrainer. Das kaufkraftbereinigte Pro-Kopf-BIP ist in Polen mit 34500 Dollar (2019) fast dreimal so hoch wie in der Ukraine, wo es 13400 Euro beträgt, nicht höher als in Sri Lanka oder Peru.54

Die Entwicklungsökonomen Daron Acemoğlu und James A. Robinson stellen in ihrer profunden Studie über Wohlstand und Armut von Staaten und Gesellschaften die These auf, dass die entscheidenden Ursachen für Erfolg und Misserfolg in institutionellen Strukturen zu suchen sind. Im Vergleich dazu sind für sie alle ethnischen, kulturellen, religiösen, geografischen und klimatischen Unterschiede von nachrangiger Bedeutung. Sie können aus ihrer Sicht die Unterschiede im Entwicklungsniveau und in der gesellschaftlichen Wohlfahrt nicht ausreichend erklären.

Acemoğlu und Robinson unterscheiden extraktive und inklusive Gesellschaften. Erstere beruhen auf Ausbeutungsmustern,55 Letztere dagegen geben Chancen und Anreize, mit Arbeit und Unternehmungsgeist das Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Inklusive Gesellschaften verfügen über pluralistische und stabile politische Institutionen, einen verlässlichen rechtlichen Rahmen (rule of law), gesicherte Eigentumsrechte und funktionierenden Wettbewerb in einer marktwirtschaftlichen Ordnung.56 Sie haben zumeist auch eine demokratische Ordnung. Möchte man Staaten und Gesellschaften zu wirtschaftlichem Wohlstand und Prosperität für die breiten Schichten verhelfen, so muss man ihren Rechtsrahmen und ihre Institutionen in diesem Sinne ändern und stabilisieren. Die Untersuchung von Acemoğlu und Robinson ist historisch wie geografisch breit angelegt und schürft teilweise sehr tief. Ihre empirischen Belege sind überzeugend. Ihre theoretische Fundierung ist wohlvertraut: Ein verlässlicher marktwirtschaftlicher Ordnungsrahmen in einer stabilen Demokratie liefert die besten Voraussetzungen für nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung und breit verteilten Wohlstand. Acemoğlu und Robinson liefern erhellende Beschreibungen der unterschiedlichen Entwicklungspfade von Gesellschaften und ganzen Kontinenten. Besonders anschaulich ist der Vergleich zwischen der britisch dominierten Entwicklung von Nordamerika und der spanisch dominierten Entwicklung von Süd- und Mittelamerika. Wenn es irgendwo einen wohlwollenden Diktator gibt, der die ganze Macht und 100 Jahre Zeit hat, so weiß er nach dieser Lektüre genau, was er tun muss, um sein Land zu stabilen Verhältnissen und dauerhafter Prosperität zu führen.

Die institutionellen Veränderungen in einer Gesellschaft sind nicht determiniert. Sie können sich in einer sich selbst verstärkenden Spiralbewegung grundsätzlich in jede Richtung entwickeln: »History is key, since it is historical processes that, via institutional drift, create the differences that may become consequential during critical junctures.«57 Leider bleibt die Frage offen und ist wohl auch nicht eindeutig zu beantworten, wie man souveräne Staaten und historisch überkommene Gesellschaften zuverlässig dazu bringt, sich entsprechend zu verhalten: Die seit Einführung des Euro anhaltenden Probleme bei der wirtschaftlichen Entwicklung der mediterranen Euroländer haben offenbart, wie hartnäckig selbst kulturelle Unterschiede wirken können, die vergleichsweise überschaubar sind. Staaten in Mittel- und Südamerika fallen immer wieder zurück in überkommene Muster des fehlgeleiteten Vertrauens in charismatische Führer, der Korruption und der Instabilität von Institutionen. Der Unternehmergeist bleibt zu schwach, die Ausbeutungsmentalität zu stark. Indien stellt zwar für das kalifornische Silicon Valley die begabtesten Mathematiker und Ingenieure zur Verfügung, scheitert aber trotz (oder wegen) seiner demokratischen Verfassung im eigenen Land bei der Umsetzung jener Reformen, die bereits der Collegegrundkurs in Politischer Ökonomie nahelegt.

Die meisten afrikanischen Länder brachten aus ihrer Kolonialzeit eine funktionierende Verwaltung, eine marktwirtschaftliche Verfassung und einen französisch oder britisch geprägten Rechtsrahmen mit. Davon ist 60 Jahre nach der großen Unabhängigkeitswelle wenig bis nichts geblieben.

Natürlich ist es unmöglich, über einen so großen und heterogenen Kontinent wie Afrika mit seiner riesigen Ausdehnung, seinen vielen Völkern und seiner stark wachsenden Bevölkerung von 1,4 Milliarden (gegen Ende des Jahrhunderts wahrscheinlich 4,3 Milliarden) Menschen pauschale Urteile zu fällen. Aber es fällt doch auf, dass in ganz Afrika funktionierende Staaten extrem selten sind.58 Dazu einige Vergleiche aus den Bereichen Korruption und Bildung:

Transparency International veröffentlicht jährlich einen Korruptionswahrnehmungsindex. Danach lagen 2019 (bei 180 untersuchten Ländern) von den 100 korruptesten Staaten der Welt 44 in Afrika. Das in der Entwicklung am meisten fortgeschrittene afrikanische Land – Südafrika – hat den Rangplatz 70 zwischen Rumänien und Surinam. Das am wenigsten korrupte afrikanische Land – Botswana – liegt auf Rangplatz 34 zwischen Spanien und Israel.59Angesichts der Verbreitung des Ebola-Virus richtete sich der Blick der Weltöffentlichkeit 2014 auf die ärztliche Versorgung in Liberia. Dort praktizieren 1,2 Ärzte je 100000 Einwohner (1970 waren es noch 9,4, im Durchschnitt von Subsahara-Afrika sind es 16,5 und in Deutschland 382). In Liberia gibt es keinen qualifizierten Nachwuchs. 2013 fielen alle 25000 Bewerber durch die Aufnahmeprüfung für Medizinstudenten, weil die Kenntnisse in Englisch und Rechnen nicht ausreichten.60Südafrika hatte aus der Zeit der Apartheid ein funktionierendes Bildungswesen übernommen, auch wenn die Ausstattung und die Standards zwischen weißen und schwarzen Schulen sehr unterschiedlich waren. Dieses ist mittlerweile weitgehend zerstört. Einst prestigeträchtige Universitäten spielen mittlerweile international keine Rolle mehr. Die Anforderungen für Schulabschlüsse sind extrem niedrig, der Absentismus der Lehrer in den Schulen ist sehr hoch. »In einem internationalen Vergleich der Mathematikkenntnisse von Abiturienten belegt Südafrika mittlerweile den vorletzten Platz. Dahinter kommt nur noch Jemen.«61 Wegen der schlechten Ausbildung der Schulabsolventen beschäftigen Firmen lieber Einwanderer aus Nachbarstaaten als einheimische Schwarze, was zu großen Spannungen führt. Die fremdenfeindlichen Ausschreitungen mit zahlreichen Toten im April 2015 in Durban und Johannesburg wurden durch den Neid der arbeitslosen einheimischen Schwarzen auf erfolgreichere Einwanderer aus Nachbarländern ausgelöst.62

Wie kann man Ländern, in denen es nicht so funktioniert, wie es sollte, von außen helfen? Militärische Interventionen dürfen in einer Welt souveräner Staaten nur ein letztes Mittel sein, etwa zur Verhinderung von Völkermord oder Ähnlichem. Ihre Historie in den letzten Jahrzehnten ist von Somalia über Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien und zuletzt Mali mit der gesamten Sahelzone auch nicht sehr ermutigend. Im Durchschnitt wurde mehr verschlimmert als verbessert. Der militärische Auszug der USA und der NATO aus Afghanistan fand im Sommer 2021 fast 20 Jahre nach dem Beginn der Operation Enduring Freedom (OEF) ruhmlos und fast schon peinlich überstürzt statt. Die erneute Machtübernahme durch die Taliban erfolgte im August 2021 auf dem Fuß. Auch die Intervention Frankreichs in Mali und den umgebenen Ländern der Sahelzone hat dort die Sicherheit und den Schutz vor islamistischen Terrorgruppen nicht verbessert. Auch hier ist ein ruhmloser Abzug des französischen Militärs und der unterstützenden Einheiten der Bundeswehr absehbar. So jedenfalls kann man Fluchtursachen offenbar nicht bekämpfen.

Der gut gemeinte Rat, Diktaturen und korrupte Regierungen nicht durch politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit aufzuwerten, hilft aber auch nur begrenzt. Dann müsste man den diplomatischen und wirtschaftlichen Verkehr mit großen Teilen der Welt einschränken oder einstellen. Die Entwicklungshilfe der vergangenen 70 Jahre ist weitgehend gescheitert, jedenfalls sind nennenswerte Erfolge nicht nachweisbar.63 Das ist besonders augenfällig in Afrika. Große Mittel flossen im Ergebnis an korrupte Führungsschichten und verbesserten das Los der kleinen Leute kaum, so die Analyse des ehemaligen deutschen Diplomaten Volker Seitz, der beruflich viele Jahre in Afrika verbrachte.64 Es hat sich gezeigt, dass auch hier der Fokus auf den richtigen Rahmenbedingungen liegen muss. Die Menschen müssen die Möglichkeit haben, selbst über ihre Ziele zu entscheiden und entsprechende Anstrengungen zu unternehmen. Dabei kann man sie beraten und gegebenenfalls unterstützen.

Kognitives Kapital

Zur Erklärung der Unterschiede zwischen Staaten und Gesellschaften bei Wohlstand und Wachstum können die erwähnten geografischen, kulturellen, religiösen, historisch-politischen, ethnischen und instiotutionellen Faktoren angeführt werden. Für jene Wachstums- und Wohlstandsunterschiede, die damit nicht zuverlässig erklärt werden können, hat sich der Begriff Humankapital als Bezeichnung für spezifische Fähigkeiten und Fertigkeiten der Menschen eingebürgert. Dies ist, wie Heiner Rindermann und James Thompson kritisieren, ein unscharfer Begriff. Ebenso könne man die Fähigkeit eines Kängurus, große Sprünge zu machen, Kängurukapitalnennen. Das Humankapital besteht überwiegend in den besonderen Fähigkeiten und Fertigkeiten des menschlichen Geistes. Sie schlagen deshalb den Begriff kognitives Kapital vor,