Die Wahrheit meines Vaters - Jodi Picoult - E-Book
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Jodi Picoult

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Beschreibung

Delia Hopkins verbrachte eine glückliche Kindheit, daran bestand bisher nie ein Zweifel. Doch als eines Tages die Polizei ein schreckliches Geheimnis über ihre Familie offenbart, holt eine Vergangenheit Delia ein, von der sie nicht einmal wusste, dass es sie gab … Jodi Picoult erzählt die zutiefst berührende Geschichte einer Frau, und es gelingt ihr, den Wert der Erinnerung und der Liebe fühlbar zu machen.

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www.piper.de

Für Katie Desmond, die mir an meinem Hochzeitstag zum Frühstück Oreo-Plätzchen servierte, blaue Wildlederschuhe für den letzten Schrei hält und genau weiß, wie viele Menschen in der ersten Nacht auf der Queen Elizabeth II gestorben sind.Ab und an hat jemand das Glück, eine unvergessliche Freundin zu finden: Das bist Du für mich.

Übersetzung aus dem Amerikanischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

9. Auflage Oktober 2010

ISBN 978-3-492-95331-3

© Jodi Picoult, 2005

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»Vanishing Acts«, Atria Books, New York 2005

© der deutschsprachigen Ausgabe:

Piper Verlag GmbH, München 2007

All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part of any form. This edition published with the arrangement of the original publisher, Atria Books, an imprint of Simon and Schuster, Inc., New York.

Umschlagkonzept: semper smile, München

Umschlaggestaltung: Cornelia Niere, München

Umschlagmotiv: Uwe Krejci / Getty Images

Datenkonvertierung E-Book: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Welche Worte, so könnten wir fast fragen, sind einprägsam und wiederholenswert, wenn nicht diejenigen, zu denen die Liebe uns beflügelt? Es ist wundervoll, daß sie überhaupt ausgesprochen werden. Es sind wenige, und sie sind fürwahr selten, doch wie eine Melodie werden sie durch die Erinnerung unaufhörlich wiederholt und moduliert. Alle übrigen Worte bröckeln ab wie Putz, der das Herz bedeckt. Wir werden es nicht wagen, sie jetzt laut zu wiederholen. Wir sind nicht imstande, sie immerfort zu hören.

HENRY DAVID THOREAU

Eine Bootsfahrt auf den Flüssen Concord

und Merrimack, 1849

PROLOG

Ich war sechs, als ich das erste Mal verschwand.

Mein Vater hatte einen Zaubertrick für die alljährliche Weihnachtsfeier im Seniorenzentrum einstudiert, und seine Assistentin, die Sekretärin, die einen echten Goldzahn und falsche Wimpern so dick wie Spinnenbeine hatte, war krank geworden. Ich wollte meinen Vater gerade anflehen, mich einspringen zu lassen, da bat er mich, als würde ich ihm einen Gefallen tun.

Ich war also sechs, und ich glaubte damals noch, mein Vater könnte mir tatsächlich Münzen aus den Ohren ziehen und aus den Falten von Mrs. Klebans Morgenrock einen Blumenstrauß holen und Mr. van Looens dritte Zähne verschwinden lassen. Er zeigte solche kleinen Tricks ständig für die alten Leutchen, die ins Zentrum kamen, um Bingo zu spielen oder Sitzaerobic zu machen oder sich alte Schwarzweißfilme anzusehen, bei denen der Ton knisterte wie Feuer. Ich wußte, daß einiges an den Zaubernummern unecht war – der aufgeklebte Schnurrbart zum Beispiel und die Münze mit zwei Kopfseiten –, aber ich glaubte ganz fest daran, daß der Zauberstab meines Vaters die Macht hatte, mich in eine Art Zwischenzone zu befördern, bis er es für angebracht hielt, mich zurückzuholen.

Am Abend der Weihnachtsfeier scheuten die Bewohner von drei betreuten Seniorenwohnanlagen weder Kälte noch Schnee und ließen sich mit Bussen zum Zentrum fahren. Sie saßen im Halbkreis vor meinem Vater und schauten ihm zu, wie er einige Nummern vorführte, während ich hinter der Bühne wartete. Als er mich ankündigte – die wunderbare Cordelia! –, kam ich in einem Paillettenkostüm aus meiner Verkleidungskiste auf die Bühne.

Ich habe an jenem Abend viel gelernt. Zum Beispiel, daß die Assistentin eines Zauberers die Illusion durchschauen muß. Daß es ausreicht, den Körper in einer bestimmten Weise zu verrenken und einen schwarzen Vorhang über dich fallen zu lassen, wenn du unsichtbar werden willst. Daß Menschen sich nicht in Luft auflösen und daß du, wenn du jemanden suchst und nicht findest, aus irgendwelchen Gründen an der falschen Stelle suchst.

EINS

Ich glaube, es geht dabei um Liebe:

Je mehr man eine Erinnerung liebt,

desto stärker und seltsamer ist sie.

VLADIMIR NABOKOV        

DELIA

Kein Mensch lebt in dieser Welt, ohne Spuren zu hinterlassen. Es gibt Spuren wie Kreditkartenabrechnungen und Terminkalender und Versprechen, die du anderen gegeben hast. Es gibt mikroskopische Spuren wie Fingerabdrücke, die mit bloßem Auge nicht zu erkennen sind. Und selbst wenn nichts dergleichen vorhanden ist, bleibt der Geruch. Wir leben in einer Wolke, die uns ständig umgibt, egal, was wir tun. Denn wir stoßen beständig Hautzellen ab, Tausende pro Minute.

Heute laufe ich hinter Greta her, die ihr Tempo beschleunigt, als wir das unwegsame Dickicht am Fuß des Berges erreichen. Der Schlamm, der mir bis zu den Oberschenkeln spritzt, scheint meinen Bluthund nicht im geringsten zu stören. Gerade die unangenehmen Bedingungen, die das Fortkommen erschweren, haben dafür gesorgt, daß diese Spur bewahrt blieb.

Der Officer von der Polizei in Carroll, New Hampshire, der mich begleiten soll, ist zurückgefallen. Als er das Gelände sieht, das Greta durchackert, schüttelt er den Kopf. »Vergessen Sie’s«, sagt er. »Da wäre eine Vierjährige doch nie im Leben durchgekommen.«

Wahrscheinlich hat er recht. Aber eines macht er sich nicht klar: Um diese Zeit am Nachmittag, wenn die Sonne langsam untergeht, kühlt die Erde ab und die Luftströme bewegen sich bergab, was folgendes bedeutet: Obwohl das Mädchen wahrscheinlich ein Stück entfernt, womöglich über wegsameres Gelände gegangen ist, nimmt Greta die Witterung dort auf, wo sie hintreibt. »Greta ist anderer Ansicht«, sage ich.

In meinem Beruf kann ich es mir nicht leisten, meiner Partnerin nicht zu vertrauen. Im Vergleich zu einer Hundenase ist meine Nase nahezu geruchsunfähig. Wenn Greta mir also bedeutet, daß Holly Gardiner vom Spielplatz des Kindergartens Sticks & Stones losspaziert und den Mount Deception hochgestapft ist, dann werde ich genau da hochgehen, um Holly zu finden.

Greta zerrt am Ende der fünf Meter langen Leine und hetzt ein ganzes Stück in flottem Tempo voran. Sie ist ein wunderschöner Bluthund, mit schwarzer Gesichtszeichnung in dem ansonsten samtweichen, braunen Fell und dem ungelenken Körper eines Mädchens, das den Tänzerinnen immer nur vom Rand aus zusieht. Sie umkreist zweimal einen glatten, nackten Felsen, dann blickt sie zu mir hoch, und die Falten in ihrem langen Gesicht werden tiefer. Geruch sammelt sich oftmals in kleinen unsichtbaren Wolken. An dieser Stelle hat das Mädchen eine Verschnaufpause eingelegt.

»Such«, befehle ich. Greta schnüffelt herum, und als sie die Fährte wieder aufnimmt, rennt sie los. Ich laufe hinter meinem Hund her, ein Ast schlägt mir ins Gesicht und reißt mir über dem linken Auge die Haut auf. Wir stürmen durch Gestrüpp und dann einen schmalen Pfad hinauf, der auf einer Lichtung endet.

Die Kleine sitzt schlotternd auf dem nassen Boden, die Arme um die Knie geschlungen. Wie immer sehe ich in ihrem Gesicht einen Moment lang das von Sophie, und ich muß den Impuls unterdrücken, sie an mich zu drücken und dadurch fast zu Tode zu erschrecken. Greta läuft zu ihr und springt hoch, so gibt sie zu erkennen, daß sie die Person gefunden hat, deren Fährte sie anhand einer Mütze im Kindergarten aufgenommen und über sechs Meilen bis zu dieser Stelle verfolgt hat.

Die Kleine blickt blinzelnd zu uns hoch, überwindet nur ganz langsam ihre große Furcht. »Ich wette, du bist Holly«, sage ich, als ich neben ihr in die Hocke gehe. Ich ziehe meine Jacke aus und lege sie ihr um die dünnen Schultern. »Ich heiße Delia.« Ich pfeife, und der Hund kommt angetrabt. »Das ist Greta.«

Ich nehme das Geschirr ab, das Greta bei der Arbeit trägt. Greta wedelt so heftig mit dem Schwanz, daß ihr ganzer Körper hin und her schwankt. Während die Kleine die Hand hebt, um den Hund zu streicheln, betrachte ich sie prüfend. »Hast du dir weh getan?«

Sie schüttelt den Kopf und blickt auf den Riß über meinem Auge. »Aber du.«

Im selben Augenblick taucht der Officer keuchend auf der Lichtung auf. »Ich freß ’nen Besen«, schnauft er. »Sie haben sie tatsächlich gefunden.«

Ich finde alle. Aber nicht meine Erfolgsbilanz ist der Grund, warum ich diesen Beruf ausübe. Auch nicht der Adrenalinrausch, ja nicht einmal das mögliche Happy-End. Nein, wenn ich ehrlich bin, tu ich das, weil ich diejenige bin, die sich verlaufen hat.

Aus einiger Entfernung beobachte ich das Wiedersehen von Mutter und Tochter – wie Holly sich in die Arme ihrer Mutter schmiegt, wie die Erleichterung beide in eine unsichtbare Decke hüllt. Ich hätte die Frau unter Hunderten als Hollys Mutter erkannt: Sie ist völlig aufgelöst, sieht aus wie die Hälfte eines Ganzen.

Ich kann mir nichts Entsetzlicheres vorstellen, als Sophie zu verlieren. Solange ich schwanger war, dachte ich immerzu, daß ich meinen Körper wieder für mich haben wollte; doch sobald ich mein Kind zur Welt gebracht hatte, erkannte ich, daß der wichtigste Teil von mir sich jetzt außerhalb meines Körpers befand, allen möglichen Gefahren ausgesetzt war und mir wieder abhanden kommen konnte.

Ganz egal, ob die vermißte Person, nach der Greta und ich suchen, alt, jung, männlich oder weiblich ist – für irgend jemanden ist diese vermißte Person das, was Sophie für mich ist.

Ich weiß, daß meine enge Bindung zu Sophie zum Teil Kompensation ist. Meine Mutter starb, als ich drei Jahre alt war. Wenn ich in Sophies Alter meinen Vater sagen hörte: »Ich habe meine Frau bei einem Autounfall verloren«, war ich jedesmal ganz verdutzt: Wenn er doch wußte, wo er sie verloren hat, warum ging er dann nicht einfach dorthin und suchte sie? Erst eine Ewigkeit später wurde mir klar, daß Menschen und Dinge auf unterschiedliche Weise verlorengehen können und daß sie nur dann verlorengehen, wenn sie einen Wert haben. Ich war noch zu jung, um einen Vorrat von Erinnerungen, der sie mir unvergeßlich gemacht hätte, an meine Mutter angelegt zu haben. Lange Zeit hatte ich von ihr nur einen Geruch zurückbehalten – eine Mischung aus Vanille und Apfel konnte sie für mich so präsent machen, als hätte sie nur einen halben Meter von mir entfernt gestanden – und dann verschwand auch das. Ohne diesen ersten Anreiz ist nicht einmal Greta in der Lage, jemanden zu finden.

Greta sitzt neben mir, und als sie mir mit der Schnauze an die Stirn stupst, fällt mir wieder ein, daß ich verletzt bin. Jemand reicht mir eine Mullbinde, die ich mir auf die Wunde über dem Auge drücke. Als ich aufblicke, sehe ich Fitz, meinen besten Freund, der zufällig Reporter bei der auflagenstärksten Zeitung in unserem Bundesstaat ist. »Wie sieht der aus, der sich mit dir angelegt hat?« fragt er.

»Es war ein Baum.«

»Im Ernst? Ich dachte immer, die schlagen nur im Frühling aus.«

Fitzwilliam MacMurray ist in einem unserer beiden Nachbarhäuser aufgewachsen, Eric Talcott in dem anderen. Mein Vater hat uns siamesische Drillinge genannt. Uns drei verbindet eine lange Geschichte; wir haben zusammen Schnecken auf dem Gehweg mit Salz bestreut, Wasserbomben vom Dach der Grundschule geworfen und die Katze der Sportlehrerin entführt. Als Kinder waren wir ein Triumvirat, als Erwachsene sind wir uns noch immer erstaunlich nahe. Fitz wird sogar auf meiner Hochzeit eine Doppelfunktion erfüllen – als Trauzeuge von Eric und mir.

Von meinem Platz auf dem Boden aus kommt mir Fitz vor wie ein Riese. Er ist fast eins fünfundneunzig groß, und er hat flammend rotes Haar. »Ich brauche einen Kommentar von dir«, sagt er.

Mir war immer klar, daß Fitz mal eine schreibende Tätigkeit ausüben würde, obwohl ich ihn mir eher als Dichter oder Romanautor vorgestellt hatte. Schon damals spielte er mit Sprache wie andere Kinder mit Steinen oder Zweigen. »Denk dir irgendwas aus«, schlage ich vor.

Er lacht. »He, ich arbeite für die New Hampshire Gazette, nicht die New York Times.«

»Entschuldigung …?«

Wir drehen uns beide um. Holly Gardiners Mutter blickt mich mit einem Ausdruck an, der so voller Worte ist, daß sie sich sekundenlang nicht für eins entscheiden kann. »Danke«, sagt sie schließlich. »Vielen, vielen Dank.«

»Danken Sie Greta«, erwidere ich. »Die hat die ganze Arbeit gemacht.«

Der Frau kommen die Tränen, als ihr die Bedeutung des Augenblicks klar wird. Sie nimmt meine Hand und drückt sie, bevor sie zurück zu den Rettungshelfern geht, die sich um Holly kümmern.

Es gab Momente in meiner Kindheit und Jugend, in denen ich meine Mutter schmerzlich vermißt habe – wenn alle anderen Kinder mit beiden Eltern zum Schulfest kamen, als ich zum ersten Mal meine Periode bekam und mit meinem Vater auf dem Badewannenrand saß, um die Gebrauchsanweisung auf der Tamponverpackung durchzulesen, als Eric und ich uns das erste Mal küßten und ich meinte, mich vor Glück nicht halten zu können.

Jetzt.

Fitz kennt mich wie kaum jemand sonst. Er legt mir einen Arm um die Schultern. »Aber du hast Glück gehabt«, sagt er sanft. »Dein Dad war besser als die meisten anderen Eltern zusammen.«

»Ich weiß«, erwidere ich, als ich Holly Gardiner und ihrer Mutter nachschaue, die Hand in Hand zu ihrem Wagen gehen, wie zwei Edelsteine an einer zarten Halskette, die jeden Augenblick reißen kann.

Am Abend sind Greta und ich die Hauptmeldung in den Fernsehnachrichten. Im ländlichen New Hampshire berichten die Medien eher selten über Bandenkriege und Morde und Serienvergewaltigungen. Statt dessen erfahren wir von abgebrannten Scheunen und feierlichen Krankenhauseröffnungen und von kleinen Heldentaten wie meiner.

Mein Vater und ich stehen in der Küche und machen das Abendessen. »Was ist denn mit Sophie los?« frage ich und spähe stirnrunzelnd ins Wohnzimmer, wo sie zusammengerollt auf dem Teppich liegt.

»Sie ist müde«, sagt mein Vater.

Sie macht hin und wieder ein Schläfchen, wenn ich sie vom Kindergarten abgeholt habe, aber heute, als ich den Sucheinsatz hatte, mußte mein Vater sie bis zum Feierabend mit ins Seniorenzentrum nehmen. Trotzdem, es muß noch etwas anderes mit ihr sein. Als ich nach Hause kam, hat sie nicht wie sonst an der Tür auf mich gewartet, um mir alles Wichtige zu erzählen: Wer im Kindergarten am höchsten geschaukelt hat und ob es zum dritten Mal hintereinander Möhren und Käsewürfel gab.

»Hast du ihre Temperatur gemessen?« frage ich.

»Angenehm warm wie immer.« Er grinst mich an, als ich die Augen verdrehe. »Beim Nachtisch ist sie wieder die alte«, prophezeit er. »Kinder kommen schnell wieder auf die Beine.«

Mit seinen fast sechzig Jahren sieht mein Vater noch gut aus – alterslos, fast, mit graumeliertem Haar und einer durchtrainierten Figur. Obwohl es reichlich Frauen gab, die sich um einen Mann wie Andrew Hopkins gerissen hätten, hat er sich nur ganz selten mal auf eine kurze Beziehung eingelassen, und er hat nie wieder geheiratet. Er sagte immer, im Leben gehe es für einen Jungen darum, das perfekte Mädchen zu finden, und er habe nun mal das Glück gehabt, daß ihm sein Mädchen in einem Kreißsaal überreicht worden war.

»Wann kommt Eric?« fragt er, während er Sahne zu den zerstoßenen Tomaten gibt. »Das Essen ist gleich verkocht.«

Eric wollte schon vor einer halben Stunde hier sein, aber er hat nicht angerufen, daß er sich verspätet, und er meldet sich nicht auf seinem Handy. Ich weiß nicht, wo er steckt, aber ich könnte mir etliche Möglichkeiten ausmalen: Murphy’s Bar auf der Main Street, Callahan’s im Nord Park, irgendein Straßengraben.

Sophie kommt in die Küche. »He«, sage ich, und meine Sorge um Eric verfliegt beim Anblick meiner Tochter. »Willst du mir helfen?« Ich halte die grünen Bohnen hoch. Sie mag das Knackgeräusch, wenn sie brechen.

Sie zuckt nur die Achseln und setzt sich mit dem Rücken gegen den Kühlschrank.

»Wie war’s im Kindergarten?« frage ich.

Ihr kleines Gesicht verdunkelt sich wie der Gewitterhimmel im Juli. Dann blickt sie zu mir hoch: »Jennica hat eine Fledermaus«, verkündet Sophie.

»Echt?« erwidere ich und überlege, wer aus ihrer Gruppe noch mal Jennica ist – die mit den platinblonden Zöpfen oder die, deren Vater den schicken Coffeeshop betreibt.

»Ich will auch eine.«

»Na, ich weiß nicht.« Das Licht von Autoscheinwerfern huscht am Fenster vorbei, biegt aber nicht in unsere Einfahrt. Ich konzentriere mich wieder auf Sophie, überlege, ob Fledermäuse nicht irgendwelche gefährlichen Krankheiten übertragen.

»Aber die ist ganz weich«, jammert Sophie. »Und richtig kuschelig und auf dem Etikett steht der Name.«

Ach so, wahrscheinlich das zur Zeit angesagte neue Beanie Baby. »Vielleicht zu deinem Geburtstag.«

»Bis dahin vergißt du das bestimmt auch noch«, stößt Sophie vorwurfsvoll hervor und läuft zur Küche hinaus und nach oben.

Mit einem Mal habe ich wieder den rot umkringelten Termin in meinem Kalender vor Augen – die Eltern-Kind-Party im Kindergarten hatte um ein Uhr begonnen, als ich gerade auf halber Höhe auf einem Berg war und nach Holly Gardiner suchte.

Als ich klein war, habe ich es meinem Vater nie erzählt, wenn in der Grundschule eine Feier stattfand, zu der auch die Eltern eingeladen waren. Statt dessen stellte ich mich krank und blieb an dem Tag zu Hause, damit ich nicht mit ansehen mußte, wie die Mütter von allen anderen in meiner Klasse hereinspaziert kamen, während ich doch wußte, daß meine Mutter niemals kommen würde.

Als ich nach oben gehe, liegt Sophie auf ihrem Bett. »Schätzchen«, sage ich. »Es tut mir wirklich leid.«

Sie blickt zu mir hoch. »Wenn du bei denen bist«, fragt sie, und es bricht mir das Herz, »denkst du dann überhaupt mal an mich?«

Ich nehme sie hoch und setze sie mir auf den Schoß. »Ich denke sogar an dich, wenn ich schlafe«, sage ich.

Jetzt, wo sich dieser kleine Körper eng an meinen schmiegt, kann ich es mir gar nicht mehr vorstellen – aber als ich merkte, daß ich schwanger war, habe ich mit dem Gedanken gespielt, das Baby nicht zu bekommen. Ich war nicht verheiratet, und Eric hatte auch so schon genug Probleme. Doch am Ende brachte ich es nicht fertig. Ich wollte die Sorte Mutter sein, die sich mit Haut und Haaren wehrt, wenn jemand sie von ihrem Kind trennen will. Ich wollte gern glauben, daß meine Mutter so war.

Sophies Mutter zu sein – mal mit, mal ohne Eric – ist erheblich schwerer, als ich je gedacht hätte. Wenn ich etwas richtig mache, führe ich das auf das Vorbild meines Vaters zurück. Wenn ich etwas falsch mache, kreide ich es einfach dem Schicksal an.

Die Tür geht auf, und Eric kommt herein. Für die erste halbe Sekunde, bevor sich sämtliche Erinnerungen dazwischendrängen, raubt er mir wieder den Atem. Sophie hat das dunkle Haar und die Sommersprossen von mir. Von Eric hat sie die sehnige Statur und die hohen Wangenknochen, das natürliche Lächeln und die beunruhigenden Augen – so unergründlich blau wie ein Gletscher. »Entschuldige die Verspätung.« Er drückt mir einen Kuß aufs Haar, und ich hole tief Luft, um festzustellen, ob sein Atem nach Alkohol riecht. Er nimmt Sophie auf den Arm.

Ich kann weder die säuerliche Würze von Whiskey noch die herbe Hefe von Bier wahrnehmen. Schon in der High-School verstand es Eric, die verräterischen Anzeichen des Alkoholkonsums zu kaschieren. »Wo warst du denn?« frage ich.

»Hab mich noch mit einem Freund im Amazon getroffen.« Er zieht einen Beanie-Baby-Frosch aus seiner Gesäßtasche.

Sophie quietscht auf und schnappt ihn sich, umarmt Eric so fest, daß ich fast fürchte, sie drückt ihm die Luft ab. »Sie hat uns also beide bearbeitet«, sage ich kopfschüttelnd. »Sie ist raffiniert.«

»Sie geht nur auf Nummer sicher.« Er stellt Sophie auf den Boden, und die läuft sofort nach unten, um ihrem Großvater das neue Beanie Baby zu zeigen.

Ich lehne mich in seine Arme, hake die Daumen in die Gesäßtaschen seiner Jeans. Unter meinem Ohr hält sein Herz für mich den Takt. Tut mir leid, daß ich an dir gezweifelt habe. »Krieg ich auch einen Frosch?« frage ich.

»Du hattest schon mal einen. Du hast ihn geküßt und hast mich bekommen. Weißt du nicht mehr?« Zur Veranschaulichung fährt er mit den Lippen von der kleinen Furche unten an meinem Hals – eine Narbe, die ich mir beim Rodeln zugezogen habe, als ich zwei war – bis hinauf zu meinem Mund. Ich schmecke Kaffee und Hoffnung und, Gott sei Dank, nichts anderes.

Wir bleiben ein paar Minuten im Zimmer unserer Tochter stehen, auch noch, als der Kuß vorbei ist, lehnen uns einfach aneinander. Ich habe ihn immer geliebt. Frosch oder nicht.

Als wir klein waren, hatten Eric, Fitz und ich eine eigene Sprache. Das meiste habe ich vergessen, bis auf ein paar Wörter: valyango, Pirat; palapala, Regen; und ruskifer, das den rauhen Boden eines geflochtenen Korbes bezeichnete, die Stelle, wo alle Schilfrohre zusammenlaufen. Ruskifer benutzten wir manchmal als Bild für unsere Freundschaft.

Im Winter bauten wir Schneeburgen mit komplizierten Gängen und Tunneln und einem Thron für jeden. Im Frühling machte Fitz’ Dad, wenn er Ahornsirup kochte, für uns »Zucker auf Schnee«, das waren Schüsseln mit Schnee, der mit dem heißen Sirup übergossen wurde, und wir fochten mit Gabeln um die süßesten, längsten Sirupfäden. Im Herbst kletterten wir über den Zaun von McNabs Apfelplantage und aßen Sorten wie Macoun und Cortland und Jonagold mit einer Haut, die so warm war wie unsere. Im Sommer schrieben wir im schwachen Licht von gefangenen Glühwürmchen geheime Prophezeiungen über unsere Zukunft und versteckten sie im Astloch eines Ahornbaumes – für später, wenn wir erst groß wären.

Wir hatten jeder unsere Rolle: Fitz war der Träumer; ich war die praktisch veranlagte Taktikerin; Eric war der Frontmann, der Erwachsene ebenso wie andere Kinder mit Mühelosigkeit um den Finger wickeln konnte. Eric wußte stets genau das richtige zu sagen. Zu seinem Gefolge zu gehören war so ähnlich, wie wenn die Sonne durch eine Fensterscheibe schien: Es war golden, etwas, dem man das Gesicht entgegenhob.

Alles veränderte sich, als wir nach dem ersten Jahr auf dem College in den Semesterferien nach Hause kamen. Wir rieben uns alle an den Regeln und Vorschriften unserer Eltern, aber Eric scheuerte sich wund und lebte erst auf, wenn wir drei abends ausgingen. Er schlug immer irgendeine Kneipe vor, und er kannte welche, in denen niemand den Ausweis sehen wollte. Anschließend, wenn Fitz nach Hause gegangen war, legten Eric und ich uns auf eine alte Decke am hinteren Ufer des Sees und zogen uns gegenseitig aus. Aber jedes Mal, wenn ich ihn küßte, schmeckte ich den Alkohol in seinem Atem, und ich konnte Alkoholgeruch noch nie ausstehen. Wenn ich Eric küßte und den säuerlichen, bitteren Geruch inhalierte, rollte ich mich von ihm weg. Er nannte mich prüde, und vielleicht war ich das ja auch – es war einfacher, als zuzugeben, was mich wirklich vom ihm forttrieb.

Manchmal gehen wir mit verbundenen Augen durchs Leben und wollen uns nicht eingestehen, daß wir uns das Tuch selbst umgebunden haben. So war es bei mir und Fitz in den zehn Jahren nach der High-School. Wenn Eric sagte, er würde nur hin und wieder ein Bier trinken, glaubten wir ihm. Wenn seine Hände im nüchternen Zustand zitterten, sahen wir weg. Wenn ich seinen Alkoholkonsum erwähnte, wurde es mein Problem, nicht seins. Und doch konnte ich unsere Beziehung nicht beenden. Alle meine Erinnerungen waren mit ihm verknüpft; mich von ihnen zu lösen, hätte bedeutet, den Geschmack meiner Kindheit zu verlieren.

An dem Tag, als ich feststellte, daß ich schwanger war, kam Eric mit dem Wagen von der Straße ab und landete auf einem Maisfeld. Als er mich anrief und mir erzählte, was passiert war – er gab einem Kaninchen die Schuld, das über die Straße gelaufen war –, legte ich auf und fuhr zu Fitz. Ich glaube, wir haben ein Problem, sagte ich zu ihm, als würde es uns alle drei betreffen, was im Grunde auch stimmte.

Fitz hörte mir zu, wie ich zuerst eine Wahrheit aussprach, die wir bis dahin geflissentlich unter den Teppich gekehrt hatten, und dann eine neuere, die großartig und beängstigend zugleich war. Ich schaff das nicht allein, sagte ich zu ihm.

Er schaute auf meinen Bauch, der noch flach war. Du bist nicht allein.

Erics Anziehungskraft war unbestreitbar, aber an dem Nachmittag wurde mir klar, daß auch Fitz und ich zusammen eine nicht unbeträchtliche Kraft darstellten. Und auf der Heimfahrt, als ich daran dachte, was ich zu Eric würde sagen müssen, fiel mir wieder ein, was ich damals in jenem schimmernden Sommer geschrieben hatte, als ich den Rest meines Lebens zu erraten versuchte. Es war mir peinlich gewesen, die Worte zu Papier zu bringen, und ich hatte den Zettel gleich dreimal gefaltet, damit Fitz und Eric es nicht lesen konnten. Ich – ein Wildfang, der sich stundenlang mit Jungen herumtrieb und Freibeuter oder Archäologe spielte, ein Mädchen, das nur ein einziges Mal in Not geraten war und sich dann selbst gerettet hatte – ich hatte nur einen einzigen wilden Wunsch aufgeschrieben: Ich möchte einmal Mutter werden.

Eric, einer der drei Anwälte in Wexton, betreut Immobilienverkäufe und Testamente und hin und wieder eine Scheidung, aber er hat auch ein wenig Erfahrung in Strafsachen – Alkohol am Steuer und Bagatelldiebstähle. Meistens gewinnt er, was mich nicht wundert. Ich hab mich von seinen Plädoyers auch stets überzeugen lassen. Zum Beispiel als es um unsere bevorstehende Hochzeit ging. Es hätte mir durchaus genügt, einfach nur eine Heiratsurkunde auf dem Standesamt zu unterschreiben. Doch dann schlug Eric eine große Feier vor, und ehe ich wußte, wie mir geschah, stapelten sich die Broschüren von Partysälen, Probebänder von Musikbands und Preislisten von Floristen.

Ich sitze nach dem Abendessen im Wohnzimmer auf dem Boden, die Beine mit Stoffmustern bedeckt. »Ist doch egal, ob die Servietten blau oder türkis sind!« beschwere ich mich. »Ist Türkis nicht sowieso bloß Blau auf Ecstasy?«

Ich reiche ihm einen Stapel Fotoalben. Wir sollen zehn Fotos von Eric und zehn von mir auswählen, für die Vorspannmontage des Hochzeitsvideos. Er klappt das erste auf, und da ist ein Foto von Eric und Fitz und mir, auf dem wir in unseren Schneeanzügen wie fette Würste aus dem Eingang eines selbstgebauten Iglus lugen. Ich bin zwischen den beiden Jungen, wie fast auf allen Fotos.

»Sieh dir bloß meine Haare an«, sagt Eric lachend. »Ich seh ja aus wie ein Mädchen.«

»Nein, ich seh aus wie ein Mädchen. Und du siehst aus wie ein Pilz.«

Auf den Fotos in den nächsten beiden Alben, die ich durchblättere, bin ich älter. Es sind vor allem Fotos von Eric und mir, Fitz taucht nur ab und zu auf. Fotos vom Abschlußball auf der High-School: Eric und ich, und dann eins von Fitz mit einem Mädchen, an dessen Namen ich mich nicht erinnere.

Als wir fünfzehn waren, erzählten wir unseren Eltern, wir würden einen Schulausflug mit Übernachtung machen und stiegen statt dessen auf den Glockenturm der Baker Library vom Dartmouth College, um uns einen Meteoritenschauer anzusehen. Wir tranken Pfirsichschnaps, den Eric zu Hause stibitzt hatte, und sahen zu, wie die Sterne mit dem Mond Fangen spielten. Fitz schlief mit der Flasche in der Hand ein, und Eric und ich warteten auf den Kometenschwarm. Hast du den gesehen? fragte Eric. Als ich die Sternschnuppe nicht sehen konnte, nahm er meine Hand und führte meinen Finger den Himmel entlang. Und dann ließ er einfach nicht mehr los.

Als wir morgens um halb fünf wieder nach unten stiegen, hatte ich meinen ersten Kuß bekommen. Und wir waren kein Trio mehr.

In dem Augenblick kommt mein Vater ins Zimmer. »Ich geh nach oben und guck Jay Leno«, sagt er. »Schließt ab, ja?«

Ich blicke hoch. »Wo sind meine Babyfotos?«

»In den Alben.«

»Nein … auf denen hier bin ich schon vier oder fünf.« Ich setze mich auf. »Ich hätte auch gern dein Hochzeitsfoto für das Video.«

Ich habe das einzige Foto von meiner Mutter, das es in diesem Haus gibt. Sie lächelt darauf, und jedes Mal, wenn ich es anschaue, frage ich mich, wer sie damals glücklich gemacht hat, und wie.

Mein Vater blickt zu Boden und schüttelt leicht den Kopf. »Tja, ich hab gewußt, daß das irgendwann passiert. Na denn, kommt mit.«

Eric und ich folgen ihm in sein Zimmer und setzen uns auf das Doppelbett, auf die Seite, auf der er nicht schläft. Mein Vater holt eine Blechdose aus dem Schrank. Er kippt den Inhalt zwischen Eric und mir auf die Bettdecke – Dutzende von Fotos von meiner Mutter, in Röcken und hauchdünnen Blusen, ihr schwarzes Haar fällt ihr über den Rücken wie ein Fluß. Ein Hochzeitsfoto: meine Mutter in einem weißen Glockenkleid; mein Vater, eingezwängt in seinem Smoking, sieht aus, als wolle er jeden Moment das Weite suchen. Fotos von mir, fest eingewickelt, in den Armen meiner Mutter, die mich unbeholfen hält. Und eins von meiner Mutter und meinem Vater auf einer häßlichen, grünen Couch, ich zwischen ihnen, mit Grübchen, eine Mischung aus ihnen beiden.

Es ist so, als würde ich einen anderen Planeten besuchen. Als würde ich nach einem Hungerstreik auf ein Bankett gehen – es ist so viel, ich will nichts übersehen. Mir wird heiß im Gesicht, als wäre ich geohrfeigt worden. »Wieso hast du die vor mir versteckt?«

Er nimmt mir ein Foto aus der Hand und starrt lange darauf, als hätte er vergessen, daß Eric und ich im Zimmer sind. »Ich habe sie nicht versteckt, weil ich sie nicht anschauen wollte«, sagt er schließlich. »Ich habe sie versteckt, weil ich nichts anderes tun wollte, als sie anzuschauen.« Er legt das Hochzeitsfoto zurück in die Dose und stapelt die anderen darüber. »Du kannst sie haben«, sagt mein Vater zu mir. »Du kannst sie alle haben.«

Er läßt uns in seinem halbdunklen Schlafzimmer allein. Eric berührt behutsam das oberste Foto, als könnte es zerbrechen. »Das«, sagt er leise, »möchte ich mit dir haben.«

Diejenigen, die ich nicht finde, lassen mich nicht mehr los. Der Junge, der an einem frostigen Märztag von einer Zugbrücke in den Connecticut River gesprungen ist. Die Mutter aus North Convay, die spurlos verschwand, während das Essen noch auf dem Herd kochte und ein kleines Kind im Laufstall saß. Das Baby, das in Strafford auf dem Parkplatz der Post aus einem Auto gekidnappt wurde, als der Babysitter ein Paket aufgab. Manchmal stehen sie hinter mir, wenn ich mir die Zähne putze. Manchmal sind sie das letzte, was ich sehe, bevor ich einschlafe. Manchmal lassen sie mich nachts keine Ruhe finden.

Heute abend herrscht dichter Nebel, aber Greta und ich haben hier in der Gegend schon so oft trainiert, daß wir das Gelände in- und auswendig kennen. Ich setze mich auf einen bemoosten Baumstamm, während Greta herumschnüffelt. Über mir hängt etwas an einem Ast, voll und rund und gelblich.

Ich bin noch klein, und er hat gerade ein Zitronenbäumchen in unserem Garten gepflanzt. Ich tanze drum herum. Ich möchte Limonade machen, aber das Bäumchen trägt keine Früchte, weil es noch ein Baby ist. ›Wie lange dauert es, bis es welche bekommt?‹ frage ich. ›Ein Weilchen‹, sagt er. Ich setze mich davor und schaue das Bäumchen an. ›Dann warte ich solange.‹ Er kommt zu mir und nimmt meine Hand. ›Komm, grilla‹, sagt er. ›Wenn wir hier so viel Geduld brauchen, machen wir uns lieber was zu essen.‹

Ich habe Träume, die mir so real vorkommen, daß ich das Gefühl habe, es sei wirklich passiert.

Ich habe immer schon in New Hampshire gewohnt. Ein Zitronenbaum könnte das Klima hier gar nicht vertragen, das uns nicht erst zu Weihnachten Schnee beschert, sondern bereits Ende Oktober. Ich ziehe den gelblichen Ball herunter: ein zerbröckelnder Knödel aus Vogelfutter und Talg.

Was bedeutet grilla?

Ich denke noch am nächsten Morgen darüber nach, als ich Sophie zum Kindergarten gebracht habe, und um mein Versäumnis von gestern wiedergutzumachen, bleibe ich noch zehn Minuten länger und lasse mir von ihr die Malstaffelei, die Bauklötze und die Seifenblasenstation zeigen. Für heute vormittag habe ich eine Übung mit Greta vor, doch ich werde abgelenkt, als ich auf dem Boden meines Ford Expedition die Brieftasche meines Vaters liegen sehe. Sie muß ihm aus der Tasche gefallen sein, als er zuletzt mit dem Wagen beim Tanken war. Ich beschließe, beim Seniorenzentrum vorbeizufahren, um sie ihm zu bringen.

Ich stelle den Wagen auf dem Parkplatz ab und öffne die Heckklappe. »Bleib«, sage ich zu Greta, die zweimal mit dem Schwanz schlägt. Sie muß den Platz mit Rettungsgerät, einer großen Kühlbox und verschiedenen Hundegeschirren und -leinen teilen.

Plötzlich spüre ich ein Kribbeln am Handgelenk. Irgend etwas ist mir auf den Arm gekrochen. Mein Herzschlag beschleunigt sich rasant, und die Kehle schnürt sich mir zu, wie immer, wenn ich an eine Spinne oder Zecke oder irgendein anderes widerliches Krabbeltier denke. Ich schaffe es, mir die Jacke auszuziehen, in Schweiß gebadet, während ich mich frage, wie dicht die Spinne neben meinen Schuhen gelandet ist.

Diese Phobie ist eigentlich unerklärlich. Ich muß auf der Suche nach Vermißten immer wieder auf steile Berge klettern. Ich habe schon bewaffnete Kriminelle überwältigt, aber steckt man mich in einen Raum mit einem noch so winzigen Spinnentier, falle ich fast in Ohnmacht.

Auf dem ganzen Weg ins Seniorenzentrum hole ich tief Luft. Mein Vater steht an der Tür des Mehrzweckraums und sieht beim Yogakurs zu. »He«, flüstert er, um die Frauen nicht beim Sonnengruß zu stören. »Was machst du denn hier?«

Ich hole seine Brieftasche hervor. »Ich dachte, die brauchst du vielleicht.«

»Da ist sie ja«, sagte er. »Ich hab gehofft, daß sie irgendwann wieder auftaucht«, sagt er. »Wie alles. Hast du Zeit für einen Kaffee?«

»Eigentlich nicht«, sage ich, folge ihm aber trotzdem in die kleine Küche und lasse mir eine Tasse einschenken, dann gehen wir in sein Büro. Als ich klein war, hat er mich oft mit hierher genommen und mich, während er telefonierte, mit kleinen Kunststücken mit Papierklemmen und Taschentüchern unterhalten. Ich nehme einen Briefbeschwerer von seinem Schreibtisch. Es ist ein Stein, der wie ein Marienkäfer bemalt ist, ein Geschenk, das ich für ihn gemacht habe, als ich etwa in Sophies Alter war. »Den könntest du ruhig langsam mal wegwerfen.«

»Aber ich liebe ihn.« Er nimmt ihn mir aus der Hand und stellt ihn wieder mitten auf den Schreibtisch.

»Dad?« sage ich. »Haben wir mal zusammen einen Zitronenbaum gepflanzt?«

»Einen was?« Bevor ich die Frage wiederholen kann, blickt er mich aus zusammengekniffenen Augen an, legt dann die Stirn in Falten und winkt mich heran. »Du hast da was. Da steht was ab … nein, tiefer … laß mich mal.« Ich beuge mich vor, und er legt die Hand in meinen Nacken. »Die wunderbare Cordelia«, sagt er, genau wie damals, wenn wir unsere Zaubernummer vorführten. Dann zieht er hinter meinem Ohr eine Perlenkette hervor.

»Die hat mal ihr gehört«, sagt mein Vater und führt mich zu dem Spiegel, der an seiner Bürotür hängt. Ich habe eine undeutliche Erinnerung an das Hochzeitsfoto von gestern abend. Er steht hinter mir und macht den Verschluß zu, so daß wir beide in den Spiegel blicken und jemanden sehen, der nicht da ist.

Die Redaktionsräume der New Hampshire Gazette sind in Manchester, aber Fitz arbeitet meist von zu Hause aus. Er hat sich in seiner Wohnung in Wexton über einem Pizzaladen ein Büro eingerichtet, und der Geruch von Marinarasauce dringt nach oben durch die Lüftungsrohre. Gretas Krallen klicken auf den Linoleumstufen, und sie hockt sich vor der lebensgroßen Chewbacca-Pappfigur neben der Wohnungstür hin. Der Schlüssel hängt auf der Rückseite. Ich nehme ihn und gehe rein, ohne zu klingeln.

Ich suche mir einen Weg durch die achtlos auf den Boden geworfenen Kleidungsstücke und die Bücherstapel, die sich wie von selbst zu vermehren scheinen. Fitz sitzt vor seinem PC. »He«, sage ich. »Du hast versprochen, eine Spur für uns zu legen.«

Greta kommt ins Büro gesprungen und klettert Fitz fast auf den Schoß. Er krault sie hinter den Ohren, und sie drückt sich enger an ihn, wobei sie zwei Fotos vom Schreibtisch fegt.

Ich bücke mich, um sie aufzuheben. Auf einem ist ein Mann zu sehen, der mitten auf dem Kopf ein Loch hat, in dem eine brennende Kerze steckt. Das zweite Foto zeigt einen grinsenden Jungen mit zwei Pupillen in jedem Auge. Ich reiche Fitz die Fotos. »Verwandte von dir?«

»Ich arbeite an einer Serie mit dem Titel ›Seltsam, aber wahr‹, da geht’s um die merkwürdigsten Phänomene.« Er hält mir das Bild von dem Mann mit der Votivkerze im Schädel hin. »Dieser erstaunlich erfinderische Bursche soll nachts Stadtführungen veranstaltet haben. Und eben habe ich einen medizinischen Bericht aus dem Jahr 1911 gelesen, von einem Arzt, der einen elfjährigen Patienten behandelt hat. Der Junge war wegen Schmerzen im Fuß zu ihm gekommen, und bei der Untersuchung stellte sich heraus, daß ihm ein Backenzahn aus der Fußsohle wuchs.«

»Na und?« sage ich. »Jeder Mensch hat doch irgendwas Seltsames. Eric zum Beispiel kann die Zunge so komisch hochklappen, und du kannst diese widerliche Sache mit den Augen machen.«

»Meinst du das?« sagt er, doch ich drehe mich weg, bevor ich es sehen muß. »Oder du, die schon ausflippt, wenn in einer Meile Entfernung eine Spinne in ihrem Netz hockt.«

Ich drehe mich nachdenklich wieder zu ihm um. »Hatte ich schon immer Angst vor Spinnen?«

»Solange ich dich kenne«, sagt Fitz. »Vielleicht hattest du in einem früheren Leben mal ein traumatisches Erlebnis mit Spinnen.«

»Und wenn ja?« sage ich.

»Das war doch nicht ernst gemeint, Dee. Nur weil jemand Höhenangst hat, muß er nicht vor hundert Jahren in den Tod gestürzt sein.«

Ich erzähle Fitz von dem Zitronenbaum. Ich schildere ihm das Gefühl, das ich damals hatte, als würde mir die Hitze eine Krone aufsetzen, und daß die Erde, in die der Baum eingepflanzt wurde, rot wie Blut war. Daß ich auf meinen Schuhsohlen die Buchstaben ABC lesen konnte.

Fitz hört aufmerksam zu, die Arme vor der Brust verschränkt, und betrachtet mich mit der gleichen Nachdenklichkeit wie damals, als ich zehn war und ihm gestand, ich hätte den Geist eines Indianers am Fußende meines Bettes hocken sehen, im Schneidersitz.

»Tja«, sagt er schließlich, »wenigstens hast du nicht erzählt, du hättest einen Reifrock angehabt oder mit einer Muskete geschossen. Vielleicht erinnerst du dich ja einfach an irgendwas aus diesem Leben, etwas, das du vergessen hast. Es gibt da jede Menge Forschungsprojekte, die sich mit wiedererlangter Erinnerung befassen. Ich könnte ein bißchen für dich recherchieren, mal sehen, was ich zutage fördere.«

»Ich dachte, bei wiedererlangten Erinnerungen geht es um Traumata. Was ist traumatisch an Zitrusfrüchten?«

»Was es gibt«, lacht er, »ist die Angst vor Gemüse, Lachanophobie. Da wird’s bestimmt auch eine kleine Phobie vor Zitrusfrüchten geben.«

»Was haben deine Eltern eigentlich für dein Elitestudium hingeblättert?«

Fitz grinst und nimmt Gretas Leine. »Also, wohin soll ich gehen?«

Er weiß, wie das läuft. Er wird sein Sweatshirt ausziehen und unten an der Treppe liegenlassen, damit Greta seine Witterung aufnehmen kann. Dann marschiert er los und legt durch Straßen und Gassen und Wald eine Strecke von drei oder fünf oder zehn Meilen zurück. Ich gebe ihm fünfzehn Minuten Vorsprung, und dann machen Greta und ich uns an die Arbeit. »Wohin du willst«, erwidere ich, überzeugt, daß wir ihn finden, wohin er auch geht.

Einmal fanden Greta und ich auf der Suche nach einem Ausreißer nur noch dessen Leiche. Ein toter Körper hört sofort auf, wie ein lebender zu riechen, und als wir uns näherten, wußte Greta, daß irgend etwas nicht stimmte. Der Junge hing am Ast einer dicken Eiche. Ich fiel auf die Knie, hatte Mühe zu atmen, fragte mich, wieviel früher ich hätte da sein müssen, um es zu verhindern. Ich war so mitgenommen, daß ich erst nach einer Weile Gretas Reaktion bemerkte: Sie drehte sich im Kreis und winselte; dann legte sie sich hin und bedeckte mit den Pfoten ihre Nase. Zum ersten Mal hatte sie etwas aufgespürt, das sie lieber nicht gefunden hätte, und sie wußte nicht, wie sie sich daraufhin verhalten sollte.

Fitz führt uns über eine abwechslungsreiche Route: vom Pizzaladen über die Main Street von Wexton, dann hinter der Tankstelle vorbei, über einen schmalen Bach und einen steilen Hang hinunter an den Rand eines Wasserfalls. Als wir bei ihm sind, haben wir sechs Meilen zurückgelegt, und ich bin durchnäßt bis zu den Knien. Greta spürt ihn hinter einer Gruppe von Bäumen auf, deren feuchte Blätter wie Münzen glitzern. Er nimmt den Stoffelch, mit dem Greta gern Apportieren spielt – eine Belohnung für ihre Arbeit – und wirft ihn in hohem Bogen weg, damit sie ihn zurückholt. »Kluges Mädchen«, ruft er. »Ja, wo ist denn mein kluges Mädchen?«

Wir gehen zurück zu ihm nach Hause, wo mein Wagen steht, und ich fahre gleich los, um Sophie vom Kindergarten abzuholen. Während ich draußen warte, bis der Kindergarten aus ist, nehme ich die Perlenkette ab. Es sind zweiundfünfzig Perlen, eine für jedes Jahr, die meine Mutter auf der Erde wäre, wenn sie noch leben würde. Ich lasse sie langsam durch die Finger gleiten, wie einen Rosenkranz, und bete – daß Eric und ich glücklich sein werden, daß Sophie behütet aufwachsen wird, daß Fitz einen Menschen findet, mit dem er zusammensein möchte, daß mein Vater gesund bleibt. Als ich damit fertig bin, fange ich an, mit jeder Perle eine Erinnerung zu verknüpfen. Der Tag, an dem sie mit mir in den Streichelzoo gegangen ist, eine Erinnerung, die ich allein um das Foto herum aufgebaut habe, das ich neulich abend in dem Album gesehen habe. Ein ganz schwaches Bild von ihr, wie sie barfuß in der Küche tanzt. Das Gefühl ihrer Hände auf meiner Kopfhaut, wenn sie mir die Haare wusch.

Dann noch ein Erinnerungsblitz, wie sie auf dem Bett weint.

Sophie möchte dem Hund das Brettspiel Trouble beibringen. Sie hat im Fernsehen eine Wiederholung der Serie Mr. Ed gesehen und glaubt, daß Greta schlauer als jedes Pferd ist. Und zu meiner Verblüffung nimmt Greta die Herausforderung an. Mittendrin, Sophie ist an der Reihe, tritt mein Hund auf die Plastikhalbkugel, um die Würfel durchzuschütteln.

Ich lache verblüfft auf. »Dad«, rufe ich nach oben, wo er Wäsche zusammenlegt. »Komm runter, das mußt du dir ansehen.«

Das Telefon klingelt, und als der Anrufbeantworter anspringt, erklingt Fitz’ Stimme. »He, Delia, bist du da? Ich muß mit dir reden.«

Ich springe auf, um dranzugehen, doch Sophie ist schneller und drückt den Aus-Knopf. »Du hast es versprochen«, sagt sie, doch da wird ihre Aufmerksamkeit von irgend etwas hinter mir abgelenkt.

Ich folge ihrem Blick und sehe draußen das Blitzen von Blaulicht. Drei Polizeiwagen haben die Einfahrt abgeriegelt. Zwei Uniformierte kommen auf die Haustür zu. Etliche Nachbarn stehen auf ihren Veranden und gaffen herüber.

Alles in mir erstarrt. Wenn ich die Tür öffne, werde ich etwas hören, das ich nicht hören will – daß Eric wegen Alkohol am Steuer festgenommen wurde, daß er einen Unfall hatte. Oder Schlimmeres.

Als die Türglocke schrillt, stehe ich ganz still da und habe die Arme vor der Brust verschränkt – damit ich nicht auseinanderbreche. Es klingelt wieder, und ich höre, wie Sophie aufmacht. »Ist deine Mom da, Kleines?« fragt einer der Polizisten.

Ich kenne den Officer von einem gemeinsamen Einsatz. Greta und ich haben ihm einmal geholfen, einen Mann aufzuspüren, der nach einem Raubüberfall geflüchtet war. »Delia«, begrüßt er mich.

Meine Stimme ist hohl. »Rob. Ist was passiert?«

Er zögert. »Eigentlich müssen wir mit Ihrem Vater sprechen.«

Sogleich erfaßt mich eine Welle der Erleichterung. Wenn sie zu meinem Vater wollen, geht es nicht um Eric. »Ich hol ihn«, sage ich, doch als ich mich umdrehe, steht er schon da.

Er hat ein Paar Socken in der Hand, faltet sie ordentlich zusammen und gibt sie mir. »Gentlemen«, sagt er. »Was kann ich für Sie tun?«

»Andrew Hopkins?« sagt der zweite Officer. »Wir haben einen Haftbefehl gegen Sie. Sie stehen in Verdacht, Bethany Matthews entführt zu haben.«

Rob hat die Handschellen hervorgeholt.

»Das muß eine Verwechslung sein«, sage ich fassungslos. »Mein Vater ist doch kein Kidnapper.«

»Sie haben das Recht zu schweigen«, leiert Rob herunter. »Alles, was Sie sagen, kann und wird vor Gericht gegen Sie verwendet werden. Sie haben das Recht auf einen Anwalt und auf die Anwesenheit eines Anwalts bei jedem Verhör –«

»Ruf Eric an«, sagt mein Vater. »Der wird wissen, was zu tun ist.«

Die Polizeibeamten schieben ihn bereits zur Tür hinaus.

Ich habe zig Fragen: Warum macht ihr das mit ihm? Wie könnt ihr so einem Irrtum erliegen? Aber die einzige Frage, die aus meinem Mund kommt, obwohl meine Kehle wie zugeschnürt ist, überrascht mich selbst. »Wer ist Bethany Matthews?«

Mein Vater sieht mich einen Augenblick unverwandt an. »Das warst du«, sagt er.

ERIC

Ich komme fast zu spät zu dem Treffen, weil ich einen städtischen Kipplaster vor mir habe und nicht überholen kann. Genau wie ein Dutzend anderer, die jedes Jahr im März in Wexton unterwegs sind, ist er hoch mit Schnee beladen, der von den Gehwegen und den Parkplätzen geräumt wurde. Früher habe ich mir vorgestellt, daß sie Richtung Florida fahren, bis die Ladung geschmolzen ist, aber in Wahrheit fahren die Laster zu einer Schlucht am Rande des Golfplatzes und kippen dort alles ab. Der Schneeberg, der dort aufgeschüttet wird, ist so gigantisch, daß man sogar noch im Juni, wenn es bereits bis zu fünfundzwanzig Grad warm wird, Kinder in Shorts dort rodeln sehen kann.

Das Erstaunliche ist, daß eine so gewaltige Menge Schnee keine Überschwemmung verursacht, wenn er schmilzt. Die entstehenden Wassermassen müßten doch in der Lage sein, einen Highway in einen reißenden Fluß zu verwandeln, doch wenn der Schnee verschwunden ist, ist der Boden darunter größtenteils trocken. Delia und ich waren zusammen im Naturwissenschaftskurs, als wir lernten, warum: Schnee löst sich quasi in Luft auf. Er gehört zu den festen Bestandteilen, die direkt verdampfen können, ohne vorher ein flüssiges Stadium zu durchlaufen – diesen Vorgang nennt man Sublimation.

Erst als ich anfing, zu diesen Treffen zu gehen, habe ich erfahren, daß das Wort noch eine zweite Bedeutung hat: die Energie eines niedrigen Impulses auf ein ethisch höheres Ziel umzuleiten.

Der Laster vor mir biegt nach rechts in eine Einfahrt, und ich gebe Gas. Ich komme an dem Deli vorbei, das in den letzten sechs Monaten dreimal den Besitzer gewechselt hat, am alten Kramladen, an der Geflügelfarm, wo riesige, in Folie eingepackte Heuballen neben der Scheune gestapelt sind, wie gigantische Marshmallows. Schließlich bin ich da, parke den Wagen und haste hinein.

Es hat noch nicht angefangen. Noch immer drängen sich Leute um den Tisch mit Kaffee und Plätzchen, wechseln gezwungen ein paar Worte. Ich sehe Männer in Geschäftsanzügen und Frauen in Trainingshosen, ältere Männer und junge Milchgesichter. Ich weiß, daß einige von ihnen extra ein Stunde Autofahrt auf sich genommen haben, um herzukommen. Ich geselle mich zu einer Gruppe Männer, die darüber reden, daß die Boston Bruins wirklich alles tun, um in der Eishockeyliga abzusteigen.

Die Neonlampen gehen flackernd an, und der Leiter bittet uns, Platz zu nehmen. Er eröffnet das Treffen und spricht ein paar einleitende Worte. Ich sitze neben einer Frau, die versucht, geräuschlos eine Tüte Bonbons zu öffnen. Als sie sieht, daß ich sie beobachte, wird sie rot und bietet mir eins an. Saurer Apfel.

Ich lutsche das Bonbon eine Weile, statt es zu zerkauen, aber ich bin kein geduldiger Mensch, und noch während ich mir vorstelle, dass es so dünn wird wie ein Dichtungsring, merke ich, daß ich es zwischen den Zähnen zermalme. Im gleichen Augenblick entsteht eine Pause. Ich hebe die Hand, und der Vorsitzende lächelt mich an.

»Ich bin Eric«, sage ich und stehe auf. »Und ich bin Alkoholiker.«

Nach meinem Juraexamen hatte ich mehrere Stellenangebote. Ich hätte in einer renommierten Bostoner Kanzlei anfangen können, in der die Mandanten locker 250 Dollar für eine Stunde meiner kostbaren Zeit berappt hätten. Ich hätte auf der humanitären Schiene als Pflichtverteidiger arbeiten können. Ich hätte eine Assistentenstelle bei einem Richter am State Supreme Court annehmen können. Statt dessen entschied ich mich dafür, nach Wexton zurückzukommen und eine eigene Kanzlei aufzumachen. Der Grund dafür war einfach: Ich halte es nicht aus, von Delia getrennt zu sein.

Bestimmt könnten einem die meisten Männer sagen, wann ihnen klar wurde, daß die Frau, die neben ihnen steht, die Frau ist, mit der sie ihr Leben verbringen wollen. Bei mir war das ein wenig anders: Delia hatte schon so lange neben mir gestanden, daß ich mit ihrer Abwesenheit nicht klarkam. Wir sind fünfhundert Meilen voneinander entfernt aufs College gegangen, und wenn ich bei ihr im Studentenwohnheim anrief und der Anrufbeantworter sprang an, stellte ich mir all die Typen vor, die genau in dieser Sekunde versuchten, sie mir wegzunehmen. Ich gebe zu: Solange ich zurückdenken konnte, hatte Delias Zuneigung mir gegolten, und der Gedanke, zum ersten Mal Konkurrenz zu haben, war mir schier unerträglich. Ein Bier trinken zu gehen machte es mir möglich, nicht ständig an sie denken zu müssen, doch allmählich wurden aus einem Bier sechs oder zehn.

Das Trinken lag mir sozusagen im Blut. Jeder kennt doch die Statistiken über Kinder von Alkoholikern. Ich hätte als Kind geschworen, daß ich nie so werden würde wie meine Mutter – und vielleicht wäre es auch nicht passiert, wenn ich Delia nicht so furchtbar vermißt hätte. Ohne sie war ich innen leer, und um die Leere zu füllen, habe ich genau das getan, was in der Familie Talcott normal war.

Es ist komisch. Ich habe mit dem Trinken angefangen, weil ich den Ausdruck in Delias Augen sehen wollte, wenn sie nur mich sah, und aus demselben Grund habe ich mit dem Trinken aufgehört. Sie ist nicht nur der Mensch, mit dem ich mein ganzes Leben verbringen möchte, sie ist der Grund, warum ich überhaupt eins habe.

Heute nachmittag treffe ich mich mit einem möglichen Mandanten, mit einer Krähe, um genauer zu sein. Blackie hat sich beim Sturz aus dem Nest verletzt, sagt zumindest Martin Schnurr, der ihn gerettet hat. Er hat den Vogel wieder hochgepäppelt, und als der danach immer wieder zu ihm kam, hat er ihn auf seiner Veranda in Hanover mit kaltem Kaffee und Donutstücken gefüttert. Doch irgendwann hat die Krähe die Kinder eines Nachbarn gejagt, und die Behörden wurden eingeschaltet. Wie sich herausstellte, sind Krähen nach den Bundesbestimmungen Wandervögel, und Mr. Schnurr ist nicht im Besitz einer behördlichen Genehmigung, Blackie zu halten.

»Das Umweltamt hat ihn ins Tierheim bringen lassen, und er ist gleich wieder ausgebüxt«, sagt Schnurr stolz. »Hat zu mir zurückgefunden, volle zehn Meilen.«

»Luftlinie natürlich«, sage ich. »Also, was kann ich für Sie tun, Mr. Schnurr?«

»Das Umweltamt will ihn mir wieder wegnehmen. Ich will eine einstweilige Verfügung«, sagt Schnurr. »Und wenn ich dafür bis vors Oberste Gericht gehen muß.«

Die Wahrscheinlichkeit, daß dieser Fall bis nach Washington geht, ist gleich Null, doch ehe ich das erklären kann, fliegt meine Bürotür auf und Delia kommt hereingestürmt, außer sich und in Tränen aufgelöst. Mein Inneres verkrampft sich. Ich male mir das Schlimmste aus, denke an Sophie. Ich ziehe Delia nach draußen auf den Flur und frage sie, was passiert ist.

»Mein Vater ist verhaftet worden«, sagt sie. »Du mußt ihm helfen, Eric. Du mußt.«

Ich habe keinen Schimmer, was Andrew ausgefressen haben mag, und ich frage auch nicht nach. Delia glaubt, daß ich die Sache aus der Welt schaffen kann, und das genügt wie immer: dann glaube ich selbst auch daran. »Ich kümmere mich darum«, sage ich, obwohl ich eigentlich meine: Ich kümmere mich um dich.

Bei mir zu Hause haben wir nie drinnen gespielt. Ich bin morgens immer extra früh aufgestanden, damit ich bei Delia oder bei Fitz anklopfen konnte, bevor einer von ihnen zu mir kam. Wenn wir doch mal zu mir gingen, habe ich dafür gesorgt, daß wir draußen blieben, im Garten oder in der Garage, und so habe ich es geschafft, mein Geheimnis zu bewahren, bis ich neun war.

Das war der Winter, als Fitz im Eishockeyverein anfing, weshalb Delia und ich nachmittags allein waren. Sie war ein Schlüsselkind – ihr Vater war den ganzen Tag im Seniorenzentrum –, es hatte ihr nie was ausgemacht, bis wir einmal im Fernsehen einen traurigen Film über ein Zwillingspaar sahen, von dem der eine Bruder starb. Danach war Delia nicht mehr gern allein. Sie ließ sich ständig Gründe einfallen, weshalb wir nach der Schule zu ihr gehen sollten – was mir nur recht war, Hauptsache, ich kam von zu Hause weg. Aber ich bin vorher immer erst auf einen Sprung bei mir vorbei. Ich hatte stets einen Vorwand parat: Ich wollte meine Schultasche wegbringen, ich wollte mir ein wärmeres Sweatshirt anziehen, ich wollte meiner Mutter eine Klassenarbeit zeigen, die sie unterschreiben sollte. Anschließend ging ich dann nach nebenan.

Eines Tages trennten Dee und ich uns wie immer bei ihr vorm Haus. »Bis gleich«, sagte sie.

Als ich nach Hause kam, war es still, was kein gutes Zeichen war. Ich ging von Raum zu Raum und rief nach meiner Mutter, bis ich sie in der Küche auf dem Boden fand.

Diesmal lag sie der Länge nach auf der Seite, mit der Wange in Erbrochenem. Als sie blinzelte, sah ich, daß ihre Augen rubinrot waren.

Ich hob die Flasche Bourbon auf und schüttete den Rest in die Spüle. Ich rollte meine Mutter ein Stück zur Seite, damit ich den Boden mit Küchenpapier sauberwischen konnte. Dann stellte ich mich hinter sie und faßte sie unter den Armen. Ich versuchte, sie leicht anzuheben und zur Couch im Wohnzimmer zu schleifen.

»Was kann ich tun?«

Delia hatte wohl schon eine Weile in der Tür gestanden. Sie sah mir nicht in die Augen, aber sie half mir, meine Mutter zur Couch zu tragen und auf die Seite zu legen, damit sie, falls ihr wieder schlecht würde, nicht am eigenen Erbrochenen erstickte. Ich schaltete den Fernseher ein, eine Serie, die sie mochte. »Eric, Schätzchen, bist du so lieb und holst mir …«, lallte meine Mutter, doch ehe sie den Satz beenden konnte, war sie wieder weggetreten. Als ich mich umdrehte, war Delia nicht mehr da.

Das wunderte mich überhaupt nicht. Genau wegen dieser Situationen hatte ich die Sache ja vor meinen besten Freunden geheimgehalten. Ich war mir sicher, sie würden Reißaus nehmen, wenn sie die Wahrheit sahen.

Ich ging zurück in die Küche, jeder Fuß schwer wie Blei. Da stand Delia, einen Schwamm in der Hand, und blickte auf das Linoleum. »Kriegt man mit Teppichreiniger wohl auch was anderes als Teppiche sauber?« fragte sie.

»Geh lieber«, sagte ich, den Blick auf den blau gepunkteten Fußboden gerichtet, als würde mich das Muster faszinieren.

Delia kam näher, sah, was für ein Monster ich in Wirklichkeit war. Mit einem Finger malte sie sich ein X auf die Brust. »Ich sag’s keinem.«

Eine verräterische Träne lief mir über die Wange, und ich wischte sie mit der Faust weg. »Geh lieber«, wiederholte ich, obwohl es das letzte auf der Welt war, was ich wollte.

»Okay«, sagte Delia. Aber sie blieb.

Das Polizeirevier in Wexton unterscheidet sich in nichts von irgendeinem anderen Polizeirevier in irgendeiner anderen Kleinstadt: ein gedrungener Betonbau mit einem Flaggenmast davor, im Empfangsbereich eine Polizistin, die so selten beansprucht wird, daß sie einen tragbaren Fernseher auf ihrem Schreibtisch aufgestellt hat; eine Wand, die mit selbstgemalten Bildern einer Kindergartenklasse tapeziert ist, als Dankeschön an die Polizei, weil sie alle beschützt. Ich gehe hinein und bitte darum, mit Andrew Hopkins sprechen zu dürfen. Ich sage der Polizistin, daß ich sein Anwalt bin.

Eine Tür summt, und ein Sergeant kommt in die Eingangshalle. »Hier entlang bitte«, sagt der Officer und führt mich durch die verschlungenen Gänge zum Zellenbereich. Ich lasse mir Andrews Haftbefehl zeigen, und wie jeder Verteidiger tue ich so, als wüßte ich mehr, als ich bis zu dieser Minute tatsächlich weiß. Als ich das Schreiben überfliege, habe ich Mühe, keine Miene zu verziehen. Entführung?

Andrew Hopkins wegen Entführung anzuklagen, ist ungefähr so, als würde man Mutter Teresa Häresie vorwerfen. Soweit ich weiß, hat er in seinem Leben noch nicht einmal einen Strafzettel bekommen, geschweige denn irgendeine kriminelle Handlung begangen. Er war und ist ein Bilderbuchvater – achtsam, liebevoll –, ich hätte gern so einen Vater gehabt. Kein Wunder, daß Delia so aufgewühlt ist. Wenn der eigene Vater plötzlich bezichtigt wird, ein Doppelleben zu führen, wo er doch seit jeher eine öffentliche Figur ist, wie sie öffentlicher kaum sein kann – das ist doch reiner Wahnsinn.

Das Polizeirevier von Wexton verfügt über zwei Arrestzellen, die eigentlich nur dann benutzt werden, wenn jemand betrunken am Steuer erwischt wurde und seinen Rausch ausschlafen muß; in der auf der linken Seite war ich selbst schon mal. Andrew sitzt auf der Eisenbank in der anderen. Als er mich sieht, erhebt er sich.

Bis zu diesem Augenblick habe ich ihn noch nie als alten Mann gesehen. Aber Andrew geht stramm auf die Sechzig zu, und in dem fahlen, grauen Licht der Zelle sieht er kein Jahr jünger aus. Seine Hände schließen sich um die Gitterstäbe. »Wo ist Delia?«

»Es geht ihr gut. Sie hat mich aus der Kanzlei geholt.« Ich mache einen Schritt auf Andrew zu und wende dem Sergeant den Rücken zu, warte ab, bis er den Raum verläßt. »Hör mal, Andrew, du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Hier liegt offensichtlich eine Verwechslung vor. Die Sache wird sich bald aufklären, und du kriegst vielleicht noch eine Entschädigung für den emotionalen Streß. Ich –«

»Es liegt keine Verwechslung vor«, sagt er leise.

Ich starre ihn an, sprachlos. Er will sein Geständnis wiederholen, doch ich falle ihm ins Wort: »Sag es mir nicht. Sag auch sonst nichts, klar?«

Ein Teil von mir hat automatisch auf Strafverteidiger umgeschaltet. Wenn dein Mandant gesteht, steckst du dir Ohrstöpsel rein und machst deine Arbeit. Wie immer die Anklage lautet – schwere Straftat oder Bagatelldelikt, Mord oder, du lieber Himmel, Entführung – es gibt immer noch Möglichkeiten, den Geschworenen die Grauschattierungen vor Augen zu führen.

Aber ich bin nicht nur Anwalt, sondern auch Delias Verlobter. Ein Mann, der die Wahrheit erfahren muß, damit er sie Delia erzählen kann. Was für ein Mensch stiehlt ein Kind? Was würde ich mit dem Schwein anstellen, das Sophie entführen würde?

Ich blicke auf den Haftbefehl. »Bethany Matthews«, lese ich laut.

»Das … war ihr Name.«

Mehr muß er nicht sagen. Ich weiß im selben Augenblick, daß Delia gemeint ist. Daß sie das kleine Mädchen ist, das vor einer Ewigkeit entführt wurde.

Nicht alle Kriminellen sind Schlägertypen mit schwarzer Lederjacke und einem dicken Warnzeichen auf der Stirn, das weiß ich besser als die meisten Menschen. Kriminelle sitzen neben uns im Bus. Sie sitzen im Supermarkt an der Kasse, lösen in der Bank unsere Schecks ein und unterrichten unsere Kinder. Sie sehen aus wie du und ich. Und deshalb kommen sie ungestraft davon.

Der Anwalt in mir rät dringend zur Vorsicht, erinnert mich daran, daß es mildernde Umstände geben muß, die ich noch nicht kenne. Der Rest von mir fragt sich, ob Delia geweint hat, als er sie entführte. Ob sie Angst hatte. Ob ihre Mutter jahrelang nach ihr gesucht hat.

Ob sie noch immer nach ihr sucht.

»Eric, ich …«

»Morgen ist in New Hampshire eine Anhörung wegen Flucht vor Strafverfolgung«, unterbreche ich ihn. »Aber die Anklage wegen Entführung wurde von einer Grand Jury in Arizona erhoben. Für die Klageerwiderung müssen wir dorthin.«

»Eric –«

»Andrew« – ich drehe ihm den Rücken zu – »ich kann nicht. Ich kann einfach nicht, nicht jetzt.« Ich bin schon fast aus dem Arrestbereich, drehe mich aber im letzten Moment um und gehe zu der Zelle zurück. »Ist sie deine Tochter?«

»Natürlich ist sie meine Tochter!«

»Natürlich?« zische ich. »Herrgott, Andrew, ich habe soeben erfahren, daß du ein Kidnapper bist. Ich muß Delia sagen, daß du ein Kidnapper bist. Ich finde eigentlich nicht, daß die Frage ungerechtfertigt ist.« Ich hole tief Luft. »Wie alt war sie?«

»Vier.«

»Und in achtundzwanzig Jahren hast du ihr kein Wort davon gesagt?«

»Sie liebt mich.« Andrew blickt zu Boden. »Würdest du das aufs Spiel setzen?«

Ohne eine Antwort drehe ich mich um und gehe.

Als ich elf war, habe ich gemerkt, daß Delia Hopkins weiblich ist. Sie war nicht wie andere Mädchen: Sie hatte keine verträumte, schnörkelige Schrift, sie kicherte auch nicht hinter vorgehaltener Hand, so daß wir uns fragten, was wir falsch gemacht hatten. Sie kam nicht mit adretten, fest geflochtenen Zöpfen zur Schule. Statt dessen sprach sie mit Fröschen. Sie konnte den Puck von der Blauen Linie mit einem Schlagschuß ins Tor befördern. Sie ritzte sich als erste mit Fitz’ Fahrtenmesser die Hand auf, als wir drei Blutsbrüderschaft schlossen, und sie zuckte dabei nicht einmal mit der Wimper.

In dem Sommer nach der fünften Klasse veränderte sich alles. Ohne daß ich es wollte, roch ich Delias Haar, wenn sie neben mir saß. Ich bemerkte, wie sich ihre gebräunte Sommerhaut über ihren Schulternmuskeln spannte. Ich beobachtete sie, wenn sie das Gesicht in die Sonne drehte und spürte, wie mein Körper reagierte.

Ich behielt diese Gedanken für mich, bis die Hälfte der sechsten Klasse um war, bis zum Valentinstag. Zum ersten Mal in der Schule mußten wir nicht für alle in der Klasse eine Karte mitbringen. Die Mädchen flatterten durch die Mensa wie Schmetterlinge und landeten immer nur ganz kurz, um den Jungs, die sie mochten, einen Kuß auf die glühenden Wangen zu drücken. Wenn du der Auserwählte warst, tatest du angewidert, aber in dir drin brannte es heiß.