Die Wahrheit über Facebook - Frances Haugen - E-Book

Die Wahrheit über Facebook E-Book

Frances Haugen

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Beschreibung

Die Frau, die Facebook vor den US-Kongress brachte Frances Haugen ist die Whistleblowerin, die Facebook vor den US-Kongress brachte. Hier erzählt sie die ganze Geschichte und bietet einen einzigartigen Blick hinter die Kulissen eines der mächtigsten Konzerne der Welt: Sie beschreibt, wie sie zu Facebook kam, wie sie aufgrund der unethischen Praktiken zunehmend ihre Werte und Integrität verletzt sah und sich dazu entschloss, heimlich zehntausende Dateien zu kopieren und öffentlich Alarm zu schlagen. So konnte bewiesen werden, dass Facebooks Algorithmen wissentlich Extremismus, Gewalt und die Verbreitung von Fake News fördern. Ihr Mut ist undenkbar ohne ihre ganz persönliche Geschichte: Sie erzählt von ihrer Autoimmunkrankheit, die sie mit 28 ins Krankenhaus und dem Tod nahe brachte, sie aber zugleich so stark gemacht hat, dass sie es wagte, sich mit Facebook anzulegen. "Die Wahrheit über Facebook" liefert nicht nur eine spannende Insiderperspektive, sondern zeigt uns auch, wie die Entscheidung eines Menschen die Welt verändern kann.

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Die Wahrheit über Facebook

Die Autorin

Frances Haugen, geboren 1983, ist eine US-amerikanische Informatikerin und Whistleblowerin. Nach Stationen bei Google Ads und Pinterest arbeitete sie von 2018 bis 2021 als leitende Produktmanagerin bei Facebook im Team für „Civic Misinformation“. Nachdem sie das Unternehmen 2021 verlassen hatte, enthüllte sie umfangreiche Dokumente, die sie der amerikanischen Börsenaufsichtsbehörde und der Zeitung The Wall Street Journal übergab und erhob schwerwiegende Vorwürfe gegen ihren ehemaligen Arbeitgeber. Aufgrund ihrer Anschuldigungen sank der Aktienkurs spürbar. 2021 fand eine Anhörung im US-Senat statt.

Das Buch

EINE SCHONUNGSLOSE ENTHÜLLUNGSGESCHICHTE ÜBER FACEBOOK UND BIG TECHFrances Haugen ist die Whistleblowerin, die Facebook vor den US-Kongress brachte. In diesem Buch beschreibt sie, wie sie zu Facebook kam, wie sie aufgrund der unethischen Praktiken zunehmend ihre Werte und Integrität verletzt sah und sich dazu entschloss, heimlich Zehntausende Dateien zu kopieren und öffentlich Alarm zu schlagen. So konnte bewiesen werden, dass Facebooks Algorithmen wissentlich Extremismus, Gewalt und die Verbreitung von Fake News fördern. Ihr Mut ist undenkbar ohne ihre ganz persönliche Geschichte: Sie erzählt von ihrer Autoimmunkrankheit, die sie dem Tod nahe brachte, sie aber zugleich so stark gemacht hat, dass sie es wagte, sich mit Facebook anzulegen. Die Wahrheit über Facebook liefert nicht nur eine spannende Insiderperspektive, sondern zeigt uns auch, wie die Entscheidung eines Menschen die Welt verändern kann.

Frances Haugen

Die Wahrheit über Facebook

Warum ich zur Whistleblowerin wurde und was die größte Social-Media-Plattform der Welt so gefährlich macht

Aus dem Englischen von Karsten Petersen und Anja Lerz

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

Die Originalausgabe erschien im Juni 2023 unter dem Titel THE POWER OF ONEbei Little, Brown and Company, New York, Boston, LondonCopyright © 2023 by Frances Haugen© der deutschsprachigen Ausgabe2023 Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinAlle Rechte vorbehaltenLektorat: Dr. Annalisa Viviani, MünchenUmschlaggestaltung: ZERO MEDIA GmbH, MünchenUmschlagfoto: Getty Images / Pool / PoolAutorinnenfoto: © David Burnett / KAI ProductionsISBN: 978-3-8437-2940-6

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

Kapitel 1 State of the Union Address

Kapitel 2 Kindheit und Jugend in Iowa

Kapitel 3 Olin College of Engineering: Mein erstes Start-up

Kapitel 4 Googleplex

Kapitel 5 Silicon Valley

Kapitel 6 Veritas

Kapitel 7 So nahe …

Kapitel 8 Zahlenspiele

Kapitel 9 Zweifelsäußerungen

Kapitel 10 Flucht aus San Francisco

Kapitel 11 Eine dezentrale Bedrohung

Kapitel 12 Es geht los

Kapitel 13 Dokumentation

Kapitel 14 Coming-out

Kapitel 15 Der Weg nach vorn

Danksagung

Glossar

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Kapitel 1 State of the Union Address

Widmung

Dieses Buch ist euch gewidmet, meinen Lesern. Indem ihr es lest, erweitert ihr die Community der Menschen, die helfen können, für Social Media eine bessere Zukunft zu gestalten, die wir alle brauchen und verdienen. Auf dem Weg in diese Zukunft geht es um mehr als Angst und Verzweiflung. Dies ist erst der Beginn eines gesellschaftlichen Dialogs, der die Welt verändern wird.

 

Vorrede

Ich habe mein Bestes getan, um diese Geschichte so genau und wahrheitsgetreu wie möglich zu erzählen – sie beschreibt die Ereignisse so, wie sie aus meiner Sicht geschehen sind. Ich habe einige Namen und Personenbeschreibungen verändert, um die betreffenden Menschen zu schützen; ich habe Gesprächsinhalte nach meiner Erinnerung möglichst genau rekonstruiert und die zeitliche Abfolge einiger Ereignisse umgestellt oder aneinandergefügt. Andere Menschen, die jeweils anwesend waren, werden die Dinge vielleicht anders erinnern – aber dies sind meine Erinnerungen.

Dieses Buch gibt meine Erfahrungen mit Whistleblowing wieder, und ausschließlich meine. Alles, was ich hier zur Logistik von Whistleblowing sage, sollte nicht als Anleitung für den Vorgang des Whistleblowings verstanden werden. Mir ist bewusst, dass ich Protagonistin eines historischen Augenblicks war, und ich will anderen helfen, diesen Augenblick und den zeitgeschichtlichen Kontext zu verstehen. Ich bin keine Anwältin, und dieses Buch kann den Rat eines kompetenten, im betreffenden Land zugelassenen Anwalts in keiner Weise ersetzen. Wenn eine Person versuchen will, das Fehlverhalten eines großen Unternehmens öffentlich zu machen, wird ihr Erfolg oder Misserfolg letztlich von ihrem eigenen Vorgehen abhängen, von ihrer spezifischen Situation und zahllosen anderen Umständen, die sich meiner Kenntnis entziehen und auf die ich keinen Einfluss habe.

Die in diesem Buch zum Ausdruck gebrachten Meinungen sind ausschließlich die der Autorin und spiegeln nicht unbedingt die offizielle Unternehmenspolitik oder Positionen von Facebook, Google, Yelp oder Pinterest wider.

Frances Haugen

Kapitel 1 State of the Union Address

Das Ausüben von Macht wird durch Tausende von Interaktionen zwischen der Welt der Mächtigen und jener der Machtlosen bestimmt, und das umso mehr, als diese Welten nie durch eine klare Linie getrennt sind: Jeder Mensch hat einen kleinen Teil seines Selbst in beiden.

VÁCLAV HAVEL, Disturbing the Peace

»Keine Sorge«, sagte der Junge und sah zu mir auf, als wir in einem Lift des Kapitols der Vereinigten Staaten nach oben fuhren. »Ich habe so was schon ziemlich oft gemacht, aber trotzdem kriege ich manchmal immer noch Lampenfieber.« Seine Worte rissen mich aus meiner kontrollierten Atmung heraus, einer Entspannungsübung, die mir hilft, mich zu zentrieren, wenn ich nervös bin. Von dem Moment an, als wir das Weiße Haus verließen und in den Shuttlebus stiegen, der uns zum Kapitol brachte, fühlte ich mich, als würde ich auf einer Rolltreppe der Angst nach oben fahren, die immer schneller wurde, ohne dass ich eine Möglichkeit sah, abzuspringen. Es war der Abend des 1. März 2022, an dem Präsident Joe Biden seine erste State of the Union Address, seine Rede zur Lage der Nation, halten würde. Nur fünf Tage zuvor, am 24. Februar 2022, war Russland in die Ukraine einmarschiert. Ich nahm an, dass die Rede des Präsidenten noch mehr Aufmerksamkeit als sonst erregen würde, da die Menschen erfahren wollten, ob Biden Russland den Krieg erklären würde. Mein Herz raste.

Ich schaute auf den Jungen hinab. Er hieß Joshua Davis, trug einen schicken dunkelblauen Anzug, eine saphirblaue Krawatte, hatte blondes Haar und einen Seitenscheitel. Der bebrillte 13-Jährige strahlte die Selbstsicherheit eines erfahrenen Diplomaten aus – was er gewissermaßen auch war. Als Säugling war bei ihm Diabetes diagnostiziert worden, und schon im Kindergartenalter hatte Joshua sich zu einer Art nationalem Sprecher für Diabetiker entwickelt. Kurz zuvor hatte er die Pharmakonzerne aufgefordert, Insulin für alle, die es benötigten, erschwinglich zu machen. Joshua hatte offensichtlich kein Problem damit, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen – und anscheinend war er auch einfühlsam, denn es war ihm nicht entgangen, dass ich keineswegs entspannt war.

Erst sechs Monate zuvor war ich ins Rampenlicht getreten, indem ich Facebook öffentlich angeprangert und vor dem Kongress und anderen Gremien ausgesagt hatte, und zwar darüber, wie die Social-Media-Plattform auf vielerlei Weise zu einer Quelle von Desinformation und einem Auslöser für politische Gewalt geworden war. Das Unternehmen wusste sehr wohl, was sich abspielte, hatte aber seine Profite für wichtiger gehalten als die Sicherheit seiner Nutzer.

Die Ironie, die darin lag, dass ich jetzt von einem Junior-Highschool-Schüler beruhigt wurde, der kaum ein Drittel so alt war wie ich, war mir keineswegs entgangen. Mir kam in den Sinn, wie unterschiedlich wir doch waren: Joshua hatte schon im Alter von vier Jahren vor dem Parlament des US-Bundesstaats Virginia eine Rede gehalten, um die Abgeordneten davon zu überzeugen, ein Gesetz zu verabschieden, das Schulen für Kinder mit Typ-1-Diabetes sicherer machen sollte. Im Alter von vier Jahren hatte ich in meiner Montessori-Vorschule mit einer richtigen Säge und einem Hammer Holzkisten gebaut, die allerdings nur eine Mutter toll finden konnte. Bis vor sechs Monaten, als ich in einem Interview mit dem TV-Nachrichtenmagazin 60 Minutes meine Identität preisgab, hatte ich mein ganzes Leben lang öffentliche Auftritte gemieden. Das ging sogar so weit, dass ich für meine erste Hochzeit bis auf einen Strand auf der entlegenen Insel Sansibar durchgebrannt war. In den mehr als 15 Jahren seit Abschluss meines Studiums habe ich vielleicht zweimal Gäste zu einer Geburtstagsparty eingeladen. Mein Gehirn ist so verdrahtet, dass es am besten in Form von Daten und Spreadsheets denken kann, und nach meiner groben Schätzung muss Joshua wohl 70 Prozent seines Lebens im Blickfeld der Öffentlichkeit gestanden haben – während es bei mir kaum 1,5 Prozent waren.

An diesem Abend gehörten wir zu einer Handvoll Personen, die als Gäste der First Lady eingeladen worden waren. In die Loge der First Lady eingeladen zu werden, bedeutete, dass der Präsident der Vereinigten Staaten jeden von uns in seiner Ansprache namentlich erwähnen würde, als personalisierte Symbole seiner Agenda. Ich war eingeladen worden, weil ich »die Facebook-Whistleblowerin« war. Ich hatte 22 000 Seiten interne Dokumente aus dem Innenleben des Social-Media-Unternehmens extrahiert, wo ich zuerst im Team Civic Misinformation (politische Fehlinformation) und dann im Bereich Counterespionage (Spionageabwehr) gearbeitet hatte. Ich hatte dafür gesorgt, dass all die schrecklichen technischen Fakten, die diese Dokumente enthielten, an die Öffentlichkeit gelangten. Vor der Rede des Präsidenten zur Lage der Nation war ich monatelang herumgereist, um dafür zu sorgen, dass die breite Öffentlichkeit wirklich verstand, was diese Fakten tatsächlich bedeuteten.

Bis jetzt hatte ich meine öffentlichen Auftritte – unter anderem ein Interview in 60 Minutes und eine Reihe von Zeugenaussagen vor Ausschüssen des Kongresses und verschiedener Parlamente auf der ganzen Welt – durchgestanden, indem ich mich darauf konzentrierte, die wesentlichen Inhalte der Dokumente zu präsentieren. Ich klammerte mich an die beruhigende Einbildung, ich sei, wie ein Freund es einmal ausgedrückt hatte, »nur eine Mittlerin der Dokumente«. Ich wollte Klarheit und Zusammenhang schaffen, meine physische Präsenz war hierfür irrelevant. Es ging nicht um mich, sondern um die Informationen, die der Welt bekannt gemacht werden mussten. Doch bei dieser Rede zur Lage der Nation fühlte es sich anders an. Bei diesem Auftritt bestand meine Aufgabe vor allem darin, einfach nur da zu sein. Um gesehen zu werden. Wenn der Präsident der Vereinigten Staaten mir mein Stichwort gab, sollte ich vor der Nation und vor der Welt aufstehen und einfach nur gesehen werden.

Meines Schutzmantels beraubt raste mein Herz. »Danke, das ist sehr nett von dir, das zu sagen«, antwortete ich Joshua, als wir aus dem Lift stiegen und uns durch die mit Marmor ausgekleideten Gänge des Kapitols auf den Weg zum obersten Rang des Sitzungssaals des US-Repräsentantenhauses machten.

Diese Reise hatte ich etwa ein Jahr vorher angetreten, indem ich der Securities and Exchange Commission (SEC, US-Wertpapier- und Börsenaufsicht) im Zuge einer Whistleblower-Anzeige Dokumente vorgelegt hatte, die meiner Einschätzung nach von unmittelbarem und herausragendem öffentlichem Interesse waren. In meiner Anzeige beschrieb ich die unzähligen Methoden, mit denen Facebook immer wieder die Öffentlichkeit getäuscht – und immer wieder nicht gewarnt – hatte, und zwar über so unterschiedliche und schwerwiegende Angelegenheiten wie nationale und internationale Bedrohungen der Sicherheit; über die Facebook-Algorithmen, die politische Parteiplattformen durch Manipulation in der Wählergunst nach vorne bringen; über die Tatsache, dass Facebook wissentlich die Gesundheit und das Wohlbefinden von Kindern geschädigt hatte, von denen manche erst zehn Jahre alt waren – und das alles aus Profitgier. In meiner Anzeige, die mit Beweisen in Form von Facebook-internen Dokumenten untermauert war, machte ich deutlich, dass Facebook eine Gefahr für die Menschheit darstellte und in einer abwärts gerichteten Feedbackschleife feststeckte, die sich immer weiter verstärken würde, bis Öffentlichkeit geschaffen und das Unternehmen durch regulatorische Eingriffe gezwungen wurde, sich zu ändern.

Facebook war lange mit so vielen schädlichen Aktivitäten davongekommen, weil es geschlossene Softwaresysteme in Rechenzentren betreibt, die der Öffentlichkeit nicht zugänglich sind. Die Firma hatte schon früh erkannt, dass ihr der Umstand, dass ihre Software geheim war, die Macht verschaffte, die öffentliche Berichterstattung über diese und zahlreiche andere Probleme, die sie selbst geschaffen hatte, maßgeblich zu beeinflussen und zu gestalten. Solange kein öffentliches Bewusstsein für solche Probleme vorhanden war, solange niemand sich der Wahrheit bewusst war, konnte auch kein externer Druck entstehen, diese Probleme anzupacken. Software unterscheidet sich von materiellen Produkten dadurch, dass der Anwender ihre Ergebnisse nur auf einem Bildschirm zu sehen bekommt. Wir können in das undurchdringliche Gestrüpp von Algorithmen, das diesen Output produziert, nicht hineinsehen – selbst wenn die Algorithmen erdrückende und unkalkulierbare Kosten verursachen, indem sie etwa nationale Wahlen einseitig beeinflussen, den Sturz von Regierungen verursachen, zum Völkermord aufhetzen oder die Selbstachtung von Mädchen im Teenageralter zerstören, was dann sogar zum Selbstmord führen kann.

Eine der Fragen, die mir häufig gestellt wird, seit ich an die Öffentlichkeit gegangen bin, ist diese: »Warum gibt es so wenige Whistleblower in anderen Technologieunternehmen, etwa bei Apple?« Meine Antwort: Apple fehlen die Anreize oder die Möglichkeit, die Öffentlichkeit über die wichtigsten Aspekte seines Geschäfts zu belügen. Bei materiellen Produkten wie Apples Smartphones oder Laptops kann jeder die physischen Ausgangsmaterialien (wie Metalle und natürliche Rohstoffe) untersuchen und fragen, woher sie stammen und unter welchen Bedingungen sie abgebaut wurden. Oder er kann die materiellen Produkte und die von ihnen verursachten Umweltschäden untersuchen, um herauszufinden, welche gesellschaftlichen Schäden das Unternehmen externalisiert. Wissenschaftler können vor einer Apple-Fabrik Sensoren installieren und die Schadstoffemissionen erfassen, die möglicherweise in die Luft entlassen werden oder in Flüsse und Meere fließen. Innerhalb weniger Stunden nach der Vorstellung eines neuen Apple-Produkts können Menschen es zerlegen und Videos auf YouTube veröffentlichen, in denen sie die von Apple angepriesenen Benchmarks bestätigen, oder sie können überprüfen, ob die von Apple angegebenen Teile tatsächlich verbaut wurden. Die Leute von Apple wissen, dass man sie schnell erwischen würde, wenn sie die Öffentlichkeit belügen würden.

Facebook stellt dagegen ein soziales Netzwerk bereit, das jedem Nutzer auf der Welt ein anderes Produkt präsentiert. Wir – und mit »wir« meine ich Eltern, Kinder, Wähler, Gesetzgeber, Unternehmen, Verbraucher, Terroristen, Schlepper und Schleuser, uns alle – sind durch unsere eigenen individuellen Erfahrungen darin eingeschränkt, objektiv beurteilen zu können, »Was genau ist Facebook eigentlich?« Wir haben keine Möglichkeit, einzuschätzen, wie repräsentativ und weitverbreitet – oder auch nicht – die Nutzererfahrung und die Schäden sind, die jeder von uns davonträgt. Daher macht es keinen Unterschied, wenn Aktivisten sich engagieren und berichten, dass Facebook der Ausbeutung von Kindern, der Anwerbung von Terroristen oder der Entstehung von Neonazi-Bewegungen den Weg bereitet, dass es die Planung und Ausübung von ethnischer Gewalt über Social Media verbreitet oder Algorithmen auf die Menschheit loslässt, die Essstörungen hervorrufen oder Menschen in den Selbstmord treiben. Facebook selbst pflegt solche Vorwürfe stets mit Variationen des immer gleichen Arguments abzuwiegeln: »Was Sie sehen, ist anekdotisch, eine Anomalie. Das von Ihnen festgestellte Problem ist nicht repräsentativ für das, was das eigentliche Wesen von Facebook ausmacht.«

Facebook hat auch immer wieder betont, dass die personalisierte »Welt«, die wir in unseren Newsfeeds sehen, maßgeblich durch unsere eigenen Entscheidungen und Aktionen geprägt werde. Der Konzern hat wiederholt behauptet, unsere Facebook-Welt bestehe in erster Linie aus dem Content (Inhalt) von unseren eigenen Freunden und Familienmitgliedern, von Bekannten und Menschen, mit denen auf der Plattform zu verbinden wir uns entscheiden, von Seiten, denen zu folgen wir uns entscheiden, und von Gruppen, denen wir uns anschließen. »Hüte dich, mit dem Finger auf andere zu zeigen«, schien Nick Clegg uns in seinem 2021 erschienenen Leitartikel »You and the Algorithm: It Takes Two to Tango« (Du und der Algorithmus: Zum Tanzen braucht es immer zwei) zu sagen. Clegg, ein smarter ehemaliger Abgeordneter des britischen Parlaments, verschob liebenswürdigerweise die Verantwortung von dem Konzern auf dessen Nutzer auf der ganzen Welt, die nicht erkennen konnten, in welchem Maße sie von Facebook manipuliert und benutzt wurden. Es war die Sorte von aalglattem Ablenkungsmanöver, für die Clegg großzügig bezahlt wurde, um von der Tatsache abzulenken, dass Facebook den Newsfeed eines Users sukzessive mit Content füllt, um den er nie gebeten hatte, und zwar jahrein, jahraus immer mehr davon, um das unersättliche Verlangen der Aktionäre nach immer höheren Profiten zu stillen. Die Vorstellung, »Facebook ist für Content von meiner Familie und meinen Freunden da«, stimmte schon seit Jahren nicht mehr – und Facebook wusste das ganz genau.

Ob man es nun Gaslighting (Irreführung, psychische Manipulation) nennen will oder Lügen – es geschah mit voller Absicht. Das Unternehmen wusste, dass kein Außenstehender seiner Darstellung etwas entgegensetzen konnte. Und Facebook wusste auch, dass nur sehr wenige Insider wussten, dass gelogen wurde, da nur Facebook-Mitarbeiter mit Zugang zu der geheimen Software das Gesamtbild dessen, was gemacht wurde, erkennen konnten. Wenn ein User, Aktivist oder Regierungsbeamter getäuscht wird, nimmt Facebook dieser Person die Macht, ihre Lebensumstände durch die Wahrheit zu ändern, und schwächt die Energie dieser Person oder Personen, die gebraucht wird, um sich zu wehren. Doch sobald die von mir extrahierten Dokumente mithilfe einer beispiellosen, sorgfältig koordinierten Strategie, die sich zunächst auf das Wall Street Journal und später einen weltumspannenden Medienverbund stützte, veröffentlicht worden waren, war der Schleier der Täuschung zum Teil gelüftet. Hunderte, wenn nicht Tausende Aktivisten auf der ganzen Welt lasen die »Facebook Files« durch und sahen ihre jahrelange Arbeit plötzlich bestätigt. Die Öffentlichkeit hatte den Beweis von Facebook selbst, dass der Konzern – ebenso wie früher die großen Tabakkonzerne – die toxische Wahrheit über das von ihm verbreitete Gift kannte und es seinen Usern weiterhin verabreichte.

Bewaffnet mit Zehntausenden Seiten Facebook-interner Dokumente – und vor allem nach der Lektüre von sorgfältig recherchierten Medienberichten und Analysen über den Inhalt dieser Dokumente –, hatte die Öffentlichkeit empört reagiert. In den sechs Monaten nach Veröffentlichung der Facebook Files war Facebooks Börsenwert von über einer Billion Dollar um fast 50 Prozent eingebrochen und rutschte dann weiter ab auf einen Verlust von bis zu 75 Prozent. Mit diesem Absturz wurde auch der bislang größte Tagesverlust eines börsennotierten US-Unternehmens in der Geschichte notiert. Zahlreiche User in den Vereinigten Staaten und in Europa verließen fluchtartig Facebooks Plattformen. Gesetzesentwürfe, die regulatorische Eingriffe vorsahen und seit Jahren im bürokratischen Labyrinth von Regierungen in Europa und den Vereinigten Staaten geschlummert hatten, wurden nun plötzlich hervorgeholt und im Eiltempo auf den legislativen Weg gebracht. Auf Sammelklagen spezialisierte Anwälte kreisten wie Geier und forderten Gerechtigkeit für trauernde Eltern, die hilflos hatten zusehen müssen, wie ihre Kinder litten und manchmal sogar gestorben waren. Facebook konnte sich nicht länger verstecken, weder vor der Wahrheit noch vor den Forderungen der Öffentlichkeit, sich zu ändern. Wir hatten gemeinsam gelernt, dass wir es nicht länger hinnehmen mussten, in einer von Facebook definierten Welt zu leben – die Ära des Mantras »Vertraut uns einfach« war vorbei.

Während die Forderungen der Öffentlichkeit, mehr zu erfahren, immer drängender wurden und die Menschen eine gewisse Erleichterung darüber empfanden, nicht mehr in einer manipulierten Konfusion leben zu müssen, und begannen, ihre gelebte Realität mit Facebooks Lügen auszusöhnen, hatte sich auch mein Leben verändert. Ich war vom Leben einer nahezu unsichtbaren Data Scientist und Produktmanagerin (PM) in eine surreale neue Existenz als »die Facebook-Whistleblowerin« übergetreten. Es fühlte sich an, als würde die Welt mich nicht mehr als mich selbst sehen, nicht mehr so sehr als Person, sondern eher als Symbol – als einen Namen, ein Objekt in den Nachrichten. Plötzlich reiste ich um die Welt und gab Pressekonferenzen. Ich saß in Meetings mit Forschern, die sich über Bedrohung ausließen, und sprach mit ihnen darüber, dass meine Mutter mitten im ländlichen Bundesstaat Iowa durch Darknet-Trolls zum Opfer von Cyberstalking gemacht wurde, die ihre Social-Media-Geschichte unter die Lupe nahmen und potenzielle Aktionen gegen sie und mich planten. Noch Monate später erlebte ich Tage, an denen ich von mehreren Journalisten gefragt wurde: »Halten Sie das durch? Wie hat sich Ihr Leben verändert?«

Ursprünglich hatte ich nicht die geringste Absicht, meine Identität preiszugeben. Von Anfang an hatte ich zwei grundlegende Ziele: Ich wollte nachts wieder ruhig schlafen können, frei von der Last, Geheimnisse für mich behalten zu müssen, von denen ich fest glaubte, dass sie das Leben von zig Millionen Menschen gefährdeten, und ich wollte in der Lage sein, einen Wandel aus dem Hintergrund voranzutreiben. Aber schnell wurde mir klar, dass ich kaum eine Ahnung davon hatte, was es wirklich bedeutet, Whistleblowerin zu sein – und was es wirklich bedeutet, ich selbst zu sein.

Ich hatte eine gemeinnützige Rechtshilfeorganisation um Hilfe gebeten, die schon seit Jahren eine ganze Reihe von Whistleblowern in Regierungen und Unternehmen unterstützt hatte. Dort beriet man mich zu der Frage, wie ich gegenüber der SEC und dem Kongress auf legale Weise Informationen über Facebooks Praktiken offenlegen konnte und wie der Kongress solche Informationen in geschützter Weise an Journalisten weitergeben kann.

Um sicherzustellen, dass die erste öffentliche Interpretation der Dokumente möglichst klar und zutreffend sein würde, arbeitete ich außerdem eng mit Jeff Horwitz zusammen, einem Reporter des Wall Street Journal. Wir hatten uns vor etwas mehr als einem Jahr auf einem Wanderweg in den Hügeln von Oakland, Kalifornien, zum ersten Mal persönlich getroffen. Vor diesem Treffen hatte ich Jeffs Hintergrund sorgfältig überprüft und genug Vertrauen in ihn gewonnen, um anonym mit ihm zusammenarbeiten und die Wahrheit ans Licht bringen zu wollen. Jeff sagte scherzend, dass er wohl derjenige Mensch sei, der Facebook am besten kennt und keine Geheimhaltungsvereinbarung unterschrieben hat – und wahrscheinlich stimmt das sogar. Ich fand, er hatte den richtigen Fokus. Er war einer der Journalisten, die am hartnäckigsten über die fatalen Folgen von Facebooks Aktivitäten berichteten. Ich wusste, dass Jeff dazu beitragen konnte, die komplexe Realität Facebooks in ein klares Bild für die Öffentlichkeit umzusetzen. Ich dachte, er würde die öffentliche Stimme sein können, während ich im Schatten bleiben konnte.

Als der Erscheinungstermin für den ersten Artikel im Wall Street Journal näher rückte, verlagerten sich die Gespräche zwischen meinen Anwälten der Rechtshilfeorganisation und mir auf Fragen, die sich darum drehten, was ich tun wollte, wenn die Informationen im öffentlichen Raum waren. Der Rat der Anwälte war denkbar einfach und klar. Ich konnte tun, was immer ich wollte, aber aus ihrer Sicht gab es nur eine vernünftige Marschroute: Ich müsste mich als Facebook-Whistleblowerin outen, offen zu meiner Wahrheit stehen und diese Wahrheit verteidigen, um anschließend wieder mein normales Leben führen zu können.

Mein Anwalt und wichtigster Berater war Andrew Bakaj, ein ehemaliger CIA-Mitarbeiter, der selbst schon einmal die Hilfe der oben erwähnten Rechtshilfeorganisation in Anspruch genommen hatte. Bevor er mich beriet, hatte Andrew den Menschen beraten, der wahrscheinlich der bekannteste Mandant dieser Organisation war: den anonymen Whistleblower, der als Erster dem Inspector General of the Intelligence Community, dem Generalinspekteur der Geheimdienste, über das »perfekte« Telefongespräch zwischen Präsident Donald Trump und dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj berichtet hatte. Dieses Telefonat war der Grund für das erste Amtsenthebungsverfahren gegen Donald Trump.

Eines der bemerkenswertesten (und wesentlichsten) Merkmale dieses Amtsenthebungsverfahrens war die Tatsache, dass es dem Whistleblower gelang, anonym zu bleiben. Die großen Nachrichtenredaktionen glaubten zu wissen, wer diese Person war, weigerten sich aber, den Namen zu veröffentlichen. Das war kein Zufall. Andrew Bakaj erklärte mir unmissverständlich, was notwendig war, um den wichtigsten Namen im Kontext eines Amtsenthebungsverfahrens geheim zu halten. Wochenlang hatte er jeden Tag viele Stunden damit verbracht, alle möglichen Redaktionen anzurufen und ihnen zu sagen: »Wenn Sie die von Ihnen vermutete Identität des Whistleblowers aufdecken und diese Person daraufhin in irgendeiner Form zu Schaden kommt, werden wir dafür sorgen, dass die gesamte Öffentlichkeit erfährt, dass das Blut dieses Menschen an Ihren Händen klebt.« Erschreckend ist, dass die Medien in vielen Fällen die falsche Person für den Whistleblower hielten – was bedeutet, dass ein Whistleblower durch Geheimhalten seiner Identität andere gefährden kann.

Andrew vermittelte mir ein lebhaftes Bild davon, wie es ist, hinter dem Vorhang der Anonymität zu leben. Ich würde wahrscheinlich jahrelang darüber grübeln, was passieren könnte, wenn meine Identität aufgedeckt werden würde. Je folgenschwerer die Auswirkungen meiner Enthüllungen würden, so sagte er mir, desto sicherer müsste ich damit rechnen, dass »die Facebook-Whistleblowerin« eine Journalistenmeute anlocken würde, die gnadenlos Jagd auf die Person machen würde, die die Wahrheit über das Social-Media-Unternehmen enthüllt hatte, das für über eine Milliarde Menschen als das Internet an sich auftritt und jeden Monat das Leben von 3,2 Milliarden Menschen tangiert. Viele Medien und Ermittler würden mich outen wollen, angeblich, um meine »wahren« Motive in Erfahrung zu bringen.

Genau das ist im Fall des ukrainischen Whistleblowers geschehen. Medien und andere Ermittler versuchten auf Teufel komm raus, die Identität dieser Person herauszufinden. Diverse Politiker instrumentalisierten die Anonymität des Whistleblowers, indem sie in öffentlichen Reden über die Identität dieser Person spekulierten oder sogar versuchten, diese Person mithilfe einer schriftlichen Frage zu outen, die John Roberts, Oberster Richter am Supreme Court, im Rahmen des Amtsenthebungsverfahrens zu verlesen sich weigerte. Die Leute waren besessen davon, den Whistleblower zu enttarnen. Bakaj warnte mich, dass ich das Gleiche zu erwarten hätte, wenn ich versuchen wollte, anonym zu bleiben, und zwar aus allen möglichen Gründen.

Oberflächlich betrachtet bot sich das Rätsel meiner Identität als Grundlage für eine archetypische menschliche Geschichte an: Ein machtloser David, der sich einem bedrohlichen und scheinbar unbesiegbaren Goliath entgegenstellt. Auch wenn wir davon ausgingen, dass die meisten Menschen mein Vorgehen für richtig befinden würden, mussten wir damit rechnen, dass einige es kritisch sehen. Und oberflächlich betrachtet bestanden für mein Leben nicht die gleichen Risiken wie für das Leben des ukrainischen Whistleblowers. Meine Anwälte konnten nicht den Medien gegenüber behaupten, dass mir körperlicher Schaden drohe, wenn sie meine Identität herausfinden und meinen Namen veröffentlichen würden.

In Anbetracht all dieser Umstände zog ich einen weiteren Faktor in Betracht: Ich vermutete, dass seinerzeit der ukrainische Whistleblower (durchaus berechtigt) zu dem Schluss gekommen war, dass die Existenz einer Niederschrift eines Telefonats, in dessen Verlauf Präsident Trump den ukrainischen Präsidenten als Gegenleistung für Militärhilfen um einen Gefallen gebeten hatte, Beweis genug dafür sei, dass nicht mehr als dieses Dokument selbst gebraucht würde, um die Öffentlichkeit zu informieren und einen Anfangsverdacht zu begründen. Andererseits, so meine Überlegung, hatte der Whistleblower vielleicht nicht vorhergesehen, dass seine Anonymität, seine Abwesenheit von dem ganzen Vorgang, genutzt werden würde, um von der Substanz seiner Enthüllung abzulenken und sie zu verwässern.

Als die Zeit gekommen war, in dem Amtsenthebungsverfahren gegen Trump ein Urteil zu verkünden, nutzte die Verteidigung die Abwesenheit des Whistleblowers und konzentrierte sich darauf, die Motive dieser Person, die nicht vor Gericht erscheinen wollte, zu diskreditieren und in Zweifel zu ziehen, anstatt darauf einzugehen, welche Folgen es haben konnte, wenn die Vereinigten Staaten der Ukraine die Militärhilfen verweigerten, die sie brauchte, um sich gegen eine potenzielle Invasion der Russen zu verteidigen. Was dann natürlich exakt so geschah und ein wichtiges Thema in der heutigen Rede zur Lage der Nation von Präsident Biden sein würde. Ohne ein Gesicht und eine Stimme, die den erfundenen Geschichten, mit denen die Wahrheit untergraben werden sollte, etwas entgegensetzen konnten, wurde die Überzeugungskraft der Beweise geschwächt und untergraben.

Ich fand, dass meine Enthüllungen wesentlich komplexer waren als die Niederschrift eines einzigen Telefonats. Ohne die Stimme eines Facebook-Insiders, der klar und deutlich erklären konnte, was genau diese Dokumente zeigten, ohne die Stimme eines Facebook-Insiders, der überzeugend die tückischen Algorithmen und Lügen des Konzerns zu seiner Unternehmenskultur in Beziehung setzen konnte – ähnlich wie beim ersten Amtsenthebungsverfahren gegen Trump –, würden die Schuldigen vielleicht nicht zur Rechenschaft gezogen werden können und ungestraft mit Facebooks Manipulationen und Lügen davonkommen.

Die 22 000 Seiten der Facebook Files enthalten tiefgreifende Erhellungen über Konzeption und Funktionsweise der Produkte des Unternehmens, etwa Facebook und Instagram, sowie darüber, wie die Facebook-Mitarbeiter arbeiten sollten. Dies sind Informationen, die Außenstehende nicht ohne Weiteres verstehen können, ganz gleich, wie intelligent oder gebildet sie auch sein mögen. Um zu einem Experten auf einem ähnlich komplexen Gebiet zu werden, müsste man einen Masterabschluss oder Doktortitel machen. Aber wenn es um die Dynamiken innerhalb der Social-Networking-Empfehlungssysteme von Facebook und deren Auswirkungen geht, gibt es überhaupt kein akademisches Studium, das den Betreffenden adäquat darauf vorbereiten könnte, ohne externe Hilfe sämtliche Verzweigungen und Nuancen der Facebook Files analysieren und verstehen zu können.

Wahrscheinlich kann kein Außenstehender erfassen, wie Facebooks einzigartige Unternehmenskultur dessen einzigartiges, geschlossenes Softwaresystem hervorgebracht hat. Dieses Wissen lässt sich nur fundiert erschließen, indem man als Spezialist für einen von einer Handvoll großer Tech-Konzerne arbeitet, eines der als Big Five bekannten Unternehmen. Darum gab es zu dem Zeitpunkt, als ich an die Öffentlichkeit ging, vielleicht nur 300 oder 400 Personen auf der ganzen Welt, die die Funktionsweise dieser Systeme fundiert genug verstanden, um erfassen zu können, warum diese Dokumente extrem belastend sind und dass die darin beschriebenen Bedrohungen existenzielle Gefahren für die Menschheit darstellen.

Als der Tag der Veröffentlichung von Jeffs Berichten immer näher rückte, konnte ich die Entscheidung, ob ich an die Öffentlichkeit gehen wollte, nicht länger aufschieben. Ich konnte mich nicht länger an die Illusion klammern, die ich mir eingeredet hatte: Nur eine Beraterin hinter den Kulissen zu sein, die versuchen konnte, den Spagat zwischen öffentlichem Aufsehen und persönlicher Sicherheit durchzuhalten. Ich konnte mich entscheiden, die Augen vor der Tatsache zu verschließen, dass Facebook über kurz oder lang in Erfahrung bringen würde, wer die Whistleblowerin ist, indem man Rückschlüsse daraus zog, welche Dokumente veröffentlicht wurden. Aber dann musste ich auch akzeptieren, dass sie es sein würden, die entschieden, wie sie mich der Weltöffentlichkeit präsentieren würden – auf ihre Weise. Ich hörte auf meine Berater und ihre hart erarbeiteten Erkenntnisse aus der realen Lebenswelt eines Whistleblowers.

Um zu erklären, wie die Gesellschaft und Facebook sich in unseren dystopischen Tanz verstrickt hatten, wurde eine Person gebraucht, die aus dem Unternehmen selbst kam und dessen Kultur, die internen Intrigen und das Wechselspiel der Forderungen kannte, die verschiedene Abteilungen stellten. Es wurde jemand gebraucht, der den Kontext und die miteinander verwobenen Zusammenhänge liefern und erklären konnte, warum so viele intelligente, nette und anständige Menschen an einem Produkt mit so entsetzlichen und welterschütternden Auswirkungen mitarbeiten konnten. Aber das Wichtigste war vielleicht, dass jemand gebraucht wurde, der davor warnen würde, dass undurchsichtige Unternehmen wie Facebook beispiellose Herausforderungen für Aufsichts- und Regulierungsbehörden darstellen – dass Facebook zwar das erste, aber keineswegs das letzte undurchsichtige Unternehmen sein würde, das dermaßen schädlich für die Welt ist.

Nachdem ich über all das reiflich nachgedacht hatte, beschloss ich, selbst dieser Jemand zu sein.

Ich entschloss mich, an die Öffentlichkeit zu gehen, weil ich die Welt von dem tödlichen Kurs, auf den Facebook uns gebracht hatte, abbringen wollte. Ich war davon überzeugt, dass der einzige Weg, das zu erreichen, darin bestand, im Rahmen von Pressekonferenzen und öffentlichen Anhörungen den Inhalt der Dokumente zu erklären und die Fragen zu beantworten, die sie hervorrufen würden. Mir war durchaus klar, wie absurd meine Behauptungen klingen würden. Wenn jemand sagen würde: »Weißt du eigentlich, dass eine App auf deinem Smartphone vor jeder Wahl entscheidet, über welche Angelegenheiten du in der Wahlkabine abstimmen kannst?«, würde man die Augen verdrehen. Vielleicht würde man leise lachen und denken: »Das ist ja eine hübsche Verschwörungstheorie, die du da hast.« Und wenn man nicht ganz so höflich wäre, würde man das vielleicht sogar laut aussprechen.

Unter keinen Umständen würde man annehmen, dass es keine bestimmte politische Partei war, die Facebook gegenüber diese Sorgen zum Ausdruck brachte, sondern zahlreiche rechte und linke Gruppierungen. Sie alle würden darüber klagen, dass der Einfluss von Facebooks Produkten und Algorithmen Parteien und Kandidaten dazu zwängen, sich extreme Positionen zu eigen zu machen, obwohl sie wussten, dass die Mehrheit ihrer jeweiligen Wählerschaft diese Positionen nicht befürwortete oder in die Tat umgesetzt sehen wollte, aber das Gefühl hatte, sie vertreten zu müssen, weil es das war, was der Algorithmus verstärkte. Es war nicht glaubhaft, dass etwas, das sich anhörte wie aus einem Science-Fiction-Roman, wahr sein konnte. Aber es stimmte. Ich wusste, dass sich das alles genau so abspielte. Ich sah es. Ich war dort. Ich war dabei. Und niemand bei Facebook konnte das wegmanipulieren. Das alles war buchstäblich das, was die zigtausend Seiten der Facebook Files besagten – jedenfalls, wenn man wusste, wie sie zu lesen waren.

Facebook ist ein profitorientiertes Unternehmen, das die Gelegenheit hatte, im Dunkeln zu operieren, und als es verschiedene Möglichkeiten sah, zum Schaden seiner Nutzer den Profit zu maximieren, nutzte es sie allesamt. Im Grunde genommen hatte Facebook diese Möglichkeiten überhaupt erst geschaffen, nämlich innerhalb seiner geschlossenen Software. Und wenn die Öffentlichkeit nichts über diese Vorgänge wusste, hatten sie dann überhaupt jemals wirklich stattgefunden? Die Firma hatte ihre Anfänge genommen als eine harmlose Plattform für Studenten von Ivy-League-Hochschulen, um untereinander Kontakt zu halten, und Facebook hatte sich dieses Image auch später zunutze gemacht, um eine langsame Wandlung zu etwas Neuem zu verschleiern. Die Firma war kein überschaubares Netzwerk von Familienmitgliedern und Freunden mehr, sondern vielmehr eine Hyper-Verstärkungsmaschine, die von Gruppen mit vielen Millionen Menschen und von Algorithmen angetrieben wird, die den extremsten Ideen am meisten Aufmerksamkeit und Reichweite verschaffen.

Keine einzelne Person hatte jemals die Absicht, die Firma zu schädlichen Aktivitäten zu treiben. Facebook war eine Firma, die Konsens und ein mythisches Selbstbild zum Fetisch erhob, nach dem alle gleich waren (außer CEO Mark Zuckerberg). Als ich 2019 bei Facebook anfing, hielt Facebooks Hauptquartier in Menlo Park, Kalifornien, den Rekord als größtes Großraumbüro der Welt, über 400 Meter lang. Jahrelang weigerten sich Facebook-Manager bei Befragungen vor dem US-Kongress auszusagen, wer für welche Entscheidungen verantwortlich gewesen sei – sie betonten immer wieder, dass Entscheidungen von Ausschüssen getroffen wurden und es keine bestimmte Person gebe, die verantwortlich sei. Aber ohne persönliche Verantwortung sind die Beteiligten weniger motiviert, aufzustehen und zu sagen: »Das ist nicht in Ordnung« – oder vielleicht sogar innezuhalten und zu fragen: »Dürfen wir das überhaupt?« Am Ende hatte Facebook eine Unternehmenskultur entwickelt, in der persönliche Verantwortung keine Rolle mehr spielte. Wie und warum konnte diese Kultur entstehen? Wie hat sie im Arbeitsalltag gewirkt? Ich konnte das erklären, und auch, wie diese Aspekte der Unternehmenskultur mit dem Code hinter den Algorithmen zusammenhingen.

Als ich 2019 zu Facebook kam, wussten die Leute dort schon seit mindestens einem Jahr, dass Facebooks Entscheidung, nicht mehr nur zu versuchen, den Anwender möglichst lange auf seinen Plattformen zu halten, sondern ihn außerdem auch zu einer Reaktion zu provozieren, zu einer größeren Verbreitung extremer Inhalte geführt hatte. Facebook vollzog diesen Strategiewechsel Ende 2017 und Anfang 2018, als Reaktion auf einen allmählichen, aber beunruhigenden Rückgang der Menge an Content, die auf der Plattform selbst produziert wurde. Das Unternehmen hatte zahlreiche Studien mit Menschen durchgeführt, die Content auf Facebook gepostet hatten, und festgestellt, dass die einzige Intervention, durch die die Menge des produzierten Contents erhöht werden konnte, darin bestand, deren Autoren häufiger kleine soziale Belohnungen zukommen zu lassen. Mit anderen Worten: Je mehr Menschen den Content eines Nutzers »liken«, kommentieren und teilen, desto wahrscheinlicher wird es, dass diese Person mehr Content für Facebook produzieren wird.

Die meisten Menschen denken an Social-Media-Plattformen nur aus der Perspektive des Konsumenten: Ich gehe mal auf Facebook, Twitter oder TikTok, um Content zu konsumieren. Dies ist eine durchaus gerechtfertigte Assoziation, da der überwiegende Teil der Aktivitäten und der Zeit, die eine durchschnittliche Person auf Social-Media-Seiten verbringt, mit Konsum angefüllt ist. Social-Media-Konzerne selbst sehen sich dagegen als »zweiseitige« Marktplätze, die Menschen, die Content produzieren wollen, mit Menschen zusammenbringen, die Content konsumieren wollen – ganz so, wie ein echter Marktplatz Verkäufer mit Käufern zusammenbringt. Ohne Verkäufer kann es keinen Käufer geben. Auf Facebook kann man sich keinen Content ansehen, den nicht vorher ein anderer produziert hat.

Außerdem steht Facebook nach unserem heutigen Unternehmensrecht und den Unternehmenszielen seinen Aktionären gegenüber in der Pflicht, immer höhere Profite zu erzielen. Es gibt eine relativ überschaubare Zahl von Möglichkeiten, das zu erreichen: Erstens kann das Unternehmen völlig neue Plattformen entwickeln oder einkaufen; zweitens kann es für seine aktuellen Angebote mehr User gewinnen; drittens kann es für jede Anzeige, die seinen vorhandenen Usern präsentiert wird, mehr Geld verlangen; oder viertens kann es diese User motivieren, seine Angebote in größerem Umfang zu konsumieren, weil der Konsum von mehr Content zu mehr Views und Klicks auf Anzeigen führt. All diese Strategien ermöglichen es dem Unternehmen, mehr Profit zu erzielen, indem es Anzeigen an Werbekunden verkauft, die insgesamt immer mehr Geld einbringen. Und das alles hängt von den Gewohnheiten der User ab – ihren natürlich entstandenen und ihren absichtlich erzeugten Gewohnheiten.

Spätestens seit 2019 war die erste dieser Expansionsstrategien wegen kartellrechtlicher Bedenken gegenüber Facebook blockiert: Weitere Zusammenschlüsse des Konzerns mit anderen Social-Media-Unternehmen durften nicht mehr genehmigt werden. Manche Beobachter hielten es sogar für geboten, Instagram und WhatsApp aus dem »Facebook Blue«-Kerngeschäft herauszubrechen, um mehr Wettbewerb zu erzeugen. Auch die zweite Strategie war nicht gerade vielversprechend: Die große Mehrheit aller Internetnutzer hatte sich bereits auf Facebooks Plattformen angemeldet. Facebook hatte in großem Umfang die Nutzung seiner Produkte durch Menschen in den wirtschaftlich immer anfälliger werdenden Regionen der Welt subventioniert (und dadurch verhindert, dass sich dort ein freies und offenes Internet entwickeln konnte), aber diese User brachten für sich genommen nur geringe Werbeerlöse ein, sodass die dritte Strategie ebenfalls ausgeschlossen war.

Also blieb nur noch die vierte Strategie: Die Facebook-Nutzer dazu zu bewegen, mehr Content zu konsumieren. Um den Rückgang der Produktion von Content zu stoppen, änderte Facebook 2018 die Art und Weise, wie es die Rangfolge verschiedener Inhalte im Facebook-Newsfeed berechnet: Fortan wurde Content priorisiert (weiter nach oben gepusht), der mehr Likes, Kommentare und Shares provozierte. Facebook erzieht seine Nutzer unaufhörlich und auf subtile Weise im Hinblick darauf, welche Arten von Content auf Facebook gehören, sei es gewollt oder ungewollt. Während Influencer und andere Power-User – etwa Nachrichtenredaktionen – genau untersuchen, welche Inhalte auf Social-Media-Plattformen weiterverbreitet werden und sich bewusst anpassen, um Content zu produzieren, der den meistverbreiteten Beiträgen ähnelt, ändern auch die meisten Nutzer aufgrund dessen, was sie in ihrem persönlichen Feed sehen, unbewusst ihre Präferenzen im Hinblick auf den Content, den sie für Social Media produzieren. Was der User in seinem persönlichen Feed zu sehen bekommt, wird zu: »Das ist es, wofür Facebook da ist.« Als Facebook 2018 begann, Content, der eine Reaktion provoziert, verstärkt zu verbreiten, bekamen User auf der ganzen Welt auf Facebook immer häufiger bestimmte Arten von Inhalten zu sehen, selbst wenn ihnen nicht bewusst war, was da vor sich ging.

Spätestens im Dezember 2019 hatten Data Scientists darauf hingewiesen, dass Facebook eine Feedbackschleife erzeugt hatte, die nicht zwischen positiven und negativen Reaktionen unterscheiden konnte. Wenn ein Nutzer unter einem Beitrag oder Kommentar ein wütendes Gesicht anklickte und schrieb, er fände den Artikel nicht gut oder dieser enthalte Fehlinformationen, wertete der Algorithmus das lediglich als Signal, diesem und anderen Usern mehr ähnlichen Content zu zeigen, weil er darauf reagiert hatte. Content-Produzenten erkannten, dass User umso häufiger auf die Urheber-Website zurückklickten, je wütender die Kommentare unter einem Link waren. Es ärgert mich immer, wenn Leute Facebook aus der Verantwortung entlassen, weil Nachrichtenportale oder Websites sensationslüstern gestaltete Meldungen bringen. Die meisten Medienunternehmen müssen Gewinn machen, um überleben zu können, und daher achten sie bei der Gestaltung dessen, was sie veröffentlichen, ganz genau darauf, was die Social-Media-Plattformen am ehesten unter den Konsumenten verbreiten werden (ebenso wie die Organisatoren politischer Kampagnen).

Während diese Feedbackschleife in den Vereinigten Staaten und Westeuropa lediglich dazu beigetragen hatte, dass der politische Diskurs immer erbitterter geführt wurde, hat sie in einigen der instabilsten Regionen der Welt zum Tod von Zehntausenden Menschen beigetragen, weil dort quasi Social-Media-Öl in Gesellschaften gegossen wurde, die ohnehin schon mit dem Feuer ethnischer Spannungen und historischer Missstände zu kämpfen hatten. Facebook war 2017 in Myanmar mit einem ersten großen Ausbruch gesellschaftlicher Gewalt konfrontiert worden, den Amnesty International als eine »soziale Gräueltat« bezeichnete. Myanmars Militär hatte ein Netzwerk aus Zehntausenden Accounts, Facebook-Seiten und -Gruppen aufgebaut, das von 700 Militärs betrieben wurde, um Propaganda gegen die muslimische Minderheit der Rohingya zu verbreiten und zu verstärken.

Die New York Times berichtete, dass Myanmar einige Jahre zuvor Militäroffiziere in großer Anzahl nach Russland geschickt hatte, um sie dort über psychologische Kriegsführung, Hacker-Angriffe und in anderen IT-Kenntnissen ausbilden zu lassen. Schon damals hatte Russland sich als weltweit führende Macht für über Social Media gesteuerte Cyberkriegsführung etabliert. Russlands Abteilung Cyber Operations stellte einen wichtigen Teil seiner Streitkräfte im Angriffskrieg gegen die Ukraine dar. Jeder, der die Nachrichten verfolgte, war sich dessen bewusst. Was ich dagegen wusste, als ich vor der Rede des Präsidenten in der Gästeloge im Kongress Platz nahm, war, dass Facebook es immer wieder versäumt hatte, sich mit seiner Unruhe stiftenden Rolle in Russlands Cyber-Operationen auseinanderzusetzen – oder vielmehr wusste ich, dass Facebook sich bewusst entschieden hatte, die Augen davor zu verschließen, was es beispielsweise für (und mit) Russland erleichterte.

Die Investition, die Myanmar in die Fortbildung von militärischem Personal und das Einrichten eines breit angelegten Social-Media-Netzwerks zur Verbreitung von Propaganda getätigt hatte, kam 2017 zum Tragen. Das Militär nutzte dieses Netzwerk, um reißerische Fotos, falsche Nachrichten und hetzerische Posts zu verbreiten, die sich in vielen Fällen gegen Myanmars Muslime richteten. Für Kritiker war es schwierig, den falschen Behauptungen etwas entgegenzusetzen, da vom Militär geführte Cyber-Trolle sich auf jeden stürzten, der versuchen wollte, den Konflikt zu entschärfen, und Meinungsverschiedenheiten unter den Kommentierenden anheizten. Die Militär-Trolle verfolgten eine Taktik aus dem, was sich rings um die Welt zum Standard-Drehbuch für gewaltsame ethnische Ausschreitungen entwickeln würde: Sie posteten aus dem Zusammenhang gerissene oder anderweitig gefälschte Fotos von Leichen, die Beweise für angeblich von den Rohingyas verübte Massaker darstellen sollten.

2021 ging ich unter anderem an die Öffentlichkeit, weil in jenem Jahr schon die zweite große, von Facebook angeheizte Gewaltwelle Gestalt angenommen hatte – dieses Mal in Äthiopien. Sie bildete ein deutliches Echo für das, was sich nur wenige Jahre zuvor in Myanmar ereignet hatte. Ich war und bin der festen Überzeugung, dass Facebook durch die Entscheidungen, die es über seine Produkte und deren Roll-out auf der ganzen Welt getroffen hatte, im Laufe der kommenden 20 Jahre das Leben von zig Millionen Menschen gefährden würde. Ich wollte sicher sein, dass die Menschen, die in der Lage waren zu intervenieren, das Ausmaß dieser internationalen, destabilisierenden und sich verschärfenden Krise wirklich verstanden, und die einzige Art, wie ich das sicherstellen konnte, war nach meiner Einschätzung, mich so lange mit Beamten von Regierungen zusammenzusetzen, bis ich überzeugt war, dass sie genau verstanden, was auf dem Spiel stand.

Als wir die Loge der First Lady betraten, wurde mir der Sitzplatz neben Valerie Biden zugewiesen, der Schwester und langjährigen Wahlkampfmanagerin des Präsidenten. Ein anderer Gast war Danielle Robinson, die Witwe des US-Army Sergeant First Class Heath Robinson. Nachdem er mehrere Kriegseinsätze im Kosovo und im Irak überlebt hatte, war er an einer seltenen Form von Lungenkrebs gestorben, die darauf zurückzuführen war, dass er anhaltend toxischen Gasen ausgesetzt gewesen war, die in Verbrennungsgruben des US-Militärs beim Verbrennen von militärischen Abfällen entstehen. Nach dem Tod ihres Mannes setzt Danielle sich für die Unterstützung der Angehörigen von Veteranen ein, die durch Exposition gegenüber den von dem Militärkonzern KBR (damals eine 100-prozentige Tochter von Halliburton) gebauten und betriebenen Verbrennungsgruben erkrankt oder gestorben sind – eine »Strategie«, nach der kurzfristige Profite wichtiger waren als Gesundheit und Leben der beteiligten Soldaten. Auch die ukrainische Botschafterin in den USA, Oksana Markarowa, saß ein paar Plätze weiter. Am Eingang der Loge drückte sie jedem von uns ein kleines ukrainisches Fähnchen in die Hand.

Es war eine überwältigende Erfahrung, von Menschen umgeben zu sein, die so viel geopfert und so viel verloren hatten und dennoch nicht nur ungebrochen durchhielten, sondern auch entschlossen waren, sich ihre Hoffnung zu bewahren und für Veränderungen zu kämpfen. Ich fühlte mich, wie schon oft in meinem Leben, als würde ich nicht dazugehören. Ich hatte mir an diesem Abend die größte Mühe gegeben, mich auf eine Art und Weise zu präsentieren, die meinen Respekt für den feierlichen und historischen Moment und diese ehrenwerten und angesehenen Gäste bekundete. Schon einfach nur darüber nachzudenken, was ich anziehen und wie ich auftreten wollte, hatte mich ziemlich gestresst.

Meine Mutter war eine Vorkämpferin für Gleichberechtigung an der University of Iowa gewesen. Ich war das erste Kind, das eine Professorin in ihrem Fachbereich auf die Welt gebracht hatte. Meine Existenz symbolisierte ihre feste Absicht, eine Familie zu gründen und die Hindernisse, die sie überwinden musste, um mich in ihrem Leben haben zu können. Als Assistenzprofessorin hatte man sie mehrfach gewarnt, dass sie ihre Festanstellung vergessen konnte, falls sie ein Kind bekäme. Jeden Tag kam sie schlicht gekleidet in die Uni, um als Professorin im Fachbereich Biochemie zu lehren, wodurch sie unter anderem ihr Desinteresse an modischer Kleidung kundtat – aber auch, dass Effizienz ihr wichtiger war als das persönliche Auftreten. Sie unterließ es, sich die Haare zu färben, als sie zu ergrauen begann, weil sie, wie sie mir einmal erzählt hat, in vielen Ausschusssitzungen ohnehin die jüngste Person war.

Ich musste erst 25 Jahre alt werden und an der Harvard Business School (HBS) ankommen, bis mir allmählich klar wurde, was ich alles verpasst hatte. Ich hatte nicht gelernt (weder von meiner Mutter noch von Kolleginnen in der Tech-Branche), wie ich mir die traditionellen weiblichen Aspekte unserer Kultur oder meiner eigenen Persönlichkeit erschließen konnte. Davor war mein erster Job nach dem Studium bei Google gewesen, wo es nur sehr wenige Frauen gab, die älter waren als ich und mir als Vorbild dienen konnten. Die paar Frauen, die ich bei Google kennenlernte (kaum zehn Prozent des Teams für Search Quality waren damals weiblich), hatten zumeist ähnliche Erfahrungen wie meine Mutter gemacht und versuchten, sich als schützende Tarnung ein entweiblichtes Aussehen zuzulegen. Es gab nur eine prominente Ausnahme von dieser Regel, und zwar die Leiterin des Management Rotation Program, an dem ich teilnahm: Marissa Mayer, Vice President of Search.

Erst als ich an der HBS Gelegenheit hatte, mit Frauen aus diversen Bereichen der Weltwirtschaft in Kontakt zu kommen, lernte ich Frauen kennen, die nicht nur stark waren, sondern auch keinen Widerspruch darin sahen, kompetent, mächtig und auch schön zu sein, weil sie in Branchen ausgebildet worden waren, die von Frauen dominiert werden.

Vor meinem Coming-out hatte ich nur selten Make-up getragen – in den Jahrzehnten seit meiner Teenagerzeit wohl nur bei einer Handvoll Gelegenheiten. Zum Glück hatte dieselbe Visagistin, die 60 Minutes für mein Interview Mitte September 2021 engagiert hatte, auch an diesem Abend Zeit, um mich zu schminken. Ich trug ein Kleid, das ich am Tag zuvor in einem Geschäft der Discount-Kette Nordstrom Rack gekauft hatte. Das Kleid war in gedecktem Türkis gehalten und, wie man mir empfohlen hatte, »knielang und nicht zu auffällig«. Dank des Tipps einer Freundin und Kollegin, die sich mit solchen Anlässen auskannte, trug ich einen Schal, um das Kleid zu ergänzen und mich ein bisschen warm zu halten. Kurz bevor wir zum Dinner im Weißen Haus vor der Rede des Präsidenten aufbrachen, hatte eine Freundin in letzter Minute eine Anstecknadel mit einer ukrainischen Fahne aufgetrieben und mir bringen lassen.

Aus unserer Loge konnte ich die Kongressabgeordneten sehen, die im Plenarsaal unter uns versammelt waren. Sie legten eine denkbar dünne Fassade der Eintracht an den Tag – tatsächlich waren die Vereinigten Staaten im Jahr 2022 zutiefst polarisiert. Ich wusste aus eigener Erfahrung, dass die gesellschaftliche Spaltung und das Lagerdenken zu einem wesentlichen Teil von den Algorithmen zur Verstärkung des Nutzerinteresses auf den Facebook-Plattformen unerbittlich vorangetrieben worden waren. Nach zwei Jahren einer weltweiten Pandemie und mehr als einem Jahrzehnt, in dem wir einem Social-Media-Informationsökosystem ausgesetzt waren, das extreme Inhalte belohnte und förderte, waren die Lage der Union und der Welt von erbitterten Gegensätzen geprägt.

Angesichts der polarisierenden und politisierten Reaktionen auf die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten im Jahr 2016 waren die Vereinigten Staaten in einer angreifbaren Position, in der viele Rechte glaubten, die Behauptungen, Russland habe sich in die Wahlen eingemischt, einfach nur Übertreibungen und Missgunst von Trump-Gegnern gewesen seien. Heute, sechs Jahre später, glaubten viele Rechte, dass der Wahlsieg von 2020 gestohlen sei, dank den Verzerrungen in unserem Informations-Ökosystem und der Tatsache, dass sowohl Russland als auch die Ukraine sich nicht nur mit Raketen und Flugzeugen bekämpften, sondern auch umfassende Desinformationskampagnen und Cyberkrieg gegeneinander führten.

Wir leben in einer Welt, in welcher der Instrumentalisierung von Social Media als Waffe von Militärs eine entscheidende Rolle in der Kriegsführung zugeschrieben wird, und doch haben zahlreiche Bürger in den Vereinigten Staaten und anderen Ländern Facebooks Darstellung der durch Social Media verursachten Probleme und der verfügbaren Lösungen akzeptiert. Facebooks herausragendster PR-Sieg der 2010er-Jahre war, uns glauben zu machen, dass die einzige Sicherheitsentscheidung, auf die es ankäme, das Schützen der »Meinungsfreiheit« vor »Zensur« sei. Viele Menschen, darunter auch viele der im Plenarsaal unter mir versammelten Abgeordneten, weigerten sich, über Lösungsansätze für Facebooks Probleme zu diskutieren, weil sie vernünftigerweise etwas gegen Zensur hatten. Facebook hatte uns davon überzeugt, dass dies die einzigen beiden Alternativen seien – obwohl Facebook selbst zahlreiche Dokumente produziert hatte, die auf zigtausend Seiten ein breites Spektrum von anderen Optionen aufzeigten.

Präsident Biden hielt Einzug in den Plenarsaal, ganz so, wie ich es bei zahllosen anderen TV-Übertragungen von »State of the Union«-Ansprachen früherer Präsidenten beobachtet hatte. Aber dieses Mal war ich … dabei … ich war hier. Wie erwartet begann der Präsident seine Rede mit einem kurzen Überblick zur Lage der Ukraine und der Notwendigkeit, dass die freien Länder der Welt jenen beistehen müssten, die nicht darum gebeten hatten, erobert zu werden. Dann schwenkten wir alle unsere Ukraine-Fähnchen.

Niemand hatte mir im Voraus gesagt, an welcher Stelle seiner Rede der Präsident meinen Namen erwähnen oder mit welchen Worten er mich vorstellen würde. Als er dann tatsächlich meinen Namen nannte, war ich völlig unvorbereitet. »Frances Haugen, die heute Abend hier bei uns ist, hat uns gezeigt, dass wir die Social-Media-Plattformen für das landesweite Experiment, das sie aus Profitgier mit unseren Kindern machen, zur Verantwortung ziehen müssen. Ich danke euch, Leute. Ich danke euch für den Mut, den ihr gezeigt habt.« Und bevor ich überhaupt merkte, wie mir geschah, stand ich auf und setzte mich dann ganz benommen wieder hin. In meinem Kopf drehte sich alles.

Für mich war es kein schnurgerader Weg gewesen bis hin zu diesem Abend, in diese Loge, zu dieser Abrechnung zwischen der Gesellschaft und einem der profitabelsten Unternehmen der Welt. Meine Reise war nicht die einer mythischen Heldin gewesen, sondern die eines etwas ungewöhnlichen kleinen Mädchens, das immer wieder seinen eigenen Weg gegangen war, in kleinen Schritten, die sich über einen langen Zeitraum aufaddierten. Die Reise eines Teenagers und einer jungen Erwachsenen, die damit angefangen hatte, dass ich mich dagegen auflehnte, mir von anderen sagen zu lassen, ich würde nicht existieren oder solle mich wieder in die Schublade verkriechen, in die ich ihrer Meinung nach gehörte. Es war eine Reise des Lernens gewesen, auf der mir klar wurde, dass ich eigene Entscheidungen treffen kann und selbst über mein Leben bestimme, und dass letztlich jeder einzelne Mensch und jede einzelne Entscheidung enorm viel Macht entfalten kann. Wir alle besitzen mehr Macht, als uns bewusst ist, auch wenn wir vielleicht davor zurückschrecken, das zu akzeptieren.

Wir leben in einer Welt, in der sich leicht ein Gefühl der Resignation in unser Leben schleicht – das Gefühl, dass die Probleme, die wir bewältigen müssen, unüberwindbar sind. Dass jeder von uns zu klein ist, um erkennbar etwas zu bewirken. Ich möchte es ganz deutlich sagen: Wenn man Resignation verspürt, ist das ein Zeichen dafür, dass jemand versucht, einem seine Macht zu nehmen. Das ist nicht immer leicht zu erkennen. Hunderttausende von Mitarbeitern waren vor mir durch Facebooks Türen gegangen und hatten nichts getan. Viele waren ausgebrannt und gegangen. Viele andere waren geblieben, arbeiteten sehr hart und passten sich an die weltbestimmende Plattform an, die sie mitgestalteten.

Man stelle sich vor, wir alle würden erkennen, welche Macht jeder einzelne Mensch hat. Welch eine Welt könnten wir gemeinsam aufbauen, wenn immer mehr Menschen sich ihrer eigenen Macht bewusst würden?

Kapitel 2 Kindheit und Jugend in Iowa

Das Leben ist von Entscheidungen geprägt, und jede Entscheidung, die du triffst, prägt dich.

JOHN C. MAXWELL, Beyond Talent

Ich war 16 Jahre alt und stand neben einem offenen Sarg. Ich fühlte eine innere Leere. Ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte, als ich meine langjährige Freundin dort liegen sah. Der Sarg war offen, hätte aber eigentlich geschlossen sein sollen. Die Tina, die ich gekannt hatte, pflegte ihr Haar in lockigen Strähnen hinter die Ohren zu streichen; wenn sie lächelte, bildeten sich Grübchen auf ihrem schmalen Gesicht. Sie trug eine Brille, und manchmal, wenn sie mich verschmitzt ansah, schien es fast so, als würden ihre Augen kichern. Das Mädchen in dem aufgebahrten Sarg trug zwar Tinas Brille und hatte Tinas Haar, aber sein Gesicht war aufgedunsen, und der Mund, die Augen und die Gesichtszüge schienen nicht richtig zusammenzupassen. So hatte die Tina, die ich in meinem Herzen trug, nicht ausgesehen. Ich nehme an, dass die Person, die sich für ein Defilee am offenen Sarg entschieden hatte, wohl der Meinung war, dass es so am besten sei, weil sie wohl dachte, wenn wir Tina ein letztes Mal sehen könnten, würde uns das in unserer Trauer helfen, Abschied zu nehmen. Selbst nach all diesen Jahren erinnere ich mich noch genau an die schrecklichen Umstände ihres tödlichen Autounfalls: das Memorial-Day-Wochenende auf der Interstate 80, den bedeckten Himmel, die glatten Straßen. Der Sinn einer Beerdigung soll doch eigentlich sein, von dem verstorbenen Menschen Abschied zu nehmen, aber in diesem Fall hatten die Bestatter sich anscheinend große Mühe geben müssen, um Tina auch nur einigermaßen präsentabel herzurichten, und dieses Mädchen war mir fremd. Zu dieser Tina im offenen Sarg konnte ich keine Beziehung finden, um mich von ihr zu verabschieden – und vor allem, um ihr zu danken. Auch heute noch, nach all diesen Jahren, ist mir bewusst, wie Tinas Freundschaft und dann ihr schmerzliches Fehlen mein Leben für immer verändert haben.

Tina Wang war seit der Junior High School eine meiner engsten Freundinnen gewesen. Ich erinnere mich nicht mehr genau, wie wir uns kennengelernt haben, wahrscheinlich war es in der Schulcafeteria. Tina und ein paar andere chinesisch-amerikanische Schüler saßen oft zusammen, und bald setzte ich mich mittags zu ihnen an den Tisch. Es kann gut sein, dass wir nach dem Unterricht in einem der Kurse, die wir beide besuchten, ins Gespräch kamen, als wir uns auf dem Weg zur nächsten Stunde unter die Kids auf dem Flur mischten. Ich wünschte, ich könnte mich erinnern, aber ich weiß es nicht mehr. Ich erinnere mich aber sehr gut, dass Tina mich akzeptierte, sich mit mir anfreundete und mir erlaubte, mich mit ihr anzufreunden – im Gegensatz zu den meisten anderen Schülern.

Als Kind oder Teenager versteht kann man nicht wirklich, wie folgenschwer die kleinen Entscheidungen, die man jeden Tag trifft, sein können. Ganz gleich, wie aufgeweckt man in der Grundschule auch sein mag, kann man sich einfach nicht vorstellen, dass eine Entscheidung, die man in einem bestimmten Moment trifft – oder eine Entscheidung, die jemand anders für einen trifft – das gesamte weitere Leben beeinflussen und sich entscheidend darauf auswirken kann, welch ein Mensch man wird, welchen Beruf man ergreift, welche Chancen man bekommt oder nicht bekommt, welchen Herausforderungen man sich stellt und wie man sie bewältigen wird. Obwohl ich ein aufgeweckter Teenager war, lag diese Erkenntnis noch außerhalb meines geistigen Horizonts, als ich an die Junior High School wechselte.

Die meisten Schüler müssen nur einen einzigen Einschulungstag an der Junior High hinter sich bringen, aber da ich darauf bestanden hatte, mein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, waren es bei mir zwei: Der erste Tag in der siebten Klasse und dann der erste Tag im zweiten Trimester der achten Klasse. Als ich die Horn Elementary School besuchte, waren viele meiner Mitschüler die Sprösslinge von Professoren an der University of Iowa, die sich nur ein paar Meilen entfernt in Iowa City befand. Die Lehrerinnen an der Horn Elementary waren es daher gewohnt, dass ziemlich oft sehr aufgeweckte Kinder an die Schule kamen. Daher war es nichts Ungewöhnliches, wenn ein Kind schon in der sechsten Klasse Calculus, einen Kurs in Höherer Mathematik, belegte. Oder wenn ein Erstklässler auf Collegeniveau lesen konnte. Schon in der Kita gab es Kinder, die einen Wortschatz auf Collegeniveau hatten (zum Beispiel ich). Die Lehrer an der Horn Elementary School verstanden es, für außerordentlich gute Schüler genau den Lehrplan auszuarbeiten, den ihr Gehirn brauchte – ohne dabei aber aus den Augen zu verlieren, dass wir natürlich immer noch Kinder waren.

An einem kritischen Punkt meiner Grundschulzeit intervenierte meine Mutter. Seit ich in die dritte Klasse gekommen war, kam ich nach der Schule immer häufiger weinend nach Hause, weil ich mich im Matheunterricht zu Tode langweilte. Daraufhin erteilte meine Mutter der Schulleitung eine denkbar schlichte Anweisung: »Mein Kind hat spezielle Bedürfnisse, auf die in angemessener Weise eingegangen werden muss.« Dieser magische Satz aus dem Americans with Disabilities Act von 1990, dem Gleichstellungsgesetz für Menschen mit Behinderungen, erschloss mir die volle Flexibilität des Lehrplans der Horn Elementary School, der sich in hohem Maße auf Konzepte wie selbst gesteuertes Lernen stützte, sodass jedes Kind sich so intensiv mit einem Fach beschäftigen konnte, wie es seinen individuellen Neigungen und Begabungen entsprach, anstatt die Kids in normal oder schneller lernende Gruppen aufzuteilen. Es war ein Konzept, bei dem Wert darauf gelegt wurde, Kinder in der Gemeinschaft ihrer gleichaltrigen Mitschüler zu belassen. Als das Ende des sechsten Schuljahrs näher rückte, begann Jan Bohnsack, eine begnadete Lehrerin von mir, sich über meinen Wechsel in die allgemeine Schülerschaft einer Junior High School Sorgen zu machen. Da ich mich an die Flexibilität des Unterrichts an der Horn Elementary School und die Möglichkeit, schneller zu lernen als andere Kinder, gewöhnt hatte, befürchtete sie, dass ich sozusagen gegen eine Wand laufen würde, wenn ich gezwungen wäre, langsamer zu lernen und auf die anderen warten zu müssen.

Sie berief ein Gespräch mit meinen Eltern, der Schulleitung und mir ein, bei dem sie sich energisch dafür einsetzte, dass ich die siebte Klasse überspringen sollte. Anstatt auf ihr Urteil zu vertrauen, schlug ich einen Kompromiss vor: Ich wollte im ersten Trimester der siebten Klasse anfangen und dann die nächsten zwei Trimester in der achten Klasse durchlaufen. Diese auf den ersten Blick nebensächliche Entscheidung war die erste von vielen, die ich treffen würde und die meinen Lebensweg radikal verändern sollten.

Der Direktor der Junior High war ein überzeugter Anhänger der Führungsstrategie »teile und herrsche«. Er pflegte die Achtklässler seiner Schule gegen die Siebtklässler (die »Sevies«) in Stellung zu bringen, um für Ordnung zu sorgen. Da ich praktisch mitten im Schuljahr von der siebten in die achte Klasse gewechselt war, hatte ich mich selbst in die vertrackte Lage gebracht, nicht nur unter den Siebtklässlern als »Abtrünnige« zu gelten, sondern auch keine »echte« Achtklässlerin zu sein. Es ist schon schwierig genug für 10- bis 13-jährige »Tweens«, wenn sie an die Junior High kommen und in einer neuen Umgebung und Community Freundschaften schließen wollen – aber nun hatte ich diesen schwierigen Übergang für mich noch schwieriger gemacht.

Die Northwest Junior High School war eines jener großflächigen eingeschossigen Schulgebäude aus den Siebzigerjahren, die die Anmutung eines Gefängnisses mit niedriger Sicherheitsstufe ausstrahlen, und die Schulleitung wusste das. Dort lernte ich Tina kennen, und über Tina eine Clique chinesisch-amerikanischer Kids, die untereinander eng befreundet waren. Sie machten sich nicht lustig über mich, weil ich gut in der Schule war und mich für den Unterricht interessierte; im Gegenteil, sie waren auch so. In den Neunzigerjahren war nicht mehr zu bestreiten, dass Iowas Wirtschaft zu kämpfen hatte und ihre Zukunft auch nicht besser aussah. Wir alle hatten das gleiche Ziel, dass ich mir schon unabhängig von ihnen gesetzt hatte – schon damals hatten wir alle das dringende Bedürfnis, aus dem provinziellen Iowa rauszukommen. Eine entscheidende Voraussetzung für das Gelingen dieses Plans war, einen Studienplatz an einem guten College zu ergattern. Sie akzeptierten mich; sie waren jetzt meine Freunde.

In der Junior High wurde mir klar, dass ich extrem gut in Mathe war. Ich qualifizierte mich für das Mathcounts-Wettkampfteam meiner Schule zusammen mit John Hegeman, den ich Jahrzehnte später bei Facebook wieder treffen sollte, wo er das Team leitete, das für die Priorisierung von Content in Facebooks Newsfeed verantwortlich war, während ich in Civic Misinformation arbeitete.

Viele Mathe-Wettbewerbe sind in zwei Disziplinen aufgeteilt: eine Sprintrunde, in der 30 Aufgaben in einer vorgegebenen Zeit gelöst werden müssen, und eine Target-Runde, in der nur sechs Aufgaben gelöst werden sollen, die aber wesentlich schwieriger sind. Ich erreichte den zweiten Platz unter sämtlichen Junior-High-Schülern Iowas, obwohl ich vom Alter her eigentlich noch Siebtklässlerin war.