"Wir schaffen das" - Thilo Sarrazin - E-Book

"Wir schaffen das" E-Book

Thilo Sarrazin

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Beschreibung

Wie funktioniert Politik? Wo liegen die Gründe für den Erfolg oder Misserfolg von Gesellschaften? Und warum ist alles, was wir tun, auch politisch? Thilo Sarrazins Essay behandelt die Kunst erfolgreicher Politik, von den theoretischen Grundpfeilern über den Gegensatz von Verantwortungs- und Gesinnungsethik bis zum Verhältnis von Macht und Opportunismus. Er erklärt politische Theorie und zeigt, wie sehr Politik sämtliche Lebensbereiche durchdringt, sodass wir quasi nicht anders können, als eine Haltung dazu zu entwickeln. Wer dieses Buch gelesen hat, wird Politik mit anderen Augen betrachten und besser verstehen, warum es in jedem Fall lohnt, am politischen Prozess teilzuhaben.

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Thilo Sarrazin

»Wir schaffen das«

Erläuterungen zum politischen Wunschdenken

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Teile des Textes wurden bereits in dem Buch »Wunschdenken« (2016, DVA) veröffentlicht.

© 2021 LMV, ein Imprint der Langen Müller Verlag GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-7844-8413-6

www.langenmueller.de

Inhalt

Prolog

KAPITEL 1Angela Merkels Kanzlerschaft: Eine Fallstudie

Aufstieg und Kanzlerschaft im Überblick

Leistungsbilanz früherer Bundeskanzler

Die Personalpolitik Angela Merkels

Angela Merkel und das Meinungsklima in Deutschland

Das Dilemma des Erbes und der Nachfolge

Die Bilanz der verpassten Möglichkeiten

KAPITEL 2Das Moralische in der Politik

Der vorrationale Charakter politischer Grundeinstellungen

Politik und Religion

Politik und Gefühl

Politik und Philosophie

Politik und Freiheit

Politik und materielle Güter

Politik und Utopie

Politik und Verbrechen

Politik und Legitimation

Politik und Recht

Politik, Konformität und Opportunismus

KAPITEL 3Das Menschliche in der Politik

Politik als Beruf

Politik und Intelligenz

Politik und Eitelkeit

Politik und Erotik

Politik und Sucht

Politik und Treue

Politik und Freundschaft

Politik und Klientel

Politik und Korruption

KAPITEL 4Das Handeln in der Politik

Politik und Macht

Politik und Demokratie

Politik und Strategie

Politik und Torheit

Politik und Verblendung

Politik und Krise

Der politische Kairos

Politik und Gewalt

Politik und Wahrheit

Politik und Wissenschaft

Politik und Logik

KAPITEL 5Politik und Gesellschaft

Politik und Nation

Politik und Weltgesellschaft

Politik und Medien

Politik überall

Anmerkungen

Personenregister

Prolog

Als im Spätsommer 2015 die damalige Flüchtlingskrise ihrem ersten Höhepunkt zustrebte, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel am 31. August vor der Bundespressekonferenz: »Deutschland ist ein starkes Land. Das Motiv, mit dem wir an diese Dinge herangehen, muss sein: Wir haben so vieles geschafft – wir schaffen das!« Der Satz bekam Flügel und wurde seitdem von vielen in Kritik und Zustimmung über Jahre hinweg bis zum Überdruss variiert und wiederholt.

»Wir schaffen das« ist ein schillernder Begriff. Ermunterung, Utopie und Missbrauch liegen bei seiner Verwendung dicht beieinander. Viele Feldherren feuerten mit ähnlicher Wortwahl vor der Schlacht ihre Truppen dazu an, ihr Äußerstes zu geben. Auch Joseph Goebbels hielt am 18. Februar 1943 im Berliner Sportpalast nach der Niederlage von Stalingrad eine »Wir schaffen das«-Rede, und ungezählte Fußballtrainer haben ihren verzagten Mannschaften während der Pause in der Mannschaftskabine mit solchen und ähnlichen Formulierungen Mut zugesprochen. Wo man kämpfen soll, darf man nicht an die Niederlage glauben, und da sind solche und ähnliche Formulierungen schnell zur Hand.

Die Amerikaner nennen das Pep Talk, und die dabei benutzten Redefiguren sind zunächst einmal wertfrei. Sie können für gute und schlechte Ziele, für reale und irreale Strategien, für utopische und realistische Konzepte, für kontroverse und einvernehmliche Politiken eingesetzt werden.

Angela Merkel verwendete die Metapher wenige Tage, bevor sie die Grenzen endgültig öffnete und mit deutscher Willkommenskultur eine europäische Krise auslöste. Ihre diesbezügliche Politik, wie immer man zu ihr steht, enthielt einen utopischen Überschuss, und mit diesem utopischen Überschuss ist der Satz »Wir schaffen das« seitdem untrennbar verbunden.

Die Bundeskanzlerin stellte den Begriff prominent in den Mittelpunkt ihres politischen Aufrufs, mit dem sie im Herbst 2015 ihre Entscheidung zur Grenzöffnung für Millionen Flüchtlinge und illegale Einwanderer vor der Öffentlichkeit verteidigte. Er steht aber auch symbolisch für die Richtung und das Scheitern anderer »großer« Entscheidungen in ihrer Regierungszeit wie:

der 2009 einsetzende Übergang von der Währungsunion zur Schuldenunion durch Beugung des Maastricht-Vertrags von 1991 und Bruch des Stabilitätspaktes von 1998die Gefährdung der deutschen Klimaziele durch den 2011 eingeleiteten unüberlegten und bedingungslosen Totalausstieg aus der Kernenergie2020/21 die Gefährdung einer schnellen und erfolgreichen Impfkampagne durch europapolitische Korrektheit bei der Impfstoffbeschaffung.

Utopie und Wunschdenken sind aber nur zwei der vielen Aspekte von Politik, auch wenn sie zu den gefährlichsten gehören. Das Politische wirkt in viele Bereiche hinein, und so entsteht in seinem Umfeld eine verwirrende Vielfalt von Bezügen. Diese ähneln einem Spinnennetz, und man würde sie stellenweise zerstören, wenn man sie nach Belieben oder eng nach einer vorgegebenen Idee anordnet. Auf diese Vielfalt der Blickwinkel und Bezüge gehe ich nachfolgend ein und stelle dort Zusammenhänge her, wo dies erhellend ist. Man muss aber immer im Auge haben, dass auch und gerade das Zusammenhanglose, Erratische, Widersprüchliche zum Wesen von Politik gehört. So vertragen sich Machtgewinn und Machterhalt häufig schlecht mit ehernen Prinzipien. Dem Reichskanzler Bismarck wird das Bonmot zugeschrieben, dass ein Politiker mit Prinzipien einem Mann gleiche, der mit einer quer auf den Rücken gebundenen Bohnenstange durch einen Wald gehen wolle.

Wo sich Katastrophen ereignen, wo der technische Fortschritt die Produktionsverhältnisse umstülpt oder ganz einfach die Bürger andere Bedürfnisse entwickeln, wird und muss auch der demokratische Politiker reagieren und notfalls seine Ziele und Meinungen ändern, wenn er die Macht gewinnen und erhalten will.

Politik wird deshalb auch in der Hand wohlmeinender Machthaber schnell prinzipienlos. Und wo die Machthaber vor allem auf Macht und persönlichen Vorteil aus sind, kann ihre Politik auch zynisch und gewissenlos werden. Die Übergänge sind gleitend und die Versuchungen groß – auch dort, wo im Grundsatz demokratische Kontrolle durch gewählte Parlamente, eine gesetzestreue Verwaltung und eine unabhängige Justiz herrschen.

Ausgangspunkt für den Text dieses Essays sind die allgemeinen Betrachtungen zur Politik, die ich 2016 im Anhang zu Wunschdenken zusammengefasst hatte. Die 16 Jahre währende Kanzlerschaft Angela Merkels, die im Herbst 2021 zu Ende geht, liefert mit ihren Brüchen, Wendungen und einer sich zunächst unmerklich vollziehenden grundsätzlichen Kursänderung anschauliche Beispiele für das Irrlichternde und Inkonsequente, das politischen Prozessen häufig anhaftet. An die Spitze dieses Buches habe ich deshalb einen Rückblick auf Angela Merkels Regierungszeit gestellt.

Kapitel 1

Angela Merkels Kanzlerschaft: Eine Fallstudie

Angela Merkel war es nicht an der Wiege gesungen worden, dass sie einmal in der deutschen Politik eine bestimmende Rolle spielen würde. Ihr Vater war als evangelischer Pastor 1954 kurz nach ihrer Geburt mit der Familie aus Hamburg in die DDR gegangen, um dort eine Pfarrstelle zu übernehmen. Seine älteste Tochter war in der Schule Klassenbeste in Russisch und Mathematik. In Leipzig und Moskau studierte sie Physik. Als im Herbst 1989 die Mauer fiel, war sie an der Akademie der Wissenschaften in Berlin-Adlershof tätig. In der DDR war sie nicht politisch engagiert, auch nicht im Widerstand.

Aufstieg und Kanzlerschaft im Überblick

1990 begann ihr schneller Aufstieg, zuerst im Demokratischen Aufbruch (DA), dann in der ostdeutschen CDU. Nach der Wiedervereinigung erhielt sie durch Vermittlung von Günther Krause den Wahlkreis Stralsund-Rügen-Grimmen, den sie bis heute vertritt, und zog am 2. Dezember 1990 in den Deutschen Bundestag ein. Bundeskanzler Helmut Kohl ernannte sie zur Bundesministerin für Frauen und Jugend. Anders als ihr Förderer Günther Krause, der Verkehrsminister wurde, verfiel sie nicht aufgrund ihrer schnellen Karriere dem Größenwahn, und es unterliefen ihr in ihrem sehr überschaubaren Ministerium auch keine auffallenden Fehler. Sie hielt sich zurück, achtete auf ein gutes persönliches Verhältnis zu Bundeskanzler Helmut Kohl und wurde nach der Bundestagswahl im Oktober 1994 überraschend Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit.

Dort emanzipierte sie sich alsbald von ihrem Amtsvorgänger Klaus Töpfer, der sich in der Wirtschaft und bei Bundeskanzler Kohl unbeliebt gemacht hatte. Der selbstbewusste Staatssekretär Clemens Stroetmann, den sie von Klaus Töpfer »geerbt« und der das Ministerium acht Jahre lang seit seiner Gründung geführt hatte, musste nach kurzer Zeit in den einstweiligen Ruhestand.

Nach der Wahlniederlage Helmut Kohls bei der Bundestagswahl 1998 wurde Angela Merkel unter dem neuen Vorsitzenden Wolfgang Schäuble Generalsekretärin der CDU. Als die Partei durch die Spendenaffäre von Helmut Kohl tief erschüttert wurde, forderte Angela Merkel am 22. Dezember 1999 in einem Gastbeitrag in der FAZ, dass die CDU sich von Kohls Einfluss lösen und eigene Wege gehen müsse. Diesen »Vatermord« hatte sie nicht mit dem Parteivorsitzenden Schäuble abgesprochen. Nach dessen Rücktritt wurde sie im April 2000 auf dem Bundesparteitag in Essen mit 96 Prozent der Stimmen zur neuen Vorsitzenden gewählt, Friedrich Merz wurde Schäubles Nachfolger als Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.

Die neue Vorsitzende war zunächst schwach, die Erfolge der CDU bei Landtagswahlen blieben mäßig, ihre Chance auf die Spitzenkandidatur bei der Bundestagswahl 2002 war unsicher. Anfang 2002 bot sie dem bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber die Kanzlerkandidatur bei der kommenden Bundestagswahl an und erhielt im Gegenzug seine Unterstützung für den Vorsitz der Bundestagsfraktion. Als die CDU/CSU die Bundestagswahl knapp verlor, löste sie im Herbst 2002 den völlig überraschten Friedrich Merz als Fraktionsvorsitzenden ab. Aus dieser Position heraus trat sie bei der vorgezogenen Bundestagswahl 2005 als Kanzlerkandidatin an und bildete nach einem knappen Wahlsieg mit der SPD eine Große Koalition. Ihr Konkurrent Friedrich Merz schied zunächst aus der Politik aus.

Als Bundeskanzlerin tat Angela Merkel in den Folgejahren mehr oder weniger das Gegenteil von dem, was die CDU 2003 in ihrem Leipziger Programm beschlossen hatte. Dieses war sehr strikt auf Entbürokratisierung, Reduzierung von Steuern und Abgaben und Verminderung von Staatsschulden abgestellt. Die Forderung von Friedrich Merz, die Steuererklärung müsse auf einen Bierdeckel passen, war dafür typisch.

Tatsächlich wurden aber die 16 Regierungsjahre Angela Merkels durch steigende Steuer- und Abgabequoten, zunehmende Staatsverschuldung und eine immer größere Schlagseite des Bundeshaushalts in Richtung Sozialausgaben bestimmt. Die Sicherungen des Maastricht-Vertrags gegen eine Haftung für fremde Staatsschulden wurden unterhöhlt und weitgehend aufgegeben. Mit dem großen Corona-Paket, das 2020 zur Stützung der Wirtschaft in der EU verabschiedet wurde, wurde der EU erstmals eine eigene Verschuldungsfähigkeit zuerkannt.

In der Summe war die Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik der Bundesregierung in den 16 Jahren der Kanzlerschaft Angela Merkels eher sozialdemokratisch geprägt. Innere Reformen fielen weitgehend aus, eine Entbürokratisierung fand nicht statt. Neue Vorsorge für die künftige Finanzierung der sozialen Alterssicherung wurde nicht getroffen, Vorsorgemaßnahmen der Vorgängerregierungen wurden sogar reduziert. Immerhin blieben die Hartz-IV-Reformen Gerhard Schröders unter Merkels Kanzlerschaft zum Leidwesen der SPD weitgehend unangetastet.

In der Europapolitik wurde Merkels Kanzlerschaft vor allem von drei Themen beherrscht:

Aus der Weltfinanzkrise 2008/09 ergab sich eine Krise der Europäischen Währungsunion. Ausgehend von Schwierigkeiten Griechenlands sowie später auch Italiens, Portugals und Spaniens drohte ein Auseinanderbrechen der Währungsgemeinschaft. Dies wurde von 2009 bis 2015 in mehreren Stufen durch zusätzliche finanzielle Garantien der beteiligten Staaten und durch aggressive Käufe von Staatsanleihen durch die Europäische Zentralbank verhindert. Als Folge hat die Währungsunion ihren ursprünglichen Charakter allmählich verändert und wird mehr und mehr zu einer Haftungs- und Garantiegemeinschaft ursprünglich souveräner Staaten.In der Migrationspolitik legte insbesondere der Flüchtlingszustrom 2015/16 die konzeptionellen Schwächen des Schengen-Raums, das Fehlen wirksamer Grenzkontrollen und einer operativ funktionierenden Asyl- und Zuwanderungspolitik offen. Ansatzpunkte für grundlegende Änderungen sind auch sechs Jahre nach der Migrationskrise nicht erkennbar. Das Thema bleibt eine offene Wunde der Europäischen Union. Im widersprüchlichen Verhältnis zur Türkei und ihrem diktatorisch agierenden Präsidenten Erdoğan muss immer wieder die Grenze der Würdelosigkeit gestreift werden, weil die EU zu einer eigenständigen Kontrolle ihrer Grenzen und der damit verbundenen wirksamen Migrationssteuerung weder willens noch in der Lage ist. Deutschland hat hierbei positiv wie auch negativ eine besondere Führungsrolle. Die Art, wie Angela Merkel als Bundeskanzlerin diese Rolle wahrnahm, hat wesentlich zu den Erfolgen populistischer Parteien in den EU-Ländern beigetragen.Angela Merkel hat sich als Bundeskanzlerin niemals wirklich für die Befindlichkeiten und Belange der Briten interessiert und den Vorlauf des Brexits eher passiv begleitet. Mit dem Ausscheiden Großbritanniens aus der EU haben die nördlichen Länder einen wesentlichen Verbündeten für finanzielle Solidität und marktwirtschaftliche Orientierung der Gemeinschaft verloren. Die Gewichte in der EU haben sich dadurch nachhaltig verschoben. Die Geschicke eines wieder selbstständigen Großbritanniens werden künftig für die EU, aber insbesondere für Deutschland, sowohl Benchmark als auch Stachel sein. Bisher ist nicht absehbar, ob der Brexit Großbritannien nachhaltig schadet. In Großbritannien selber hat er 2021 erheblich an Popularität gewonnen durch die im Vergleich zur EU wesentlich schnellere Impfstoffbeschaffung und die darauf aufbauende erfolgreiche Impfkampagne.

In der Umwelt- und Energiepolitik knüpfte Angela Merkels Regierungszeit mehr oder weniger nahtlos an die Politik der Vorgängerregierung mit ihrem grünen Umweltminister Jürgen Trittin an. Die konzeptionellen Mängel der sogenannten Energiewende wurden nicht beseitigt. Durch die Kombination von Atom- und Kohleausstieg steuert Deutschland auf eine riesige Lücke an sicher verfügbarer und ausreichend preisgünstiger Energie zu, wenn es die international vereinbarten CO2-Ziele mit sogenannten erneuerbaren Energien tatsächlich vertragskonform erreichen will. Die Hoffnung, dass die sicher absehbaren und für den Industriestandort Deutschland existenzgefährdenden Lücken durch einen noch unbekannten technischen Fortschritt rechtzeitig geschlossen werden können, mutet leichtsinnig bis utopisch an und ist jedenfalls als Leitlinie für eine verantwortungsbewusste Politik ungeeignet. Hier hinterlässt die Kanzlerschaft von Angela Merkel den Nachfolgern ein in dramatischer Weise unbestelltes Feld.

In der Verteidigungspolitik erzeugte Angela Merkels Regierungszeit eine Trümmerlandschaft. Die von ihr ernannten Verteidigungsminister waren eine bemerkenswerte Kette von Fehlbesetzungen. Zeitweise gab es kein einziges einsatzfähiges U-Boot. Nach langen Jahren besteht immerhin die Hoffnung, dass das Schulschiff Gorch Fock im Herbst 2021 wieder die Segel setzen kann. Einsatzfähige Panzer gibt es nur noch in geringer Zahl. Die Luftabwehr des Heeres wurde unter dem Verteidigungsminister Thomas de Maizière abgeschafft, im Falle eines Konflikts stünde das Heer Drohnenangriffen wehrlos gegenüber. Das Management von Beschaffungsprogrammen versagt nach wie vor auf breiter Front. Kein einziger Auslandseinsatz außerhalb Europas war gemessen an seinen Zielen von Erfolg gekrönt. Die Bundeswehr, die zum Zeitpunkt des Mauerfalls über zwölf voll ausgerüstete, einsatzfähige Divisionen verfügte, ist gegenwärtig nicht in der Lage, der NATO auch nur eine einzige voll ausgerüstete Division zur Verfügung zu stellen. Wenn der russische Präsident Putin im Donezbecken mit dem Säbel rasselt, was er immer wieder gerne tut, wird er auch solche Fakten im Auge behalten.

Die nachhaltigsten Wirkungen erzielte Angela Merkel bei der Veränderung der deutschen Parteienlandschaft. Der marktwirtschaftliche Kurs von Bundeskanzler Gerhard Schröder und die Verletzungen, die Oskar Lafontaine in der Auseinandersetzung mit ihm davontrug, führten 2005 zur Abspaltung der Wahlalternative (WASG) von der SPD und 2007 zur Gründung der Partei Die Linke. Aufgerieben zwischen Linke und Grünen, verlor die SPD nicht nur die geistige Führung in der linken Mitte, sondern auch die Fähigkeit, auf der Bundesebene Mehrheiten zu organisieren und zu führen. So wurde die SPD zum babylonischen Gefangenen einer Großen Koalition.

Dadurch wuchs der CDU/CSU ein gewaltiger strategischer Vorteil zu. Diesen verspielte Angela Merkel als Parteivorsitzende und als Bundeskanzlerin, indem sie zuließ, dass sich rechts von der Union ein großer ungedeckter Raum öffnete, in dem sich seit 2013 die AfD etablieren und nachhaltig etwa 10 Prozent der Stimmen an sich binden konnte. Das einmal Geschehene ist kurzfristig nur schwer rückgängig zu machen. Regierungsbildungen der Union ohne SPD und/oder Grüne sind damit auf der Bundesebene für einen unabsehbaren Zeitraum unmöglich geworden. Die Führung einer bürgerlichen Mehrheit wird für die Union zum unerreichbaren Ziel. Dieser historische Bruch kann auch die Einleitung eines langfristigen Niedergangs der Union bedeuten – ausgelöst durch die Politik Merkels, die Union in der Summe nach links zu führen.

Die drei großen Einschnitte in den langen Jahren von Merkels Kanzlerschaft waren historische Zufallsprodukte, denn sie waren weder sachlich zwingend noch zum Ereigniszeitpunkt unvermeidlich: Das waren die Weltfinanzkrise 2008, die Tsunami-Welle in Fukushima 2011 und die Flüchtlingskrise 2015. In allen drei Fällen waren grundsätzliche Änderungen der deutschen Politik die Folge, die politisch gewollt, aber keineswegs zwingend waren. Für die damit verbundenen elementaren Kurswechsel trägt Angela Merkel die politische Verantwortung. Sie sind das eigentliche Erbe ihrer Kanzlerschaft. Dazu zählen

2009 der Einstieg in eine Schulden- und Haftungsgemeinschaft der Eurozone, entgegen dem Geist und dem Wortlaut des Maastricht-Vertrags2011 der vorgezogene Ausstieg aus der Kernenergie, obwohl kein deutsches Kernkraftwerk in einer Tsunami-gefährdeten Zone lag2015 die bedingungslose Öffnung der Grenzen für illegale Einwanderer, für die es weder eine rechtliche Verpflichtung noch eine tragende sachliche Begründung gab.

18 Monate vor dem planmäßigen Ende der Kanzlerschaft Angela Merkels, das durch den Termin der Bundestagswahl 2021 gesetzt war, schuf die weltweite Corona-Pandemie eine neue, unerwartete Herausforderung. Brennpunktartig machte der deutsche Umgang mit ihr die Mängel und Schwächen deutlich, die sich während der Kanzlerschaft Angela Merkels im politischen System und der Gesellschaft Deutschlands eingenistet haben:

Obwohl von Anfang an klar war, dass nur eine möglichst schnelle Impfung mit einem wirksamen Impfstoff die Pandemie letztlich besiegen konnte, und obwohl Deutschland als ehemalige Apotheke der Welt bei Impfstoffen immer noch führend ist, gab die deutsche Politik im Sommer 2020 die Federführung für die Impfstoffbeschaffung an die EU ab. Fleißkärtchen für europapolitisches Wohlverhalten waren der Bundeskanzlerin offenbar wichtiger als der möglichst schnelle und kompromisslose Schutz der eigenen Bevölkerung. Länder wie die USA, Großbritannien und Israel gingen einen anderen Weg und hatten im Sommer 2021 beim Impfschutz der eigenen Bevölkerung einen zeitlichen Vorsprung von drei bis fünf Monaten. Das schlug sich in weniger Kranken und Toten, in geringeren Kosten und einem schnelleren Wirtschaftsaufschwung nieder.Durch die Verhärtungen im deutschen Datenschutzrecht wurde die Corona-Warn-App, die die Nachverfolgung des Infektionsgeschehens erleichtern sollte, zu einem Flop. Die Papier- und Faxwirtschaft der deutschen Gesundheitsämter führte aller Welt vor Augen, dass Deutschland zumindest bei der Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung den Anschluss an die Weltspitze verloren hat und drittklassig geworden ist.Deutschland verfiel von März 2020 bis Sommer 2021 in den Modus eines oszillierenden und widersprüchlichen Dauer-Lockdowns, eine Lernkurve war kaum erkennbar.

Ein Erbe der Pandemie ist deshalb ein dauerhaft beschädigtes Selbst- und Fremdbild Deutschlands. Angela Merkel hat es bei aller analytischen Kompetenz und bei allem politischen und bürokratischen Fleiß in dieser vierten großen Herausforderung ihrer Amtszeit erneut nicht geschafft, strategisch zu planen und zu führen. Wie bei den großen Krisen vorher lebte sie programmatisch und managementmäßig von der Hand in den Mund.

Soweit man bei Angela Merkels politischem Handeln überhaupt eine Strategie entdecken kann, ist es jene, die Herausforderungen des Tages zu bewältigen und im Amt zu überleben. Das sogenannte Mikromanagement beherrschte sie gut. Große Herausforderungen ließen sie weitgehend ratlos, und sie ließ sich überhaupt nur auf sie ein, wenn sie sich gesellschaftspolitisch breit abgesichert und gestützt fühlte.

Leistungsbilanz früherer Bundeskanzler

Vor der langen Regierungszeit Angela Merkels hatte die Bundesrepublik in den 56 Jahren seit ihrer Gründung nur sieben Kanzler gehabt: Für einen von ihnen, Ludwig Erhard, der auf Konrad Adenauer folgte, erwies sich die Kanzlerschaft als zu groß, er scheiterte nach nur drei Jahren im Amt. Sein Nachfolger Kurt Georg Kiesinger blieb auch nur drei Jahre im Amt. Als der erste Bundeskanzler einer Großen Koalition beschrieb er sich selbst als »wandelnden Vermittlungsausschuss«. Im Nachhinein bestand seine historische Rolle darin, der Ostpolitik Willy Brandts und der antizyklischen Finanzpolitik von Karl Schiller und Franz Josef Strauß die Bühne zu bereiten. Die übrigen fünf Bundeskanzler bleiben jeweils durch besondere, unverwechselbare Leistungen historisch in nachhaltiger Erinnerung:

Konrad Adenauer (CDU) sicherte 1949–1963 mit seinem Machtbewusstsein die Entwicklung der sozialen Marktwirtschaft durch Ludwig Erhard ab. Er setzte die vorbehaltlose Integration Westdeutschland in den Westen durch NATO-Beitritt und Wiederaufrüstung durch. Er legte mit der Gründung der Montanunion und später der EWG zusammen mit Robert Schuman den Grundstein für ein neues Europa. Mit Charles de Gaulle begründete er die deutsch-französische Freundschaft und das besondere Verhältnis der beiden für Europa zentralen Länder.Willy Brandt (SPD) setzte 1969–1974 mit der Ostpolitik die formale Anerkennung der vom Zweiten Weltkrieg in Europa geschaffenen Realitäten durch die Bundesrepublik durch. So erweiterte er ihren künftigen Handlungsraum und ermöglichte einen Prozess der Verständigung zwischen dem Westen und den Ländern des Ostblocks. Der Abbau der Konfrontation war das Ferment, das jene Gärung im Ostblock beförderte, die zum Zusammenbruch der sozialistischen Systeme führte und letztlich auch die deutsche Wiedervereinigung ermöglichte.Helmut Schmidt (SPD) wandte sich in seiner Regierungszeit (1974–1982) mit Mut und Tatkraft gegen die Linkstendenzen der eigenen Partei. Er bekämpfte den RAF-Terror und schuf nach der ersten Ölkrise neue Formate der internationalen Zusammenarbeit. Gegen die eigene Partei setzte er in der NATO die Nachrüstung mit nuklearen Mittelstreckenraketen durch. Die Russen erkannten, dass sie den Rüstungswettlauf nicht gewinnen konnten, das war einer der Gründe für Glasnost und Perestroika und eine der Voraussetzungen für den späteren Mauerfall und die Wiedervereinigung.Helmut Kohl (CDU) setzte in seiner langen Zeit als Bundeskanzler (1982–1998) zwei grundlegende europapolitische Reformen durch: den Fortfall der Grenzkontrollen im sogenannten Schengen-Raum und die Europäische Währungsunion. Beide Integrationsschritte erwiesen sich im Nachhinein als nicht ausreichend durchdacht. Ihre unbeabsichtigten Konsequenzen haben immer wieder die Stabilität der Europäischen Union bedroht und stehen auch heute noch im Zentrum aller großen europäischen Krisen. Zum bedeutenden Staatsmann wurde Helmut Kohl, als er nach dem Mauerfall die Chance der deutschen Einheit beherzt ergriff und die Wiedervereinigung Deutschlands gegen alle Widerstände in nur zwölf Monaten geschickt verwirklichte. Unbeabsichtigt bereitete er damit auch Angela Merkel die gesamtdeutsche Bühne. Wie überlieferte Äußerungen dokumentieren, hasste er sie nach dem Ende seiner Kanzlerschaft von ganzem Herzen, weil sie ihn wegen der Parteispendenaffäre als Ehrenvorsitzenden vom Thron gestoßen hatte und letztlich – so sah er es – auf seine Kosten zur Parteivorsitzenden und zur Bundeskanzlerin aufstieg.

Als Leistungsbilanz aus der Kanzlerschaft Angela Merkels verbleibt auf der Habenseite, dass Deutschland als Nation, als Gesellschaft und als Volkswirtschaft weitere 16 Jahre ohne Krieg, ohne Massenarbeitslosigkeit und bei insgesamt positiver wirtschaftlicher Entwicklung durchlebt hat. Auf der Sollseite steht, dass die großen und wesentlichen Zukunftsfragen

Wie schafft man nach dem Atomausstieg die Energiewende?Wie geht es weiter mit der Europäischen Union?Wie schützen wir Deutschland und Europa vor unerwünschter Einwanderung?Wie bekämpft man sinkende Bildungsleistung und abnehmende Innovationskraft?

sowohl konzeptionell als auch operativ ungelöst blieben. Zu Angela Merkels Erbe gehört eine allmähliche Erstarrung der Strukturen in Deutschland, gepaart mit Fantasielosigkeit. Im Nachhinein könnte sich dieses Erbe als Vorbote eines Niedergangs erweisen.

Die Personalpolitik Angela Merkels

Im Umgang mit Mitstreitern, Konkurrenten und politischen Gegnern war Angela Merkel stets pragmatisch, machtbewusst und gänzlich unsentimental. Das ermöglichte ihr den Machtgewinn und sicherte auch die lange Zeitdauer ihrer Kanzlerschaft. Es war sicherlich auch ein Resultat ihrer Sozialisation in der ehemaligen DDR, dass sie sehr gut warten, beobachten und den Mund halten konnte.

Trotz ihrer oft zögerlichen und umständlichen Ausdrucksweise war sie in einem Punkt kommunikativ sehr trittsicher: Sie sagte kaum je etwas Emotionales oder Unbedachtes – und oft lange nichts. So vermied sie in den 21 Jahren Parteivorsitz und Kanzlerschaft zumeist Kommunikationsfehler von größerem Gewicht und erschwerte es ihren Gegnern und Konkurrenten, sie richtig einzuschätzen.

Am Anfang ihres politischen Aufstiegs standen der »Vatermord« an ihrem politischen Förderer Helmut Kohl und die Ablösung von Wolfgang Schäuble als Parteivorsitzender. Ihren politischen Konkurrenten Friedrich Merz entmachtete sie 2005, indem sie ihn durch ihre Absprache mit Edmund Stoiber als Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion ablöste. Machtpolitisch stand Merz unter der Parteivorsitzenden, Fraktionsvorsitzenden und später Bundeskanzlerin Angela Merkel fortan im Abseits, sodass er 2009 die Politik verließ.

Den hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch, der mit seinem scharfen Intellekt und seiner konservativen Ausrichtung von vielen in der Union als ihr Kontrastprogramm wahrgenommen wurde, hielt sie stets auf Abstand. Er hatte nie Chancen auf eine Position im Bundeskabinett.

Wenn Weggefährten oder Mitarbeiter zu einer politischen Belastung wurden, trennte sie sich zügig von ihnen. Das mussten die ersten beiden CDU-Generalsekretäre unter ihrer Führung, Ruprecht Polenz und Laurenz Meyer erfahren. Arbeitsminister Franz Josef Jung musste 2011 nach nur vier Wochen im Amt als Arbeitsminister gehen, weil er zuvor als Verteidigungsminister die sogenannte Kundus-Affäre unzureichend gemanagt hatte. 2012 entließ Angela Merkel den tüchtigen Umweltminister Norbert Röttgen, weil unter seinem Landesvorsitz die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen für die CDU spektakulär verloren ging.

Drei Bundesminister gingen Angela Merkel gegen ihren Willen wegen aberkannter Doktorgrade verloren: 2011 der Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg, 2013 die Bildungsministerin Annette Schavan und im Mai 2021 die Familienministerin Franziska Giffey.

Ihr dritter Generalsekretär, Volker Kauder, wurde Ende 2005 ihr Nachfolger als Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und gehörte zu ihren engsten Vertrauten, bis er nach 13 Jahren im September 2018 den Fraktionsvorsitz in einer Kampfabstimmung gegen Ralph Brinkhaus verlor. Angela Merkel las dies offenbar als Zeichen für einen beginnenden Autoritätsverfall und erklärte wenige Wochen später ihren Verzicht auf das Amt der Parteivorsitzenden.

Mit den Personen, denen sie vertraute, arbeitete Angela Merkel langjährig zusammen:

Wolfgang Schäuble 12 Jahre als Innen- und FinanzministerThomas de Maizière 12 Jahre als Chef des Kanzleramts, Verteidigungsminister und InnenministerUrsula von der Leyen 14 Jahre als Ministerin, zuletzt für VerteidigungRonald Pofalla acht Jahre als Generalsekretär und Chef des Kanzleramts