Die verzauberte Familie - Marta Kos - E-Book

Die verzauberte Familie E-Book

Marta Kos

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Beschreibung

Kindliche Zeichnungen reflektieren häufig die Spannungen, die das Kind in seiner Familie erlebt. Werden Kinder aufgefordert, ihre Familie zu zeichnen, so kann dies helfen, Familienkonstellationen, Bindungen und Störungen zu erkennen. Mit entwicklungspsychologischem Wissen angewandt, ist "Die verzauberte Familie" ein projektiver Test, der die Hintergründe kindlicher Störungen aufdecken kann. Damit ist er ein wichtiger Bestandteil der Psychodiagnostik des Kindes.

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Marta Kos und Gerd Biermann

Die verzauberte Familie

Ein tiefenpsychologischer Zeichentest

Unter Mitarbeit von Günther Haub

Mit 127 Abbildungen

6. Auflage

Ernst Reinhardt Verlag München Basel

Die Deutsche Bibliothek - CIP Einheitsaufnahme

Kos, Marta:

Die verzauberte Familie: ein tiefenpsychologischer Zeichentest / Marta Kos u. Gerd Biermann. Unter Mitarb. von Günter Haub. - 6. Aufl. - München ; Basel : E. Reinhardt, 2017

(Beiträge zur Psychodiagnostik des Kindes ; 1)

ISBN 978-3-497-02683-8 (Print)

ISBN 978-3-497-61810-1 (PDF E-Book)

ISBN 978-3-497-61811-8 (EPUB E-Book)

© 2017 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in EU

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: [email protected]

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

I.

Geschichte der Familientests

II.

Testanweisung und Testdurchführung

III.

Diagnostik

1.Orale Phase

2.Anale Phase

3.Phallische Phase

4.Latenzphase

5.Pubertät

6.Primär organische Schäden

7.Soziale Neurosen

IV.

Kind und Familie

a)Entwicklung des Kindes in seinen Phasen und deren Störungen

1.Orale Phase

2.Anale Phase

3.Phallische Phase

4.Latenzphase

5.Schulzeit

6.Angst des Kindes

7.Kind und Geschwister

8.Pubertät

9.Identitätsbildung

b)Gestörte Familien — gestörte Umwelt

1.Uneheliche Kinder

2.Heimkinder

3.Adoptivkinder

4.Scheidungskinder

5.Waisenkinder

6.Stiefkinder

7.Kinder aus gestörten Familien

8.Kinder aus Trinkerfamilien

9.Kinder im Familienmilieu Schizophrener

10.Mißhandelte Kinder

11.Flüchtlingskinder

c)Kind, Krankheit und Krankenhaus

1.Psychosomatische Krankheiten des Kindes

2.Chronisch kranke Kinder

3.Nervenkranke Kinder

4.Kind und Krankenhaus

V.

Die formalen Kriterien der Zeichnung

a)Die Raumanordnung

1.Reihung am unteren Blattrand

2.Reihung in der Mitte

3.Reihung am oberen Blattrand

4.Verteilung auf dem ganzen Blatt

5.Diagonale Anordnung

6.Dreieckslösung auf der Waagerechten

7.Horizontale Anordnung in zwei Ebenen

8.Vertikale Anordnung

9.Seitenbevorzugung

10.Höhenbevorzugung

11.Häufungen

b)die Zeichenart

1.Die Reihenfolge

2.Die Komposition

(1)Größenverhältnisse der einzelnen Figuren

(2)Auffällige räumliche Anordnungen

(3)Blickrichtungen

(4)Besonderheiten

3.Die graphische Durchführung

VI.

Die Märchenfassung des Tests

a)Der Schauplatz der Verzauberung

b)Der Personenkreis der Verzauberung

1.Der Zauberer

(1)Erscheinungsformen des Zauberers

(2)Aktivitäten des Zauberers und deren projektive Funktion

2.Die Familienmitglieder

(1)Zeichnen der eigenen und fremden Familie

(2)Veränderungen von Geschlecht und Alter bei normaler Geschwisterzahl

(3)Weglassen oder Hinzufügen von Geschwistern ….

(4)Hinzufügen realer bzw. phantasierter Verwandter, Nachbarn, Hauspersonal, (Haus-) Tiere u. ä

(5)Reduzierung der Kerngruppe auf die Eltern

(6)Reduzierung der Kerngruppe auf die Kinder

(7)Auslassen eines Elternteils aus der Kerngruppe ….

(8)Erscheinungsformen und Eigenschaften der Familienmitglieder und deren projektive Funktion

3.Die Helfer

c)Die Geschehnisse der Verzauberung

1.Motivierung des Geschehens allein durch die Testanweisung

2.Anlehnung an bekannte Vorbilder aus Märchen, Sagen und Kinderbüchern

3.Zeitbezogenes Geschehen

4.Eigenständige Schöpfungen

5.Projektive Aspekte der Motivation

VII.

Inhalte der Verzauberung (Zeichenobjekte)

a)Tiere

1.Das Symboltier

(1)Der Hase

(2)Das Schwein

(3)Das Krokodil

(4)Die Schlange

(5)Die Spinne

(6)Der Affe

(7)Der Polyp

2.Tier-Rivalitäten

(1)Die Katze-Maus-Position

(2)Die Igel-Position

b)Phantasietiere

c)Pflanzen

d)Phantasiegestalten

1.Verunstaltungen

e)Gegenstände

1.Das Haus

2.Das Bild *

3.Die Steine

4.Das Essen

VIII.

Die Dynamik der Verzauberung

a)Der Prozeß der Verzauberung

b)Anthropomorphisierungen

c)Sprechblasen

d)Gleichheit der Zeichenobjekte

e)Das Totalobjekt

IX.

Schlüsselsituationen

Banallösungen

X.

Die Pathognomonie des Märchens zum Test

XI.

Der Test der Verzauberten Familie und die Position des Kindes in der Familie

XII.

Zur Symbolik der Verzauberten Familie

XIII.

Auswertung der VF nach dem diagnostischen Profil von Anna Freud

XIV.

Die Kontrolle durch den Pigemtest (Tier-Vfunsch-Probe)

XV.

Statistik

a)Testanalyse und Fragen nach den Hauptgütekriterien

b)Praktische Durchführung der statistischen Prüfung bei einer Gruppe verhaltensgestörter Kinder

c)Ergebnisse der statistischen Auswertung bei Schulkindern

XVI.

Anwendung des Zeichentests der Verzauberten Familie in Erziehungsberatung und Psychotherapie

XVII.

Vademecum zur Verzauberten Familie (an Stelle einer Zusammenfassung)

Anhang (Tabellen I—IX)

Literatur

Namenregister

Sachregister

Vorwort zur dritten Auflage

Daß binnen relativ kurzer Zeit eine dritte Auflage des Buches erforderlich wurde, spricht für den Wert dieses Zeichentests.

Die spontane Zeichnung ist schon auf früher Entwicklungsstufe eine der elementarsten schöpferischen Äußerungen eines Kindes, mit denen es seine inneren Erlebnisse und Bedürfnisse kundtut, wenn wir uns ihm aufmerksam zuwenden. Mit den verschiedenen Formen von Familiendarstellungen erhalten wir zudem wichtige Hinweise, wie ein Kind die frühesten sozialen Beziehungen zur Umwelt erlebt und diese auch schon zu gestalten sucht. So wie das Spiel des Kindes für den Psychotherapeuten eine via regia zu dessen Unbewußtem darstellt, gilt dies in ähnlichem Maße für die Zeichnung eines Kindes. Indem wir das psychodiagnostische Rüstzeug zur »Verzauberten Familie« erweiterten, ergaben sich dem Kind ungeahnte Möglichkeiten einer ungehemmten Projektion seiner Phantasiewelt, nicht nur seiner Hoffnungen und Wünsche, sondern auch, in kathartischer Funktion, seiner Ängste und Aggressionen. Das erklärt, daß dieser Test inzwischen zu einem der beliebtesten Zeichentests geworden ist, indem wir Kindern und Jugendlichen zu Aussagen verhelfen, die uns ihre inneren Konflikte deuten lassen, wenn sie in Verhaltensstörungen und psychosomatischen Reaktionen einen Niederschlag gefunden haben. Wir haben den Anwendungsbereich dieses Tests in einer Simultandiagnostik von Kind und Eltern ausgeweitet, so daß sich plötzlich das Gesamtgefüge einer neurotischen Familienstörung offenbaren kann. Die »Verzauberte Familie« ist damit zu einem unentbehrlichen Bestandteil der Psychodiagnostik seelischer Störungen von Kindern und Jugendlichen geworden, bis in die Bereiche von Gutachterverfahren, z. B. als Entscheidungshilfe für Familiengerichte, wenn es um die Schicksale von Kindern aus geschiedenen Ehen geht.

Wissenschaftliche Arbeiten des In- und Auslandes, eine Übersetzung des Buches ins Französische (La famille enchantée) haben zur weiteren Verbreitung dieses Tests beigetragen. Die Anwendung des Tests hat eine wichtige Ergänzung erfahren, indem der Begriff der »Zeichentest-Batterie«, in Kombination der Zeichnungen von Baum und Mensch mit der »Verzauberten Familie« angewandt wurde. Ein Ergänzungsband über die »Zeichentest-Batterie« von Baum, Mensch und »Verzauberter Familie« ist in Vorbereitung. Es wird damit nach den Vorstellungen der Individualpsychologie die Ich-, Du- und Wfr-Struktur menschlicher Daseinsformen angesprochen. Die Bedeutung dieser psychodiagnostischen Trias erwies sich inzwischen an weit über 5000 Kinderzeichnungen, die in ähnlicher Weise tiefenpsychologisch ausgewertet wurden. Der »Verzauberten Familie« kommt dabei in einer Zusammenfassung der Ergebnisse eine zentrale Bedeutung zu.

Brixen, Oktober 1989

Gerd Biermann

Vorwort

Die Familie ist in unmittelbare Not geraten. Davon zeugen die vielfältigen prophylaktischen und therapeutischen Bestrebungen, die sich gestörter Familien annehmen.

Grundsätzlich wird die Frage erhoben, ob in unserer Industriegesellschaft, die eine Umwertung aller Werte in einem bis dahin ungekannten Ausmaß erfährt, überlieferte familiäre Bindungen noch von tieferer Bedeutung sind. Hier finden Versuche eine Erklärung, mit Wohngemeinschaften und verwandten Einrichtungen neue Formen menschlichen Zusammenlebens zu erproben.

Der starke Drang zu »menschlichen« Berufen wie in der Pädagogik, Soziologie u. a. spricht für die Bereitschaft zur Neuorientierung einer Jugend, die sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung bewußter wird.

Wie aber sieht das Kind sich selbst und seine Familie?

Die Frage ist mit all unseren psychohygienischen Bemühungen gestellt, wenn wir als Erzieher das Kind ernst nehmen, in Berücksichtigung seiner Phantasien, im Wollen und Wünschen, aber auch in seinen ständig erfahrenen Erniedrigungen und Beleidigungen.

Schon immer hat die Selbstdarstellung des Kindes in seinen Mann- bzw. Mensch-Zeichnungen, mehr noch seinen Familienbildern, fasziniert, mit denen es den Erwachsenen zugleich einen Spiegel vorhält. Die Dramatik seiner zeichnerischen Darstellungen wird höchstens noch vom Psychodrama kindlichen Puppenspiels übertroffen.

Soll man die vorhandene Fülle diagnostischer Hilfsmittel auf dem Sektor der Familienforschung durch einen weiteren Test vermehren? Wir möchten das zunächst offen lassen, aber doch auf Grund einer mehr als zehnjährigen Erfahrung darauf hinweisen, daß der Zeichentest »Die verzauberte Familie« bislang unbekannte Inhalte kindlichen Daseins, insbesondere dessen magische Erlebniswelt projektiv gestaltet und dadurch unser Wissen vom Kinde wesentlich bereichert.

Erstmals wurde versucht, einen Zeichentest der gründlichen statistischen Analyse mittels Computerauswertung zu unterwerfen. Der erfahrene Leser wird selber sehen und erkennen, wo in dieser Richtung die Grenzen verbindlicher Aussagen sind.

Wir meinen, daß bei einem projektiven Test die tiefenpsychologische Deutung vorrangig bleiben sollte. So wurden auch die biographischen Analysen des Familienlebens in ihrer Korrelation zum Testgeschehen bevorzugt abgehandelt. Dabei beeindruckte immer wieder das Symbolgeschehen menschlichen Daseins inner- und außerhalb der Familie. Gerade der Zeichentest »Die verzauberte Familie« liefert hier ein wichtiges Rüstzeug.

Die statistische Auswertung zeigt aber auch die Grenzen einer analytischen Betrachtungsweise, wie es sich uns an anderer Stelle mit Arbeiten über »Das Formale im Scenotest« bestätigte.

Der Umfang des Buches wurde mit durch die Tatsache bestimmt, daß — nach Erfahrungen mit verwandten Zeichentests — »Die verzauberte Familie« sehr bald über den engeren Rahmen der Erziehungsberatung und Kinderpsychotherapie hinaus in angrenzenden pädagogischen und klinischen Bereichen angewandt wurde, so daß eine umfassende Information unerläßlich ist.

Diese Aufgabe war ohne einen größeren Kreis von Mitarbeitern nicht zu bewältigen.

Unser Dank gilt zu allererst den Kollegen, die in unserem täglichen Arbeitsbereich, der Kinderpsychiatrischen Abteilung der Psychiatrischen Universität Wien, der Psychosomatischen Beratungsstelle für Kinder bei der UniversitätsKinderpoliklinik München sowie dem Institut für Psychohygiene des Kreises Köln, mit Rat und Tat in all den Jahren zum Gelingen des Unternehmens beigetragen haben. Hierzu rechnen auch die Kinderärzte der Münchner und Kölner Balintgruppe.

Ohne die Zusammenarbeit mit unserem Freund Günter Haub, der mit seiner reichen Erfahrung die statistische Auswertung übernommen hat, wäre das Buch in seiner jetzigen Form nicht zustande gekommen. Ihm gilt daher unser besonderer Dank, in den wir auch seine Mitarbeiter bei der Auswertung am Rechenzentrum der Universität Wien einschließen möchten.

Zu unseren Helfern gehörte aber auch ein großer Kreis engagierter Lehrer — aus Wien, München, dem Raum von Köln sowie der Schweiz —, welche von ihren Kindern die unerläßlichen »normalen« Testbilder anfertigen ließen. Sie haben uns die Möglichkeiten, aber auch Grenzen der Anwendung dieses Tests im Schulbereich erkennen lassen.

Dem Kindersanatorium Wangen/Allgäu möchten wir an dieser Stelle ebenso herzlich für die Mitarbeit danken.

Eine freundschaftliche, verläßliche Zusammenarbeit mit dem Verlag, die sich über viele Jahre mit der Herausgabe der »Beiträge zur Kinderpsychotherapie« festigte, schaffte die Grundlage des Vertrauens, welches erst ein so umfangreiches Unternehmen auch verlegerisch ermöglicht.

Wir fanden diese Mitarbeit, Freundschaft und Unterstützung in Herrn Jungck vom Ernst Reinhardt Verlag und möchten ihm hierfür ganz besonders unseren gemeinsamen Dank sagen.

Marta Kos

, Wien

Gerd Biermann,

Brühl (Köln)

DEM ZAUBERUNSERER FAMILIEN

Einleitung

Der Mensch ist ein soziales Wesen. Seine Reifung und Entwicklung ist weitgehend davon abhängig, wie er in der Gemeinschaft empfangen und angenommen wird. Seine nächste Umwelt repräsentiert die Familie, in deren Binnenraum sich zwei Erlebniswelten widerspiegeln: Das individuelle Lebensschicksal der Eltern, sodann sein Kollektivschicksal, d. h. die Auswirkungen gesellschaftlicher Erwartungen und Forderungen an das Kind. Unter diesem Blickpunkt werden die vielfältigen Bestrebungen und Spannungen sichtbar, welche den binnenfamiliären Raum beherrschen, in dessen Mitte das meist noch hilflose Kind steht. Oft erkennen wir als Ursache einer kindlichen Verhaltensstörung das nicht bewältigte Lebensschicksal seiner Eltern.

Diese sind bisweilen durch ihr eigenes elterliches Leitbild so stark geprägt, daß sie es im Wiederholungszwang im Lebensplan der Kinder nachvollziehen oder schuldbewußt versuchen, es an ihren Kindern kompensierend zu korrigieren. Neurotische Störungen können die Folge sein.

Der Gedanke, Familienzeichnungen von Kindern anfertigen zu lassen, ist nicht neu. Bedenkt man die Bedeutung der Familie für die Entwicklung des Kindes, wie die Entstehung kindlicher Verhaltensstörungen, so erscheint neben dem Puppenspiel (wie z. B. dem Scenotest) die Familienzeichnung als jener projektive Test, der die Flintergründe kindlicher Störungen am deutlichsten widerspiegelt, weil er direkt auf die Familie bezogen ist.

Er besitzt zudem in der vorliegenden Fassung jenes Maß an Strukturiertheit, das für die Projektion der Persönlichkeit des Kindes notwendig ist. Gleichzeitig hindert dies nicht, die Ergebnisse der Zeichnungen verschiedener Kinder miteinander zu vergleichen.

Durch eigene jahrzehntelange praktische Erfahrungen mit Kinderzeichnungen ermutigt und durch Arbeiten von Françoise Minkowska angeregt, haben wir 1956 begonnen, den Test der »Verzauberten Familie« (VF) zu entwickeln.

Der projektive Zeichentest der VF dient dazu, kindliche Neurosen, Verhaltensstörungen und psychosomatische Krankheiten zu diagnostizieren. Auch in der Beurteilung psychiatrischer Krankheitsbilder hat er wichtige Ergebnisse gebracht. Er kann zu diagnostischen Zwecken mehrmals hintereinander und auch zur Kontrolle während der Psychotherapie benutzt werden.

Es wurden mit der VF 4000 Kinder und Jugendliche beiderlei Geschlechts untersucht (1225 Kinder und Jugendliche waren Patienten der Kinderpsychiatrischen Abteilung der Wiener Psychiatr. Univ. Klinik, der Psychosomatischen Beratungsstelle bei der Münchner Universitäts-Kinderpoliklinik, sowie des Institutes für Psychohygiene des Kreises Köln. (625 Kinder und Jugendliche wurden mit dem Zeichentest allein, weitere 600 mit Zeichentest und Geschichte untersucht). Ferner standen für die Auswertung 49 Zeichnungen chronisch kranker Kinder aus einem Sanatorium zur Verfügung.

2438 Schulkinder stammen als Kontrollfälle aus Wien, München, Köln und der Schweiz. Es liegen mithin Untersuchungsergebnisse aus einem relativ geschlossenen deutschsprachigen Kulturraum vor, in welchem die Familien strukturell in bestimmten überlieferten Formen seit Jahrhunderten geprägt sind. Der Trend einer Entwicklung von der Großfamilie zur Klein- bzw. Kernfamilie der modernen Industriegesellschaft ist in all diesen Ländern anzutreffen. Bei der zunehmenden Industrialisierung ländlicher Wohngebiete fällt auch der Gegensatz Stadt — Land nicht mehr ins Gewicht. Die Schweizer Kontrollun- tersuchung erfaßte eine der Flauptstadt des Landes unmittelbar benachbarte, z.T. schon von Hochhauskomplexen durchsetzte, ehemals dörfliche Siedlung.

Nach Abschluß der statistischen Auswertung wurden noch 288 Zeichnungen mit Geschichten verhaltensgestörter Kinder, deren Testergebnisse besonders wichtig und illustrativ waren, in das Untersuchungsmaterial mitaufgenommen. Die Kinder und Jugendlichen aller Gruppen waren fünf bis 18 Jahre alt.

Die 1225 verhaltensgestörten* Kinder und Jugendliche wurden zusätzlich mit einer »Testbatterie« (Zulliger) untersucht. Diese wurde aus folgenden Tests zusammengestellt :

Intelligenztest (HA WIK bzw. HA WIE, Binet-Terman, Kramer)

Rorschach-Formdeutversuch (Zulliger (Z)-Test)

TAT bzw. CAT, Family Attitude Test

Düss-Fabeltest, Thomas-Erzähltest Satzergänzungstest (.Hift, Ungricht) Wartegg-Zeichentest

Baumzeichentest (.Koch), Menschzeichentest (Machover, Goodenough)

Scenotest (v. Staahs), Bestiarium (Zazzo)

Die Zusammenstellung (Auswahl) der jeweiligen Testbatterie erfolgte individuell im Hinblick auf Alter, Struktur und Problematik des Kindes. Alle verhaltensgestörten Kinder und Jugendliche wurden eingehend psychiatrisch begutachtet. Von allen diesen Kindern lagen biographische Anamnesen vor.

Die Vergleichsgruppen der Schulkinder hatten lediglich gezeichnet. Alle Zeichnungen beider Gruppen wurden mit Computer ausgewertet. Der Test der VF bildet einen Teil der Testbatterie. Es ist auch bei diesem Test eindringlich davor zu warnen, ihn — bei aller Fascination einer überzeugenden, individuellen Aussage — in Form der »Blind-Diagnose« isoliert zu bewerten. Er ist stets im Gesamt der Psychodiagnostik des Kindes, innerhalb der Testbatterie, in Übereinstimmung mit Verhalten und Exploration des Kindes, sowie der mit den Eltern erhobenen biographischen Anamnese in seinen Inhalten zu deuten.

_______

* Wir haben uns bewußt zur Formulierung »verhaltensgestörte Kinder« entschlossen, weil sie uns nicht ab wertend wie »erziehungsschwieriges« Kind oder gar »schwererziehbares Kind« erscheint, und auch die Frage, ob primär elterlich-umweltbedingte oder ursächlich kindliche Störung offenläßt. In dieser Gruppe der verhaltensgestörten Kinder finden sich also auch neurotische, psychosomatisch und psychiatrisch erkrankte Kinder.

I. Geschichte der Familientests

Eine tiefenpsychologische Erforschung der Familiensituation gibt es seit etwa vierzig Jahren.

Von der gezielten Exploration ausgehend ging man allmählich zu indirekten Methoden über, welche das Unbewußte des Kindes ansprechen, so daß tief Verborgenes an das Licht des Bewußtseins gelangt. Einstellungen, die dem Probanden (Pb) unbewußt geblieben sind, die er verdrängt, geheim hält oder sich selbst nicht zugibt, die aber doch eine bedeutende Rolle in seinen Familienbeziehungen spielen, konnten so erfaßt werden. Damit wurde oft der Kern des neurotischen Geschehens sichtbar und konnte nunmehr therapeutisch besser angegangen und beseitigt werden.

Diese indirekten Methoden nutzen die kindliche Fähigkeit, Konflikte im Spiel auszuagieren. Das kann verbal, malend und zeichnend, oder abçr spielerisch, z. B. als Psychodrama geschehen.

Madeleine Rambert führte die Methode des projektiven Puppenspiels (Guignol, Kasperle) in die Kinderpsychotherapie ein; es dient sowohl diagnostischen wie therapeutischen Zwecken. Anastasi, Aureille, Baumgarten, Cotte, Löwnau, Morgenstern, Naumburg, Porot, Schächter, E. Stern u. a. bedienten sich der freien Zeichnungen, zu diagnostischen, einige unter ihnen — wie besonders Löwnau, Morgenstern und E. Stern — auch therapeutischen Zwecken.

In den USA entstanden diagnostische Bilderserien, so der TAT (Murray) und CAT, für deren Einführung und vertiefte Kenntnis in Europa besonders Revers und E. Stern sich Verdienste erworben haben. In Anlehnung an eine 1951 veröffentlichte Bilderserie Blum’s »Blacky Pictures«, mit der Kinder angeregt werden, ihre Familieneinstellungen auf eine Hundegeschichte zu projizieren, entstand zehn Jahre später in Frankreich die Schweinegeschichte »Patte noire« von Corman. 1950 führt Lydia Jackson in England eine neue Bilderserie ein, die sie den »Family Attitude Test« nannte.

Bereits in den dreißiger Jahren hat man unvollendete Familiengeschichten entwickelt und den Pb ermuntert, sie zu ergänzen, um auf diese Weise seine Familieneinstellung kennenzulernen. Als Beispiel sind die Fabeln der Louisa Düss, die Geschichten der Madeleine Thomas und diejenigen der Louise Despert zu nennen.

Familienzeichnungen hat man ebenfalls in den dreißiger Jahren als Tests zu entwickeln begonnen. Diese Arbeiten lassen sich je nach gegebener Aufforderung in drei Gruppen einteilen:

1. Zeichne deine (eigene) Familie.

2. Zeichne (irgend) eine Familie.

3. Zeichne eine verwandelte Familie.

In der erstgenannten Gruppe finden sich französische, amerikanische und Schweizer Autoren.

Minkowska ließ ihre Pb »Meine Familie, ich, mein Haus« zeichnen. Porotforderte das Kind auf, die eigene Familie darzustellen. Das gleiche taten auch die Amerikaner Hülse und Reznikoff, sowie die Franzosen Cain und Gomila.

Formale Kriterien der Zeichnung, wie Raumordnung, Größenverhältnisse, Reihenfolge, Auslassungen und Hinzufügen, graphische Auf- und Abwertungen erschließen den Zugang zu den verborgenen projektiven Aspekten der kindlichen Zeichnung.

Die Schweizer M. Flury und Nelly Stahel lassen ihre Pb ebenfalls die eigene Familie, jedoch farbig darstellen. Außer den angeführten formalen Kriterien widmen diese Autoren ihre Aufmerksamkeit auch der Verwendung von Farbe.

Louis Corman untersucht die Familieneinstellungen seiner Pb mit Hilfe der Zeichnung einer fremden Familie. Auch er gebraucht die formalen Kriterien zum Verständnis der Produktionen. Er ist im übrigen der erste, der diese auch tiefenpsychologisch deutet.

Zuerst die eigene und nachher eine fremde Familie läßt Borelli-Vincent seine Pb zeichnen. Beide Zeichnungen werden miteinander verglichen und nach formalen Kriterien ausgewertet.

In die dritte Gruppe des Familientests gehört die 1957 entwickelte Untersuchung der Münchnerin Luitgard Brem-Gräser »Familie in Tieren« und schließlich die vorliegende Arbeit. Brem-Gräser läßt die eigene Familie als Tiere darstellen, wobei sie ihre Aufmerksamkeit den formalen, besonders den graphologischen, gleichzeitig aber auch den symbolischen Aspekten der Zeichnungen widmet.

Im Vergleich zu den mitgeteilten früheren Fassungen von Familienzeichentests zeigt die Verzauberte Familie einige wesentliche Unterschiede.

Das Kind soll nicht seine, d. h. die eigene Familie, sondern eine Familie zeichnen. Die Zensureinwirkung ist durch diese neutrale Testanordnung schwächer. Deshalb ist der Test in dieser Form auch bei Jugendlichen anwendbar. Die Verkleidung in die Form eines Zaubermärchens erweitert und differenziert Projektionsmöglichkeiten und Symbolwahl. Die Geschichte, die erklärend zur Zeichnung erzählt wird, ergänzt und kontrolliert diese.

Den Kriterien unserer Vorgänger — der Raumordnung, Reihenfolge, usw., fügen wir damit neue Kriterien hinzu: Die zeichnerische Symbolwahl, welche in das Spannungsfeld des Märchens, zwischen Widersacher — Zauberer und Familie — eingebettet ist, sowie die verbale Symbolwahl. Alle diese Kriterien wurden statistisch überprüft und notfalls sachlich ergänzt.

II. Testanweisung und Testdurchführung

Das Kind wird zunächst im zwanglosen Gespräch in eine zutrauliche Stimmung versetzt, wobei man seine Phantasie anzuregen sucht. Wir legen ihm ein weißes DIN-A4-Blatt im Querformat, mit einem weichen Bleistift (Nr. 2) ohne Radiergummi vor und sagen etwa:

»Wir wollen jetzt miteinander ein wenig dichten. Du kennst doch Märchen? Wir werden nun ein eigenes Märchen machen . . . Stell Dir vor, es kommt ein Zauberer und verzaubert eine Familie, und zwar alle Menschen dieser Familie, Große und Kleine . . . Da hast Du ein Blatt Papier und einen Bleistift, und nun zeichne, was da geschehen ist!«

Wir beobachten den Pb beim Zeichnen: Jedes Zögern, Durchstreichen und Neubeginnen ist bedeutungsvoll. Das gilt auch für Gesichtsausdruck und Körperhaltung, Mimik und Gestik des Pb.

Wenn das Kind mit der Zeichnung fertig ist, fragen wir es, wie die dargestellten Geschwister heißen, um auf diese Weise ihr Geschlecht zu erfahren, und erkundigen uns nach ihrem Alter. Dies gibt uns wichtige Rückschlüsse, ob das Kind seine eigene Familie dargestellt hat. Alle Daten, auch die Reihenfolge der gezeichneten Objekte und deren Deutung, werden auf der Rückseite des Blattes vermerkt.

Danach sagen wir zu dem Kind: »Und jetzt erzähle mir, was da geschehen ist. Erzähle mir die Geschichte der Verzauberung!«

Bei jüngeren Kindern schreiben wir die Geschichte wörtlich mit. Auch hier sind ein Zögern, Tempowechsel, Korrekturen zu vermerken. Ältere Pb fordern wir auf, die Geschichte zur Zeichnung selber aufzuschreiben.

Ermutigungen, ohne suggestiven Einfluß sind bei gehemmten Kindern notwendig. Unsere Haltung soll aber grundsätzlich nicht anders sein, als es Rorschach für die Durchführung seines Formdeutversuches empfohlen hat.

Abschließend wird mit dem Kind der Pigemtest durchgeführt. Es wird gefragt, in welches Tier es am liebsten verwandelt wäre (und warum) und in welches Tier es auf gar keinen Fall verwandelt sein möchte (und warum nicht).

Die Testdurchführung gliedert sich also in drei Abschnitte:

1. Zeichentest: »Die verzauberte Familie«,

2. Märchenerzählung zur »verzauberten Familie«,

3. Pigemtest

Nur selten — wesentlich seltener als beim Scenotestspiel — wird der Test der VF vom Probanden abgelehnt.

Wie bei anderen projektiven Gestaltungstests werden sodann die Produktionen der Pb nach zwei Kriterien beurteilt: dem formalen Kriterium dem inhaltlichen Kriterium.

Beide Kriterien sind gleich wichtig und ergänzen einander. Beide helfen uns, den Test VF zu verstehen.

Beispiel

So schrieb ein 14 jähriges Mädchen mit Asthma bronchiale, nachdem es zuvor bei durchschnittlicher zeichnerischer Begabung den Menschtest und Baumtest schnel gezeichnet hatte, lediglich auf das Blatt: »Es passiert nichts, weil der Zauberer die Fami- ie nicht verzaubern kann.« Es fügte erklärend hinzu: »Es gibt doch keine Zauberer!«

Dieses, wie man es deutet, realitätsangepaßte Verhalten Jugendlicher kann in Pubertät und Adoleszenz einem Abwehrmechanismus, in Form der Intellektualisierung, entsprechen. Das Mädchen wußte auch über keinen einzigen Traum zu berichten. Dabei zeigte ein ständiges Fingernesteln während des Gespräches seine innere Beunruhigung an.

III. Diagnostik

Obwohl seit Jahrzehnten in zahlreichen Erziehungsberatungsstellen (EB- Stellen) und Kliniken Kinder und Jugendliche mit neurotischen und einfachen Verhaltensstörungen vorgestellt und mit den differenzierten Methoden der klinischen Medizin wie der Psychodiagnostik beurteilt werden, fehlt es immer noch an einem einheitlichen, von Psychiatern und Psychotherapeuten anerkannten Diagnosenschema; Symptomenkataloge sind bislang nur ein oft unzureichender Ersatz. Das erschwert eine nachfolgende katamnestische Beurteilung des Behandlungsergebnisses neurotischer Störungen im Kindes- und Jugendalter.

Divergierende Anschauungen der Schulpsychiatrie wie der analytisch orientierten Psychotherapie über die Genese kindlicher Verhaltensstörungen wie allgemein der Neurosen hinderten bislang ein übereinstimmendes Verständnis.

Hinzu kommt, daß die Struktur einer Haltung bzw. Fehlhaltung, im Verlauf der Kinderentwicklung nur in der Minderzahl schon so eindeutig zu erkennen ist, daß sie sich in bestimmte Schemata einteilen läßt. Die Entwicklung zu den relativ klar gegliederten Charakterneurosen des Erwachsenen ist beim Kinde oft erst in unbestimmten, flüchtigen Ansätzen zu erkennen; es sei nur an die Varianz kindlicher Angsterlebnisse erinnert!

Doch bleiben die großen Lebensabschnitte und -krisen von Kind und Jugendlichem durch die Gesetze bestimmt, welche S. Freud und die Psychoanalyse mit ihrem Entwurf der Libidoentwicklung aufgezeigt haben, der durch das Erik- sorc’sche Modell fruchtbar erweitert wurde. Anna Freud hat in einem metapsychologischen Entwicklungsbild die Trieb- und Ich(Uber-Ich)-Entwicklung von Kind und Jugendlichem auf dem Boden der Phasenlehre dargestellt. Es hat sich über seine Aufgabe als Denkmodell auch in der praktischen Arbeit des Erziehungsberaters und Kindertherapeuten bewährt.

Wir haben deshalb auch beide — Phasenlehre und Entwicklungsbild — bei der Auswertung unserer Untersuchungen, zum Aufbau eines Diagnosenschemas, verwandt, indem wir den Ablauf der normalen Entwicklung des Kindes von der oralen, analen und phallischen (ödipalen) Phase bis zur Latenzzeit und Pubertät (bzw. Adoleszenz) verfolgten und jeweils psychische Störungen unserer Patienten diesen zu korrelieren suchten. Sie lassen gerade bei psychosomatischen Reaktionen und Erkrankungen des Kindes typische phasenspezifische Abhängigkeiten erkennen.

Diagnose-Schema

I. Orale Phase

Orale Fixierung / Orale Aggression

Mutter-Kind-Symbiose / Trennungsängste / Infantile Regression Intentionale Störung / Frühverwahrlosung / Verwöhnungs-Verwahrlosung / (anaklitische) Depression / Autismus / Deprivation Schlafstörungen / Jactatio / Rocking / Onanie

Eß-Störungen / Erbrechen / Nabelkoliken / Ulcus / Fettsucht Ekzem

II. Anale Phase

Hemmungen / Sprachstörungen / Mutismus / Kontaktstörungen Tic / psychomotorische Unruhe / Zwänge Enuresis / Enkopresis / Obstipation / Colitis

Asthma bronchiale

III. Phallische Phase

Ödipus-Konflikt (Kastrationsangst, Penisneid)

Hysterie / Aggressivität / Eifersucht

Angstneurose / Tierphobie

Affektstörungen / acetonämisches Erbrechen / Pavor nocturnus / Somnambulismus

IV. Latenzphase

Lernstörungen / Legasthenie / Schulphobie / Schulstören / Schulschwänzen Angstneurose / vegetative Dystonie

Syndrom der Bindungslosigkeit (Lügen, Stehlen, Streunen)

V. Pubertät

Identitätskrise / Suchtverhalten / Suizidversuch / Psychose

Pubertätsmagersucht

Perversionen

Acceleration / vegetative Dystonie (Herzneurose, nerv. Atmungssyndrom) Verwahrlosung / Kriminalität

VI. Primär organische Schäden

Cerebrale Unreife (Entwicklungsrückstand, Debilität)

Cerebralschaden (prae-, peri-, postnatal)

Cerebraler Prozess (Encephalitis, Hirntumor, Epilepsie)

Endokrine Störungen (Zwergwuchs, Riesenwuchs, Hermaphroditismus u. a.)

Mißbildungen

chronische Krankheiten

VII. Soziale Neurosen Trinkerfamilien, broken home

Schizophrene Familien / Kindsmißhandlungsmilieu Scheidungsmilieu / Flüchtlingsmilieu / Ausländerfamilien Zwillingsmilieu

Aktualtraumen (Unfall, Krankenhaus, Sexualtrauma)

So sehr man bestrebt ist, die Anfänge einer derartigen Störung bis zu sogen, psychosomatischen Reaktionsmustern (Hoff und Ringel) in frühester Kindheit zurückzuverfolgen, gelingt dieses bei lediglich diagnostischen Bemühungen — mit der Erhebung der biographischen Anamnese wie psychologischen Testuntersuchungen — nur in der Minderzahl. Es sollte daher die Einordnung diagnostischer Kriterien einer neurotischen bzw. psychosomatischen Störung möglichst in dem Phasenabschnitt erfolgen, in welchem die Fehlreaktion offenkundig wurde und in organspezifischer Korrelation Krankheitswert erhielt. Somit werden die Obstipation, wie die Enkopresis der analen Phase zugeordnet, auch wenn vielleicht bei diesen Kindern schon in der oralen Phase Störungen des Mutter-Kind-Verhältnisses nachzuweisen sind. Das gilt ebenso für die in Kloakenfunktion gleicherweise mit der Enkopresis auftretende Enuresis — als nicht bewältigter sozialer Krise des Kindes in der analen Phase.

1. Orale Phase

Zum gestörten Antriebserleben der oralen Phase gehören die unmittelbar an die Erfahrungserlebnisse der Mundwelt, der »Urhöhle« (René Spitz) gebundenen Empfindungsqualitäten der oralen Fixierung (des Saugens, Daumenlut- schens u. a.), wie im späteren Säuglingsalter der oralen Aggression (primär des mit dem Zahngewinn verbundenen Kauens und Beißens).

Dominierend bleibt in diesem Reifungsabschnitt die enge, lebenserhaltende Dyade von Kind und Mutter, mit der nachfolgenden neurotischen Störung einer Mutter-Kind-Symbiose und Trennungsängsten einerseits, sowie bei fehlender bzw. versagender Mutter intentionale Störungen, Frühverwahrlosung, anaklitische Depression andererseits.

Bei einer engen psychosomatischen Verflechtung in der sogen, »coenaestheti- schen Organisation« (René Spitz) des jungen Säuglings können schon in dieser Frühphase lebensbedrohliche psychosomatische Krisen, der Tod im vegetativen Kollaps (sogen. Ribble\sches Koma) bzw. eines schweren Brechdurchfalles eintreten.

Im Bereich oraler Abhängigkeiten des Verdauungstraktes dominieren entsprechende Störungen, von der Anorexie bzw. dem Säuglingserbrechen über die Nabelkoliken (im Bild der Dreimonatskolik) bis zum Ulcus, dessen Erstma- nifestierung immer häufiger ins Kindesalter vorverlegt wird.

Aber auch bei bestimmten Stoffwechselstörungen bestehen wichtige frühe orale Fixierungen. So hat Hilde Bruch das Fehlverhalten von Müttern adipöser Kinder geschildert, die schon im frühen Säuglingsalter ihre Kinder, bei deren unterschiedlichsten Bedürfnissen jeweils nur mit dem einen Mechanismus, nämlich der Nahrungszufuhr, stillten, d. h. ruhigstellten.

Kontaktstörungen, bis zum Extrem des frühkindlichen Autismus, finden ihr psychosomatisches Korrelat im Säuglingekzem. Stets läßt sich hier ein gestörter Zärtlichkeitsaustausch zwischen Mutter und Kind nachweisen (René Spitz, 210).

2. Anale Phase

Die Phase der Analität führt nach Lösung früher symbiotischen Beziehungen über die soziale Krise der Sauberkeitsgewöhnung zur ersten Auseinandersetzung des Kindes mit der Autorität.

Das gestörte Antriebserleben der analen Phase löst allgemein Hemmungen wie speziell Sprachstörungen (Stottern, Stammeln), weitere Störungen der Motorik, wie Tics und Zwänge, als Abwehrmechanismen aus. Ihr Korrelat im psychosomatischen Bereich sind — neben der Enuresis — die Enkopresis, Obstipation und Colitis (ulcerosa bzw. mucosa). Hierhin rechnet auch das Asthma bronchiale, welches zu diesem Zeitpunkt oft ein erstes Mal manifest wird. Auf den Zusammenhang eines Asthmas mit der mißlungenen Sauberkeitsgewöhnung wurde wiederholt hingewiesen (5). Ein erstes Trotzverhalten der Kinder wird nunmehr deutlich.

3. Phallische Phase

Die phallische Phase stellt einen ersten Höhepunkt der kindlichen Sexualentwicklung dar. Sie ist gleichzeitig durch die ödipalen Beziehungen zu den Eltern geprägt. Kastrationsangst und Penisneid stehen häufig im Hintergrund kindlicher Verhaltensstörungen auf dieser Entwicklungsstufe. Doch lassen sich Angstneurosen, auch auf noch ungelöste symbiotische Mutter-Kind-Beziehun- gen, in Form von Trennungsängsten zurückführen. Das gilt besonders für die Krankenhauseinweisung eines Kleinkindes.

Auf der Basis unbewältigter ödipaler Konflikte werden nunmehr hysterische Verhaltensstörungen fixiert.

Andere Kinder setzen sich aggressiv, im Trotzverhalten gegenüber elterlicher Autorität, zur Wehr. Bewußter werden nun auch Eifersuchtskonflikte gegenüber dem Nächstgeborenen vom Kleinkind erlebt. Diese Abwehrmechanismen finden ein psychosomatisches Korrelat in den sogen. Affektkrämpfen. Dem acetonämischen Erbrechen liegt meist eine enge Mutter-Kind-Beziehung zu Grunde. Ähnliches gilt für die Schlafstörung des Pavor nocturnus eines Kindes, welches auf diesem Wege die Mutter herbeiruft. Im Somnambulismus zum Bett der Mutter strebend, sucht das Kind die verlorene symbiotische Einheit mit ihr wiederherzustellen.

4. Latenzphase

Die Latenzphase steht mit der Ausbildung des Werksinnes (Erikson) unter den Gesetzen von Forderung und Leistung: Der Übergang vom Lust- zum Realitätsprinzip wird damit endgültig vollzogen; das Realitätsverhalten des Schulkindes bestätigt seine Schulreife. Lernschwierigkeiten, die sich nunmehr bei der an alle Rinder erstmals gemeinsam gestellten sozialen Forderung einstellen, weisen in vielfältiger Genese auf eine allgemein, wie speziell mangelnde Reifung des geistig retardierten bzw. emotional regredierenden Kindes hin.

Die Legasthenie ist, bei jeweiliger Anlagebedingtheit, ein Prüfstein, wieweit das Milieu des Kindes — Familie und Schule — sein gestörtes Leistungsverhalten ertragen kann oder zur Sekundärneurotisierung des intellektuell oft begabten Kindes beiträgt. Der reifende Organismus, der nunmehr, auch in erkennbarer Wachstumsbeschleunigung (Akzeleration) endgültigen Formen zustrebt, reagiert neben allgemeinen Ängsten mit vegetativen Störungen, speziell des HerzKreislauf-Systems, die unter dem Bilde der sogen, vegetativen Dystonie auch schon beim Kinde in dieser Phase auftreten. In Uberforderungssituationen schulbezogen, sind sie den Schulphobien zuzurechnen und erfordern eine entsprechende gezielte psychotherapeutische Behandlung.

In der Latenzphase treten bei neurotischen Verwahrlosungstendenzen milieugeschädigter Kinder erste manifeste Verwahrlosungserscheinungen auf. Sie werden mit Lügen, Stehlen, Schulschwänzen und Streunen im »Syndrom der Bindungslosigkeit« zusammengefaßt (Destunis).

5. Pubertät

Der nächste Abschnitt kindlich-jugendlicher Entwicklung umfaßt Pubertät und Adoleszenz. Beide sind nicht immer streng voneinander zu trennen. Das gilt auch für den Verlauf der Vorpubertät, besonders bei einer durch die Akzeleration vorverlegten Entwicklung.

Die Identitätskrise ist jene Phase menschlicher Entwicklung, in der alles im jungen Menschen in einer Neuordnung der Persönlichkeitsbildung seiner Ich- Identität zustrebt.

Die von Anna Freud beschriebene Pubertätsaskese (81) ist ein Versuch der Wirklichkeitsverleugnung, speziell im leiblichen-geschlechtlichen Bereich, wenn zu starke Triebforderungen nicht bewältigt werden. Ist eine Intellektualisierung ihr geistiger Ausdruck, so die Anorexia nervosa (Pubertätsmagersucht) eine psychosomatische Fehllösung. In ihrer totalen Verleugnung aller Lebensvorgänge entspricht sie einem unbewußten protrahierten Selbstmordversuch.

Im Zusammenhang mit der körperlichen Reifungskrise, übersteigert im Vorgang der Akzeleration mit ihrer Entwicklungsdisharmonie, treten beim Jugendlichen vegetative Störungen mehr in Erscheinung. Herzneurosen und nervöses Atmungssyndrom sind dabei stärker neurotisch determiniert.

Die Identitätsfindung ist ein Prozeß, den die meisten als eine kritische Phase, in der Auseinandersetzung mit der Elterngeneration, in Wiederauflage der ödi- palen Problematik erleben. Identitätsdiffusionen bei mißglückter Identitätsbildung können Jugendliche bis in Psychosennähe bringen (76).

Hier ist das Suchtverhalten des Jugendlichen in jedweder Form einzuordnen. Ein Schlußpunkt ist der Suizid (-versuch) des Jugendlichen, der seinen Lebensentwurf als gescheitert ansieht.

Sexuelle Perversionen sind ein Teilaspekt dieser Lebenskrise, als Ausdruck einer, bei versagenden Leitbildern, früh angelegten sexuellen Fehlentwicklung.

Eine negative Identität wird in der Bandenbildung verwahrloster krimineller Jugendlicher erlebt.

Die beiden nachfolgenden Diagnosengruppen werden gesondert behandelt. Sie umfassen Auswirkungen organischer Fehlentwicklungen bzw. chronischer Krankheiten, aber auch Störungen im sozialen Umfeld des Kindes. Beide wirken sich auch unabhängig von den Entwicklungsphasen des Kindes und Jugendlichen auf diese aus.

6. Primär organische Schäden

Ein Entwicklungsrückstand des Kindes, der durch eine cerebrale Unreife bzw. Debilität bedingt ist, bestimmt weitgehend sein gestörtes Verhalten in der Familie. Wir sprechen von der Pfropfneurose als eine Form der Sekundärneuro tisierung dieser Kinder (234). Sie stellen dem Psychotherapeuten entsprechende Aufgaben, die sowohl die zugrundeliegende organische Störung, wie deren neurotische Auswirkungen, bis ins gestörte Familienmilieu berücksichtigen müssen. Primär-organische Schäden und Krankheiten erschweren den psychotherapeutischen Ansatz. Er obliegt der Zusammenarbeit von Heilpädagogen und Kindertherapeuten.

Chronisch kranke Kinder bedürfen der gleichen Hilfe, zumal bei langfristigen Spitalaufenthalten. Hier liegen die Aufgaben der klinischen Psychologen, Heilpädagogen und Beschäftigungstherapeuten (Emma Plank).

An Mißbildungen leidende Kinder sind auf psychotherapeutische Maßnahmen zur Überwindung ihrer Minderwertigkeitsgefühle und -komplexe angewiesen.

7. Soziale Neurosen

Kinder, die in einem chronisch geschädigtem Familienmilieu aufwachsen, entwickeln oft nicht aus eigener Kraft genug Abwehrmechanismen, um ihr noch schwaches Ich gegenüber den schädlichen Umwelteinwirkungen zu behaupten.

Das gilt für Trinkerfamilien ebenso wie die Einflüsse im Familienmilieu Schizophrener (28, 131).

Scheidungskinder, die zwischen ihren Eltern hin- und hergerissen werden, haben ihre besondere Problematik (93).

Flüchtlinge, die es in unserer ruhelosen Welt immer wieder geben wird, brauchen meist Jahre, um im neuen Lebensraum zu wurzeln. Bis dahin sind die heimatlos heranwachsenden Kinder und Jugendlichen, zumal im Lagerleben, vielfältig schädigenden Einflüssen ausgesetzt (128). Das Kindesmißhandlungsmilieu schafft im sadomasochistischen Strafvollzug besondere Abhängigkeiten (33). In ihren Zeichnungen lassen diese Kinder ein defektes Körperschema erkennen.

Zu den Aktualtraumen der Kindheit gehören der Unfall, die Krankenhausaufnahme und das Sexualtrauma (Sexualdelikt eines Erwachsenen). In allen Fällen ist die Überwindung des Traumas weitgehend davon abhängig, wieweit das Kind vorher, in infantilen Bindungen verharrend, neurotisch geschädigt war.

Ein besonderes Daseinsmilieu entsteht durch das Zusammenleben von Zwillingen. Untrennbar miteinander verbunden, haben viele es nicht gelernt, eine Eigenpersönlichkeit zu entwickeln.

Manche Zwillinge stehen zeitlebens im Schatten des anderen.

IV. Kind und Familie

Die Aufforderung »Es kommt ein Zauberer und verzaubert eine Familie« ermöglicht es dem Kind, sich identifizierend und auch projizierend mit den Problemen der eigenen Familie auseinanderzusetzen.

In einer weiteren Gruppe (22%) fanden noch unbewußte Identifizierungen mit der eigenen Familie statt, die sich mit der Zahl und Anordnung der Zeichenobjekte, wie dem nachträglich erfragten Alter der verzauberten Kinder bestätigten. So zeichneten 40% der Kinder — bewußt und unbewußt — bei neutraler Testaufforderung die eigene Familie.

Im Laufe der vergangenen Jahrzehnte — nicht zuletzt verstärkt durch die Realitäten des zweiten Weltkrieges, in welchem zahllose Mütter unfreiwillig, infolge der Abwesenheit des Vaters und Ernährers zur Berufstätigkeit gezwungen, sich zu emanzipieren begannen — ist es zur fortschreitenden »Desintegration der Familie« (René König) gekommen. Dieser Trend von der Großfamilie zur Klein- bzw. Kernfamilie, mit entsprechenden Auflösungserscheinungen, ist charakteristisch für die familiäre Situation in unserer Zeit. Er löst zwangsläufig in manchen Familien neurotische Störungen, bei Eltern wie bei Kindern, aus.

Bei den Familien, die unseren Erhebungen, wie ähnlichen Untersuchungen früherer Autoren mit einem Familienzeichentest zugrunde gelegt wurden (Min- koswka, Flury, Brem-Gräser, Gorman), handelt es sich um in ihren Erziehungsmaximen seit Jahrhunderten noch relativ festgefügte patriarchale Familienstrukturen, bei allerdings kontinuierlichem Abbau ursprünglicher Großfamilien. Es ist die bürgerliche Familie, in der sich die Entwicklungen und Krisen abspielen, die schon vor einem halben Jahrhundert die Psychoanalytiker zu ihrem Konzept der Neuroseentwicklung anregten. Insbesondere Alfred Adler und die Individualpsychologie haben von Anbeginn auf den Stellenwert des Familiengeschehens und seiner Störungen für die Neurose des einzelnen, im Sinne eines sozialen Auftrages des Individuums hingewiesen (11). Aber auch S. Freud und C. G. Jung haben stets die Bedeutung der innerfamiliären Verflechtungen für die Entstehung und Fixierung von Neurosen betont und mit zahlreichen Krankengeschichten belegt.

Trotz ständiger Desintegrationsprozesse ist noch in vielen Familien eine patriarchale Grundeinstellung, zumindest im Erleben der Kinder, vorhanden. Zwangsläufig muß daher die Vater-, Mutter- und Geschwisterproblematik eines Kindes in seinen projektiven Testergebnissen zum Ausdruck kommen; das gilt für Spiel-, Zeichen- und Erzähltests gleichermaßen. In ersteren liegt das Angebot schon in den Spielelementen selber, z. B. den Familienpuppen des Sce- notests und des Welttests, in den Erzähltests in den Darstellungen familiärer Szenen (TAT, CAT, PN) bzw. entsprechenden Formulierungen zu ergänzender Geschichten (Düss, Thomas u. a.). Auch in projektiven Tests wie dem Ror- sc^c^-Formdeutverfahren und verwandten Tests wird unbewußt eine Vater- bzw. Mutter-Problematik angesprochen. Wenn nun ein Kind in der psycho- diagnostischen Untersuchung mit dem Reizwort »Familie« konfrontiert wird, kann es sich diesem Auftrag kaum entziehen, zumal bei der Verlockung zum spielerisch erlebten Zeichnen und Malen.

In der patriarchalen Familie dominiert der Vater. Nach außen sichtbar vertritt er als Leitbild den Auftrag der Familie gegenüber der Gesellschaft. Trotz weitgehenden Abbaus seiner Autorität, im Sinne der von René König geschilderten »Desintegration«, erfüllt er als »unsichtbarer Vater« (Mitscherlich) bzw. »unerreichbarer Vater« (Kos) formal, auch noch in seiner Abwesenheit, patriarchale Funktionen. Oft sind es allerdings lediglich deren negative Auswirkungen, die im Verhalten der Mutter auf eine unterhöhlte, patriarchale Autorität der Familie hinweisen (25, 29).

So zeichnen die meisten der Kinder, welche die Stufe der Ödipusentwicklung erreicht haben bzw. nicht regressiv auf Vorstufen derselben verharren, die Familie in patriarchaler Abfolge, d. h. den Vater voran, an erster Stelle, auch wenn er schon längst nicht mehr in dieser Form, führend und sichernd in Erscheinung tritt. Seine Machtposition wird noch verstärkt durch die Größe, evtl. auch Druckstärke seiner Zeichnung bzw. phallisch-männlich-aggressive Zutaten, wie Hut, Stock, Zigarre, Wehr und Waffen.

Fall 1

Der 14 jährige Hartmut, Sohn eines Ingenieurs, wurde wegen Oberschulversagens und wiederholter Diebstähle in die EB-Stelle gebracht. Er hatte Mutter und Großmutter Geld weggenommen, sich dafür Süßigkeiten gekauft und diese an seine Schulkameraden verteilt. Der in seinen Erziehungsmaßnahmen autoritär eingestellte Vater hatte ihn verprügelt, was aber nichts nutzte.

Der Vater Hartmuts hatte sich aus einfachen Verhältnissen einer Arbeiterfamilie, bei frühem Tod seines Vaters strebsam emporgearbeitet und war in Schule und Beruf stets unter den Besten. Selber streng und unter Entbehrungen erzogen, verlangte er ein Gleiches von seinem ältesten Sohn. Er war um so mehr über dessen Pubertätsprotest enttäuscht. Die Mutter, die aus wohlhabenden Verhältnissen stammte, blieb an ihren Jungen verwöhnend gebunden und versuchte, zwischen ihm und dem Vater zu vermitteln. Zu seiner etwas jüngeren, vom Vater vorgezogenen Schwester stand Hartmut in eifersüchtiger Rivalität. Als er wegen zunehmender Schulschwierigkeiten beim Übergang auf die Oberschule in ein auswärtiges Internat gebracht wurde, empfand er dieses als Verstoßung aus der Familie und reagierte depressiv.

Abb. 1

In der verzauberten Familie steht der Vater in kriegerischem Schmuck an erster Stelle. Es folgt als ein Phantasietier hochaufgerichtet, zentral die Schwester. Dann kommt die Mutter als Schwein, mit dem Säugen ihrer beiden Jungen beschäftigt.

Patriarchal-autoritär führt der Vater die Familie an, im Schmuck männlich-kriegerischer Potenz, mit einem Lendenschurz und phallusähnlichem Gebilde, Speer und Pickelhaube. Neben ihm, zu gleicher Flöhe aufgerichtet, die von ihm vorgezogene Tochter, die vom Bruder während der Zeichnung abschätzig als das »Biest« bezeichnet wird. Die Mutter folgt an letzter Stelle, sie ist von beiden abgewandt, ganz dem Stillen ihrer beiden kleinen Kinder, der Brüder Hartmuts hingegeben. Ich-schwach und depressiv hat sich der Junge selber nicht dargestellt.

Auch die Tierwahl kann auf eine väterliche Machtstellung hinweisen, so der Löwe, als König der Tiere oder der Adler, als Herrscher der Lüfte (siehe Fall 31,41,74).

Die patriarchale Abfolge kann noch dadurch unterstrichen werden, daß alle Familienmitglieder auf einer Linie - Boden- oder Mittellinie - nacheinander gereiht sind.

Die Allmacht des Vaters in der patriarchalen Familie ist auch in seiner Identifizierung mit einem mächtigen Zauberer zu erkennen.

Schon aus der gezeichneten Familiensituation ist bisweilen die Abhängigkeit der Mutter zu erkennen, die mit ihrer Berufstätigkeit oft lediglich wirtschaftlich unterstützend zur Festigung des Patriarchates beiträgt; sie erfährt dieses am Arbeitsplatz, mit beruflicher und menschlicher Abwertung. Von der großen Zahl berufstätiger Mütter haben nur wenige ein Stadium der Emanzipation erreicht, d. h. diese echt verwirklicht. Das Kind spürt das im täglichen Dasein, besonders den Auswirkungen der nur unvollkommen von der Mutter erfüllten Rolle und bringt es im Test zum Ausdruck. Der Mutter kommt noch immer im Erleben der Kinder eine behütende Funktion zu. Dieses zeigt sich in der VF in der bevorzugten Wahl verschiedener Muttertiere (Fall 1, 51, 75), aber auch mütterlicher Symbole in Wunsch oder Realität für das Kind. Die Selbstunsicherheit einer Mutter, ihr Versagen in der Familie, läßt sie nicht selten an letzter Stelle gezeichnet werden, evtl. auch abgewertet im Dargestellten, z. B. einer winzigen Maus, oder als Haushaltsgegenstände, wie Besen und Eimer.

Abb. 2

Fall 2

Der 9 ;8 Jahre alte Franz war noch nie bettrein. Sein introvertierter Vater und seine depressive Mutter haben sich in diese Situation gefügt, zumal das Kind sonst wenig Schwierigkeiten macht, gut lernt, still und ruhig ist. Franz ist ein schlechter Esser. Für jedes Kilo, das er zunimmt, bekommt er ein Buch. Die väterliche Großmutter hat sich vor 3 Jahren im Schub einer paranoiden Schizophrenie erhängt, die Mutter ist wegen ihren Depressionen in ständiger psychischer Betreuung. Beide Eltern sind gebildete Menschen, sie fürchten die Auswirkungen einer Vererbung. Der Vater zieht sich meist in seine Introversion zurück, die Mutter ist zeitweise wegen ihrer Depression für die Familie nicht richtig da. Franz wird verwöhnt. Da er intellektuell sehr gut begabt und ehrgeizig ist, ist er ein sehr guter Schüler. Der Vater ist beruflich oft abwesend. Zwischen der Mutter und dem Kind besteht noch immer eine enge symbiotische Beziehung.

In der VF zeichnet Franz den Vater als ein Bild an der Wand. Die Mutter wird als ein stark geschwärzter, anthropomorphisierter Besen mit zwei Wassereimern zentral an 2. Stelle gezeichnet. Das Kind wird als ein Sessel des Zauberers gezeichnet, der Großvater wird zum Tisch und die Großmutter zu einer Vase am Tisch. Zuletzt zeichnet Franz den Zauberer am Sessel beim Tisch sitzend.

Die Problematik des Knaben kommt in der VF deutlich zum Ausdruck. Dem als Bild in seiner Bedeutung erhöhten, aber narzißtisch von dem Familiengeschehen abgewandten Vater kommt wohl patriarchal die erste Stelle zu, der Konflikt aber spielt sich »am Tisch« ab; er reicht, wie die Eßstörung des Kindes zeigt, in die Phase der Oralität zurück, was bei der Symptomatik der Mutter nicht zu verwundern ist. In der Geschichte fragt der Zauberer die Mutter aus, ob sie kochen kann und quittiert die bejahende Antwort zufrieden. Die depressive Mutter versagte nicht nur in der oralen, sondern auch in der darauffolgenden analen Phase des Buben; er wurde nie bettrein.

Die Mutter ist die zentrale Figur im neurotischen Schicksal des Knaben und auch in seiner Zeichnung der VF. Als Zauberer würde sich Franzi gerne an der Familie, besonders aber an der Mutter magisch rächen. Dazu fehlt ihm aber der Mut — er degradiert sich zu einem leblosen Sessel. So macht er die Mutter wenigstens symbolisch für seine Symptomatik verantwortlich, indem er das Schmutzige und Nasse auf sie verschiebt. Das KonfliktElement wird durch die Schwärzung des Besens unterstrichen.

Symbiotische Mütter (30) lassen ihre enge Beziehung zum Kinde an einer räumlichen wie symbolischen Zuordnung, auch der gleichen Objektwahl, oft in Distanz von der übrigen Familie erkennen. Diese Kinder zeichnen auf einem präidentifikatorischem Stadium die Mütter oft an erster Stelle.

Abb. 3

Fall 3

Der 17 jährige Alois ist Nachkömmling eines Diplomatenpaares, Bruder und Schwester sind bereits erwachsen. Derzeit lebt Alois in der Familie des Bruders, der ihn unter dem Verdacht einer Legasthenie zum Psychologen schickte.

Alois war von seiner Familie keineswegs freudig erwartet. Um so mehr wurde er dann, besonders von seiner Mutter verwöhnt. Er blieb bis heute der »Kleine«. Die Mutter gibt zu, daß noch eine symbiotische Beziehung zwischen ihnen besteht. Bis jetzt besuchte Alois sechs verschiedene Schulen in sechs verschiedenen Ländern. Er ist entsprechend schulisch verwahrlost, leidet an Prüfungsängsten und fürchtet die Zukunft.

In der VF zeichnet er in der Mitte des Blattes eine Familienszene, wobei die übergroße Mutterfigur zuerst mit viel Sorgfalt dargestellt wird. Der Vater folgt kniend an zweiter Stelle, der kleine Sohn, ebenfalls kniend dicht neben der Mutter. Er ähnelt in Flaltung und Gesichtsausdruck der Mutter, beider Blick ist nach vorn gerichtet, während der Vater zur Mutter aufschaut. Es folgt zuletzt, abseits vom Vater, der Familienhund. Vor ihnen brennt ein Feuer, dessen magische Kraft durch Sternchen angedeutet wird.

In seiner Geschichte zum Bild beschreibt der Proband die drei Familienmitglieder als erstarrte Statuen.

Die neurotische Stagnation, die Fixierung des Jugendlichen in der Mutter-Kind-Sym- biose, kam im Test der VF deutlich zum Vorschein.

(Fall 4, 41, 52, 53, 59, 65, 68, 71, 75, 77, 87, 92, 97, 99, 100, 102, 104, 109.)

Die Forderung nach einer »Anpassung der Familie an das Kind«, d. h. an dessen elementare Trieb- und andere Bedürfnisse ist oft nur unvollkommen verwirklicht. Mangelerscheinungen in außerfamiliären Erziehungseinrichtungen wie Kindergarten und Schule werden gerade im deutschsprachigen Raum immer wieder aufgezeigt (223, 222). Der in den zwanziger Jahren geprägte Ausdruck »Kinderfehler« für kindliche Verhaltensstörungen wird im Grunde noch heute angewandt, wenn in patriarchaler Familienerziehung das Kind nicht die Forderungen der Erwachsenen erfüllt bzw. sich dagegen auflehnt. Erst allmählich erkannte man, daß retrospektiv nicht selten elterliches Fehlverhalten als Ursache sogen. Kinderfehler anzuschuldigen war. Richters Veröffentlichungen weisen auf die Bedeutung elterlicher Projektionen im Rollengeschehen der Familie hin. Sie sind meist vom eigenen gelebten bzw. nicht verwirklichten Schicksal der Eltern, in deren Kindheit und Jugend abhängig. Diese Zusammenhänge, die sich in einer Verhaltensstörung oder psychosomatischen Reaktion beim Kind, im Sinne einer »Symptomtradition« auswirken können, werden bisweilen hellsichtig vom Kinde gespürt und in der VF zur Darstellung gebracht. Sie sind für Arzt und Psychotherapeut wichtige Hinweise bezügl. der Zielsetzung geplanter psychotherapeutischer Maßnahmen.

Zu den von Eltern übermittelten Erziehungsaufträgen nehmen die Kinder, auch in ihren projektiven Testäußerungen, Stellung. Identifizierungen erleichtern es dem Kinde, Erziehungsforderungen, »den Eltern zuliebe«, zu erfüllen. Als Überforderungen sind sie mit Angsterlebnissen verbunden, wie z. B. in gestörten Familien von Trinkern oder Schizophrenen. Manche dieser Kinder versuchen, auf dem Wege einer »Identifizierung mit dem Angreifer« (Anna Freud), mit einer Flucht nach vorn, Angst durch Aggression, abzubauen. Der Abwehrmechanismus einer »Angstbewältigung vermittelst Schundphantasie« (Zulliger; 244) läßt sich auch in der Zeichnung, insbesondere aber einer dramatischen Geschichte, zur VF auslegen.

Im Schutze der Familie wächst das Kind zu einem Sozialwesen heran.

Während das Tierkind schon unmittelbar nach seiner Geburt auf eigenen Beinen steht, um von der Mutter fortzustreben, aber stets auch wieder zu ihr zurückzukehren, bleibt das »zu früh geborene Menschenkind« (Portmann) mit Beginn seines extra-uterinen Lebens und noch über lange Zeit in einem Zustand der absoluten Hilfslosigkeit; es ist das »verwaisetste Kind der Natur«, wie es schon vor 200 Jahren Herder bezeichnet hat (171).

Instinktregulationen bei Mutter und Kind sichern sein Überleben. Hierzu gehört die Entwicklung der »primären Mütterlichkeit« ( Winnicott) in der zweiten Hälfte der Schwangerschaft, die selbst bei einer anfänglichen Ablehnung des Kindes z. B. unerwünschter Schwangerschaft alles Sinnen und Trachten der Mutter daraufhin abstellt, das Kind möglichst unbeschädigt zur Welt zu bringen und es ein Nest vorfinden zu lassen, in dem es geborgen vor negativen Umwelteinflüssen heranreifen kann.

In ihren Aufgaben der Pflege und Aufzucht des Kindes steht der Mutter ein mächtiger Bundesgenosse zur Seite: Es ist die Familie, die in allen Kulturen den Schutz von Mutter und Kind, in der empfindlichsten Phase des Säuglings- und Kleinkindalters, als eine ihrer zentralen Aufgaben erkannt und übernommen hat.

Die Familie ist potentiell für jedes Menschenkind ein Hort der Geborgenheit. In ihr erfährt es seine wichtigsten Anregungen und Prägungen. Eltern und weitere Erzieher sind seine Identifikationsvorbilder.

Die Geschichte seines Lebens beginnt aber weit vor der Stunde seiner Geburt. Schon während der Partnerwahl der Eltern werden bisweilen Wunsch- und Erwartungsvorstellungen auf ein zukünftiges Kind projiziert; sie nehmen mit der Schwangerschaft erste reale Gestalt an. Ob ein Kind abgelehnt wird, so daß man sich seiner mittels Abtreibung zu entledigen versucht, ob eine Mutter sich ihrem unerwünschten Kinde später voller Schuldgefühle in überprotektiver Verwöhnung zuwendet, wirkt sich auf die Entwicklung emotionaler Beziehungen im ersten Lebensjahr des Kindes aus. Auf die Bedeutung der frühen MutterKind-Bindung für die gesamte weitere Entwicklung des Menschen ist immer wieder von Kinderärzten und Psychologen hingewiesen worden.

Im Zentrum der Familie steht die Mutter-Kind-Bindung. Erst wenn das Kind diese erlebt hat, ist es in der Lage, weitere Beziehungen zu seiner näheren und weiteren Umwelt, auch außerhalb der Familie, aufzunehmen. So bringt der Wechsel vom Foetalleben zum extrauterinen Dasein grundlegende, völlig neue Existenzbedingungen für Kind, Mutter und Familie mit sich.

Uber die »primäre Mütterlichkeit« hinaus ist der Anblick absoluter Hilflosigkeit des Neugeborenen und jungen Säuglings ein mächtiger Appell an die Mutter, sich ihrem Kinde in vermehrtem Maße zuzuwenden. Es entwickelt sich nunmehr, im Laufe der nächsten Monate der Aufzucht und Pflege ein Wechselspiel reifender Zuwendungen und Abhängigkeiten zwischen Mutter und Kind, was zum Aufbau wachsender Objektbeziehung des Neugeborenen und Säuglings, seiner ersten Liebesbindung, beiträgt. Ihre Verläßlichkeit ist ein Vorbild für alle späteren Liebesbeziehungen, die der Mensch im nachfolgenden Leben eingeht.

Es ist das »Urvertrauen«, das nach Erikson am Beginn der extra-uterinen seelischen Entwicklung stehen muß. Dieses kann nur im ungestörten personalen Erfahrungsaustausch zwischen der Mutter (bzw. deren Ersatzperson) und ihrem Kinde reifen und sich entwickeln. Erst auf dem Boden einer gesicherten ersten Objekt-, d. h. Liebesbeziehung ist das Kind in der Lage, weitere soziale Beziehungen zu entwickeln. Doch bleibt diese erste Beziehung noch über lange Zeit labil. Nachdem das Kind mit drei Monaten im ersten Lächeln dem Antlitz der Mutter antwortet, folgt um den achten Monat jene frühe soziale Krise, in der nun schon zwischen Mutter und Kind eine verläßliche Beziehung aufgebaut ist, aber jede kurze Abwesenheit der Mutter bzw. das Auftauchen eines fremden Gesichtes in der nächsten Umwelt Existenzängste des enttäuschten, sich verlassen fühlenden Kindes auslöst. Wie lange diese Unsicherheiten anhalten können, zeigen die Trennungsängste von Kleinkindern, z. B. bei einer Aufnahme ins Krankenhaus.

Alle diese Ängste lassen sich auf das Trauma der Geburt zurückführen, das Rank direkt mit dem psychophysischen Katastrophenschock des Kindes, beim Passieren des engen Geburtskanals in Zusammenhang brachte. S. Freud definierte es umfassender als erste Trennungsängste, indem das Kind seine totale leibseelische embryonale Geborgenheit aufgibt und der Unwirtlichkeit eines noch unbekannten neuen Daseinsraumes voller drohender Gefahren ausgeliefert ist (90).

Jeder Reizeinfluß von der Außenwelt, welcher im Ablauf des ersten Lebensjahres die Ausbildung des »Urvertrauens« stört, kann Reifungs- und Entwicklungskrisen auslösen, die den Boden für neurotische Fehlentwicklungen bereiten.

Alle Einflüsse aus der Umwelt des Menschen wirken sich über die Familie auf das Kind aus; diese kann sie verstärken oder mildern. In seinem Identifizie- rungs-, aber auch Schutzbedürfnis paßt sich das Kind weitgehend den Forderungen seiner Leitbilder, vornehmlich den Eltern, an. Es übernimmt deren Haltungen und Einstellungen im Einüben erster Sozialpraktiken: So steht hinter geklagten Anpassungs- und Verhaltensstörungen des Kindes immer die Frage, wieweit die Eltern dieselben ausgelöst, als negatives Leitbild die Kinder dazu ermuntert haben.

Die Summation der Reize einer industrialisierten Welt dringt mit Fernsehen u. a. bis in die Intimsphäre der Familie. Schlafstörungen von Kleinkindern zeigen, wie äußere Milieueinwirkungen und Störungen der innerfamiliären Intimbeziehungen ineinander übergehen.

In dieser wichtigen Frühphase bleibt die Mutter ein Schutz vor schädlichen Umwelteinflüssen. Das haben die Untersuchungen von Anna Freud und Dorothy Burlingham an Kriegskindern gezeigt (84). Doch ist anzunehmen, daß seither, im Laufe einer Generation, eine weitere Auflösung familiärer Schutzräume erfolgt ist, bei gleichzeitig zunehmender Instinktunsicherheit junger Mütter.

Der Test der VF vermittelt für jede Alters- und Entwicklungsstufe des Kindes Hinweise auf sein Sozialverhalten, sowie die Störeinflüsse, denen Kind und Familie in wechselnden Abhängigkeiten ausgesetzt sind.

a) Entwicklung des Kindes in seinen Phasen und deren Störungen

1. Orale Phase

Geborgenheit im Urvertrauen, im Erlebnis der »Urhöhle« (René Spitz) beim Stillvorgang, das ist die Anfangssituation im Aufbau einer natürlichen MutterKind-Beziehung. Sie vermittelt dem Kinde das unentbehrliche Heimatgefühl (167), als Ausgangspunkt für alle weiteren Abenteuer seines Lebens. Indem die Mutter mehrmals täglich eine Stunde beim Stillen bzw. beim Füttern und Windeln ihres Kindes mit diesem zubringt, kommt es zu einem zärtlichen Gefühlsaustausch zwischen beiden, der mit wachsender Intensität der Zweierbeziehung zwischen Mutter und Kind dessen erste Objektbeziehung — zum Liebesobjekt Mutter — aufbaut.

Das erste Lächeln des Kindes, auf dessen Bedeutungsinhalt früher Menschwerdung René Spitz mit dem Begriff des »Ersten Organisators« der kindlichen Psyche hingewiesen hat, ist ein wichtiger Meilenstein seiner Entwicklung (210). Beispiele von früher Kollektiverziehung, z. B. in den Kinderhäusern der israelischen Kibbuzimsiedlungen (Liegle) bestätigen die Einmaligkeit der MutterKind-Beziehung, auch unter extrem andersartigen Aufzuchtbedingungen, als einer traditionell geprägten Familie; sie bleibt unersetzlich. Kinder lächeln anders zu ihrer Mutter bzw. deren beständiger Ersatzperson, im Vergleich zu den Erzieherinnen. Alle späteren elementaren Lernvorgänge des Säuglings und Kleinkindes bauen sich auf dem Urvertrauen auf, welches dem Kind in der emotionalen Wechselbeziehung der Mutter-Kind-Dyade gelehrt und gelernt wurde.

Dieses erlebt seine Bewährung in der ersten sozialen Krise, der in unserer Zivilisation um das erste Lebensjahr beginnenden Sauberkeitsgewöhnung. Bis dahin prägen die Erfahrungen im Bereich der Oralität die frühe Erlebniswelt des Kindes, auch in allen späteren Auswirkungen: Im Kaptativen wie im schon über die Mundwelt hinausreichenden Intentionalen, welches das Kontakt- und Besitzstreben des Menschen vorformt.

Versagungen, aber auch Verwöhnungen führen zu ersten Fehlerlebnissen der Gefühlswelt des Kindes, auf denen sich spätere neurotische Fehlentwicklungen aufbauen können. Fettsucht und Magersucht nehmen hier ebenso einen Ausgang wie Depressionen und neurotische Frühverwahrlosungen (Kemper).

Für das Kind bleibt in dieser ersten Lebenszeit die Mutter die Schlüsselfigur. Sie wird daher auch in seiner Zeichnung an die erste Stelle gesetzt, wenn das Kind noch in der präidentifikatorischen Phase verharrt. Das gilt für das infantile Verhalten jüngerer Kinder wie für Retardierungen und neurotische Regressionen älterer, z. B. symbiotischer Kinder. Das Hüten und Nähren der Mutter läßt sie in der Verzauberung entsprechenden weiblichen Tieren zuteilen. In der Einheit Katze und Maus für die Mutter und ihr Kind klingt schon die Abhängigkeit, aber auf Ambivalenz eines symbiotischen Verhältnisses an, daß man nämlich jemanden »zum Fressen gern haben« kann (siehe S. 219). Das Bild der bösen, verschlingenden Mutter regt zur Darstellung als Hexe an.

Auch in der Größe des Zeichenobjekts, wie seiner Zuordnung im Raum, lassen sich Beziehungen und Abhängigkeiten erkennen. Das Gefühl der Regression, nämlich »am liebsten wieder in den Bauch der Mutter zurückzukehren« — wie es symbiotische Kinder, besonders mit dem bedeutungsvollen Symptom der Nabelkoliken äußern (22), ist bisweilen direkt in einem zeichnerischen Ineinander abzulesen.

Abb. 4

Fall 4

Der siebenjährige Bertram war einziges uneheliches Kind einer Arbeiterin, der es schwerfiel, sich von ihrem Kind zu trennen, als sie es notwendig im Heim unterbringen mußte. Sie blieb weiter in engem Kontakt mit ihm und nahm ihn in den Ferien stets zu sich. Bertram war ängstlich-unsicher, ein kränkliches Kind, welches noch Jahre an den Folgen frühkindlicher Schäden — schwere Rachitis, Ernährungsstörung u. a. — zu leiden hatte.

Er war im Heim brav angepaßt und zeigte eine starke Anhänglichkeit an die Betreuerinnen — männliche Bezugspersonen fehlten im Heim.

Dieses kam auch im Familienzeichentest zum Ausdruck, in dem er — ohne Verzauberung — die Realsituation darstellte. Er fragte — im Zwiespalt mangelnder eigener Erfahrung: »Wieviel Kinder haben Familien eigentlich?« und entschloß sich dann, vier zu zeichnen, darunter »ein größeres Mädchen«. Alle sind groß und breit dem unteren Rande aufgesetzt — in unsicherer Strichführung und infantiler Darstellung. Er gibt ein Abbild der Heimsituation, in der Kinder von älteren Mädchen und Frauen betreut werden. Der Junge links ist symbiotisch mit der einen Frau verbunden — in sie hineingezeichnet — wie es der Situation von jüngeren Heimkindern entspricht. Bei seinen Ängsten hatte die Gruppenleiterin ihn wiederholt tröstend abends zu sich ins Bett genommen. (Fall 71.)

Ist die Dyade bzw. Symbiose im ersten Lebensjahr des Kindes noch ein psychisches Normverhalten, so erfolgt gegen Ende desselben, mit Zunahme der Beherrschung körperlicher, besonders motorischer Funktionen, Schritt für Schritt die Ablösung des Kindes aus der engen Mutter-Kind-Beziehung, und zwar um so natürlicher, als die Mutter bereit ist, es loszulassen, im Glück und Stolz über die Reifungsfortschritte ihres Kindes.

Dieser Prozeß der Verselbständigung wird Einzelkindern, besonclers Nachkömmlingen, erschwert, zumal wenn ihr Schicksal durch Verlusterlebnisse der Mutter — Abwesenheit oder Tod des Vaters bzw. eines Geschwisters — belastet ist und Kinder dadurch als Substitut in eine Ersatzrolle gedrängt werden. Nahezu reflektorisch nehmen Mütter in dieser Krise ihr jüngstes Kind, meist den Sohn, in das verwaiste Ehebett.

In einem Fall von Vater-Kind-Symbiose wurde mit dem plötzlichen Tod des alternden Vaters der Nachkömmling in eine Mutter-Kind-Symbiose übernommen; gleichzeitig manifestierte sich ein Asthma bronchiale.

Abb. 5

Fall 5

Der achtjährige Achim erkrankte vor 2 Jahren, im Zusammenhang mit dem plötzlichen Tod seines Vaters, an einem Asthma bronchiale. Eine familiäre Belastung mit Asthma bzw. anderen allergischen Erkrankungen liegt nicht vor. Der Bub war bis dahin völlig gesund gewesen. In Nachkömmlingssituation, nach einer 8 Jahre älteren Schwester geboren, entwickelte er ein inniges symbiotisches Verhältnis zum Vater, von Beruf Graphiker. Er verbrachte die Abendstunden, bis in die Nacht hinein, eng umschlungen, mit diesem am Fernsehschirm oder bei gemeinsamen Arbeiten, für die der Vater ihm eigens ein kleines Reißbrett angefertigt hatte.

Um so schmerzlicher mußte den Bub der überraschende Herztod des Vaters treffen, den er als erster der Familie unmittelbar miterlebte. Während der Trauertage gab die Mutter das Kind zu Bekannten, um Achim nach seiner Rückkehr sofort zu sich ins Schlafzimmer, ins gemeinsame Ehebett, an Vaters Stelle zu legen. In dieser Nacht kam es zum ersten Asthmaanfall des Kindes, dem weitere folgten, die an Intensität mehr und mehr Zunahmen. Achim wurde bald medikamentenabhängig. Die Mutter bewältigte die Trauer um ihren Mann nur unvollkommen. Uber ein Jahr lang ging sie täglich mit dem kleinen Buben zum Friedhof und ließ ihn bei Wind und Wetter mit seinen Spielsachen am Grabe des Vaters spielen. Mit dem Tod des Mannes hatte sie eine frühere Berufstätigkeit wieder aufgenommen, wodurch sie gezwungen war, den Jungen nachmittags nach der Schule in einen Hort zu geben. Zu Hause hatte die Mutter in ihrem Verhältnis zum Kinde die väterliche Symbiose abgelöst. Die Großeltern vs. wurden zu geheimen Miterziehern des Kindes, was die geplanten psychotherapeutischen Maßnahmen zusätzlich erschwerte. Erst allmählich trat eine Besserung im Befinden des Kindes ein.

In der VF zeichnete der Bub, auf die ganze Fläche verteilt, verschiedene Objekte. Im Mittelpunkt stand ein schwarzer Zylinderhut, der die Trauer um den Vater verkörperte. Zuerst aber hatte er ein Brot gezeichnet, womit er auf seine primären ungestillten oralen Bedürfnisse hinwies. Lediglich Baum und Wurzeln, welche die Mutter verkörperten, wiesen auf einen Halt des Kindes hin, er war auch als einziges in Farben dargestellt. Außerdem stand noch eine Hummel für ein Baby sowie ein Taschentuch für die Schwester.

Die dissoziierte Darstellung des Ganzen wies auf die Identitätsdiffusion des gestörten Kindes hin, für das mit dem Tod des Vaters eine ganze Welt auseinandergebrochen ist.

Der chronische Brechdurchfall des Säuglings weist auf die »coenaesthetische Organisation« (René Spitz) des jungen Kindes hin, in der noch jede emotionale Störung in psychosomatischer Einheit erlebt wird (210). Die starke mütterliche Abhängigkeit des Kindes in der oralen Phase zeigten Untersuchungen Benedet- tis an chronisch ernährungsgestörten Säuglingen, die auch bei optimaler klinischer Behandlung nicht gediehen. Sie überwanden ihre Krise erst, als die Mutter durch eine psychotherapeutische Behandlung eine neue Lebenseinstellung zum Kinde gewann.

Kinder, denen in der Frühphase die lebensnotwendige »Liebes-Anlehnung« an die Mutter verwehrt blieb, entwickelten eine »anaklitische Depression« (210).