Die Vögel sangen ihre letzten Lieder - Laird Hunt - E-Book

Die Vögel sangen ihre letzten Lieder E-Book

Laird Hunt

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Beschreibung

Besondere Autor*innen, besondere Geschichten: btb SELECTION – Ausgezeichnet. Ungewöhnlich. Erstklassig.

Marvel, eine Kleinstadt in Indiana, 1930. Es ist ein heißer Tag im Hochsommer, als sich die Nachricht wie ein Lauffeuer verbreitet: drei schwarze junge Männer sollen gelyncht werden. Im ganzen County machen sich die Bewohner auf, dem Spektakel beizuwohnen.

Auch Ottie Lee Henshaw, eine verblühende Kleinstadtschönheit, ist unterwegs mit ihrem schmierigen Boss und ihrem undurchsichtigen Ehemann, um ein bisschen Spaß zu haben. Am anderen Ende der Straße bricht eine junge Afroamerikanerin auf. Calla Destry will der Spirale von Gewalt und Unterdrückung entkommen und ist entschlossen, den Mann zu treffen, der ihr ein neues Leben versprochen hat.

Wildgewordene Demagogen, marodierende Bürgerwehren, scharfe Hunde und der Ku-Klux-Klan sind unterwegs – die Straße ist kein guter Ort für beide Frauen. Denn jede von ihnen hat ein Geheimnis, dass sie hinter sich lassen will, und die aufgeheizte Stimmung ist für sie beide brandgefährlich.

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Seitenzahl: 326

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Zum Buch

Marvel, eine Kleinstadt in Indiana, 1930. Es ist ein heißer Tag im Hochsommer, als sich die Nachricht wie ein Lauffeuer verbreitet: drei schwarze junge Männer sollen gelyncht werden. Im ganzen County machen sich die Bewohner auf, dem Spektakel beizuwohnen.

Auch Ottie Lee Henshaw, eine verblühende Kleinstadtschönheit, ist unterwegs mit ihrem schmierigen Boss und ihrem undurchsichtigen Ehemann, um ein bisschen Spaß zu haben. Am anderen Ende der Straße bricht eine junge Afroamerikanerin auf. Calla Destry will der Spirale von Gewalt und Unterdrückung entkommen und ist entschlossen, den Mann zu treffen, der ihr ein neues Leben versprochen hat.

Wildgewordene Demagogen, marodierende Bürgerwehren, scharfe Hunde und der Ku-Klux-Klan sind unterwegs – die Straße ist kein guter Ort für die beiden Frauen. Denn jede von ihnen hat ein Geheimnis, dass sie hinter sich lassen will, und die aufgeheizte Stimmung ist für beide brandgefährlich.

Zum Autor

LAIRD HUNT ist Romanautor, hat einen Erzählband veröffentlicht und übersetzt aus dem Französischen. Er war Finalist beim PEN/Faulkner Award for Fiction und beim National Book Award und wurde mit dem Anisfield-Wolf Award for Fiction, dem Grand Prix de Littérature Américaine sowie dem italienischen Bridge Prize ausgezeichnet. Seine Rezensionen und Essays erschienen u.a. in der New York Times, der Washington Post und der Los Angeles Times. Hunt ist Professor an der Brown University und lebt in Providence, Rhode Island.

LAIRD HUNT

DIE VÖGEL SANGEN IHRE LETZTEN LIEDER

Roman

Aus dem Amerikanischen von Kathrin Razum

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »The Evening Road« bei Little, Brown and Company, New York.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Wenngleich in Teilen durch die Ereignisse des 7. August 1930 in Grant County in Indiana inspiriert, sind die Figuren und Einzelheiten dieses Romans fiktiv und haben keinerlei Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen.

Deutsche Erstausgabe Oktober 2022

Copyright der Originalausgabe © 2017 by Laird Hunt

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2022 by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: semper smile, München

Covermotiv: © Arcangel Images/Ruby Del Angel

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

MK ∙ Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-22065-5V002

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

Für die vielen Tausend

OTTIE LEE

ICH DREHTE DIE KURBEL an unserem neuen Anspitzer, fütterte ihn mit frischen Ticonderoga-Bleistiften, versuchte, sie genau richtig hinzukriegen. Spitz genug sollten sie sein, damit sie stechen würden, ohne dass man zu fest drücken musste, und stumpf genug, damit sie nicht abbrachen und wichtige Beweisstücke hinterließen. Die Person, an der ich diese spitzen Bleistifte zum Einsatz bringen würde, war mein Chef, Bud Lancer. Ich würde meine hochhackigen Schuhe abstreifen und strümpfig zu ihm schleichen, wenn er zurückgelehnt in seinem Sessel saß und sich durch ein Mittagsschläfchen schnarchte. Er war ein Trumm von einem Kerl, deshalb würde ich gleich zwei Bleistifte in jede Hand nehmen. Ich würde einmal kichern, während ich am Werk war, und dann noch einmal, wenn ich die Bleistifte abwischte. Bud, der dieses Spiel erfunden hatte, würde schallend lachen, wenn ich ihm davon erzählte. Ich würde mich auf die Ecke seines Schreibtischs setzen, den einen Fuß schwingen, ihn anstrahlen, wie er es so gern hatte, und meine perfekten Mordbleistifte hochhalten, und er würde brüllen vor Lachen. Vorerst allerdings brachte die neue Maschine nicht mehr zustande, als gute Schreibwerkzeuge zu ruinieren, meinen Arm zu ermüden und mich zum Fluchen zu nötigen.

Der nächste Bleistift brach mir ab, ich spuckte in meinen Papierkorb und sagte: »Verdammte Scheiße«, und in diesem Moment platzte Bud herein, eine Zigarre in der Hand.

»Sag bloß, du weißt es noch nicht.«

»Was denn?«

»Dass in Marvel welche gelyncht werden sollen.«

»Ge… was?«

»Ein paar Maisblätter haben ein Maishaar erschossen, und dann haben sie haufenweise Häuser in Brand gesteckt und randaliert. Sie sitzen alle im Knast, aber da werden sie nicht lang bleiben. Ein paar Jungs wollen sie mit dem Vorschlaghammer rausholen, wenn der Sheriff nicht von selbst aufschließt.«

»Und dann?«

»Hab ich doch gerade schon gesagt. Sie wollen sie aufhängen wie Hühner. Und sie vorher ordentlich rupfen.«

Bud lachte und sagte, ich solle die Bleistifte weglegen, er würde mich mitnehmen, wir könnten in seinem Auto zusammen hinfahren.

»Eigentlich wollte ich dich erst mit diesen Bleistiften umbringen«, sagte ich.

Bud schnappte sich seinen Hut und kramte dann in seiner Schreibtischschublade nach dem Schlüssel. Er sagte, das wär jetzt nicht der Moment für solche Spielchen, in Indiana wär seit ewigen Zeiten niemand mehr gelyncht worden. Wenn wir einen guten Platz wollten, müssten wir uns auf die Socken machen. Womöglich würden sie die guten Plätze unterm Baum ja sogar versteigern, schließlich wär das besser als jedes Kintopp. Wenn wir was zu sehen kriegen wollten, müssten wir jetzt los. Ich hab zu Bud gesagt, ich wüsste nicht so recht. Spiel oder nicht Spiel, ich müsste diese Bleistifte spitzen und zwei Schreiben zu Policenanpassungen aufsetzen, ganz zu schweigen vom Abendessen für Dale und den Einkäufen, die ich noch erledigen müsste.

»Dale, zum Teufel«, sagte Bud und zog kurz an seiner Zigarre. »Wenn der nicht eh schon dort ist, macht er sich bestimmt gerade auf den Weg, jede Wette.«

»Glaubst du?«, fragte ich.

»Da gibt’s nichts zu glauben. Wenn es darum geht, ein bisschen Spaß mit Maisblättern zu haben, ist er doch immer ganz vorn dabei.«

Ich lachte, hielt aber nicht dagegen. Bud war nun mal Bud. Er war seit fünf Jahren und sechs Wochen mein Chef, und es gab ein paar Dinge, die man besser nicht tat, wenn man bei der Arbeit war und er eine Zigarre in der Hand hatte, mochte er auch noch so gut gelaunt sein, zum Beispiel widersprach man ihm nicht. Jetzt hatte er eine Zigarre in der Hand. Sobald er ins Auto gestiegen war und den Motor angelassen hatte, würde er einen letzten tiefen Zug davon nehmen und sie aus dem Fenster werfen. Dann würde er den Gang einkuppeln und seine Hand auf mein Bein legen. Einmal, als er seine Zigarre in der Hand hatte und auf ein bisschen Fummeln aus war, sagte ich ihm, der Aktenordner, von dem er kurz zuvor geredet hatte, läge auf seinem Schreibtisch, was auch stimmte, aber er hatte behauptet, da läge er nicht. Ich hielt dagegen und wurde an diesem Tag nicht zu einer Autofahrt eingeladen, und auch den ganzen folgenden Monat nicht. Es wurde dermaßen trostlos im Büro, bevor das Schiff endlich wieder ins richtige Fahrwasser kam, dass ich schon dachte, er würde mich auf die Straße setzen. Und dann hätte ich Dale so einiges erklären müssen.

Nicht dass Dale irgendwas unternommen hätte, dachte ich. Ein Mann von Bud Lancers Statur hätte alle Dales dieser Welt ausspucken können wie alte Zähne. Ich hab mal erlebt, an einem Freitag war das, wie Bud einen ausgewachsenen Burschen an den Armen gepackt, umgedreht, ordentlich geschüttelt und dann wie eine Handvoll Schweineabfälle auf den Müll geschmissen hat. In seiner Highschool-Zeit war Bud Lancer ein Außenverteidiger gewesen, an dem die besten Spieler verzweifelten, und jetzt war er mein Chef.

»Komm schon, Ottie«, sagte er.

»Maisblätter sollen da aufgeknüpft werden?«

»Wie oft soll ich es denn noch sagen? Wer denn sonst? Leg die verdammten Bleistifte weg und hol deine Sachen.«

ICH HATTE GEDACHT, DER famose große Plan wäre, direkt nach Marvel zu fahren, aber Bud wurde von einigen der Jungs aufgehalten, die in der Druckerei ein paar Türen weiter arbeiteten, und sie mussten ein bisschen palavern von wegen, das würde das größte Ereignis aller Zeiten werden. Einer der Jungs, Charley Goodwin, der mit Bud zur Schule gegangen war und ihn nicht ausstehen konnte, genauso wenig wie Bud ihn, behauptete, er hätte schon mal erlebt, wie jemand gelyncht wurde, und zwar in Kentucky, wo er etwas hätte ausliefern müssen, aber keiner glaubte ihm. Er sagte, ihm sei es schnurz, ob ihm jemand glaubte oder nicht, denn es sei die Wahrheit. Die hätten einen Maisblatt-Hausmeister am Schild eines Saloons aufgeknüpft und ihn dort eine Woche hängen lassen. Die Leute in dem Ort in Kentucky, an dessen Namen Charley sich nicht mehr erinnerte, hätten Kartentische auf der Straße aufgestellt und direkt unter diesem Schauspiel einen Truthahnschmaus veranstaltet. Als der Truthahn gegessen war, sang ein kleines Mädchen »Dixie« und jonglierte mit fünf blauen Bällen, und danach wurde der Tote mit Heizöl bespritzt und angezündet.

»Ein Essen direkt unter einem Toten, und dazu ein Feuerwerk«, sagte Bud Lancer. »Hast du das gehört, Ottie?«

Die Jungs kicherten natürlich noch ein Weilchen über dieses Essen, und obwohl ich es eigentlich nicht so amüsant fand, kicherte ich mit. Bud gefiel mein Kichern. Er sagte immer, das und die Tatsache, dass ich eine Bluse so schön ausfüllte, auch wenn sie nicht eng geschnitten war, sei der Grund, dass ich die Stelle bei ihm bekommen hätte.

Charley Goodwin hätte mir auch gern eine Stelle angeboten, wenn er eine gehabt hätte. Aber er bediente bloß die Druckmaschine, und außer einem gewissen Bohnenfeld-Charme und der orangen Tinte unter seinen Fingernägeln hatte er nichts zu bieten. Was seine Augen aber nicht davon abhielt, alle zwei Sekunden zu mir herüberzuspazieren, und ihn hielt es nicht davon ab, als wir uns schließlich auf den Weg machen wollten, Bud zu fragen, ob er vielleicht zur Show mitfahren könnte.

»Wenn die Hölle zufriert und all die gefrorenen Hühner in den Himmel kommen, Charley-Boy«, sagte er.

»Die ist vielleicht schneller zugefroren, als es dir recht ist«, sagte Charley.

»Was soll denn das heißen?«, fragte Bud.

»Das soll heißen, dass sich eine Menge Leute so ihre Gedanken machen. Und Fragen stellen.«

»Fragen, so, so – was denn für Fragen?«, wollte Bud wissen und machte dabei einen großen Schritt auf Charley zu. Der zuckte mit den Achseln und lachte nervös.

»Ich red doch nur so daher.«

»Dann hör auf daherzureden.«

»Du weißt doch, dass ich nur Witze mache.«

»Ja«, sagte Bud und schob seine Brust noch etwas weiter vor, »das nehm ich mal an.«

Bud sagte, ich solle unter der Markise von Frisch’s warten, während er das Auto holen ging. Beim Warten musste ich an dieses kleine Mädchen und den brennenden Mann denken, und ein Schauder kroch mir von den Zehenspitzen die Beine hoch, denn ich hab mich gefragt, ob sie die Maisblätter in Marvel auch lynchen und dann noch verbrennen würden, aber da kam Sally Gunner aus dem Drugstore auf der anderen Straßenseite. Sally Gunner war durch ihren Vater halb Maiswurzel. Sie arbeitete drei Tage die Woche im Holzlager, und jedes zweite Mal, wenn man mit ihr redete, erzählte sie, dass sie morgens beim Frühstück Engel sah. Einer der Engel steckte gern den Finger in ihren Haferbrei und sagte ihr, ob er zu heiß oder zu kalt war. Ein anderer lebte in dem Porträt von Abraham Lincoln, das bei Sally hing. Sie sagte, das sei ihr Lieblingsengel, und er würde sie manchmal anlächeln und ihr Geschichten aus dem Himmel erzählen. Sie hatte klitzekleine Augen und eine schöne Adlernase, sodass sie immer so aussah, als wäre sie in großer Eile. Ich kannte sie schon fast mein Leben lang. Sie war meine erste Freundin außerhalb vom Frohen Heim der Spitzers gewesen, wo mich mein Alter, dieses Dreckstück, in meiner Kindheit oft monatelang untergebracht hatte, während er unterwegs war. Sally und ich waren nicht mehr so eng befreundet wie früher, aber es war noch keine Woche her, da hatte sie mich, als ich gerade aus dem Drugstore gekommen war, mitten auf der Straße umarmt und gesagt: »Mein Abraham-Lincoln-Engel hat mir heute Morgen gesagt, dass dich etwas ganz Besonderes erwartet, etwas, das du nicht verpassen darfst und das alles klarstellen wird!«

»Was denn klarstellen?«

Aber sie hatte mich nur angestrahlt und mit den Schultern gezuckt und war davongeeilt. So war Sally.

»Hallo, Ottie Lee Henshaw!«, rief sie jetzt.

»Hallo, Sally Louise Gunner!«, rief ich zurück.

Ich schaute ihr einen Moment lang nach, während sie weitereilte, was weiß ich was im Kopf, bis drei andere Mädels, die ich kannte, des Wegs kamen, aufgetakelt, als wollten sie sich dem nächstbesten Matrosen auf den Schoß setzen. Eine von ihnen, Candy Perkins, hatte Lippenstift und Spiegel in der Hand.

»Pass bloß auf, Candy, dass du nicht stolperst und auf den Kopf knallst, das würde dem armen Bürgersteig verdammt wehtun«, sagte ich, als sie an mir vorbeiging.

»Du wartest wohl mal wieder auf den dicken Bud Lancer, damit er dich auf eine seiner speziellen Autofahrten mitnehmen kann, Mrs. Dale Henshaw?«, antwortete sie.

ES WAR SO ZIEMLICH der heißeste Tag aller Zeiten, und ich könnte nicht behaupten, dass ich traurig gewesen wäre, als ich in Bud Lancers Auto saß und durch die Fenster die – wenn auch backofenheiße – Luft hereinströmte. Er hatte seine Zigarre aus dem Fenster geworfen, seine linke Hand lag auf dem Lenkrad und die rechte auf meinem Bein, und die Luft kam in kräftigen Flügelschlägen durch die Fenster. Er redete von dem bevorstehenden Lynchen und dass wir rechtzeitig dort sein sollten, um noch einen guten Platz zu kriegen, sein Vetter hätte ihm am Telefon erzählt, dass sie im Gefängnis ein blutiges Hemd rausgehängt hätten und die Stimmung schwer aufgeheizt sei und so weiter und so fort, aber am süßlichen Ton seiner Stimme erkannte ich, dass seine Hand nicht damit zufrieden sein würde, untätig auf meinem Oberschenkel zu liegen. Und siehe da, obwohl Bud immer wieder sagte, er müsse mich rechtzeitig nach Marvel bringen, damit ich das alles sehen könne, bog er ohne Zögern in das Nebensträßchen ein, das er gern mit mir nahm.

Das Sträßchen führte an zwei Hopfenfeldern und ein paar heruntergekommenen Pferdeställen vorbei, die mittlerweile bestimmt längst abgerissen oder niedergebrannt sind. Ein paar Hickorybäume standen neben einem kleinen Teich, in dem die Frösche quakten, als würde jeden Moment irgendetwas Riesiges zu ihnen ins Wasser springen, um sie plattzumachen. Der Teich war nicht groß genug zum Angeln, deshalb war dort nie jemand. Bud war ziemlich aufgeregt, wegen der Aussicht auf das Lynchen und dem allem, also hielt er sich nicht länger mit der Hand auf meinem Bein auf und schritt direkt zur Tat – was nie über ein gerüttelt Maß an Armaktivität, schweren Atem und Haare-Begrapschen hinausging, besonders Letzteres, denn meine Haare waren damals noch lang und dick und rot –, und zwar im Eiltempo. Wodurch allerdings mein Make-up und meine gebügelten Kleider nicht weniger in Mitleidenschaft gezogen wurden. Manchmal kam ein Blauhäher und sah uns zu, während Bud am Grapschen war, aber an diesem Tag entdeckte ich ihn nirgends. Er fehlte mir ein bisschen, denn er bot einen schönen Anblick, während Bud sich an mir abrackerte. König der Wiesen und Wälder. Elegant und treu. Ich meinte, ihn in einiger Entfernung kreischen zu hören.

»Hast du gerade den Blauhäher gehört?«, fragte ich Bud, als sein Schweiß nicht mehr auf mich tropfte und er wieder auf dem Fahrersitz saß.

»Ich bin kein Blauhäher«, sagte er.

Diese dämliche Bemerkung führte zu weiterem Gelächter, und er kniff mich vier-, fünfmal in den Oberschenkel. Dann wanderte Buds freie Hand wieder ans Lenkrad, und er begann zu pfeifen, als hätte er gerade einen mächtigen Berg bezwungen und seine Fahne aufgepflanzt, statt auf der Ebene zwischen ein paar Felsbrocken herumzukrabbeln. Ich habe es noch nie leiden können, wenn Männer pfeifen, und habe Dale schon vor langer Zeit dazu erzogen, sein Pfeifen für sich zu behalten, Bud kriegte es zwar nicht hin, zahlte mir aber eine Zulage dafür, dass er so tun durfte, als ob, also ertrug ich sein Pfeifen, schaute aus dem Fenster und fragte mich, da ich ja jetzt außer Dienst war und meine eigenen Gedanken denken durfte, was uns in Marvel wohl erwartete. Damals in meiner Kindheit, als ich immer wieder über längere Strecken bei den Spitzers war, hatte ich mal miterlebt, wie ein Maisblatt oder so jemand, der schlechte Stärkungsmittel verkauft hatte, durch die Straßen geprügelt wurde, aber ich hatte noch nie gesehen, wie jemand gelyncht wurde. Lynchen war noch mal was ganz anderes.

Ich musste daran denken, was Sally zu mir gesagt hatte. Vielleicht war das ja das Besondere, von dem sie gesprochen hatte. Während ich überlegte, was es wohl sein könnte, wie es aussehen und was ich womöglich lernen würde, beäugte ich meine Hände, meine Beine in den nicht so schönen Strümpfen, meine Füße in den guten Stöckelschuhen aus Ziegenleder, meine weichen Handrücken, meine Fingernägel und schließlich meine langen roten Locken. Meine Haare wogen sicher zwanzig Pfund, wenn es reichte, und Dale hatte mir in guten wie in schlechten Zeiten nie erlaubt, sie um mehr als zwei, drei Zentimeter kürzen zu lassen. Und wäre ich eines Tages mit abgeschnittenen Haaren zur Arbeit gekommen, dann wäre Bud wahrscheinlich auf der Stelle tot umgefallen. Ich richtete mich auf und bedachte Bud mit einem strahlenden Lächeln, aber er guckte gerade nicht. Er pfiff und wippte dazu mit dem Kopf. Es klang genauso furchtbar, wie es aussah, und hätte wohl meine Stimmung getrübt, wäre mir nicht eingefallen, dass Candy Perkins und ihre Freundinnen auch auf dem Weg zu dem Spektakel waren und ich sie dort vielleicht sehen würde. Und ob mich da eine besondere Botschaft erwartete oder nicht, die Mädels würden von mir ganz sicher das ein oder andere zu hören bekommen.

Ich wollte gerade einen Satz an Bud erproben und ihn fragen, was er davon hielt, da rülpste er und sagte: »Wir sollten bei euch vorbeifahren und Dale fragen, ob wir ihn mitnehmen sollen.«

»Ihn mitnehmen?«

»Du hast doch selbst gesagt, dass sein Wagen kaputt ist.«

Das hatte ich, und es war auch nicht das erste Mal, dass Bud an Dale dachte, nachdem er sich mit mir vergnügt hatte. Nach unseren Autofahrten traf er gern Dale. Er klopfte ihm dann auf die Schulter und verpasste ihm ein paar spielerische Boxhiebe. Dale schien das zu gefallen. Bud war nicht nur mein Chef, er war eine große Nummer im Ort und hätte wahrscheinlich – Probleme mit seinem Kindermacher hin oder her – Dale und jeder Menge lächelnder anderer noch Geld dafür abknöpfen können, dass sie sich eins von ihm in die Fresse hauen lassen durften.

»Na, dann holen wir den jämmerlichen Typen mal ab«, sagte ich.

Bud grinste, bog von der Asphaltstraße ab und wirbelte auf dem Weg zu unserem Haus gewaltig Staub auf. Ich hatte angenommen, dass Dale vielleicht im Schuppen sein oder sich um die Tiere kümmern würde, aber nein, er saß in einer sauberen Latzhose vor der Tür, auf der einzigen Stufe, die nicht kaputt war, gerade so, als hätte er mit uns gerechnet.

»Ich hab schon gewartet«, sagte er, als Bud anhielt.

»Worauf?«

»Dass mich jemand nach Marvel mitnimmt.«

»Tja, hier wäre jemand.«

»Das sehe ich.«

Dale lächelte nicht, weil er so schlechte Zähne hatte, aber er zog eine Augenbraue hoch, und dann setzte er sich auf die Rückbank, und wir fuhren los.

»WIE HAST DU ES denn mitgekriegt?«, fragte Bud. »Übers Radio? Mein Vetter hat gesagt, er hätte beim Friseur eine Rundfunkdurchsage gehört. Dreimal kam sie, hat er gesagt. Habt ihr überhaupt Radioempfang so weit draußen?«

»Meine Güte, natürlich haben wir Radioempfang. Stimmt’s, Dale?«

Dale antwortete nicht. Er hatte einen mächtigen Priem im Mund.

»Ich muss noch nach meiner Sau schauen«, sagte er.

»Was musst du?«, fragte Bud.

»Nein, das musst du nicht«, sagte ich.

Ich hatte schon mein Leben lang mit Schweinen zu tun, aber Dales Sau machte mir Angst. Sie war riesig und glänzend und sah schrecklich intelligent aus, leuchtete regelrecht im hellen Mittagslicht und guckte einen so von der Seite an, als wäre sie ein Wal oder Delphin, den man aus dem Wasser geholt hatte, und als hätte sie einen Haufen Dinge zu sagen, die man lieber nicht hören wollte.

Ich sagte noch mal Nein danke zu einem Besuch bei dem Schwein, aber Bud bog in den verdammten Weg ein, und wir fuhren die holprige halbe Meile zum hinteren Ende der Farm, wo Dale das Tier in einem Schweinestall hielt, an dem er ein Jahr lang gebaut hatte, mit Holz, das wir uns eigentlich nicht leisten konnten. Man hätte meinen können, sie hätte ihn verhext, diese Sau, die so groß war wie drei, so wie er sie anhimmelte, sie in parfümiertes Stroh bettete und besser ernährte als uns. Vom fahrenden Auto aus gesehen, war sie nur ein riesiger rosa Flatschen, vom Stroh halb verdeckt, aber sobald wir anhielten, sprang sie auf, trottete zum Zaun vor und schnaubte einmal so tief und laut, dass der Motor übertönt wurde.

»Sie redet wieder«, sagte ich.

»Dauert nicht lang«, sagte Dale.

»Das muss ich mir anschauen«, sagte Bud.

Ich musste mir nichts anschauen, ich hatte das alles oft genug gesehen, aber ich stieg trotzdem aus und folgte den beiden ums Auto herum. Bud nutzte die Gelegenheit, um Dale ein paarmal kräftig auf den Arm zu boxen, und Dale revanchierte sich ganz ordentlich.

»Da ist sie«, sagte er.

»Gütiger Gott!«, sagte Bud.

»Ich weiß«, sagte Dale.

»Was für ein Batzen Fleisch!«

»Den möchte ich sehen, der mir hier im County eine schönere Sau zeigt.«

»Landrasse?«

»Amerikanisches Yorkshire. Sie ist ganz allein rausgekommen, als hätte sie die anderen alle aufgefressen, und schon da war sie kaum kleiner als jetzt.«

»Mit so einem Schwein kannst du einen Preis gewinnen.«

»Sichere Bank.«

»Eine wandelnde Geldanlage. Erst recht, wenn die noch weiterwächst.«

»Das wird sie.«

Während sie so herumpalaverten, schaute ich die Sau an und sie mich. Du willst mir was sagen, oder?, dachte ich. Du willst mir etwas über diese Welt sagen, oder über deine Welt. Über die ferne Welt. Du hast etwas über mich zu sagen, das sehe ich dir doch an. Nichts Gutes. Flüster es mir zu, kau mir das Ohr ab. Beiß mir den halben Kopf weg. Leg dich auf mich und schlaf deinen tierischen Schlaf. Ich erschauerte, dann lachte ich laut auf, und die Jungs sahen kurz zu mir herüber, ehe sie weiterredeten.

Es gab eine Stelle unten am Bach, da waren so leichte Vertiefungen im Boden, wo man einen festen Stand hatte. Wenn es an mir war, das Monster zu versorgen, ging ich da gern hin. Man hatte eine gute Aussicht, wenn man sich übers Wasser hockte, und sobald ich es mir bequem gemacht hatte, ließ ich den Blick übers Land schweifen. Mais, Weizen, Gerste und noch mehr Mais. Das Getreide war gerade im rechten Maß sonnenverbrannt und krümmte sich in Wellen unter der Hitze. Ich konnte sechs Scheunen und vier Silos sehen. Es war gutes Land, nicht groß, aber fruchtbar, und man konnte davon leben. Konnte von diesem Boden sein Auskommen finden. Früher bei den Spitzers hatte uns die alte Mrs. Spitzer, wenn wir uns nicht benahmen, gezwungen, unser Geschäft im Wald zu verrichten. Niemand von uns wusste sich ordentlich zu betragen, also waren wir ständig im Wald. Tapsten plärrend herum wie verirrte Schafe. Ferkel im Dreck. Irgendwo da drüben in der Richtung, in die ich gerade schaute, lag Marvel. Weiter als einen Steinwurf entfernt, aber weit war es nicht, und bei diesem Gedanken hatte ich wieder so ein Kribbeln im Bauch, wie ich es das letzte Mal gespürt hatte, als Sally mich umarmt und mir gesagt hatte, dass mich etwas ganz Besonderes erwartete. Dieses Etwas, auf das ich jetzt aus war, das alles klarstellen würde.

Als ich fertig war, hastete ich wieder zum Schweinepalast zurück, dachte, die beiden säßen längst im Auto und könnten es gar nicht abwarten, zu dem Spektakel zu gelangen, aber sie standen immer noch am Zaun. Dale zog Karotten aus meinem Garten aus der Tasche und reichte sie Bud, und der reichte sie Ihro Majestät – ganz vorsichtig, als befürchtete er, gebissen zu werden. Einmal hatte ich ihr beim Füttern die Hand auf die Flanke gelegt, die sich zwischen den Zaunlatten hervorwölbte. Ich hatte gedacht, sie würde weich und heiß sein, heißer als der Glutkern eines Sterns, aber sie war hart und kühl, fast kalt, als hätte das Grab schon Ansprüche angemeldet und sie hätte den Sarg bereits in sich.

»Jetzt hört mal auf, diesen wandelnden Berg Schweinekoteletts abzufüttern, sonst kommen wir hier nie los«, sagte ich.

Aber Dale zog eine Karotte nach der anderen aus der Tasche, und Bud nahm sie eine nach der anderen entgegen, und dieses schöne riesige Schwein wurde gefüttert und gefüttert, und es nahm kein Ende.

NACHDEM ER AN MIR herumgegrapscht und dann gut Wetter bei Dale gemacht hatte, dem nicht einmal bewusst war, dass gut Wetter bei ihm gemacht wurde, bedurfte es keiner besonderen Geistesschärfe, um zu erahnen, was Bud als Nächstes einfallen würde, nämlich dass er hungrig war und nichts dagegen hätte, irgendwo was zu essen aufzutreiben.

»Heute ist in Ryansville Gemeindeessen, es gibt Wels«, sagte Dale.

»Na«, sagte Bud und rieb mit seinen Pranken über das Lenkrad, »dann nichts wie hin.«

Vor der Kirche in Ryansville standen so viele Fahrzeuge, dass man hätte meinen können, das geplante Lynchen würde dort stattfinden. Autos und Pritschenwagen parkten eine Viertelmeile entlang der Straße, und ich sagte, so dringend sei mir das nicht mit dem Essen, aber Bud hielt den Wagen an.

»Du musst Kraft tanken für das, was wir heute Abend vorhaben«, sagte er.

»Ich möchte noch ein bisschen Kraft übrig behalten, damit ich meinen Spaß haben kann, so sehe ich das«, sagte ich.

»Steig aus, Ottie Lee«, sagte Dale.

Ich rührte mich nicht vom Fleck, bis er nachschob »bitte«, und wahrscheinlich wäre ich trotzdem sitzen geblieben, bis sie mich entweder in Ruhe gelassen oder aus dem Auto gezerrt hätten, wäre nicht in diesem Moment der Geruch von frittiertem Wels durchs Fenster hereingeweht und hätte meinen Magen gekitzelt. Ich hatte seit dem Frühstück genau zwei Kräcker und ein Karamellbonbon zu mir genommen, und der Wels roch so gut, dass ich die Autotür aufriss und Dale und Bud zur Seite stieß.

Ich war bereit, das auch mit allen anderen so zu machen, die mir im Weg standen, aber als ich zur Kirche kam, sah ich, dass es nicht nötig sein würde. Alle drängten sich draußen auf dem Rasen, und diese Knallköpfe aßen gar keinen Wels. Ein feister Bursche in einem nicht sehr vorteilhaften braunen Anzug stand auf einer Getränkekiste und ließ eine Rede über Freiheit, Demokratie, Feldfrüchte und frische Blumen in die rauchige Luft ab, das jedenfalls war es, was ich aufschnappte, während ich über den Rasen ging und in die Kirche trat.

Man hätte erwarten können, dass wenigstens ein paar Leute da drin wären, aber ich sah keine Menschenseele, als ich dem Schild mit der Aufschrift IHRCHRISTEN, HIERGIBT’SDENBESTENWELSAUFERDEN! folgte, das in den Keller wies. Es dauerte einen Augenblick, bis meine Augen sich an das Licht der kleinen Glühbirnen, die dort unten von der Decke hingen, gewöhnt hatten, aber die Berge von Fisch hatte ich schnell entdeckt. Es gab solche Mengen von Wels, dass ich einen Moment lang stehen blieb, um das alles auf mich wirken zu lassen. Und es war nicht nur Wels – es gab auch Krautsalat und Brötchen und Kartoffelsalat, und dann noch zwei Tische voll Kuchen. Dampf hing in der Luft, und alles glitzerte. Es sah aus, als wäre man in eine dieser alten Geschichten geraten, die wir bei den Spitzers immer erzählt bekommen hatten, wo Jesus in Wallung gerät und ein Wunder wirkt. Mr. Spitzer breitete gern die Arme aus, wenn er zu dieser Stelle der Geschichte kam. Hob die Arme und ließ sich das Haar ins Gesicht fallen. In der Kirche gab es ein Weckglas, wo man das Geld hineinwerfen sollte, und ich zog ein paar Münzen aus der Tasche. Dann richtete ich den Blick auf die Servierplatten und hielt direkt auf sie zu. Erst jetzt sah ich, dass dort Frauen standen, die das Essen ausgeben sollten. Drei waren es, jede so alt wie Methusalems Onkel. Sie trugen blaue Kattunkleider und hatten sich vor den Kleckerbereich Schürzen gebunden.

»Allein zum Essen da?«, fragte die eine.

»Nein, wir sind zu dritt«, sagte ich.

»Die anderen hören sich wahrscheinlich die Rede an«, sagte eine andere.

»Es wundert mich, dass Sie das nicht auch tun«, sagte die dritte.

»Ich habe Hunger«, sagte ich. »Hunger, Hunger, Hunger.«

»Ich glaube, Hunger haben die alle, da oben«, sagte die erste.

»Gibt es irgendeinen Grund, warum Sie mir nichts auftun? Ich habe bezahlt und stehe mit leerem Teller vor Ihnen«, sagte ich.

»Gibt es denn einen Grund, warum wir Ihnen nichts auftun sollten?«, fragte die zweite.

Ich sann einen Moment lang darüber nach. Natürlich gab es Gründe. Mir fielen jede Menge ein, aber wem würde das nicht so gehen.

»Ich bin eine Sünderin. Und wie steht’s mit Ihnen?«

»Oh, wir sind mit der Sünde durchaus vertraut.«

»Aber Sie haben Ihren Weg hierher gefunden.«

»Genau.«

Während die dritte das sagte, stieß die Menge draußen ein großes Gebrüll aus, und im nächsten Moment klang es, als kämen die Heerscharen der Apokalypse die Treppe heruntergestürmt.

»Krieg ich jetzt meinen Wels oder nicht?«, fragte ich.

»Aber natürlich, meine Liebe«, sagte die erste.

»Was darf’s denn sein?«, fragte die zweite.

»Nehmen Sie sich ein Stück Kuchen, und vergessen Sie nicht, den Herrn zu preisen, bevor sie es essen!«, sagte die dritte.

Ich bekam mein Essen und ging durch die Seitentür wieder nach oben, während die Horde sich hereinwälzte, was mich an die Schweine erinnerte, in die Jesus die Dämonen hat fahren lassen, und an die kalte Flanke von Dales Sau, und dann setzte ich mich an einen der langen Tische, die man am hinteren Ende der Rasenfläche aufgestellt hatte. Es war ein schönes Fleckchen. Überall standen große, Schatten spendende Bäume, und ringsum erstreckten sich die sommerlichen Felder. Kein Lüftchen regte sich, aber man hatte Raucheimer aufgestellt, gegen die Fliegen und Moskitos. Überall blühte Schwarzäugige Susanne, und hinten auf dem Grundstück stand ein großer Straucheibisch. Mein Blick verweilte etwas darauf. Es sah so aus, nur ein bisschen und nur einen Moment lang, als wäre der Strauch nicht von robusten rosafarbenen Blüten übersät, sondern von lauter Augen.

Zu den Dingen, die wir hatten tun müssen, um uns den Aufenthalt bei den Spitzers zu verdienen, während wir darauf warteten, dass unsere miesen, unberechenbaren Eltern wiederkamen, gehörte auch das allwöchentliche Gemeindeessen in der Baptistenkirche, immer Bohnen mit Schinken. In den Sommermonaten hatte ich zahllose Male die Tische gedeckt, und das hatte bedeutet, in einem Garten zu arbeiten, der diesem hier sehr ähnlich war. Womöglich stand sogar ein Straucheibisch darin. In meinem letzten Sommer dort hatte ich zwei- oder dreimal beim Tischdecken das Gefühl gehabt, ich würde beobachtet, aber soweit ich es erkennen konnte, war niemand da. Das Gefühl war jetzt nicht weniger sonderbar als damals, aber ich hatte Appetit und einen Teller mit Wels vor mir, also wandte ich den Blick von dem Strauch ab und richtete ihn auf meinen Teller, und was ich da sah, gefiel mir. So ein Stück frittierter Wels hat eine sehr ansprechende Krümmung. Sie führt einen gedanklich zu dem Schilf und den Steinen des Flusses, in dem er einmal schwamm. Ich setzte gerade das Messer in der Mitte dieser Krümmung an, da pirschte sich von hinten eine leise, leiernde Stimme heran.

»Darf ich auf Ihre Stimme zählen, Madam?«

Nicht nur stand ihm der Anzug kein bisschen, sondern er trug trotz seines jugendlichen Alters auch noch falsche Haare. Er hatte wohl meinen Blick bemerkt, denn er fasste sich schnell an den Kopf und rückte sie zurecht.

»Aber sicher«, sagte ich.

»Sehr verbunden«, erwiderte er.

Ich hatte das gesagt, weil ich anfangen wollte zu essen und hoffte, er würde dann zu anderen Leuten gehen, die jetzt mit Tellern herauskamen, aber er zog einen Stuhl heran und setzte sich neben mich.

»Eine hübsche Frau wie Sie«, sagte er.

»Danke.«

»Sind Sie allein hier?«, fragte er.

»Was?«

»Sind Sie allein zum Gemeindeessen gekommen?«

Ich deutete mit der Gabel auf die Kellertür und sagte, ich hätte Ehemann und Chef dabei. Er überkreuzte die fetten Beine und sagte, das sei sehr bedauerlich, das Schicksal sei doch zu den Gütigsten immer am grausamsten und so weiter. Dann sagte er: »Ich nehme an, Sie wollen sich auch das Lynchen anschauen?«

»So ist es«, sagte ich.

»Wissen Sie schon, wie Sie hinkommen?«

»Wir fahren mit dem Auto von meinem Chef.«

»Der Glückliche.«

Ich kniff das eine Auge leicht zusammen, dann schaute ich auf meinen Fisch hinunter. Er lag erschlaffend im Fett und verlor langsam seine Krümmung.

»Ja wirklich, der Glückliche«, sagte er und klopfte mit dem Finger auf die Tischplatte. Es war ein schöner Finger, lang und zierlich wie der einer Frau. Ich sah zu, wie dieser Finger und seine Genossen sich anspannten und fast abzubrechen schienen, als der Mann sich vom Tisch abdrückte.

»Ich mache mich besser mal auf den Weg«, sagte er. »Ich habe ein paar Busse bestellt, damit die Leute zur Show gelangen, und das muss ich jetzt organisieren, vielleicht muss ich sogar selbst einen lenken. Die Busse fahren übrigens auf meine Rechnung. Die Fahrt wird niemanden auch nur einen Nickel kosten. Auf meine bescheidene Art habe ich in meinem Leben großes Glück gehabt. Der große Gouverneur im Himmel ist gut zu mir gewesen.«

Ich nickte. Ich sah, dass mein Fisch nicht mehr dampfte. Dass sich der Saft aus dem Krautsalat über den Teller verteilt hatte.

»Es ist patriotisch, was Sie da tun, Madam«, sagte er und neigte den Kopf ein wenig, sodass sein Doppelkinn wabbelte.

»Darauf zu warten, dass ich meinen Fisch essen kann?«, fragte ich.

»Nach Marvel zu fahren und beim Lynchen zuzuschauen«, sagte er.

»Das soll patriotisch sein?«

»Haben Sie meine Rede nicht gehört?«

»Doch. Zum Teil.«

»Und wie hat sie Ihnen gefallen? Der Teil, den Sie gehört haben?«

Er bedachte mich mit einem breiten Lächeln, zeigte mehr von seinem rosa Zahnfleisch, als ich hätte sehen wollen. Das habe ich noch nie gemocht, wenn jemand so viel Zahnfleisch zeigt. Ich zuckte mit den Achseln. Das Lächeln fiel von seinen Lippen ab, ins braune Gras hinunter.

»War es so schlimm?«

»Wenn ich ehrlich bin, habe ich den größten Teil verpasst.«

Das schien ihn wieder aufzumuntern. Er lehnte sich zurück, schenkte mir ein kleines Lachen.

»Aber was Sie gehört haben, hat Ihnen gefallen?«

»Ja. Es war wirklich gut.«

»›Eine Fackel der Klarheit, die in dunklen Zeiten das Land erhellt‹ … Das ist doch ein Volltreffer, finden Sie nicht? An dem Teil habe ich lange gefeilt.«

»Das haben Sie gesagt? Über das Lynchen? Das von heute Abend?«

»Ja, Ma’am. Es ist eine schwierige, eine harte Maßnahme, aber sie wird alles Unklare ausbrennen. Uns wieder ins Gleichgewicht bringen. Das tun die schwierigsten Dinge immer.«

»Ein helles Licht?«

»Das allerhellste.«

»Tja, das muss ich Ihnen lassen«, sagte ich, »dieser Teil ist ziemlich gut.«

Er wollte noch etwas sagen, verkniff es sich dann aber, schaute rasch vorne an meinem Kleid hinunter und zeigte mir dann wieder sein Zahnfleisch.

ICH HATTE ALLES AUFGEGESSEN und mit einem Glas Eistee nachgespült, bevor ich Bud und Dale auch nur aus der Ferne sah. Ich hatte nicht unbedingt damit gerechnet, dass sie kommen und sich zum Essen zu mir setzen würden – tatsächlich hatte ich eine Feldarbeiterfamilie neben mir, die wegen den billigen Fressalien hergekommen war –, aber noch weniger hatte ich erwartet, sie beide mit einem Teller in der Hand am Straßenrand stehen zu sehen, wo sie einer Gruppe Jungs zuschauten, die Gefängniseinbruch spielten. Die Jungs hatten irgendwo Stemmeisen und Holzhämmer aufgetan und sich aus einem Stapel alter Türen einen Unterschlupf gebaut. Da saß nun einer der Jungs drin, während die anderen nach besten Kräften ihre Stemmeisen und Holzhämmer schwangen. Als sie den Unterschlupf zerlegt hatten, schleiften sie den Jungen zum nächsten Baum, fesselten ihn und taten der Reihe nach so, als würden sie ihn strangulieren. Nach einer Weile lösten sie die Fesseln wieder und begannen das Ganze von vorn.

»Auf, lasst uns zur Show fahren, ehe sie so ’nen langen Bart hat«, sagte ich.

»Wir sind noch am Futtern«, sagte Bud.

»Wie unschwer zu erkennen ist«, sagte Dale.

Sie waren nicht die Einzigen, die da draußen mit einem Teller in der Hand dem Spiel zusahen. Mehr als ein Dutzend Leute fanden es offenbar richtig, ihr Essen auf der Straße zu sich zu nehmen und dabei dieser kindischen Darbietung zuzusehen. Ein paar der Zuschauer waren Verwandte von Bud. Buds Vater und dessen vier Schwestern hatten mehr als zwei Dutzend Erdenbürger in die Welt gesetzt. Eine stattliche Anzahl von ihnen hatte ich kennengelernt, denn viele dieser Herrschaften kamen Woche für Woche vorbei und versuchten, sich von Bud Geld zu leihen. Sogar jetzt, während ich da stand, beugte sich einer von ihnen, nämlich Wendell Lancer, der so groß wie blöd war, zu Bud rüber, und ich sah, wie Bud nach seiner Brieftasche griff. Ich sagte zu Dale, ich würde jetzt zum Auto gehen, weg von all der Aufregung, aber ich bekam keine Antwort außer dem Widerschein der Sonne, die auf das fettige Haar an seinem Hinterkopf fiel.

Der Redner hatte saubere Haare auf dem Kopf gehabt, dachte ich auf dem Weg zum Auto, auch wenn es nicht seine eigenen gewesen waren. Und er hatte diese schönen Hände, die den Anzug wettmachten. Nicht dass der Anzug als solcher schlecht gewesen wäre. Es hätte nur ein Mann mit ein bisschen weniger Kuchen, Schmalz und Soße um die Taille drinstecken müssen. Dale hätte der Anzug gut gestanden, dachte ich. Dale, der nicht mal zu seiner eigenen Beerdigung einen Anzug getragen hätte. Obwohl er den passenden schmalen Körperbau dafür hatte, mit diesen schönen breiten Schultern und den kräftigen schlanken Armen. Dale, der nie im Leben eine Rede halten würde, nicht mal, um seine eigene kratzige Haut zu retten. Ein Mann mit schönen Händen, der eine Rede halten konnte – das war schon was. »Eine Fackel der Klarheit.« Erstklassig. Und es war Sallys Licht. So sicher, wie ich hier stand. Was konnte es anderes sein? Wir brauchten alle etwas mehr Klarheit. Ab und zu. Ich sollte in einem der Busse von diesem Redner mitfahren, dachte ich, schnell und stilvoll ans Ziel gelangen. Bestimmt würde er mich vorne sitzen lassen.

Ich befasste mich ganz ernsthaft mit diesem Gedanken, als ich auf einen alten Mann traf, der mitten auf der Straße auf einem umgedrehten großen Erntekorb saß. Er hatte einen langen weißen Bart und trug einen verbeulten Zylinder. Ungefähr alle zehn Sekunden stand er auf, schlurfte auf die andere Seite des Korbs und setzte sich dort wieder. Er machte das vier- oder fünfmal, während ich mich näherte. Ich glaube, er bemerkte mich erst, als ich praktisch vor ihm stand.

»Kommen Sie oder gehen Sie?«, fragte er.

»Kommen tu ich nicht, also nehm ich mal an, ich gehe«, sagte ich.

»Und wohin, gottverdammt?«

»Nach Marvel, so wie alle.«

»Dann kann ich Sie nicht durchlassen.«

»Was können Sie mich nicht?«

»Ich kann Sie nicht durchlassen.« Während er das sagte, langte er nach unten und versuchte, eine Art Gewehr mit großer Mündung vom Boden aufzuheben.

»Und wenn ich jetzt sagen würde, ich will da hin, um den Jungs, die gelyncht werden sollen, zu helfen?«

»Dann würde ich aufstehen und Sie begleiten.«

»Tja, so ist es aber nicht. Das sind Verbrecher. Die haben es nicht besser verdient.«

»Das glauben Sie?«

»Sonst hätte ich es ja wohl nicht gesagt, oder?«

»Dann sind Sie genauso dumm wie all die anderen. Reichen Sie mir das mal.«

»Damit Sie auf mich schießen können?«

Er nickte.

»Wohnen Sie hier in der Gegend?«, fragte ich.