Die Verschwörung des Raben - Sylvia Kaml - E-Book
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Die Verschwörung des Raben E-Book

Sylvia Kaml

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Beschreibung

Nick Markers lebt in Nijmegen, das durch die Erderwärmung eine Küstenstadt geworden ist. Nach dem Zusammenbruch Europas stehen die Zukunftsaussichten für Bewohner dieser äußeren Regionen schlecht. Genährt von Frustration steigt eine neue Gruppierung auf, deren Anführer gerade jungen, fähigen Leuten eine bessere Zukunft verspricht. Auch Nick, der trotz der allgegenwärtigen Propaganda anfangs kein Interesse an den „Street Ravens" zeigt, verfängt sich in ihrem Netz. Als ein guter Freund von ihm ins Visier der Organisation gerät, wird seine Loyalität zu der Bande auf eine harte Probe gestellt.

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HYBRID VERLAG

2. überarbeitete Auflage

05/2018

 

 

 

© 2014 by Sylvia Kaml

© 2018 by Hybrid Verlag, Westring 1, 66424 Homburg

 

Umschlaggestaltung:

© 2018 by Creativ Work Design, Homburg

Lektorat:

Dirk Paulsen, www.westext.de/fighter

Grafik Rabe:

Pixabay

 

 

Coverbild ›Predyl‹

© 2018 by Creativ Work Design, Homburg

 

 

 

 

ISBN 978-3-946-82030-7

 

www.hybridverlag.de

www.hybridverlagshop.de

 

 

 

Sylvia Kaml

 

 

Die Verschwörung des Raben

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Dystopie

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für meine liebsten Verlagskollegen Paul,

Robby und Michael.

Ihr wisst, warum.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

22.

23.

24.

25.

26.

27.

28.

29.

30.

31.

32.

33.

34.

35.

36.

37.

38.

Epilog

DIE AUTORIN

 

 

Prolog

 

Jetzt habe ich dich!

 

Mit einem Knall landete das zusammengerollte Magazin auf der Fliege, die keine Chance mehr zur Flucht hatte. Ladenbesitzer Walter Geppert schnippte den Kadaver weg. Endlich Ruhe. Auch ohne diese Mistviecher war es unerträglich, seit die Klimaanlage im Geschäft den Geist aufgegeben hatte.

Geppert griff nach einer Papierserviette und wischte sich den Schweiß von Stirn und Nacken. Es war wieder einmal so ein Jahrhundertsommer. Wie im letzten Jahr … und dem davor. Er lehnte sich im Stuhl zurück, der unter dem Gewicht seines Körpers ächzte. Auf dem Flachbildschirm an der Wand über ihm war die Sportreportage von einer Geschichtsdokumentation abgelöst worden.

»Europa versucht mit aller Kraft, die Klimaveränderungen in den Griff zu bekommen«, kommentierte eine weibliche Stimme den Filmbeitrag. Sie klang leicht rauchig, wie bei einer Jazzsängerin. Geppert stellte sich die Frau vor: brünett, schlank, hochgewachsen, dunkle Augen und volle Lippen …

»Durch die Weigerung der anderen Weltmächte bleiben diese Anstrengungen jedoch erfolglos und werfen Deutschland wirtschaftlich zurück. Der Austritt Großbritanniens und vieler anderer Länder aus dem europäischen Verbund stellt eine zusätzliche Belastung dar. Die Folgen spüren wir bis heute …«, berichtete die Journalistin. Gepperts Fantasie verpuffte. Die Stimme klang zu seriös und die Worte zu deprimierend. »Doch der Klimakatastrophe entkommt am Ende niemand. Wüsten wie die Sahara dehnen sich über die Ländergrenzen hinweg unaufhaltsam aus. Die Küsten werden von Flutwellen überrollt, ganze Millionenstädte, wie diese Filmaufnahmen von San Francisco aus den letzten Jahrzehnten zeigen, verschwinden vollkommen im Meer …«

»Kanal Zwei!«, befahl Walter genervt. Der Fernseher ignorierte den Befehl. »Kanal Zwei, du verflixte Schrottkiste.« Zwecklos, die Spracherkennung reagierte nicht. Er versuchte, das Programm mithilfe der App seiner Smartwatch zu wechseln. Vergeblich. Wo war nur die gute alte Zeit, in der es noch gewöhnliche Fernbedienungen gab?

»In Amerika bricht der Bürgerkrieg aus. Die afrikanische Handelsgemeinschaft verbündet sich mit China. Russlands Übernahme der osteuropäischen Staaten provoziert ein Handelsembargo von Europa. Die ehemals starke und blühende EU droht zudem, mit ihren Küsten zu versinken«, informierte nun eine männliche Stimme. Der Bildschirm zeigte Europa, wie es früher ausgesehen hatte: Die Küstenregionen nicht überschwemmt und die Landschaft mit Wäldern und Wiesen durchzogen. Die Jahreszeiten waren damals noch stabil und geordnet, ohne stetige Verwüstungen durch Stürme und Flutwellen.

Walter klopfte erneut auf dem Display der Uhr herum, das für seine breiten Finger viel zu klein war. Das Licht im Laden ging aus und an, das Dachfenster öffnete sich surrend. Fluchend unterdrückte er den Drang, das teure Gerät vom Handgelenk zu reißen und es gegen die Wand zu schmettern.

»Die Großstädte der Ballungsgebiete vereinen sich zu riesigen Metropolen. So wie die Ruhrstadt im Ruhrgebiet, die heute unser einziger verbliebener Wirtschaftsmotor ist -« Er schaltete den Ton aus, wenigstens das funktionierte.

Verbliebener Wirtschaftsmotor, dass ich nicht lache, dachte er missmutig. Arrogante Arschlöcher sitzen da, kriechen vor China im Staub und schieben denen die Kohle in den Arsch, die uns hier fehlt.

Die Ladentür glitt auf. Walter hob den Kopf und runzelte die Stirn. Diese Person im Kapuzenshirt wirkte seiner Erfahrung nach zu wenig zielstrebig, um ein echter und vor allem zahlender Kunde zu sein. Er würde den Typen im Auge behalten müssen.

Der junge Mann schritt die Regale ab, die Kapuze über dem Kopf und stets so, dass Walter sein Gesicht nicht erkennen konnte.

Kurze Zeit später öffnete sich die Tür erneut. Was war denn das für ein Taubenschlag heute?

Ein Junge trat ein. Dieser war eindeutig zu klein und schmal, um schon volljährig zu sein. Walter bildete sich ein, das Alter von Teenagern einschätzen zu können. Doch was suchte der in einem Spirituosen-Geschäft? Ausgerechnet jetzt, wo dieser verdächtige Typ mit Kapuze hier herumgeisterte. Aus dem Augenwinkel warf er einen Blick auf das Gewehr unter dem Tisch. Unterschätzen sollte man die Kids heutzutage nicht. Wenn diese halbe Teppichratte Ärger machte oder gar der andere Typ mit einer Flasche abhauen wollte – er war gewappnet.

Der junge Besucher blieb kurz am Eingang stehen und ging dann auf den Tresen zu, hinter dem Walter saß. Ein braunhaariger Teenager, vielleicht vierzehn oder fünfzehn Jahre alt. Seine Haltung war aufrecht.

Walter schielte erneut auf die Waffe unter dem Tisch. Der Junge hatte den Ladentisch erreicht.

»Kinder ohne Begleitung eines Erwachsenen haben hier keinen Zutritt«, fuhr Geppert ihn mit barscher Stimme an. »Raus mit dir!«

Wider Erwarten schreckte der Junge vor dem Ton nicht zurück. Er schien ihn gewohnt zu sein.

»Ich will nichts für mich kaufen, sondern für meine Mutter.« Seine Stimme klang klar und kräftig.

Walter bemerkte jedoch, dass der Junge die Hände in den Hosentaschen zu Fäusten geballt hatte. So abgebrüht, wie er tat, war er offensichtlich nicht.

»Dann schicke deine Mutter her, du Zwerg. Ich würde mich strafbar machen, einem Minderjährigen Alkohol zu verkaufen. Wie stellst du dir das vor?«

Die Schultern des Jungen zogen sich fast unmerklich nach oben, doch er gab noch nicht auf.

»Ich habe Kredits.«

Walter zog die Brauen zusammen. War das ein Test? Hatten den vielleicht die Bullen geschickt? Er sah kurz zu der anderen Gestalt, die jedoch völlig in die Auswahl der Whiskeyflaschen vertieft zu sein schien. Sein Blick ging wieder zu dem Jungen.

»Was brauchst du denn?«

Der Teenager wies auf die Schnapsflaschen vor ihm im Regal. »Drei davon.«

»Das macht 120 Kredits«, sagte Walter barsch.

Der Junge schluckte. »Aber auf dem Preisschild steht 28, das wären nur 84 Kredits.«

»So, rechnen kannst du also«, stellte Geppert kühl fest. Er stand auf und stemmte die Fäuste in seine speckigen Hüften. »Hör zu, du kleine Ratte«, tönte er. »Ich mache hier für dich etwas Illegales. Das kostet Gefahrenzulage. Entweder du gibst mir 120 für die Flaschen oder du verziehst dich. Kannst ja gerne versuchen, woanders was günstiger zu bekommen.«

Der Junge wurde blass und sah zu Boden. »Gut … okay.« Er reichte Walter einen Kreditstick, aber der schob ihn nicht in die Kasse, sondern holte ein externes Gerät hervor, das sicher nicht mit dem Finanzamt verbunden war. Doch der Junge schwieg und bezahlte schwarz. Seine Finger zitterten merklich, als er den PIN eingab. War es Verzweiflung oder Wut? Walter wusste es nicht und es war ihm auch egal. Er packte die drei Flaschen in eine neutrale Tüte.

Der Junge nahm sie und verließ den Laden. Walter versteckte rasch das Gerät und sah dem Teenager nach. Er hatte kein Mitleid. Das mit der Mutter war doch gelogen. Wenn einer so jung schon harten Fusel trank, würde er ohnehin nicht lange leben. Wie auch immer, es hatte ihn nicht zu kümmern. Je eher dem Jungen das Geld ausgehen würde, desto besser.

Aus den Augenwinkeln nahm Walter plötzlich eine Bewegung wahr. Er zuckte erschrocken zusammen. Der Typ im Kapuzenshirt stand wie aus dem Boden gewachsen direkt neben ihm. Geppert brauchte einen Moment, um sich zu sammeln. Er war so in seine Gedanken versunken gewesen, dass er die Annäherung nicht bemerkt hatte.

»Und was wollen Sie?«, fragte er barsch, um sich seinen Schrecken nicht anmerken zu lassen. Was, wenn das doch ein Polizist war? Die Chance auf einen schnellen Verdienst hatte Geppert unvorsichtig werden lassen. Der Typ wäre in der Lage, ihm seinen Gewinn sofort wieder als Schweigegeld abzunehmen.

Der junge Mann stand nur da und sah ihn ausdruckslos an. Jetzt erst merkte Walter, wie blau seine Augen waren. Unter der Kapuze war er unverkennbar blond. Eine Seltenheit heutzutage. Kein Wunder, dass er verhüllt blieb. Auch wenn dieser Typ sicher schon Mitte zwanzig war, von der chinesischen Prostitutionsmafia blieb normalerweise keiner verschont, der so aussah.

»Ich bräuchte eine Unterkunft für ein paar Freunde.« Die Stimme des jungen Mannes war beinahe so monoton wie seine Gesichtszüge.

Walter lachte trocken auf. »Steht da Hotel über der Tür oder was? Raus mit dir, aber plötzlich. Sonst rufe ich die Ordnungshüter. Die packen deinen Hintern schneller in einen Zwinger, als du schauen kannst!« Er schüttelte fassungslos den Kopf.

… oder verkaufen dich an die chinesische Mafia, du verhüllter Blondschopf. Dort landet ihr ohne Unterkunft so oder so bald, fügte er in Gedanken hinzu.

Der Mann nickte. »Dein Verhalten eben hatte meinen Verdacht schon bestätigt«, sagte er ruhig. »Man sieht sich immer zweimal im Leben, denke daran.«

»War das eine Drohung, oder was?«, fauchte Geppert. »Hör zu, du Halbstarker! Ich bin seit zwanzig Jahren in diesem Bezirk und habe Freunde, die so einen Schmalhans wie dich mit dem kleinen Finger fertigmachen. Also kauf etwas oder zieh Leine.«

Geppert wies mit einer Hand zur Tür und holte mit der anderen drohend sein Telefon hervor. Die hellblauen Augen des Besuchers sahen ihn einen Moment lang starr an, als machten sie ein Foto. Dieser Blick jagte Walter eine Gänsehaut über den Rücken. »Raus!«

Der junge Mann drehte sich um und verließ mit demonstrativer Ruhe den Laden.

Geppert sah ihm nach und sackte zurück auf den Stuhl. Er spürte noch immer ein Kribbeln im Nacken, das er sich nicht erklären konnte.

Zu viele Irre hier in Nijmegen, dachte er und schüttelte den Kopf.

Kurz darauf galt seine Aufmerksamkeit einer Fliege, die über die Todesstelle ihrer Vorgängerin krabbelte. Das Mistvieh musste mit einem der beiden Besucher durch die Tür gekommen sein.

Walter griff nach dem Pornoheft, rollte es zusammen und schlug zu.

1.

6 Jahre später …

 

Der Knall der ins Schloss fallenden Tür hallte durch das leere Treppenhaus. Zwei Stufen auf einmal nehmend rannte Nick die Stockwerke hinunter und hinaus auf die Straße. Er wollte nur fort, raus aus diesem heruntergekommenen Wohnblock, raus aus dieser dreckigen, trostlosen Stadt mit ihren Menschen ohne Zukunft. Bald würde er einer von ihnen sein, wenn Mutter sein Geld weiterhin für Alkohol ausgab. Nein, es war genug, er musste hier weg.

Erst als er das Wohnhaus ein Stück hinter sich gelassen hatte, wurde er langsamer. Gedankenverloren stieg er über das zersplitterte Glas einer Straßenlaterne, die niemand reparieren würde. In Nijmegen gab es auch keine blinkenden Leuchtreklamen wie in der Ruhrstadt. Die Regierung baute hier billige, graue Betonkästen als Sozialunterkünfte und hoffte wohl, dass die immer häufiger werdenden Sturmfluten das soziale Problem bald erledigten. Die halben Niederlande waren mittlerweile überschwemmt und Nijmegen wurde zu einer Küstenstadt.

Ziellos irrte Nick durch die nächtlichen Straßen, streng darauf bedacht, Gefahrenzonen wie den Bahnhof oder unbeleuchtete Parks zu meiden. Die grauen Häuser wirkten trotz der vielen Graffitis trostlos. Ein fast leerer, selbstfahrender Linienbus rauschte an ihm vorbei und wirbelte eine Plastiktüte im Rinnstein auf. Sie drehte sich einige Male in der Luft und landete wieder auf dem vom Regen aufgeweichten Brei aus Verpackungsmüll. So spät waren kaum andere Autos unterwegs. In dieser Gegend besaßen nur noch wenige Menschen ein eigenes Fahrzeug.

Nick steckte die Hände in die Hosentaschen und kickte lustlos einen zertretenen Styroporbecher vor sich her. Warum hatte ihn das Schicksal in den Norden verbannt? Warum hatte er nicht in der Ruhrstadt aufwachsen können? Dann würde er vermutlich mit anderen Jugendlichen in einem der Klubs von Düsseldorf oder Köln sitzen und sich den Kopf mit Alkohol und Drogen zudröhnen. Laute Musik und rhythmische Lichtblitze würden sein Gehirn auf Leerlauf schalten und heiße Bräute würden für ein paar Pillen alles tun. Er würde die Kredits seiner Eltern ausgeben und sich nicht darum kümmern, dass auch deren Konto bereits überzogen war und dass er und die folgenden Generationen bald ebenfalls Sklaven der großen Kreditkonzerne Asiens sein würden. Was soll’s, Hauptsache man hatte Spaß und einen vollen Bauch.

Nein, dachte er dann. Daniel, sein Vater, hätte ihm sicher Verantwortung eingebläut und ihn auf eine Universität in Chengdu oder Kapstadt geschickt.

So sehr er sich auch dagegen sträubte, drang doch die Erinnerung an seine Mutter zurück in seine Gedanken. Was sollte er nur tun? Nick hatte bereits seit einiger Zeit aufgehört, diese Frau zu lieben. Schon lange war sie nicht mehr die Mutter, die er von früher kannte, sondern eine Fremde, die stets betrunken in ihrer eigenen Welt dahinvegetierte. Wahrscheinlich in der Vergangenheit. Denn nichts war schlimmer als die Gegenwart, und eine Zukunft gab es nicht.

Nick hatte nur so lange bei ihr ausharren können, weil die Erinnerungen an seine frühere, liebevolle Mutter ihm Halt gegeben hatten. Die Hoffnung, er könnte ihr helfen, wieder zu werden wie damals, musste er begraben, obwohl er die Motive verstand, die sie in den Alkohol trieben. Doch der war kein Ausweg, sondern eine Sackgasse - nein, eine Schussfahrt in den Untergang.

Also packte er alles, was er besaß, in einen Rucksack. Den Chip mit seinen letzten Kredits, die sie ihm noch nicht abgebettelt hatte, versteckte er in seinen Socken, bevor er die abgenutzten Turnschuhe anzog. Er wollte sich verabschieden, ihr vielleicht seine Gründe erklären, doch sie warf eine leere Schnapsflasche nach ihm, ehe er noch etwas sagen konnte. Ohne einen weiteren Versuch verließ er die Wohnung.

Verzweifelt ließ Nick sich in einer engen Gasse an einer Häuserwand zu Boden sinken und vergrub sein Gesicht in den Händen. Er hatte seit bestimmt zehn Jahren nicht mehr geweint, nicht einmal beim Tod seines Vaters. Doch nun tat er es.

 

Irgendwann – er musste eingeschlafen sein – ließ ihn ein derber Fußtritt in die Rippen zusammenzucken. Nick riss die Augen auf.

»He Leute«, sagte die Figur, die über ihm stand. Es war ein Jugendlicher, dessen Kopf von schwarzen Locken umkränzt wurde. Es wirkte wie die Perücke eines Clowns. Nick richtete sich blinzelnd auf.

»Schaut doch mal, was hier für große Ratten herumliegen«, höhnte der Fremde grinsend. Die weißen Zähne hoben sich deutlich von seiner dunklen Hautfarbe ab. Es näherten sich noch zwei andere Gestalten, die man in der Dunkelheit nicht genau erkennen konnte. Nick spürte aber, dass sie ihn anstarrten und versuchte, sich seine Angst nicht anmerken zu lassen. Hastig wollte er aufstehen, als ihn ein Stiefel auf seiner Schulter mit energischem Druck zurück auf den kalten Boden zwang.

»Was soll das?« Nick hoffte, sich nicht durch ein Zittern in der Stimme zu verraten. »Was wollt ihr von mir? Wenn ihr auf Kohle aus seid, dann seid ihr an der falschen Adresse.«

Der Lockenkopf lachte. »Schau an, die Ratte kann sogar sprechen. Geld würden wir bei so einem wie dir auch nicht erwarten.«

»Was wollt ihr dann?« Er konnte sich wohl glücklich schätzen, wenn sie ihm nur Rucksack und Schuhe nehmen würden.

»Was wir wollen? Deine Seele, damit wir sie dem Teufel opfern können«, sagte der Sprecher mit Grabesstimme und die anderen lachten. Sie verstummten sofort, als eine weitere Gestalt auftauchte.

»Was ist hier los?« Es war ein junger Mann, schmal und groß. Das schwache Gegenlicht einer noch funktionierenden Straßenlaterne zeichnete lediglich die Umrisse ab. Sein Gesicht war von langen, dunklen Haaren umgeben. Die anderen wichen respektvoll zurück.

Auch Wuschelkopf ließ von Nick ab und trat ebenfalls nach hinten. »Nur ein bisschen Spaß«, entschuldigte er sich. »Die Ratte pennt schließlich in unserem Revier.«

Der offensichtliche Anführer des Trupps blickte beinahe angewidert zu Nick herunter, der nun endlich aufstehen konnte. Der Absatz des Stiefels hatte auf seiner Schulter einen schmerzenden Abdruck hinterlassen. »Lasst ihn, wir müssen los«, sagte der Langhaarige in abfälligem Ton. Wuschelkopf zögerte kurz, doch ein eisiger Blick ließ ihn gehorchen.

Die Gruppe setzte sich in Bewegung.

Da drehte sich der Anführer noch einmal um und betrachtete Nick abschätzend. Nun konnte man sein Gesicht erkennen. Es war schmal, mit einer markanten Nase und starren, ausdruckslosen Augen.

Nick schätzte ihn auf Anfang zwanzig, etwa so alt wie er selbst.

»Wer bist du?«, fragte der Mann und musterte ihn dabei aufmerksam. »Ich habe dich noch nie hier gesehen.«

»Ich … ich bin nicht aus diesem Bezirk.« Seine Antwort kam zögerlich. Er wollte nicht verraten, dass er keine Unterkunft mehr hatte. Theoretisch konnten diese Typen ihn an die Ordnungshüter verpfeifen.

Die Augen des Mannes verengten sich. »Du solltest besser darauf achten, wo du pennst. Unter normalen Umständen, hätte ich den Jungs ihren Spaß gelassen.« Er drehte sich zum Gehen.

»Kann ich die Nacht noch hierbleiben?«, rief Nick ihm hinterher. Er wischte sich verlegen mit der Hand über Hals und Nacken. Der Angstschweiß kitzelte.

Der Langhaarige grinste überheblich. »Meinetwegen, wenn dir so viel daran liegt«, erklärte er spöttisch. »Aber Personenschutz ist nicht inklusive. Also keine Klagen, falls dich eine andere Bande überfällt.«

»Und zu welcher gehört ihr?«

»Das wirst du noch früh genug erfahren.« Der Mann hob das Kinn, drehte sich um und ging.

Unheimliche Typen, dachte Nick und war froh, dass sie endlich in der Dunkelheit verschwunden waren. Er setzte sich wieder auf den Boden, wollte aber nicht mehr schlafen. Er hatte keine Lust, von einer vielleicht weniger nachgiebigen Bande überrascht zu werden. Und einer Festnahme wegen unerlaubten Übernachtens auf der Straße konnte er nur durch Flucht entgehen. Aber zum Herumwandern war er einfach zu müde und ausgelaugt.

2.

 

Irgendwann war er doch wieder eingeschlafen. Das Licht eines Sonnenstrahls auf seinen Lidern weckte ihn. Nick schlug die Augen auf, blinzelte und wusste im ersten Moment nicht, wo er sich befand. Er war steif vor Kälte vom Schlafen auf dem Asphalt. Langsam kamen ihm die Geschehnisse des gestrigen Tages wieder in Erinnerung. Er war allein, auf sich gestellt. Im Grunde war er das zwar schon die ganze Zeit gewesen, aber jetzt hatte er nicht mal mehr ein Dach über dem Kopf.

Betrübt nahm er den Rucksack, der ihm als Kopfkissen gedient hatte, stand auf und hauchte sich in die unterkühlten Hände, bis er sie wieder spürte. Dann vernahm er ein forderndes Knurren in der Magengegend. Ein Gefühl, das ihm durchaus vertraut war. Er bemerkte den beruhigenden Druck des Kreditsticks in seinem Socken: Beklaut hatte ihn zum Glück niemand.

Nick beschloss, zu »Tonis Eethuis« zu gehen. Toni war ein guter Freund, er würde sicher helfen. Vielleicht wusste er auch, wo ein anständiger Job und eine Bleibe zu finden waren, denn Nick war klar: Wenn er noch öfter auf der Straße schlief, würden die Ordnungshüter ihn früher oder später aufgreifen, mitnehmen und unangenehme Fragen stellen. Wer sich nicht mehr selbst versorgen konnte, war verpflichtet, sich bei der Reservat-Behörde zu melden. Aber er hatte nicht das Verlangen, eingesperrt in einem Zwinger auf der Insel Gelderland dahinzuvegetieren.

Als er Tonis Restaurant betrat, begrüßte ihn sein zwanzig Jahre älterer Kumpel erfreut. Er hatte gerade eine Bestellung aufgenommen und kam Nick entgegen. Toni war klein und drahtig, mit schwarzen Haaren und einem sympathischen Lachen, das stets bis zu den Augen reichte. Er trug seine rote Schürze, die ihn auf seltsame Weise noch kleiner aussehen ließ. »Ciao Nicolai«, rief er ihm mit seinem leicht italienischen Akzent entgegen. »Nett, dass du wieder mal vorbeischaust. Wie läuft es zu Hause?«

Nick zuckte lässiger die Schultern als ihm zumute war. »Ich bin raus da. Diesmal endgültig.«

Tonis Lächeln gefror, er nickte verständnisvoll. »Wo bist du untergekommen?«

»Noch nirgends. Ich habe die Nacht im Freien gepennt. Irgendwo im vierten Bezirk.«

Der Italiener riss die Augen auf. »Auf der Straße? Santo cielo! Um Himmels willen, das ist doch viel zu gefährlich. Warum bist du nicht zu mir gekommen? Auch noch der Bezirk, in dem sich die Street Ravens ausbreiten.«

»Street Ravens?« Nick fuhr innerlich zusammen, als ihm seine nächtliche Begegnung wieder einfiel. War er etwa diesen Typen begegnet? »Was weißt du über die?«

Sein Freund winkte ab. »Das hat Zeit bis nachher. Du musst dich erst einmal aufwärmen und etwas essen, sonst kippst du mir noch um. Setz dich da hinten an den Tisch, ich bring dir gleich was.« Toni schob ihn in Richtung der leeren Sitzecke am Fenster.

»Ich habe auch noch ein paar Kredits, wenn du …«

»Willst du mich beleidigen?« Sein Freund fiel ihm mit einer heftigen Handbewegung ins Wort. »Ich will keinen Cent von dir, hast du gehört? Das Geld wirst du noch bitter brauchen. Setz dich hin, wir können später reden.«

Nick folgte der Aufforderung und ließ sich auf dem dunkelroten Kunstleder der Sitzbank nieder. Die Polster der Bänke und Stühle waren reichlich abgenutzt und an einigen Stellen lugte schon der gelbe Schaumstoff hervor. Dennoch saß man sehr bequem, auch wenn die Möbel einem Vergleich mit den körperformanpassenden Sitzmöglichkeiten in den Restaurants der Ruhrstadt nicht mehr standhalten konnten. Aber die Atmosphäre war angenehm und der Raum liebevoll im italienischen Stil eingerichtet. Auch wenn Toni der Nachfrage folgte und hauptsächlich günstiges Fast Food servierte, versuchte er, den Flair eines echten Restaurants zu wahren. Es war zwar nur ein kleines Lokal mit wenigen Tischen, aber hier vergaß man leichter seine Alltagssorgen und verweilte gerne.

Auch Nick empfand das so. Sein Freund trug ihm bald darauf ein reichhaltiges Frühstück auf. Nick spürte eine angenehme Trägheit, als er wenig später satt und aufgewärmt in seiner Ecke saß. Er lehnte sich mit einem Kaffee in der Hand zurück und beobachtete das Treiben im Lokal. Ihm fiel auf, wie kumpelhaft und freundschaftlich Toni mit seinen Gästen umging, und auch, dass er viele anschreiben ließ. Der Italiener kam einfach nicht aus seiner Haut, dachte Nick und erinnerte sich an früher. An das bessere Früher. Er war in diesem Moment zufrieden und genoss dieses seltene Gefühl.

Als nach einiger Zeit der letzte Gast verschwunden war, setzte Toni sich zu ihm an den Tisch. »Das ist die Flaute zwischen halb elf und zwölf, danach rennen sie mir wieder die Bude ein und wollen Mittagessen. Na wenigstens können wir jetzt reden.«

,Bude einrennen‘ war natürlich übertrieben. Toni machte es sogar alleine kaum Mühe, die wenigen Gäste zu bewirten.

»Danke für das Essen.«

»Wie geht es Rita?«

»Unverändert«, sagte Nick knapp. Er verspürte keinerlei Lust, jetzt über seine Mutter zu sprechen.

»Mach dir bloß keine Vorwürfe, Amico«, erklärte Toni eindringlich. »Du bist das Opfer. Du hast keine Schuld an ihrer Misere. Es ist ihr Leben und du darfst dein eigenes nicht wegwerfen für sie.«

Nick blickte stumm auf den Tisch vor sich und hellbraune Haarsträhnen fielen ihm ins Gesicht. Seine Hände umklammerten die mittlerweile leere Kaffeetasse. Das Porzellan war wieder kalt. »Es ist dennoch schwer«, meinte er leise.

Die dunklen Augen des Italieners musterten ihn. »Wir haben alles getan, um ihr zu helfen. Das hast du sicherlich nicht vergessen. Wenn du sie in diesem Zustand weiter unterstützt, kommt sie da nie heraus und reißt dich mit hinab. Du musst dir erst einmal etwas Eigenes aufbauen, dich um dich selbst kümmern. Dann kannst du vielleicht zurück und ihr helfen.«

Nick sah auf und schob sich mit einer Hand die halblangen Haare aus der Stirn, als wolle er damit auch seine trüben Gedanken fortwischen. »Du wolltest mir von den Street Ravens erzählen. Das ist so eine neue Gang, oder?«

Das Gesicht des Italieners wirkte maskenhaft. Er schien eigenen Erinnerungen nachzuhängen.

»Sie sind mehr als nur eine gewöhnliche Bande«, erzählte er, den Blick in die Ferne gerichtet. »Sie sind weitaus gefährlicher. Was die Typen wirklich vorhaben, weiß niemand so genau, aber es heißt, sie seien dabei, von hier aus ganz Europa zu unterwandern.«

Nick fand den Gedanken, von diesem Kaff aus Europa unterwandern zu wollen, ziemlich weit hergeholt. »Sind denn ein paar Jugendliche so gefährlich?«

»Glaube es nur, sie werden von einem ziemlich hellen Kopf angeführt.«

»Ist der schmal, groß und langhaarig?« Nick kam der letzte Abend wieder in den Sinn.

»Nein, eher das Gegenteil. Kristof Korp hat kurze, blonde Haare und ist nicht viel größer als ich. Er müsste vom Alter her etwa zwischen uns liegen. Wieso fragst du?«

»Ich bin gestern Nacht einigen seltsamen Gestalten begegnet.«

»Du bist was?«

Nick erzählte von seinem nächtlichen Abenteuer.

»Das klingt tatsächlich nach Kristofs Leuten«, bestätigte Toni. »So ein langhaariger Typ wurde schon öfter auf Rundgängen gesehen. Da hast du aber einen guten Moment erwischt. Wie ich gehört habe, sitzt bei diesen Kerlen die Waffe extrem locker.«

»Woher weißt du so etwas?«

»Diese Bande lässt hier in der Gegend immer öfter von sich hören. Man munkelt über Schutzgelderpressungen und andere Dinge.«

»Aber wenn der Drahtzieher sogar mit Namen bekannt ist, warum unternimmt die Polizei nichts?«

Toni lachte freudlos. »Es gibt keine Anzeigen. Keines der Opfer scheint bereit, gegen die Bande auszusagen.«

Nicks Augen verengten sich skeptisch. »Gibt es denn dann wirklich Opfer? Vielleicht sind das nur haltlose Gerüchte. Wenn jemand etwas bewegen möchte, stehen dem die Leute doch oft ablehnend gegenüber. Eine Reform ist aber nicht unbedingt negativ. Das Land ist nun mal am Arsch und viel schlimmer kann es schließlich nicht mehr werden.«

Der Italiener zuckte die Schultern, doch seine Stirn lag in Falten. »Wir können nur hoffen, dass sie wirklich für eine gute Sache kämpfen, doch ich bezweifle es. Denn ihre Methoden sind oft – sagen wir es mal vorsichtig – eher zweifelhaft. Wer sich so verhält, kann nichts Gutes im Schilde führen. Diese Typen sind voller Hass und Wut. Die meisten seiner Leute hat Kristof von der Straße geholt oder aus völlig desolaten Elternhäusern befreit. Er selbst behauptet, als Kind aus einem Zwinger entkommen zu sein, was ich mir aber kaum vorstellen kann. Das schafft nicht mal ein Erwachsener.« Toni schüttelte den Kopf. »Wie dem auch sei, sie haben sich gefunden und sie sind gefährlich.«

Nick schwieg und dachte eine Weile über die Worte nach. Dann hob er den Blick wieder. »Woher weißt du das alles so genau?«

»Ich habe Kristof kennengelernt«, erzählte Toni. »Er hat bei mir Essen klauen wollen, als er auf der Flucht war. Ein hagerer, ausgelaugter Teenager von vielleicht fünfzehn oder sechzehn Jahren. Er tat mir leid.« Der Blick des Italieners ging erneut in die Ferne, seine Mimik wurde ausdruckslos. »Ich habe ihn so lange versteckt, bis die Ordnungspolizei nicht mehr nach ihm suchte, und ihm eingetrichtert, einen ordentlichen Beruf zu erlernen und etwas aus sich zu machen. Er war ein intelligenter Junge mit viel Potenzial. Danach verschwand er spurlos. Irgendwann, Jahre später, kam er wieder und bot mir Geld für meine Hilfe an, doch ich lehnte ab. Er sagte mir nicht, woher er plötzlich so viele Kredits hatte, doch er erzählte stolz von seiner Bruderschaft, wie er sie nannte. Als wollte er mich dafür begeistern. Ich habe ihm deutlich gemacht, dass ich nicht – wie er – der Meinung war, Probleme mit Gewalt lösen zu können. Sofort verstummte er und ich bekam nichts mehr aus ihm heraus. Dann verschwand er wieder.« Toni blickte eine Zeit ins Leere. »Tja, und jetzt ist er erneut aufgetaucht und hat in der Zwischenzeit eine recht einflussreiche Organisation aufgebaut. Hätte ich damals schon gewusst, was passieren wird, hätte ich vielleicht einiges verhindern können.«

Nick blieb stumm.

»Nun ja, lassen wir das«, sagte Toni laut, als erwachte er aus seinen Gedanken, und klopfte sich mit der Hand auf das Knie. »Wir wollten doch besprechen, wie es mit dir weitergeht. Du brauchst Arbeit, was?«

»Ja, und ziemlich dringend. Wie wohl jeder Zweite in dieser Stadt.«

»Nun, du hast Glück, ich wollte gerade ein Schild Aushilfe gesucht an die Tür hängen.«

»Das musst du nicht …«, begann Nick, doch Toni verbot ihm mit einer Geste den Mund.

»Keine Widerrede. Wie wäre es mit zwei Kredits die Stunde, dazu freie Kost und Logis? Mehr kann ich dir leider nicht bezahlen«, fügte er etwas beschämt hinzu.

»Das ist schon mehr, als ich verlangen kann, Toni, danke. Hauptsache, ich kann Mutters Miete weiter bezahlen. Aber wo willst du mich denn unterbringen? In deiner Bude ist wirklich kein Platz mehr.«

»Ich dachte, vielleicht kannst du hier pennen. Ein paar Kissen und Decken in den kleinen Raum hinter der Küche … da ist es warm und ich hab jemanden, der nachts den Laden bewacht.«

»Das wäre super, Toni, vielen Dank.«

»Nun, viel kann ich dir leider nicht bieten …«

»Das ist weit mehr, als ich zu hoffen gewagt hatte.«

Toni runzelte die Stirn. »Du zahlst noch die Miete für sie?«

»Das muss ich. Du weißt, wie hoch der verflixte Alkohol besteuert ist. Die Witwenrente reicht da kaum noch für genug zum Essen. Wenn ich es nicht tue, wird sie abgeholt.«

»Vielleicht wäre so ein Zwinger besser für sie …«

»Toni!«

»Entschuldige.« Der Italiener hob beschwichtigend die Hände. »Das habe ich so nicht sagen wollen. Es ist toll, wie du dich noch immer um sie sorgst, obwohl sie dich so oft behandelt hat wie den letzten Dreck. Ich weiß nicht, ob ich das tun würde.«

»Das würdest du«, sagte Nick. »Du sorgst dich doch bereits um so viele Menschen. Auch um mich, und wir sind nicht einmal verwandt.«

»Fast wären wir es gewesen, wenn die Dinge anders verlaufen wären.« Toni zeigte mit dem Finger auf Nick und hob die Brauen. »Du hast es auch verdient, dass sich mal einer um dich kümmert, Amico. Ich hätte dich damals sogar ganz gerne als Sohn angenommen. Wer weiß, ob ein eigener so gut geraten wäre«, scherzte er und stand auf. »Du kannst mir gleich helfen, wenn du Lust hast. Der erste Mittagsgast kommt gerade.«

3.

 

Nick war kein Freund von Gerüchten. Dennoch plauderte er gerne mit drei älteren Herren, die sich jeden Sonntagnachmittag in »Tonis Eethuis« trafen und die er mit der Zeit lieb gewonnen hatte. Sie saßen stets am selben Tisch und bestellten Pizzabrot, dazu alkoholfreien Rotwein.

Eine Lizenz zum Spirituosenverkauf besaß Toni nicht, doch das störte seine Gäste erwartungsgemäß herzlich wenig.

Einen der drei Männer, er hieß Mario und war ein Cousin von Tonis Vater, hatte es nach der letzten Wirtschaftskrise aus Italien hierher verschlagen. Er sprach kein gutes Deutsch, verstand aber jedes Wort. Die beiden anderen waren ebenfalls Wirtschaftsflüchtlinge. Andreas kam aus Griechenland und Gerd aus der Schweiz. Beide zogen vor vierzig Jahren mit ihren Familien in die Ruhrstadt, voller Hoffnung auf Arbeit und ein besseres Leben. Vor zehn Jahren landete ein Großteil der Hoffnungsträger als verarmte Senioren hier im Nordwesten auf dem gesellschaftlichen Abstellgleis.

Die Drei sprachen oft über alte Zeiten, als Europa noch viele Mitgliedsstaaten hatte und blühte. Wenn im Lokal nicht viel zu tun war, luden sie Nick ein, sich zu ihnen zu setzen. Er erfuhr bei den Gesprächen mehr über die Geschichte seines Heimatlandes als früher in der Schule.

Auch heute winkte Andreas ihm zu. »Junge! Hol dir ein Glas und setze dich zu uns. Sauberer wird die Theke heute nicht mehr.«

Nick musste schmunzeln. Er wischte fertig ab, holte sich eines der Weingläser aus dem Regal und ging hinüber.

»Damals war der Name Ruhrstadt immerhin noch berechtigt«, scherzte der hakennasige Grieche gerade und schenkte Nick von dem alkoholfreien Rotwein ein. »Heute reicht sie von Bonn bis hoch nach Münster. Da müsste es eigentlich Rhein-Ruhr-Stadt heißen.«

»Streng genommen gehört Frankfurt auch schon dazu«, sagte Gerd, der Schweizer mit runzligem Gesicht, einem grauen Schnauzer und schneeweißem Haarkranz. »Wie wäre es mit der Bezeichnung Main-Rhein-Ruhr-Metropole?

---ENDE DER LESEPROBE---