Die Wahrheit über unser Essen - Tim Spector - E-Book

Die Wahrheit über unser Essen E-Book

Tim Spector

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Beschreibung

»Eine Pflichtlektüre für alle, die gesund bleiben möchten.« DANIELA NIEDERBERGER, WELTWOCHE Prof. Dr. Tim Spector ist ein renommierter Ernährungswissenschaftler und Experte für personalisierte Medizin und das Darmmikrobiom. In ›Die Wahrheit über unser Essen‹ entlarvt er verständlich und auf der Höhe der Forschung viele unserer Vorstellungen über gesunde Ernährung als falsch. Er zeigt: Kaffee, Salz und Butter sind nicht unbedingt schlecht für uns, Fisch, gluten- und zuckerfreies Essen nicht unbedingt gut. Vitamintabletten, vegane Gerichte und viel Wasser sind nicht zwangsläufig gesund, und lokal angebaute Lebensmittel keinesfalls immer die beste Lösung. ›Die Wahrheit über unser Essen‹ ist ein augenöffnendes Buch, das hilft, die Ernährung zu finden, die wirklich gut für uns ist und zu uns passt. Tim Spector ermutigt, unsere gesamte Beziehung zum Essen zu überdenken – nicht nur für die eigene körperliche wie mentale Gesundheit, sondern auch für die Zukunft des Planeten. »Tim Spector sagt: Vieles, was lange als gesichertes Wissen über Ernährung galt, ist falsch. Aber er hat auch gute Nachrichten.« KATRIN HUMMEL, FAS

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Seitenzahl: 470

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Was wir wirklich über gesunde Ernährung wissen müssen

Prof. Dr. Tim Spector ist ein renommierter und preisgekrönter Experte für personalisierte Medizin und das Darmmikrobiom. In ›Die Wahrheit über unser Essen‹ entlarvt er verständlich und auf der Höhe der Forschung viele unserer Vorstellungen über gesunde Ernährung als falsch. Er zeigt: Kaffee, Salz und Butter sind nicht unbedingt schlecht für uns, Fisch, gluten- und zuckerfreies Essen nicht unbedingt gut. Vitamintabletten, vegane Gerichte und viel Wasser sind nicht zwangsläufig gesund, und lokal angebaute Lebensmittel keinesfalls immer die beste Lösung.

›Die Wahrheit über unser Essen‹ ist ein augenöffnendes Buch, das hilft, die Ernährung zu finden, die wirklich gut ist und zu uns passt. Tim Spector ermutigt, unsere gesamte Beziehung zum Essen zu überdenken – nicht nur für die eigene körperliche wie mentale Gesundheit, sondern auch für die Zukunft des Planeten.

»Dieses Buch sollte auf Rezept erhältlich sein.« LITERARY REVIEW

© Peter Schiazza

Prof. Dr. Tim Spector lehrt genetische Epidemiologie am King’s College London und ist ärztlicher Berater am Guy’s and St Thomas’ Hospital sowie mehrfach preisgekrönter Experte für personalisierte Medizin und das Darmmikrobiom. Er ist regelmäßig im britischen Fernsehen und Radio zu Gast und schreibt u. a. für den Guardian.

Petra Huber studierte Anglistik, Amerikanistik und Slawistik und arbeitet freiberuflich als Übersetzerin aus dem Englischen und Russischen sowie als Lektorin.

Sara Riffel studierte Anglistik, Amerikanistik und Kulturwissenschaften und arbeitet als freie Übersetzerin und Lektorin. 2009 erhielt sie den Kurd-Laßwitz-Preis.

Tim Spector

DieWahrheitüberunserEssen

Warum fast alles, wasman uns über Ernährungerzählt, falsch ist

Aus dem Englischenvon Petra Huber und Sara Riffel

Die englische Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel

›Spoon-Fed. Why Almost Everything We’ve Been Told About Food is Wrong‹

bei Jonathan Cape, einem Imprint von Vintage.

Vintage gehört zur Unternehmensgruppe Penguin Random House.

Copyright © Tim Spector, 2020

eBook 2022

© 2022 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln

Alle Rechte vorbehalten

Übersetzung: Petra Huber und Sara Riffel

Redaktion: Susanne Rudloff

Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Umschlagabbildung: © DEEPOL by plainpicture

Satz: Fagott, Ffm

eBook-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-8321-8272-4

www.dumont-buchverlag.de

Einleitung

Die meisten von uns kommen bereits in der Kindheit mit ersten Ernährungsmythen in Berührung. Als ich klein war, bekam ich zu hören, dass bestimmte Lebensmittel mein Wachstum fördern (Milch und Cornflakes), mich schlau machen (Fisch), Akne auslösen (Schokolade) oder mir starke Muskeln verschaffen würden (Fleisch und Eier). Ich sollte Spinat essen wie Popeye – von den Vorzügen von Linsen, Brokkoli oder Bohnen war dagegen nie die Rede. Nüsse galten als ungesund, wegen des Cholesterins. Und wenn ich nicht ordentlich frühstückte, würde ich krank werden. Meine Mutter, die zu Kriegszeiten aufgewachsen war, hielt quasi nichts für zu verschimmelt, um nicht noch genießbar zu sein. Sie bestand darauf, dass ich den Teller immer leer aß. Zu einer »richtigen« Mahlzeit gehörten stets Fleisch oder Fisch. Vitamine galten als äußerst wichtig, besonders Vitamin C, das man in Tablettenform oder flüssig als Orangensaft zu sich nahm. Hinzu kamen noch andere Ratschläge, die nie hinterfragt wurden, wie etwa, dass man nach dem Essen eine Stunde lang nicht schwimmen darf, niemals direkt vor dem Schlafengehen etwas essen soll oder dass man Sport treiben muss, um abzunehmen. Keine einzige dieser Überzeugungen hatte einen wissenschaftlichen Hintergrund, viele davon sollten sich später sogar als grundfalsch erweisen. Sie wurden jedoch so oft wiederholt, dass es mir selbst als Erwachsenem noch schwerfällt, sie abzulegen. Uns allen werden solche Auffassungen mit auf den Weg gegeben, und im Laufe unseres Lebens nimmt die Zahl der – zumeist wohlmeinenden – Ernährungsratschläge noch zu.

Wir sollen uns fettarm ernähren. Zucker meiden. Auf fünf Portionen Obst und Gemüse am Tag achten. Stärkehaltige Gemüse bevorzugen, keine Mahlzeiten auslassen, häufig kleine Portionen zu uns nehmen, mindestens acht Gläser Wasser am Tag trinken, Koffein- und Alkoholgenuss reduzieren, weniger Fleisch und Milchprodukte verzehren, dafür mehr Fisch, Pflanzenöle statt Butter verwenden, Kalorien zählen und auf kalorienreduzierte Getränke umsteigen. Wir sind es inzwischen gewohnt, genau gesagt zu bekommen, wie, wann und was wir essen sollen. Diese Botschaften erreichen uns über eine Vielzahl von Quellen: nationale Ernährungsrichtlinien, die Medien, Werbung und sogar Lebensmitteletiketten und Müsli-Verpackungen, darüber hinaus Poster und Broschüren in Krankenhäusern und Arztpraxen. Bei so vielen Ratschlägen sollten wir alle längst gesünder, schlanker und frei von ernährungsbedingten Krankheiten sein. Stattdessen ist in den meisten Ländern seit 1980 ein rasanter Anstieg von Übergewicht, Lebensmittelallergien und Diabetes zu verzeichnen, ebenso wie eine – unerklärliche – Zunahme der Demenzerkrankungen. Zwar können wir Herz- und Krebsleiden immer besser behandeln, aber auch deren Zahl steigt, und die Kurve der Lebenserwartung, die vor Kurzem noch steil nach oben zeigte, ist inzwischen abgeflacht, ja sinkt womöglich sogar wieder. Angesichts unzähliger Möglichkeiten bei der Ernährung und einer Flut von Falschinformationen, wünschen sich viele Menschen einfach Klarheit. Selbst der größte Skeptiker sitzt mitunter haltlosen Ratschlägen mit stark vereinfachten Botschaften auf. Leichtfertig übernehmen wir die Regeln bestimmter Lebensstile wie Clean Eating, Veganismus, ketogene Diät, Paläodiät, Low Carb, glutenfrei oder lektinfrei oder den Mythos der Nahrungsergänzungsmittel. Der Glaube und die Vehemenz der Befürworter solcher Diäten und ihrer Anhänger können äußerst überzeugend sein.

In den vergangenen Jahren habe ich vor allem zu der Frage der richtigen Ernährung geforscht, und ich musste zu meiner Überraschung feststellen, dass vieles, was in diesem Bereich propagiert wird, bestenfalls irreführend und schlimmstenfalls falsch oder gar gesundheitsschädlich ist. Wie wir sehen werden, trifft dies auf Ratschläge von Diätassistenten, Ärzten, Ernährungsrichtlinien und Wissenschaftsartikeln ebenso zu wie auf das, was von Freunden und Familie verbreitet wird. Wie konnte es dazu kommen, dass wir uns von unqualifizierten Leuten vorschreiben lassen, wie wir uns zu ernähren haben? Im Bereich von Medizin und Wissenschaft ist das einzigartig. Es gibt viele Gründe dafür, aber es sind vor allem drei Dinge, die ein gesundes Verhältnis zu unserer Ernährung verhindern: Pseudowissenschaft, Fehlinterpretation von Untersuchungen und die Lebensmittelindustrie. Ernährung ist die wichtigste Medizin des Menschen. Wir sollten deshalb schnellstens lernen, sie richtig anzuwenden.

Wissenschaft ist komplex. Gesundheits- und Ernährungswissenschaft sind vergleichsweise neue Disziplinen; sie entstanden in den meisten Ländern erst in den 1970er-Jahren als Reaktion auf die wachsende Verbreitung industriell verarbeiteter Lebensmittel und aus dem Bestreben vieler Regierungen heraus, vor falscher Ernährung zu warnen. In den meisten Ländern wird die Ernährungswissenschaft noch immer nicht der Medizin zugeordnet. Die Bereiche überlappen sich nur selten, die wenigsten Ärzte haben Ernährungswissenschaft studiert. Die Methoden, die in der Arzneimittelforschung angewendet werden, und die gewonnenen Erfahrungen und Erkenntnisse, zum Beispiel auch im Umgang mit der Lebensmittelindustrie, finden kaum Eingang in die Ernährungswissenschaft. Obwohl sie sich mit einigen der wichtigsten Fragen unserer Zeit befasst, ist die Ernährungswissenschaft immer noch wenig angesehen und gilt als weitgehend bedeutungslose Disziplin. Ich arbeite eng mit ZOE zusammen, einem kommerziellen Ernährungsberatungsunternehmen. Hier beschäftigt man hervorragende Analytiker, die ihre Karrieren in vermeintlich renommierteren Feldern wie Astrophysik, Mathematik oder Ökonomie aufgegeben haben, um sich der umfassenden Auswertung von Ernährungsdaten zu widmen. Doch bleiben – bis auf wenige Ausnahmen – die meisten Ernährungsexperten unter sich. Von Universitäten und Fördermittelgebern, die oft von der Lebensmittelindustrie finanziert sind, fühlen sie sich nicht gewertschätzt und respektiert. Statt die groß angelegten klinischen Studien durchführen zu können, die wir dringend bräuchten, bleiben ihnen lediglich die Lehre und kleinere, kurzfristige Forschungsprojekte.

Es ist so: Forschungsarbeit zum Thema Ernährung ist schwierig und angesichts der breit angelegten Langzeitstudien, die notwendig wären, um die Auswirkungen bestimmter Lebensmittel oder Diäten auf die menschliche Gesundheit zu erforschen, völlig unterfinanziert. Ein neues Arzneimittel auf den Markt zu bringen, kostet rund eine Milliarde Dollar; für die Beurteilung von Lebensmitteln oder Diäten wenden wir hingegen nur einen Bruchteil davon auf. Deshalb stammen die meisten Erkenntnisse über die Vorzüge oder Risiken von Lebensmitteln aus zweifelhaften Laboruntersuchungen oder kleineren Studien mit Nagetieren, die künstlich krank gemacht werden, deren Resultate jedoch auf den Menschen kaum übertragbar sind. Beinahe täglich findet man in den Medien neue Beispiele für solche fragwürdigen Erkenntnisse. 2019 beispielsweise hieß es, der tägliche Verzehr von Walnüssen schütze vor Dickdarmentzündung und Krebs. In Wahrheit zeigte die entsprechende wissenschaftliche Studie lediglich, dass sich bei Mäusen, denen man chemische Stoffe verabreicht hatte, um eine menschliche Krankheit zu simulieren, nach zwei Wochen einer Walnusstherapie1 das Stoffwechselprofil leicht verbesserte. Die Studie war nicht sehr umfangreich und wurde in einer kleinen, wenngleich seriösen Fachzeitschrift für Ernährungswissenschaft veröffentlicht; ihr Sponsor – die California Walnut Commission – war über die kostenlose Werbung sicher hocherfreut. Solche Studien sind nahezu nutzlos. Experimente mit Mäusen lassen sich relativ kostengünstig durchführen, aber die Resultate werden meist nur dann veröffentlicht, wenn sie für die Geldgeber das »richtige« Ergebnis erbringen.

Die wissenschaftliche Forschung hat sich insgesamt verbessert. Heute verlässt man sich eher auf groß angelegte Beobachtungsstudien mit Zehn- oder Hunderttausenden Teilnehmern, die über mehrere Jahre begleitet werden. Solche Studien haben schon wichtige Erkenntnisse geliefert, beruhen aber meist auf einfachen, oft schlecht konzipierten Fragebögen. Die Instrumente zur Datenerhebung im Bereich Ernährung sind noch nicht ganz ausgereift. Übergewichtige geben in der Regel zu wenig ihres tatsächlichen Verzehrs an und Untergewichtige zu viel. Ganz allgemein neigen Menschen dazu, Lebensmittel, die als ungesund gelten, zu unterschlagen. Neue Technologien auf Basis von Handykameras und Apps können hier Abhilfe schaffen. 2018 erschien ein sehr kritischer Artikel über die Ernährungswissenschaft und die Mängel bei solchen Beobachtungsstudien, beispielsweise jenen, dass positive Ergebnisse in der Regel eine ungerechtfertigt hohe Verbreitung finden. Eine große Meta-Analyse sämtlicher Studien (z.B. zu Eiern, Milchprodukten, Weißmehl, Hülsenfrüchten etc.) ergab, dass alle zwölf untersuchten Lebensmittelgruppen sowohl mit erhöhtem als auch mit verringertem Sterblichkeitsrisiko assoziiert wurden.2 Dies ist natürlich äußerst unwahrscheinlich; genau solche Resultate aber fördern die abstruse Unterscheidung zwischen guten und schlechten Lebensmitteln, für die wir alle empfänglich sind.

Bei den unzähligen Zusammenhängen, die es zwischen Nahrungsmitteln und Krankheiten geben könnte, zieht man schnell falsche Schlüsse. Verlässliche Ernährungsstudien sind weitaus schwieriger durchzuführen als Arzneimittelstudien, und erst im Jahr 2019 wurde ein eigenes Forschungskonzept zur Beurteilung solcher Untersuchungen vorgestellt.3 Die Anwendung der strikten Kriterien der Arzneimittelforschung auf Lebensmittel hat schon zu manch zweifelhaften Ergebnissen geführt. 2019 etwa sorgte eine kanadische Forschungsgruppe für Schlagzeilen mit der Meldung, dass es völlig in Ordnung sei, Fleisch zu essen. Später stellte sich allerdings heraus, dass sie bei ihrem Datenüberblick die Hälfte der verfügbaren Studien nicht berücksichtigt hatte und darüber hinaus umfangreiche und nicht genau bezifferte Fördergelder von der Lebensmittelindustrie erhielt. Zwei Jahre zuvor hatte dieselbe Forschungsgruppe bereits eine ähnlich kontroverse Studie veröffentlicht, in der die schädliche Wirkung von Zucker infrage gestellt wurde.4 Mit demselben simplifizierenden Blick, mit dem die Wissenschaft auf unsere Ernährung schaute, betrachtete man vor zwanzig Jahren noch die Genetik. Bei den frühen Gen-Studien, an denen ich beteiligt war, fand man Hunderte mögliche Verbindungen zwischen einzelnen Genabschnitten und Krankheiten, unter Verwendung Hunderter Marker. Wir »entdeckten« beispielsweise die Gene für Übergewicht, Alterung, Osteoporose oder Diabetes. Diese Forschungsergebnisse erregten eine Menge Aufmerksamkeit – was meiner wissenschaftlichen Karriere förderlich war –, sollten sich jedoch zum überwiegenden Teil als Unfug erweisen.

Durch die neue Genchip-Technologie trat die wahre Komplexität unserer Gene zutage, und es zeigte sich, dass eine sogenannte »Genregion« häufig 200 bis 1000 vollkommen verschiedene Gene enthalten kann, die zuvor nicht erkennbar gewesen waren. Die Vorstellung, ein einzelnes Gen sei für eine bestimmte Erkrankung oder einen Gesundheitszustand verantwortlich, wurde damit als Mythos entlarvt. Einige dieser vermeintlichen Entdeckungen wurden für Hunderte Millionen Dollar verkauft, waren jedoch weitgehend nutzlos. In ähnlicher Weise werden heutzutage Ernährungsmythen verbreitet, die den Anschein von Wissenschaftlichkeit erwecken, in Wahrheit aber aus primitiven Laborexperimenten stammen. So werden beispielsweise die Zellen von Mäusen oder Menschen kultiviert und hohen Dosen eines bestimmten chemischen Stoffes ausgesetzt, der in manchen Nahrungsmitteln vorkommt oder etwa freigesetzt wird, wenn man diese erhitzt oder kocht. Nahezu jede auf diese Weise getestete Substanz erwies sich als »unsicher«, das heißt als potenziell krebserregend. Die Lebensmittelindustrie bedient sich dieser Technik in umgekehrter Weise, um mithilfe kleiner Studien zu zeigen, dass ihre Produkte sicher oder nutzbringend sind. Die meisten Nahrungsmittel enthalten Tausende chemischer Stoffe, und in der Realität sind wir niemals einem einzelnen davon auf derart künstlich isolierte Weise ausgesetzt; selbst wenn die Resultate solcher Studien also verlässlich und von anderen Gruppen reproduzierbar sind (was häufig nicht der Fall ist), bleiben die Schlussfolgerungen stets fragwürdig.

Das Problem besteht auch darin, dass die Ernährungswissenschaft einem jahrhundertealten Missverständnis aufsitzt, nämlich dass es nur drei Hauptnährstoffe gibt: Kohlenhydrate, Fette und Eiweiße. Man dachte, dass diese drei Gruppen Energie liefern in Form von Kalorien und dass man sie im richtigen Mengenverhältnis zueinander verzehren müsse, um Fehlernährung zu vermeiden. (Wie wir sehen werden, sind aber die Kalorien selbst eine fehlerhafte und hoffnungslos unzuverlässige Maßeinheit.) Eine solche Unterteilung sämtlicher Nahrungsmittel in nur drei Gruppen ist jedoch so, als klassifizierte man Menschen als Afrikaner, Europäer oder Asiaten, um dann auf Grundlage dieser groben Kategorien Standardbehandlungen zu empfehlen oder Unterschiede in Gesundheit, Körperkraft und Intellekt festzuschreiben. Der Gedanke, man könne beispielsweise Kohlenhydrate und Eiweiße voneinander trennen, wie es in so vielen Diäten propagiert und von Ärzten und in Ernährungsrichtlinien empfohlen wird, ist wissenschaftlicher Unsinn. Alle Nahrungsmittel stellen eine komplexe Mischung aus Kohlenhydraten, Fetten und Eiweißen dar. Wenn die Wissenschaft auf solch gefährliche Weise vereinfacht wird, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass durch das weitere Herunterbrechen in Regeln und Richtlinien die Botschaften noch mehr verzerrt werden.

Das Problem liegt nicht nur in der Wissenschaft; Fehlinterpretationen von Untersuchungsergebnissen sind genauso problematisch. Studien liefern oft Hunderte Befunde, und die Presse extrahiert Erkenntnisse und Risiken, um sie in alarmierende und oft irreführende Schlagzeilen zu verwandeln. Aus einer bevölkerungsweiten Längsschnittstudie abzulesen, dass es das Risiko für Herzerkrankungen und Tod erhöht, zwei Scheiben Speck pro Tag zu essen, ist durchaus legitim. Die Behauptung jedoch, die Lebenserwartung würde sich dadurch um zehn Jahre verringern, ist lächerlich – das wäre mehr als das Gesundheitsrisiko durch regelmäßiges Rauchen. Auf die gleiche Weise werden manche gesunden Nahrungsmittel über den grünen Klee gelobt – so heißt es, wenn man täglich eine Handvoll bestimmter Nüsse oder Beeren esse, könne dies die Lebenserwartung um fünfzehn Jahre verlängern. Trinkt man zwei kleine Gläser Wein am Tag, erhöht man damit zwar sein relatives Risiko für gewisse Krebsarten um, sagen wir, zehn Prozent (im Vergleich zu Nichttrinkern), das persönliche Risiko, diese Krebsarten auch tatsächlich zu bekommen, ist aber vermutlich geringer als eins zu zehntausend. Nur die wenigsten Menschen sind in der Lage, solche Risikodarstellungen richtig einzuordnen.

Das Problem geht jedoch über irreführende Schlagzeilen weit hinaus. Häufig bildet ein solch vereinfachtes Wissenschaftsverständnis auch die Grundlage für offizielle Ernährungsrichtlinien. Vorgaben, was die Bevölkerung an Nahrung zu sich nehmen solle, wurden erstmals zur Zeit der Rationierung während des Zweiten Weltkriegs formuliert. Damals herrschte Lebensmittelknappheit, zugleich waren die Regierungen jedoch auf Armeen gesunder Bürger angewiesen. Übergewicht war äußerst selten, und das größte Problem für die öffentliche Gesundheit war die Mangelernährung, weshalb von offiziellen Stellen Ratschläge verbreitet wurden, wie einem Vitaminmangel entgegengewirkt werden könne. Durch ihren schnellen Erfolg wurde diese Herangehensweise in den nächsten sechzig Jahren maßgebend. Es setzte sich die Annahme durch, Gesundheitsprobleme ließen sich durch Umstellung eines Schlüsselelements in der Ernährung lösen, beispielsweise durch die Aufnahme von Vitamin C oder die Reduzierung des Fettkonsums. Bevölkerungsstudien hatten schließlich gezeigt, dass diese Elemente mit Krankheiten in Verbindung gebracht werden konnten. Jahrzehntelang wurde Fett verteufelt, und die Menschen wurden dazu angehalten, mehr Kohlenhydrate und Eiweiße zu sich zu nehmen, was die Herstellung stark verarbeiteter Lebensmittel mit geringem Fettgehalt ankurbelte. Nachdem die Fett-Hypothese glaubhaft widerlegt war, fand man einen neuen Schuldigen, nämlich Zucker. In der Folge entstand eine unüberschaubare Menge verarbeiteter Lebensmittel mit niedrigem Zuckergehalt. Man verteufelte das eine Nahrungsmittel, aber ersetzte es unkritisch durch ein anderes. Man schraubte an den Prozenten herum und verlor dabei ganze Gruppen gesunder Nahrungsmittel aus dem Blick. Uns wurde empfohlen, häufiger zu essen, also aßen wir häufiger Snacks und stark verarbeitete Lebensmittel mit geringem Fettgehalt und gaben sie auch unseren Kindern. Mit der Zeit wurden wir immer dicker und kränker.

Dass Nahrungsmittel oft nur nach dem Gehalt eines einzelnen Inhaltsstoffs beurteilt werden, ist ein weiteres Problem. Viele Obstsorten enthalten beispielsweise Fruchtzucker; er ist jedoch bloß einer von über sechshundert chemischen Stoffen in einer Banane – die man nach Meinung mancher Menschen wegen ihres hohen Fruchtzuckeranteils meiden sollte. In Verruf geraten sind neuerdings auch Lektine – bestimmte Eiweiße, die beispielsweise in ungekochten Bohnen vorkommen und für den Menschen giftig sind. Dabei weisen die Pflanzen mit dem höchsten Lektingehalt, wie Bohnen, Linsen und Nüsse, zugleich auch Tausende andere Inhaltsstoffe auf, die für eine gesunde Ernährung eine wichtige Rolle spielen. Pflanzen sind weitaus komplexer als ursprünglich angenommen. Sie enthalten viele schützende Substanzen, Polyphenole genannt (früher hießen sie Antioxidantien), die – wie wir inzwischen wissen – für unsere Gesundheit äußerst wichtig sind und Krebs und anderen Krankheiten vorbeugen können. Die Bedeutung der Polyphenole wurde lange Zeit übersehen, weil sie sich nicht direkt auf unseren Körper auswirken. Tatsächlich können wir ohne Hilfe gar keinen Nutzen daraus ziehen. Und diese Hilfe leistet ein erst jüngst entdecktes Organ: die Darmflora.

Durch Untersuchungen der Darmflora wissen wir heute, wie eingeschränkt unsere Sicht auf Ernährung lange Zeit war. Sie ist kein Organ im eigentlichen Sinne, sondern eine Gemeinschaft von Mikroorganismen, die zusammen in etwa so viel wiegen wie unser Gehirn. Die Darmflora besteht aus einer Mischung von bis zu 100 Billionen Bakterien, Pilzen, Parasiten und 500 Billionen Kleinstviren, deren Anzahl die der Zellen in unserem Körper übersteigt. Die große Mehrheit davon lebt in unserem Dickdarm, gemeinsam mit einem Großteil unserer Immunzellen. Jede Mikrobe ist in der Lage, Hunderte chemische Stoffe zu produzieren, und wie eine Minifabrik reguliert sie so unser Immunsystem. Viele der wichtigsten Stoffwechselprodukte und Vitamine in unserem Blutkreislauf werden auf diese Weise hergestellt, darunter auch Stoffe, die auf die Hirnchemie einwirken und unsere Stimmung und sogar unseren Appetit beeinflussen können. Die Zusammensetzung der Darmmikroben, ihre Gene und die chemischen Stoffe, die sie hervorbringen, sind bei jedem Menschen einzigartig und unterscheiden sich stark, selbst bei genetisch identischen Zwillingen.

Die Erforschung dieses Organs führte zu zahlreichen neuen Erkenntnissen. Unter anderem fand man heraus, dass Tausende Inhaltsstoffe aus der Nahrung mit Tausenden verschiedenen Mikrobenarten interagieren und dabei mehr als 50.000 chemische Stoffe erzeugt werden, die große Auswirkungen auf unseren Körper haben. Von der Nahrungsaufnahme profitieren also nicht nur wir selbst, sondern auch unsere Darmflora. Wie ein bestimmtes Nahrungsmittel auf unseren Körper wirkt, kann individuell sehr unterschiedlich sein. Es gibt viel zu wenig Fachleute im Bereich Darmflora, kaum ein Arzt, Ernährungsberater oder Diätspezialist kennt sich wirklich damit aus. Mit seiner Mischung aus Genetik, Mikrobiologie, Datenverarbeitung und Biochemie schreckt dieses Forschungsfeld viele ab, und Ernährungswissenschaftler, die diesen Karriereschritt machen, erleben das häufig als eine einsame und riskante Entscheidung, zu der sie von niemandem ermuntert werden. Bedauerlicherweise hinken auch die meisten Ernährungsratgeber hinter der neuen Wissenschaft hinterher, wohl in der Hoffnung, sie werde sich nur als weitere Modeerscheinung erweisen.

Die Annahme, unsere Körper seien identische Maschinen und würden auf Nahrungsmittel auf genau dieselbe Weise reagieren, ist der am weitesten verbreitete und gefährlichste Ernährungsmythos. Er bildet die Grundlage für sämtliche sogenannten Diätratschläge. Dabei geht es nicht bloß um verschiedene Mikroben-Populationen in unserem Darm. Wie ich in Kapitel 1 zeigen werde, kann sich die Reaktion des Blutzuckerspiegels auf dasselbe Nahrungsmittel von Mensch zu Mensch um das Zehnfache unterscheiden. Wir alle reagieren anders auf bestimmte Lebensmittel. Die Vorstellung, dass wir uns an dieselben Empfehlungen oder Vorgaben zum Kalorienbedarf halten sollen, ergibt also wenig Sinn, genauso wenig wie wir denselben Autositz bequem finden, nur weil er für den Durchschnittsmenschen entworfen wurde. Und da wir schon mal beim Thema sind: Die Ernährungsbedürfnisse, beispielsweise den Kalorienbedarf pro Tag, nach dem Geschlecht zu bestimmen, ist ebenso unsinnig. Die Einzigartigkeit unseres Stoffwechsels, unsere Reaktionen auf bestimmte Lebensmittel und unsere individuelle Darmflora zu ignorieren oder ihre Bedeutung herunterzuspielen, ist bewusste Taktik der Lebensmittelindustrie. Zum einen, weil ihr Marketing mit einfachen Botschaften besser funktioniert, aber auch weil sie vermeiden will, dass Zusatzstoffe in Lebensmitteln zu viel Aufmerksamkeit erhalten oder dass deren Auswirkungen auf unsere Darmflora gar genauer unter die Lupe genommen werden.

Was uns zum größten Hindernis für ein besseres Verständnis unserer Ernährung führt: die Lebensmittelindustrie und die Verbreitung gefährlicher Falschinformationen. Meine Forschungen haben mir die Augen geöffnet für den erstaunlich schädlichen Einfluss der Industrie. Bis vor Kurzem noch war mir nicht klar, wie stark eine Handvoll Unternehmen mit unbegrenzten finanziellen Mitteln unser aller Leben bestimmt. Mit diesem Buch hoffe ich deshalb, mehr Menschen auf diese Situation aufmerksam zu machen. Natürlich muss man den Unternehmen zugutehalten, dass es ihnen gelingt, eine wachsende Bevölkerung zu ernähren und eine immer größere Bandbreite an preiswerten Lebensmitteln zu produzieren, die den Menschen schmecken und die lange haltbar sind. Inzwischen haben diese Firmen jedoch viel zu viel Macht. Konzerne wie Nestlé, Coca-Cola, PepsiCo, Kraft, Mars und Unilever erzielen mittlerweile Umsätze, die das Bruttoinlandsprodukt der Hälfte aller Länder weltweit übersteigen. 80 Prozent der international in Geschäften verkauften Produkte werden von den zehn größten Lebensmittelkonzernen produziert. Jeder einzelne erzielte 20175 im Schnitt über 40 Milliarden Dollar Umsatz, und alle zusammen erwirtschafteten 2018 über 100 Milliarden Dollar Gewinn. Diese globalen Konzerne entstanden in den 1970er-Jahren. Supermärkte und lange haltbare Lebensmittel setzten sich durch, ebenso wie der geschickte Einsatz von Werbung – insbesondere im Fernsehen –, die den Menschen Marketingbotschaften ins Haus brachte. In den 1980er-Jahren begann man, verarbeitete Lebensmittel mit Vitaminen anzureichern. Produkte mit reduziertem Fett-, Zucker- oder Salzgehalt fanden reißenden Absatz. Die Lebensmittelindustrie beeinflusste gezielt die Gremien der Ernährungsexperten, um danach deren Ratschlägen zu folgen und stark verarbeitete Billig-Lebensmittel auf den Markt zu bringen, mit niedrigem Fettgehalt, wenig Cholesterin, wenig Zucker, wenig Salz oder hohem Eiweißgehalt. Diese Nahrungsmittel waren kostengünstiger herzustellen als die entsprechenden natürlichen Produkte, hatten dadurch höhere Gewinnmargen, eine längere Haltbarkeit und konnten weltweit vertrieben werden.

Hinzu kam, dass nun so gut wie jede Art von Junkfood als nachweislich gesündere Alternative vermarktet werden konnte: mittels bunter Aufdrucke wie »fettreduziert« oder »mit Zusatz von Vitaminen«, begleitet von jeder Menge Gesundheitsversprechen. Man muss sich nur vor Augen führen, wie cleveres Marketing uns (bis heute) glauben lässt, mit künstlichen Farbstoffen versetzte Frühstücksflocken, die größtenteils aus Zucker bestehen oder Marshmallow- und Schokoladestückchen enthalten, stellten eine gesunde Mahlzeit für Kinder dar und seien etwas anderes als eine Süßigkeit. Joghurt ist eines der gesündesten Nahrungsmittel überhaupt und besitzt eine hohe Mikrobendichte. Dennoch ist es in den meisten Ländern schwierig, einen Joghurt zu finden, der nicht stark verarbeitet wurde. Meist sind es synthetische Alternativprodukte mit niedrigem Fettgehalt, dafür aber mit besonders viel Zucker, unechten Früchten oder künstlichen Aromastoffen. Immer stehen irgendwelche Gesundheitsversprechen auf der Verpackung. Zuckrige Müsliriegel werden als gesund bezeichnet, nur weil sie geringe Mengen Ballaststoffe, Eiweiße oder irgendein Vitamin enthalten, das niemand braucht. Fertigmahlzeiten für die Mikrowelle mit mehr als zwanzig Zutaten tragen irreführende Aufdrucke, sie seien kalorien- oder salzarm. Und Smoothies und Säfte, die Diabetes begünstigen, leisten angeblich einen Beitrag zur Einhaltung der »Fünf am Tag«-Regel.

Den führenden Unternehmen der Lebensmittelbranche geht es wirtschaftlich ausgezeichnet. Sie haben ein großes Interesse daran, den Status quo aufrechtzuerhalten, und sind auch bereit, Geld dafür auszugeben. Während Lebensmittel- und Getränkekonzerne miteinander verschmelzen und noch riesiger und mächtiger werden, kaufen inzwischen viele Menschen nicht mehr bei den großen Lebensmittelketten ein, sondern setzen ihr Vertrauen lieber in kleinere, regionale Firmen mit klar umrissenen ethischen Werten. Doch auch Unternehmen, die nach ökologischen oder ethischen Richtlinien produzieren, werden mittlerweile mit beängstigender Geschwindigkeit von multinationalen Konzernen aufgekauft (wie beispielsweise Whole Foods durch Amazon). Dadurch wird die Unterscheidung, wer eigentlich die Guten und wer die Schlechten sind und wem man noch trauen kann, immer schwieriger. Die gegenwärtigen allgemeingültigen Ernährungsrichtlinien kommen den Konzernen entgegen, weil sie ihnen große Flexibilität bieten und von der ständig wachsenden Flut stark verarbeiteter Lebensmittel ablenken. Hunderte Millionen Dollar steckt die Lebensmittel- und Getränkeindustrie in politische Lobbyarbeit, um ihre nationalen Märkte und Interessen zu schützen. 2009 gaben die größten Unternehmen an, allein in den USA mehr als 57 Millionen Dollar an Lobbyisten gezahlt zu haben.6 Mit diesem Geld werden Gesundheitsexperten beeinflusst, die häufig in den Ernährungsgremien sitzen und nicht selten auf Politiker einwirken, die dann der Öffentlichkeit nahebringen, was in diesen Gremien als Richtlinien formuliert wird. Die Beeinflussung findet auch noch auf andere, subtilere Weise statt; die meisten Wissenschaftler, die solche Richtlinien erarbeiten, werden heute über persönliche Beraterverträge bezahlt oder erhalten Forschungsgelder aus der Lebensmittelindustrie; das macht sie zwar nicht zwangsläufig voreingenommen, aber doch leichter manipulierbar.

Noch wichtiger: Die Lebensmittelkonzerne bestimmen, woran geforscht wird. In den USA stammen 70 Prozent der Forschungsgelder in der Ernährungswissenschaft aus der Lebensmittelindustrie, und in anderen Ländern sieht es ganz ähnlich aus. Firmen, die für Produkte mit niedrigem Zucker- oder Fettgehalt werben, fördern Akademiker mit großzügigen Beträgen, damit sie sich mit Bereichen beschäftigen, die den Interessen der Industrie entgegenkommen, wie etwa den Vorzügen kalorienreduzierter Lebensmittel, der schädlichen Wirkung gesättigter Fettsäuren oder der Frage, warum ein Mangel an Bewegung (und nicht etwa schlechte Ernährung) der Hauptgrund für die seuchenartige Verbreitung von Übergewicht ist. Diese clevere Strategie lenkte die Ernährungswissenschaft jahrzehntelang vom wahren Problem ab: stark verarbeitete Produkte voller Zusatzstoffe. Deshalb werden auch heute noch schädliche Lebensmittel von geringer Qualität, wie etwa verarbeitetes Fleisch, in viel zu großen Mengen konsumiert. Das ist ähnlich gelaufen wie in den 1960er- und 70er-Jahren, als es der Tabakindustrie gelang, von wissenschaftlichen Erkenntnissen abzulenken. Dank dieser erfolgreichen Taktik der Lebensmittelindustrie wurde die erste klinische Studie zu den Nachteilen von Junkfood gegenüber unverarbeiteten Lebensmitteln erst 2019 durchgeführt.7

Ein weiterer Trick, den sich die Lebensmittelindustrie von den Pharmafirmen abgeschaut hat, ist die Beeinflussung von Ernährungsexperten mithilfe von Geschenken, Konferenzen und gesteuerten Informationen sowie durch die Finanzierung ihrer berufsständischen Organisationen. Wie die großen Pharmakonzerne fördert auch die Lebensmittelindustrie Falschinformationen mit kleinen, nicht aussagekräftigen Studien zur Sicherheit von Produkten wie beispielsweise künstlichen Süßstoffen. Fachleute und Influencer werden dafür bezahlt, größere Studien mit klareren Ergebnissen, die den Konzernen nicht gefallen, in Zweifel zu ziehen. Firmenanwälte und das gewaltige Werbebudget der Konzerne kommen zum Einsatz, um gegen Kritiker vorzugehen. Als Ernährungsforscher, der teure klinische Studien durchführen will, kommt man zwangsläufig mit Leuten in Kontakt, die einem helfen oder einen beeinflussen wollen. Ich bin da kein Purist: Vor mehr als zehn Jahren habe ich Gelder von Pharmafirmen angenommen, um klinische Studien durchzuführen, und auch eine Förderung von Danone habe ich akzeptiert, um die Forschung zu den Auswirkungen von Joghurt auf die Darmflora vorantreiben zu können, weil diese anders nicht finanzierbar gewesen wäre. Mir ist klar, dass auch ich womöglich nicht ganz unvoreingenommen bin. Vielleicht war es Zufall, dass ich drei Wochen nach der Veröffentlichung eines kritischen Beitrags zum Thema gesundes Frühstück im BMJ8 eine unverbindliche Anfrage von Kellogg’s erhielt, ob ich als Berater für ihr Forschungsprogramm zur Darmgesundheit tätig werden möchte (ich lehnte ab). Wissenschaftler wie ich kommen sich manchmal wie David im Kampf gegen Goliath vor, wenn sie sich gegen die Riesen der Lebensmittelindustrie und ihre Milliarden Dollar an Forschungsgeldern stemmen müssen.

Anfang 2000 wurde die bis dahin geltende Überzeugung, gesättigte Fettsäuren seien das Hauptproblem in unserer Ernährung, zum ersten Mal infrage gestellt. Damals stempelte man die Kritiker noch als Fanatiker ab, die bloß ihre Diätpläne, Artikel oder Bücher verkaufen wollten (was in manchen Fällen auch stimmte). In anderen Bereichen sind Forscher und Regierungsvertreter durchaus bereit, Fehler einzugestehen. Beispielsweise hieß es Anfang 2000, Daten hätten gezeigt, dass dieselbetriebene Fahrzeuge besser für die Umwelt seien. 2018 änderten die Regierungen ihren Standpunkt und verkündeten, wir sollten auf Benziner oder Elektroautos umsteigen. Man gab offen zu, sich geirrt zu haben, und siehe da – ein Großteil der Falschinformationen stammte von der deutschen Automobilindustrie und ihren Lobbyisten. Im Bereich der Ernährung sieht es anders aus. Weder wollten die Verantwortlichen eingestehen, dass Fehler gemacht wurden, noch, dass Änderungen nötig seien. Darüber hinaus hielt man es für völlig selbstverständlich, die Lebensmittelindustrie und andere betroffene Parteien bei der Erörterung wissenschaftlicher Erkenntnisse und bei deren Umsetzung in deutliche Botschaften für die Öffentlichkeit mit einzubeziehen. Dieser Prozess zog sich über Jahre hin. Und je länger er dauerte, desto größer wurde die Verwirrung: Studienergebnisse wurden in Zweifel gezogen, und immer häufiger wurden einzelne Nahrungsmittel als potenziell schädlich dargestellt. Stark verarbeitete Lebensmittel dagegen kamen nur selten in die Kritik – genau, was die Industrie erreichen wollte.

Langsam deutet sich jedoch eine Veränderung an. Viele der hier vorgestellten Ernährungsmythen sind zwar tief verwurzelt und gefährlich, dennoch besteht Grund zur Hoffnung. Während einer Ernährungskonferenz im Juni 2018 in Zürich wurde ich Zeuge eines Wendepunkts. Das Symposium, das vom British Medical Journal organisiert und von einer multinationalen Lebensversicherungsgesellschaft gesponsert wurde, brachte Ernährungsexperten aus aller Welt zusammen, und im Laufe des Tages konnte ich feststellen, dass in vielen Bereichen des Gesundheitswesens geltende Dogmen inzwischen offen infrage gestellt wurden. Allgemeinmediziner berichteten von Patienten mit Typ-2-Diabetes, die ihre Erkrankung ohne Medikamente in den Griff bekamen, indem sie auf eine Ernährung mit niedrigem Kohlenhydrat-, aber hohem Fettanteil umstiegen, bei anfänglicher Kalorienreduktion. Dies wurde durch randomisierte Studien bestätigt und stand in direktem Widerspruch zur offiziellen Maßgabe, zuerst Medikamente zu geben, sowie zu den Ernährungsrichtlinien, die Diabetes-Patienten empfehlen, vor allem auf Fett zu verzichten. Bei Ärzten setzt sich zunehmend die Erkenntnis durch, dass manche Grundpfeiler unserer Ernährungsphilosophie auf jahrzehntealten, fehlerhaften Studien beruhen. Neuere Untersuchungen zeigen beispielsweise, dass »altbewährte« Behandlungsmethoden wie die Salz-Reduktion bei Diabetes-Patienten in Wahrheit das Sterberisiko erhöhen. Anerkannte Epidemiologen stellten große Beobachtungsstudien aus Entwicklungsländern vor, die zu dem Ergebnis kamen, dass ein starker Konsum von gesättigten Fettsäuren die Menschen vor Herzerkrankungen und Diabetes schützt und nicht umgekehrt. Immer mehr groß angelegte Langzeitstudien beweisen, dass eine fettreduzierte Ernährung ungünstiger ist als eine mit höherem Fettanteil, wie sie etwa in den Mittelmeerländern verbreitet ist. Wie viel Fett man verzehrt, spielt offenbar weniger eine Rolle als das, was sonst noch auf dem Teller liegt.

Bei der Konferenz in Zürich präsentierte ich einige frühe Daten zu den enormen individuellen Unterschieden bei der Reaktion des menschlichen Körpers auf Lebensmittel. Ernährungsrichtlinien, die für alle Menschen gleichermaßen gelten, erscheinen vor diesem Hintergrund unlogisch und falsch. Ernährungsexperten von international führenden Instituten wie Harvard und Tufts in den USA, die an den ursprünglichen Richtlinien mitgewirkt hatten, räumten inzwischen ein, dass Veränderungen nötig seien. In anderen Ländern, wie etwa Großbritannien, sträuben sich die Institutionen noch dagegen. Doch auch der Widerstand von Gesundheitsämtern, Komitees und den Lobbyisten der Lebensmittelindustrie wird die Trendwende nicht aufhalten können. Immer mehr angesehene Forscher fordern ein Umdenken.9 Zum ersten Mal können Wissenschaftler wie ich jahrzehntelang propagierte Ernährungsmythen offen infrage stellen, ohne verspottet, verunglimpft oder ignoriert zu werden. Die Debatte darüber, ob einzelne Einschätzungen zu Makronährstoffen oder bestimmten Lebensmitteln der Wahrheit entsprechen, hat uns viel zu lange abgelenkt. Wenn wir wollen, können wir jetzt die Augen öffnen und die größeren Zusammenhänge erkennen.

Ich bin Wissenschaftler und Arzt. Was ich in den letzten zehn Jahren entdeckt habe und immer noch entdecke, hat mich schockiert. Inzwischen habe ich meine auf konventionelle Weise erworbenen Ansichten zu Ernährung und Gesundheit fast vollständig revidiert. Mein letztes Buch Wenn Diäten dick machen befasst sich mit verschiedenen Diäten und den Mythen, die sie umgeben, und führt in das Thema Darmflora ein. Im Zuge meiner Forschungen sah ich mich gezwungen, noch tiefer und umfassender in das Thema Lebensmittel einzusteigen. Das vorliegende Buch ist aus der dringenden Notwendigkeit erwachsen, unsere Ernährungsweise zu überdenken, gezieltere Fragen zu stellen und an Wissenschaft und Berichterstattung höhere Standards anzulegen. Wie wir sehen werden, ist die Ernährungswissenschaft heutzutage eine Disziplin, die sich rasant fortentwickelt, und dieses Buch beruht auf den allerneusten Erkenntnissen, unter anderem auf der Pionierarbeit meines fantastischen Teams am King’s College London und von Mitwirkenden in aller Welt. Da unsere Ernährungsweise auch unbestreitbar Auswirkungen auf unsere Umwelt hat, geht es nicht mehr nur um uns selbst, sondern auch um unseren Planeten und zukünftige Generationen. Zwar hinkt die Ernährungswissenschaft noch immer hinter anderen Disziplinen hinterher, an diesem entscheidenden Punkt in der Geschichte könnte sie jedoch wegweisend sein. Im Laufe der letzten zehn Jahre hat sich zu vielen der Themen in diesem Buch meine Meinung geändert, unter anderem zu Diät-Getränken, Veganismus, Fischverzehr, Koffein, Nahrungsergänzungsmitteln, Schwangerschaftsernährung, Bio-Lebensmitteln und den Auswirkungen unserer Ernährung auf die Umwelt, und vielleicht wird es Ihnen genauso gehen. Wir alle sehen uns bei unserer Ernährung jeden Tag mit komplexen Wahlmöglichkeiten konfrontiert und blicken einer Zukunft auf einem übervölkerten, überhitzten Planeten entgegen, auf dem die Hälfte der Bevölkerung übergewichtig ist. Einfache Schwarz-Weiß-Antworten gibt es nicht. Zu erkennen, an welcher Stelle und wie wir in die Irre geführt wurden, kann aber dazu beitragen, uns wieder auf den richtigen Weg zu bringen. Deswegen ist es dringend nötig, uns mit den Lebensmitteln, die wir täglich verzehren, und den wissenschaftlichen Erkenntnissen dazu,10 genauer zu befassen, damit wir Täuschungsmanöver erkennen und fundiertere Entscheidungen treffen können.

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Jetzt wird’s persönlich

Mythos:

Für alle Menschen gelten dieselben Ernährungsrichtlinien und Diätpläne

Wir Menschen sind komplexe Wesen, und auch unsere Gesundheit hängt von vielen verschiedenen Faktoren ab. Manches, wie Alter und Gene, können wir nicht beeinflussen, anderes dagegen schon, wie das, was wir essen oder trinken. Zudem sind die Billionen von Bakterien, die unseren Darm besiedeln – in ihrer Gesamtheit als Darmmikrobiom oder auch Darmflora bekannt –, entscheidend für die Verdauung und damit für unsere Gesundheit. Unser Essen setzt sich aus vielen verschiedenen Nährstoffen zusammen, die sich ganz unterschiedlich auf unseren Körper und die Darmflora auswirken. Daher ist es alles andere als einfach, die Beziehung zwischen Ernährung, Stoffwechsel und Gesundheit in verständliche Worte zu fassen.

Wir sind es gewohnt, amtliche Empfehlungen und Richtlinien hinsichtlich Ernährung, Gesundheit und körperlichem Wohlbefinden zu befolgen. Diese sind nicht nur prägend für das Verhalten der Bevölkerung, sondern auch für die Behandlung durch Ärzte und andere Gesundheitsexperten. Ist es jedoch wirklich sinnvoll, Millionen von Menschen mit ganz verschiedenen Lebensstilen und gesundheitlichen Voraussetzungen dieselben Empfehlungen zu geben? Stellt dieser Ansatz, alle über einen Kamm zu scheren, eine adäquate Grundlage für staatliche Gesundheitspolitik dar? Im Laufe der Evolution haben wir Menschen uns zu Allesfressern entwickelt, und rund um den Globus dienen uns die unterschiedlichsten Nahrungsmittel als Grundlage für eine gesunde Ernährung – man denke nur an die Inuit, die afrikanischen Jäger und Sammler oder die gut eine Milliarde asiatischer Vegetarier. Kann angesichts der zunehmenden kulturellen und ethnischen Vielfalt unserer Welt überhaupt behauptet werden, eine bestimmte Ernährungsweise sei für alle Menschen geeignet?

In den Richtlinien des USDA (United States Department of Agriculture) für 2015–2020, die auch vielen anderen Ländern als Grundlage für ihre Empfehlungen dienen, soll mit der Grafik eines Tellers die ideale Zusammensetzung einer gesunden Ernährungsweise veranschaulicht werden: 39 Prozent Obst und Gemüse, 37 Prozent Getreide (Brot, Reis, Teigwaren, Kartoffeln etc.), 12 Prozent Eiweiß aus Bohnen, Hülsenfrüchten, Eiern, Fleisch und Fisch, 8 Prozent Milchprodukte und 4 Prozent zucker- und fetthaltige Nahrungsmittel. Zudem rät man uns, täglich fünf Portionen Obst und Gemüse, darunter ein Glas Fruchtsaft oder Smoothie, zu uns zu nehmen, zweimal in der Woche Fisch zu essen und uns auf 2000 Kalorien (Frauen) und 2500 Kalorien (Männer) zu beschränken.1 In Großbritannien gelten ähnliche Richtlinien, wobei darüber hinaus empfohlen wird, keinesfalls auf das Frühstück zu verzichten und täglich acht Gläser Wasser oder andere Flüssigkeiten zu trinken,2 mehrere kleine Mahlzeiten zu sich zu nehmen und am Abend nur maßvoll zu essen. In den USA gibt es vergleichsweise strenge Richtlinien bezüglich der Tagesaufnahme an gesättigten Fettsäuren (10 Prozent) und Salz (2,3 Gramm, was etwa einem Teelöffel entspricht). Diejenigen von uns, die alternativ auf die Tipps von Ernährungs- und Wellnessgurus vertrauen und es wahlweise mit glutenfreier, ketogener, kohlenhydratarmer Ernährung, Paläodiät oder Intervallfasten versuchen, sehen sich mit denselben Problemen konfrontiert. Können diese Empfehlungen wirklich für alle Menschen gleichermaßen gelten?

Neue Studien verkomplizieren den Sachverhalt zusätzlich: Sie zeigen nämlich, dass Nahrungsmittel mit vergleichbaren Nährwertprofilen unterschiedliche Auswirkungen auf die Gesundheit und die Darmflora haben können. Kollegen in den USA baten vierunddreißig gesunde Freiwillige, siebzehn Tage lang ihre Nahrungsaufnahme im Detail festzuhalten; diese Informationen wurden täglich mit der Zusammensetzung der Mikroorganismen in ihrem Stuhl abgeglichen.3 Zwar gab es einige Nahrungsmittel, wie Kaffee, Cheddar-Käse, Hühnchen und Karotten, die fast alle Studienteilnehmer zu sich nahmen; größtenteils war die Essensauswahl jedoch individuell verschieden. Die jeweilige Ernährung hatte nachweislich Auswirkungen auf die Darmflora der Probanden – manche Lebensmittel förderten oder minderten die Häufigkeit bestimmter Bakterienstämme –, ließ aber keine Rückschlüsse auf andere Teilnehmer zu. So führte etwa der Verzehr von Bohnen bei einer Person zur Zunahme bestimmter Bakterien, bei einer anderen hingegen ließ sich das nicht nachweisen. Während eng verwandte Nahrungsmittel (wie Weißkohl und Grünkohl) nahezu denselben Effekt auf die Darmflora zeigten, wirkten sich Nahrungsmittel, die eine sehr ähnliche Nährstoffzusammensetzung aufwiesen, aber nicht miteinander verwandt waren, überraschend unterschiedlich aus. Daraus lässt sich schließen, dass die herkömmliche Nährwertkennzeichnung nicht als Gradmesser dafür dienen kann, wie »gesund« ein bestimmtes Nahrungsmittel ist. Die Darmflora ist derzeit wohl das meistdiskutierte Thema im Bereich der Ernährung und Gesundheit; viele Wissenschaftler arbeiten gerade daran, die »guten« Bakterien zu erfassen und Wege zu ihrer Beeinflussung zu finden. Aber das Thema ist noch viel größer.

Mein Team am King’s College London arbeitet mit Forschern des Massachusetts General Hospital, der kalifornischen Stanford University und des Ernährungsberatungsunternehmens ZOE4 zusammen. Wir führen derzeit die weltweit größte ernährungswissenschaftliche Studie durch – PREDICT (»Personalized Responses to Dietary Composition Trial«, etwa: Studie zu den individuellen Auswirkungen der Nahrungszusammensetzung), deren Ziel es ist, die komplexen, sich wechselseitig beeinflussenden Faktoren zu bestimmen, die hinter den individuellen Reaktionen auf Nahrungsmittel stecken. Insbesondere sollen Erklärungen gefunden werden für die regelmäßigen Anstiege des Zucker-, Insulin- und Fettspiegels im Blut, die metabolischen Stress verursachen, langfristig für Gewichtszunahme und verschiedene Erkrankungen verantwortlich sind und sich zudem auf den Appetit auswirken. Zunächst untersuchten wir die individuellen Ernährungsreaktionen von 2000 Freiwilligen aus den USA und Großbritannien, darunter auch Hunderte Zwillingspaare. Dazu wurden zwei Wochen lang der Blutzucker- (Glukose-), Insulin- und Fettspiegel (Triglyceride) und andere Marker gemessen, die sich aus der Kombination von vorgegebenen und selbst gewählten Mahlzeiten ergaben. Zudem wurden Informationen zu weiteren Parametern erfasst, wie etwa körperliche Aktivität, Schlaf, Hungergefühl, Zeitpunkt und Häufigkeit der Mahlzeiten, Stimmung, Erbanlagen sowie die Darmflora (natürlich!). So konnten Millionen von Einzeldaten gesammelt werden, darunter über zwei Millionen Blutzuckermessungen mittels Sensoren (als Teil eines CGM-Systems, wie es auch Diabetiker häufig verwenden) nach dem Verzehr von 130.000 Mahlzeiten sowie von 32.000 speziell zubereiteten Muffins. Die im Journal Nature Medicine publizierten Ergebnisse sorgten für Aufsehen.5

Wir fanden heraus, dass Menschen reproduzierbare, vorhersagbare Reaktionen auf bestimmte Nahrungsmittel zeigen, abhängig von deren Eiweiß-, Fett- und Kohlenhydratgehalt. Viel entscheidender ist jedoch die Erkenntnis, dass es zwischen einzelnen Individuen enorme Schwankungen gibt (bis zum Zehnfachen) – was die Aussagekraft sogenannter Durchschnittswerte ad absurdum führt. Diese Unterschiede traten sogar bei eineiigen Zwillingen auf, die als natürliche Klone dieselben Gene und ein ähnliches Umfeld haben. Weniger als 30 Prozent der Abweichungen bei den Blutzuckerreaktionen sind auf das individuelle Erbgut zurückzuführen; bei den Reaktionen auf den Fettkonsum sind es weniger als 5 Prozent. Entgegen den Erwartungen gab es nur einen schwachen Zusammenhang zwischen den beiden Faktoren: Eine negative Reaktion auf den Fettkonsum ließ keine Rückschlüsse darauf zu, wie die Reaktion auf Zucker ausfallen würde. Von den Tausenden bisherigen Probanden, die identische Mahlzeiten zu sich nahmen, lagen die Reaktionen eines gewissen Teils nah am Durchschnittswert, doch weniger als ein Prozent der Teilnehmer entsprach bei allen drei Werten, also Zucker, Insulin und Fett, genau dem Durchschnitt. Demnach können 99 Prozent aller Menschen keinem Durchschnittswert zugeordnet werden. Zudem fanden wir heraus, dass bei eineiigen Zwillingen nur 37 Prozent der Arten von Mikroorganismen im Darm übereinstimmen. Dieser Prozentsatz ist nur geringfügig höher als bei zwei nicht verwandten Personen, was den geringen Einfluss der Gene unterstreicht. Die ungefähre Zusammensetzung von Lebensmitteln, wie sie auf Verpackungen zu finden ist, kann nur etwa ein Viertel der Stoffwechselreaktionen erklären. Die meisten Unterschiede waren auf individuelle Faktoren wie Darmflora und Gene zurückzuführen, aber auch auf Abweichungen beim circadianen Rhythmus (Schlaf-Wach-Rhythmus, auch »innere Uhr« genannt), Bewegung, Schlaf und andere bisher noch unbekannte Größen.

Die im Rahmen von PREDICT gewonnene Datenfülle wird derzeit von einem großen internationalen Team von Wissenschaftlern ausgewertet. Das Ernährungsprogramm ZOE, mit dem ich eng zusammenarbeite, hat eine Smartphone-App entwickelt, um auf Basis von selbstlernenden Algorithmen und individuellen Angaben die Reaktion eines Menschen auf bestimmte Nahrungsmittel vorherzusagen. Dies soll den Nutzern helfen, sich möglichst gesund zu ernähren. Für erweiterte Studien in häuslicher Umgebung werden derzeit in den USA und Großbritannien Tausende von Probanden gesucht. Je mehr Freiwillige teilnehmen, desto mehr Daten können gesammelt werden, wodurch sich die Vorhersagequalität ständig verbessert. Bereits in diesem frühen Stadium sind 75 Prozent der Prognosen zutreffend, eine deutlich höhere Zahl als bei klinischen Standardtests.

Wie viele Ärzte meiner Generation beherzigte ich die offiziellen Empfehlungen für einen gesunden Lebensstil im mittleren Alter: Ich rauchte nicht, achtete auf regelmäßige Bewegung und eine fettreduzierte Ernährung. Zum Frühstück nahm ich eine fettarme, kohlenhydratreiche Kost zu mir, bestehend aus Müsli, Halbfettmilch, Vollkorntoast sowie einem Glas Orangensaft und einer Tasse Tee oder Kaffee. Kürzlich testete ich im Rahmen der PREDICT-Studie mithilfe der neuen Blutzuckersensoren, wie mein Körper auf dieses gewohnte »gesunde« Frühstück reagierte. So zeigte sich, dass mein Blutzuckerspiegel (Glukosewert) extrem anstieg – von einem Nüchternwert von 5,5 mmol auf 9,1 mmol; eine Stunde später lag er dank der Insulinausschüttung wieder im Normalbereich. Ich bat meine Frau, sich als Versuchskaninchen zur Verfügung zu stellen und genau dasselbe Frühstück zu sich zu nehmen. Ihr Ausgangswert lag bei nur 4 mmol und stieg nicht höher als etwa 5,7.

Unser Körper ist darauf programmiert, die Glukose aus den Kohlenhydraten der Nahrung in nutzbare Energie zu verwandeln und diese entweder sofort zu verbrauchen oder zur späteren Verwendung in der Muskulatur oder dem Fettgewebe einzulagern. Ein hoher Blutzuckerspiegel, der länger als nur ein paar Minuten andauert, ist für den Körper schädlich. Daher versucht er ihn – vor allem durch Ausschüttung des Hormons Insulin – zu senken. Ein regelmäßiger Anstieg von Blutzucker, Insulin oder Triglyceriden (Blutfetten) belastet auf lange Sicht den Organismus und führt zu einer vermehrten Energiespeicherung im Fettgewebe.6 Mein Körper musste sich eindeutig anstrengen, um das für die Senkung des Blutzuckerspiegels nötige Insulin zu produzieren. Als Nächstes testete ich (mehrfach) meine Reaktion auf das Mittagessen, das ich seit zehn Jahren tagtäglich im Krankenhaus zu mir nahm: ein vermeintlich gesundes Vollkornsandwich mit Thunfisch und Mais. Die Testergebnisse übertrafen meine schlimmsten Befürchtungen: Mein Blutzuckerspiegel stieg auf bis zu 10–11 mmol; auch diesmal hatten meine Frau und andere Vergleichspersonen weitaus geringere Anstiege zu verzeichnen. Bei Nudeln und Basmatireis hingegen schnitt ich besser ab als meine Frau, was den Schluss nahelegt, dass ich nicht zehn Kilo zugelegt hätte, wenn ich statt des Sandwichs mittags italienisch oder indisch gegessen hätte. Auch musste ich feststellen, dass mein Blutzuckerspiegel (im Gegensatz zu dem von Vergleichspersonen) nach dem Verzehr von Trauben stark anstieg. Erdbeeren, Himbeeren oder Heidelbeeren hingegen wirkten sich kaum aus. Auch Äpfel und Birnen sorgten nur für einen minimalen Anstieg, ganz im Gegensatz zu Bananen. Der Genuss von Wein oder Bier beeinflusste meine Glukosewerte kaum, während Orangensaft für einen massiven Anstieg sorgte, sogar noch mehr als Coca-Cola.

Vermutlich würden Ihre Werte ganz anders ausfallen und sich durch den glykämischen Index der jeweiligen Lebensmittel (ein Maß, das angibt, wie stark diese den Blutzuckerspiegel ansteigen lassen) nicht vorhersagen lassen, weil dieser schlicht und einfach auf den Durchschnittswerten einer Gruppe von Menschen basiert. So wie die Schuhgröße 40 nicht jedem passt oder ein bestimmter Autositz nicht für jeden bequem ist, entspricht meine Reaktion auf bestimmte Nahrungsmittel (wie die der allermeisten von uns) auch nicht der eines Durchschnittsmenschen.

Weitere direkte Belege liefert die große DIETFITS-Studie, die mein Kollege und Mitarbeiter Christopher Gardner von der Stanford University 2018 veröffentlichte. Im Rahmen dieser Studie nahmen 609 übergewichtige oder adipöse Freiwillige ein Jahr lang entweder eine gesunde fettarme oder eine kohlenhydratreduzierte Diät zu sich.7 Oberflächlich betrachtet waren zwischen den Ergebnissen der beiden Gruppen keine Unterschiede festzustellen, weshalb die Schlagzeilen dazu auch lauteten: »Ergebnis: unentschieden!« Durch die Reduktion der Kohlenhydrat- bzw. Fettaufnahme um 30 bis 40 Prozent nahmen die Teilnehmer in beiden Gruppen etwa sechs Kilo ab. Eine genauere Analyse der Daten zeigte jedoch, dass in beiden Gruppen einige Probanden bedeutend besser oder schlechter abschnitten als andere: Während manche fast 27 kg an Gewicht verloren, nahmen andere sogar 9 kg zu. Bei manchen Teilnehmern führte eine nach dem Zufallsprinzip zugewiesene kohlenhydrat- oder fettreduzierte Ernährung selbst dann nicht zum Erfolg, wenn sie ausschließlich hochwertige, nicht verarbeitete Lebensmittel zu sich nahmen. Da die staatlichen Richtlinien allen Menschen unterschiedslos raten, sich an eine der üblichen Zauberformeln zu halten (wie beispielsweise, sich fettarm zu ernähren), ist davon auszugehen, dass dabei zahlreiche Menschen durchs Raster fallen.

Diese Untersuchungen machen deutlich, dass man, wenn man die für den eigenen Stoffwechsel günstigsten Nahrungsmittel finden will, seine persönliche Ernährungsreaktion kennen muss – wobei sich diese nicht auf Basis einfacher online durchgeführter Gentests vorhersagen lässt. Wir alle haben persönliche Vorlieben beim Essen, daher liegt der Schluss nahe, dass auch unser Stoffwechsel auf unterschiedliche Nahrungsmittel ganz individuell reagiert. Doch erst jetzt folgt die Forschung unserem Bauchgefühl, indem sie nachweist, dass es keine für alle Menschen gleichermaßen geeignete Ernährung gibt.

Natürlich gibt es Ratschläge, die wir alle beherzigen sollten, wie zum Beispiel, mehr Ballaststoffe und pflanzliche Nahrungsmittel zu uns zu nehmen oder auf Zucker und industriell verarbeitete Produkte möglichst zu verzichten. Doch die zentrale Botschaft lautet: Die perfekte Ernährungsweise für alle gibt es nicht – auch wenn trendige Instagram-Gurus und amtliche Empfehlungen Sie vom Gegenteil überzeugen wollen.

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Das morgendliche Fastenbrechen

Mythos:

Das Frühstück ist die wichtigste Mahlzeit des Tages

»Ein guter Tag beginnt mit einem Frühstück«, »Frühstücke wie ein Kaiser!« Die Vorstellung, das morgendliche Frühstück sorge den ganzen Tag über für mehr Energie, Konzentration und gute Laune, haben die meisten von uns seit frühester Kindheit verinnerlicht. In den letzten fünfzig Jahren wurden wir mit Botschaften überflutet, die den gesundheitlichen Nutzen verschiedenster verarbeiteter Cerealien, Müslis und Haferflocken anpriesen. Was genau versteht man aber unter einem Frühstück? Das üppige englische Frühstück mit Speck und Würstchen oder das italienische, das nur aus einem Cappuccino und einer Zigarette besteht? Immerhin sind in einem Cappuccino mit Milch und Zucker alle drei Makronährstoffe – Kohlenhydrate, Fett und Eiweiß – enthalten, und er hat damit beim »Fastenbrechen« dieselbe Wirkung auf unseren Stoffwechsel wie eine größere Mahlzeit. Und wie steht es mit einem Espresso oder Tee ohne Milch und Zucker, die den Körper zwar mit Ballaststoffen und Polyphenolen versorgen, jedoch kaum mit Energie? Viele Menschen, die angeben, grundsätzlich nicht zu frühstücken, trinken nach dem Aufstehen Tee oder Kaffee mit Milch – nehmen also doch etwas zu sich.

Das Fehlen einer schlüssigen Definition dessen, was eigentlich unter einem Frühstück zu verstehen ist, trägt dazu bei, dass die Forschungslage bis heute zu wünschen übrig lässt. In der angelsächsischen Kultur wird allgemein davon ausgegangen, dass das Frühstück schon immer zum Leben dazugehört hat. Viele derzeitige Ernährungstrends und modische Diäten, beispielsweise die Paläodiät, sind aus dem Wunsch heraus entstanden, dem natürlichen Vorbild unserer vor Jahrtausenden lebenden nomadischen Vorfahren zu folgen. Hinsichtlich des Frühstücks spielt diese Vorstellung jedoch kaum eine Rolle. Ich verbrachte eine Zeit bei den Hadza in Tansania, den letzten echten Jägern und Sammlern Ostafrikas. Obwohl sie einen regelmäßigen Schlafrhythmus haben, kennen sie kein Frühstück. In ihrer Sprache gibt es kein einzelnes Wort, das das Konzept »Frühstück« beschreibt. Nach dem Aufstehen brechen die Männer normalerweise zur Jagd auf, ohne vorher etwas zu essen; unterwegs nehmen sie manchmal ein paar Beeren zu sich. Die Frauen bleiben in der Nähe des Lagers und bereiten manchmal einfache Mahlzeiten zu, wie etwa Brei aus Baobab-Früchten, oder sie essen Honig – jedoch für gewöhnlich nicht vor zehn Uhr morgens. Das heißt, dass sie das Fasten erst nach vierzehn bis fünfzehn Stunden brechen, die Zeit des Nachtschlafs mit eingerechnet. Im Westen ist diese nächtliche Fastenzeit nur etwa acht bis zehn Stunden lang.

Auch wenn Ernährungshistoriker anderer Meinung sind, ist es wohl in Großbritannien erst seit dem viktorianischen Zeitalter allgemein üblich zu frühstücken – in den Jahrhunderten davor aß man morgens einfach die Reste vom Vorabend. Das Frühstück ist überdies die einzige Mahlzeit, zu der Menschen auf der ganzen Welt jahrein, jahraus Tag für Tag dasselbe essen, ohne dass es ihnen langweilig wird. Tatsächlich kommen viele Menschen schlecht in den Tag, wenn sie auf ihr gewohntes Frühstück verzichten müssen – ob dieses nun aus zwei Scheiben Toast, einem gekochten Ei, Haferbrei oder, in ferneren Ländern, aus Dim Sum, Roti oder Alu Saag besteht. Als Medizinstudent arbeitete ich in einem asiatischen Krankenhaus in Nairobi, und ich erinnere mich noch gut, dass es eine ganze Weile dauerte, bis ich mich an das morgendliche Gemüsecurry gewöhnt hatte. Japanische und koreanische Frühstücksmahlzeiten – zu denen normalerweise Reis, Gemüse, Miso-Suppe, Eingelegtes oder scharfes Kimchi oder fermentierte Sojabohnen gehören – unterscheiden sich noch stärker von westlichen Gepflogenheiten.