Die Wahrheit übers Kinderkriegen - Livia Clauss-Görner - E-Book

Die Wahrheit übers Kinderkriegen E-Book

Livia Clauss-Görner

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Beschreibung

Dieses Buch macht werdende Eltern immun gegen Sorgen und Unsicherheit.

„Noch gibt es sie, die letzten klassischen Hebammen. Sie geben alles, damit Mutter und Kind gesund und glücklich nach Hause kommen. Ich bin eine von ihnen.“ 4000 Geburten in 30 Jahren und ihr pragmatischer und medizinisch fundierter Ansatz machen Livia Görner zu einer gefragten Persönlichkeit in der Geburtshilfe. Für dieses Buch hat sie ihre gesammelte Erfahrung aufgeschrieben. Sie gibt praxisnahe Empfehlungen rund um Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett und bezieht klar Stellung, wo eine blühende „Babyindustrie“ die Unsicherheit der Frauen nur ausnützt.

Es ist ein seltsamer Widerspruch: Kinder zu bekommen war - medizinisch gesehen - noch nie so sicher wie heute. Zugleich hat es die Frauen nie stärker verunsichert. Kaiserschnitt oder natürliche Geburt? Brust oder Flasche? Muss der Vater wirklich mit in den Kreißsaal? Was braucht das Baby in den ersten Monaten? Dieses Buch klärt auf und hilft Eltern, vor lauter Sorge und Stress das Wunder ihres Kindes nicht zu verpassen.

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Seitenzahl: 348

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Livia Görner

Die Wahrheit übers Kinderkriegen

Eine Hebamme klärt auf

Knaus

Hinweis

Die in diesem Buch erwähnten Fallbeispiele aus meiner Berufspraxis haben sich zwar so oder sehr ähnlich abgespielt wie beschrieben, die darin vorkommenden Namen, Personen und Umstände (Ort, Zeit) wurden jedoch von mir so verändert, dass sie niemand wiedererkennen kann, nicht einmal die Beteiligten selbst. Alle von mir betreuten Frauen und Familien– ob prominent oder nicht– konnten und können auf meine Schweigepflicht als Hebamme vertrauen. Doch auf mein Gedächtnis ist ebenfalls Verlass. Sonst wären die folgenden Seiten weiß geblieben. L.G.

1. Auflage

Copyright © der Originalausgabe 2014

beim Albrecht Knaus Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Redaktion: Margret Trebbe-Plath

Gesetzt aus der Aldus von

Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-12396-3

www.knaus-verlag.de

Für meine Töchter Wiebke und Luise und ihre Kinder Clara und Tobias

Inhalt

Familienbesuch

Ein Traumberuf? • Wie alles begann •Das Buch

KAPITEL 1 – Hebamme gestern und heute

Kinderkriegen in Deutschland • Hexe, Heilige und Vertrauensperson • Im Licht der Öffentlichkeit •Ein aussterbender Beruf

KAPITEL 2 – Wir erwarten ein Kind – Das erste Gespräch

Bedürfnisse der Schwangeren •Hartnäckige Aufklärungsarbeit

KAPITEL 3 – Schwangerschaft ist keine Krankheit

Wie babyfreundlich ist mein Chef? •Sport in der Schwangerschaft • Essen für zwei? •Kein Tropfen Alkohol!

KAPITEL 4 – Geschäfte mit der Unwissenheit

Nutzen und Missbrauch des Ultraschalls •Fehler und ihre Folgen • Geburtsvorbereiterinnen und andere »Helfer«• Total entspannt in die Geburt? • Das Für und Wider von Kursen •Auf die Praxis kommt es an

KAPITEL 5 – Der Mythos der natürlichen Geburt

Evas Sünde und die Väter des Mythos •»Mein Bauch gehört mir!«• Was Krankenhäuser leisten können • Nutzen und Grenzen der alternativen Geburtshilfe • Echte und eingebildete Geburtstraumata

KAPITEL 6 – Es geht los!

Wir sind hier nicht in Hollywood • Mal geht es langsam, mal geht es schnell •Warten braucht etwas Geduld • Geburtsschmerzen verringern • Spannung und Entspannung •Unter Wasser entbinden • Das Baby ist da! •Konflikte im Krankenhaus

KAPITEL 7 – Väter im Kreißsaal

Härtetest und Reifeprüfung • Müssen Männer unbedingt mit? • Stress minimieren

KAPITEL 8 – Ein Kaiserschnitt ist nicht die erste Wahl

Warum die Rate steigt • Medizinische Gründe für den Eingriff • Kaiserschnitt auf Wunsch •Risiken für das Kind • Klagen statt vertrauen? •Im konkreten Fall entscheiden

KAPITEL 9 – Der schönste Vorname von allen

Die Bedeutung von Namen • Kevin allein zu Haus?

KAPITEL 10 – Aberglaube und Rituale

Spitzer Bauch, runder Bauch •Walgesänge und die Magie von Zahlen •Kulturelle Unterschiede

KAPITEL 11 – Lob des Wochenbetts

Im Krankenhaus oder zu Hause? •Unterstützung durch den Partner • Sich Zeit nehmen

KAPITEL 12 – Brust oder Flasche? Stillen aus Sicht einer Hebamme

Der Saugreflex ist angeboren •Frauen, die nicht stillen können oder wollen •Stillen als Dogma

KAPITEL 13 – Neue Väter, alte Väter

Familienvater will gelernt sein • Was Frauen erwarten– und Männer leisten können • Elterngeld, Elternzeit, Partnermonate • Von Mustervater bis Egoist

KAPITEL 15 – Warum Babys schreien

Sinn und Risiko von Pränataluntersuchungen •Schwangerschaft auf Probe •Die Illusion vom perfekten Leben

KAPITEL 15 – Warum Babys schreien

Kein Geschrei ohne Grund • An die frische Luft! •Einschlafen kann jedes Kind lernen •Im Bett der Eltern? • Was ist überhaupt ein Schreikind? • Bleiben Sie gelassen!

KAPITEL 16 – Das grelle Licht der Welt

Das Geschäft mit den Ultraschallbildern •Und wer schützt das Kind?

KAPITEL 17 – Babykult oder Babyglück?

Falsche Vorbilder und viel Konsum •Was braucht ein Baby wirklich? •Die Zeit der Wunder nicht verpassen

Familie geht alle an!

Wahlfreiheit– was nun? • Kind oder Karriere?

Dank

Literatur

Register

Familienbesuch

Kein Beruf erlaubt einen tieferen Einblick ins deutsche Familienleben als meiner. Ich bin Hebamme und arbeite selbständig. Seit 25Jahren leite ich nicht nur Geburten im Kreißsaal, sondern betreue alle mir anvertrauten Frauen oft schon Monate vorher und lange Zeit danach bei ihnen zu Hause. Ich sitze mit der Schwangeren am Küchentisch und später bei der Wöchnerin am Bettrand, und wir besprechen ausführlich alle Fragen zu Schwangerschaft, Geburt und Familie.

Zu mir kommen Frauen aus allen Schichten, von »bildungsfern« bis großbürgerlich; ich habe Müttern aus mehr als 30Ländern bei ihren Geburten beigestanden, auch vielen Einwanderern der zweiten und dritten Generation. Ich treffe Frauen in glücklichen Ehen und unglücklichen Beziehungen, solche, die in traditionellen Rollen leben, und andere, die feministisch geprägt sind, beruflich sehr erfolgreiche Frauen wie auch solche, die mit Hartz IV überleben sollen.

Alles, was werdende Mütter und Väter bewegt– mir vertrauen sie es an: geheime Ängste, intime Nöte, Träume vom Glück. Sie erzählen spontan und ehrlich, wie gut oder schlecht es ihnen geht. So bekomme ich Monat für Monat einen regelrechten Querschnitt unserer Gesellschaft zu sehen– in Echtzeit, mit O-Ton und ungeschminkt. Ich höre den Eltern immer aufmerksam zu, bevor ich ihnen meine Ratschläge gebe.

Schon beim ersten Treffen dreht sich das Gespräch nie allein um Fragen der Schwangerschaft und den medizinischen Status von Mutter und Kind. Es geht regelmäßig auch um die Lebenssituation von Familien im heutigen Deutschland. Die Frauen erzählen mir von ihren Wünschen und den Erwartungen, die sie von ihrem Leben mit Kind haben, von ihrer Partnerschaft und ihrer Zukunft. Sie haben viele Fragen, manche Sorgen. Ich bin ihre Vertraute und ihre Verbündete, doch weder ihre zweite Mutter noch ihre Zauberfee.

Bei meinen Hausbesuchen und in meiner Sprechstunde wird gern viel gelacht– aber auch nicht selten geweint. Denn intensiver als vor, während und nach einer Geburt können Paare kaum fühlen. Schließlich ändert sich ihr Leben gerade total. Hoffnungen und Bedenken stürmen auf sie ein. Ein Kind zu bekommen, ist für eine Frau und ihren Partner nicht nur ein unvergessliches Erlebnis, es kann für manche Paare zur herausfordernden Krise werden, die es zu meistern gilt. Genau dafür bin ich da, Tag und Nacht erreichbar für sie und ihr Kind. Nur noch rund 2000Hebammen arbeiten hierzulande so wie ich.

Ein Traumberuf?

»Hebamme? Ist das nicht der schönste Beruf der Welt?« Diese Frage wird mir immer wieder gestellt, wenn ich sage, womit ich meine Brötchen verdiene. Und dann muss ich doch jedes Mal kurz überlegen, bevor ich lächelnd zustimme. Natürlich erlebe ich im Kreißsaal jede Woche Momente des Glücks und teile die Freude der Eltern, dass bei der Geburt »alles gut gegangen« ist und »Mutter und Kind wohlauf« sind, wie es so schön heißt. Aber trotz aller großen Gefühle: Meine Arbeit war noch nie ein Spaziergang.

Hebamme, das ist nicht nur der älteste Frauenberuf von allen, sondern auch einer der härtesten. Trotz des großen medizinischen Fortschritts, der die Geburtsrisiken gegenüber früheren Zeiten stark verringert hat. Der Alltag einer modernen deutschen Hebamme lässt sich zwar nicht mehr vergleichen mit der oft heroischen Mühsal ihrer Vorgängerinnen, die vor 50 oder 100Jahren beschwerliche Wege zu den Gebärenden überwinden mussten– bei jedem Wetter, zu jeder Uhrzeit und oft genug zu Fuß. Die noch mit viel Aberglauben, mit Dorfpfaffen und allerlei verächtlichen Vorurteilen zu kämpfen hatten. Vieles hat sich seither geändert. Doch wer dieses alte Handwerk ausüben will, braucht heute wie damals: eine solide Ausbildung, viel Geduld und Ausdauer– und eine sehr belastbare Art von Menschenliebe.

Feste Arbeitszeiten kenne ich nicht. Die Biologie richtet sich auch im digitalen Zeitalter keineswegs nach unseren Freizeitwünschen: Schwangere entbinden eben nicht alle brav zwischen 8 und 17Uhr, der Kreißsaal macht auch an Heiligabend nicht zu. Kinder sind nämlich schon bei der Geburt unpünktlich: Tage vor oder nach dem berechneten »Termin« kommen sie zur Welt, um drei Uhr nachts oder erst nach stundenlangen Wehen. Es wurden an manchen Tagen auch schon mehrere »meiner« Kinder fast zur gleichen Zeit geboren. Als Beleghebamme bin ich eigentlich immer im Einsatz– oder in Bereitschaft.

Nur ganz selten entferne ich mich deshalb weiter als eine Autostunde von meiner Entbindungsstation in einem großen Hamburger Krankenhaus; ein freies Wochenende ist für mich purer Zufall. An Tagen zwischen den Geburten, die von zwei bis zu auch mal 20Stunden (in seltenen Ausnahmefällen) dauern können, bin ich in der halben Stadt unterwegs, besuche die Schwangeren zu Hause oder schaue nach den Müttern und ihren Neugeborenen, die bereits bei mir entbunden haben. Ich beklage mich nicht, ich habe das so gewollt.

Mein Terminkalender für das nächste Jahr füllt sich naturgemäß schon sechs Monate im Voraus mit vorgemerkten Daten für Gespräche und Geburten. Meine Aufgaben sind so vielfältig wie in kaum einem anderen Beruf: Ich werde gebraucht als Ernährungs- und Still-Beraterin, als Psychologin und Haushaltsmanagerin, als Krankenschwester und Kummerkasten. Manche Frauen erzählen mir ihre Eheprobleme. Anderen muss ich erst einmal zeigen, wie man einen Grießbrei und eine Hühnersuppe kocht. Ich bin praktisch veranlagt.

Dennoch hat mein Engagement auch Grenzen: Ich bin keine Psychotherapeutin– und auch kein Ersatz für die »beste Freundin«. Aber ich vermittle den Frauen Selbstbewusstsein und Kraft, so gut ich kann.

Viele glauben, ich müsste doch jeden Tag ganz große Glücksgefühle haben, weil ich so viele Kinder heil auf die Welt bringen konnte und weil die frisch gebackenen Eltern ihre intensiven Emotionen auch auf mich übertrügen. Für die Eltern ist das natürlich ein gewaltiges Ereignis, doch zum Genießen des schönen Augenblicks bleibt mir bei der Arbeit selten genug Zeit.

Wie alles begann

Zu meinem Traumberuf kam ich tatsächlich wie die sprichwörtliche »Jungfrau zum Kind«. Ich bin in der damaligen DDR aufgewachsen, als drittes von vier Kindern im tiefsten Mecklenburg. Meine Mutter stammt aus der Hansestadt Wismar, mein Vater war Italiener. Wir lebten in den späten sechziger Jahren noch in einer intakten dörflichen Gemeinschaft, wie man sie heute suchen muss. Wir besaßen einen kleinen Hof mit eigener Landwirtschaft, versorgten uns komplett selbst mit Obst und Gemüse. Es gab immer viele Kinder in unserem Dorf. Geburten waren etwas vollkommen Alltägliches und trotzdem ein Fest. Und die Türklingel am Haus der Dorfhebamme hing extra hoch– für Kinderstreiche unerreichbar.

Mein Leben als Mädchen folgte noch dem Rhythmus der Jahreszeiten: Im Frühling bestellten wir unseren Garten, im Sommer sprangen wir in den glasklaren Badesee, im Herbst halfen wir, die Kartoffeln zu ernten, im Winter liefen wir Schlittschuh und spielten Eishockey mit selbst geschnitzten Schlägern. Unsere Schulwege waren lang, ich war viel zu Fuß oder mit dem Rad unterwegs, auch bei Regen, Schnee und Gegenwind. Dieser Zeit verdanke ich wohl meine immer noch recht robuste Gesundheit.

Schon früh wurde ich in der Familie mit kleinen und größeren Pflichten betraut. Da mein geliebter Vater Ricardo starb, als ich erst 13Jahre alt war, musste ich meiner Mutter schon bald im Haushalt helfen, oft das Essen für meine drei Geschwister kochen und abends nicht selten noch in unserem großen Garten arbeiten. Ich habe also viel fürs Leben gelernt und früher als andere Jugendliche Verantwortung getragen. Arbeit ist für mich keine Last, sondern der einzige Weg, die eigene Lage zu verbessern; Erfolg gibt es nicht ohne Anstrengung.

Mit 15 ging ich nach Wismar aufs Gymnasium und blieb dort bis zum Abitur. Danach wollte ich erst einmal ein Praktikum im Krankenhaus machen, und so fuhr ich eines Tages nach Rostock, um mich dort in der Universitätsklinik zu bewerben. Aber der Zufall wollte es wohl, dass an jenem Tag Eleonore am Empfang saß, eine jener alten, resoluten Hebammen, eine Autorität von der Sorte, der man kaum zu widersprechen wagte. Sie verwickelte mich junges Ding sofort in ein langes, faszinierendes Gespräch.

Sie erzählte mir von früher, von den zwanziger Jahren, als die Hebammen die ersten Frauen waren, die sich motorisierten, weil sie keine Lust mehr hatten, mitten in der Nacht bei jedem Wetter mit dem Fahrrad zu den Geburten auf abgelegenen Bauernhöfen zu fahren. Sie erzählte mir viel von dieser aufregenden Tätigkeit für emanzipierte und entschlossene Frauen. Hebammen hätten schon immer eine verschworene Gemeinschaft gebildet. Zum Abschied gab sie mir den Rat: »Ach, Mädchen, wat willste denn Medizin studieren? Da trägste doch bloß dem Chefarzt bei der Visite die Akten hinterher. Ich sage dir: Du bist richtig, werd Hebamme, komm zu uns!«

Eleonores freundliche Einladung empfand ich als große Ehre. Sie gab mir nur drei Tage Zeit zum Überlegen– ich dachte nicht so lange nach. Sondern bewarb mich, hatte eine Woche später die Zulassung und fing ein paar Monate danach als Schülerin in der 120Jahre alten Hebammenschule der Universitätsfrauenklinik in Rostock an. Damals wie heute eine Institution! Ich erhielt dort eine sehr fundierte, medizinisch und praktisch ausgerichtete Ausbildung. Meine Lehrer waren durchweg Oberärzte und Professoren, was ja heute nicht mehr der Fall ist, jetzt übernehmen in aller Regel die so genannten Lehrhebammen die Ausbildung der Geburtshelferinnen.

In meiner ersten Vorlesung erklärte uns der Professor: »Ihr Handwerk, das werden wir Ihnen beibringen; aber Sie werden lernen müssen, Geduld zu haben.« Man muss diese Tugend immer wieder üben und dabei dennoch in der Lage sein, sehr schnell und beinahe schon instinktiv lebenswichtige Entscheidungen zu treffen, wenn die Geburt einen anderen Verlauf nimmt als erwartet. Auch dieses so überaus wichtige Krisenmanagement lässt sich mit der Zeit erlernen.

Ich war erst 18 und schon selbst junge Mutter, als ich in Rostock anfing. Und es wurde eine harte Schule. Häufig hatten wir Nachtschichten im Krankenhaus und mussten dennoch um acht Uhr früh in den Unterricht; Prüfungen dauerten oft sechs Stunden ohne Pause. Das musste man durchhalten. So durften wir erst nach eineinhalb Jahren in den Kreißsaal, mussten zunächst lernen, uns um die Schwangeren und die jungen Wöchnerinnen zu kümmern. Ich konnte aber ausnahmsweise schon nach einem Jahr bei den Geburten assistieren.

Nach 1986 arbeitete ich ein paar Jahre in einem kleinen Mecklenburger Stadtkrankenhaus, dessen Ausstattung längst nicht so modern und üppig war wie in Rostock. Da musste ich mich als Hebamme bald alleine durchbeißen, was aber auch keine schlechte Erfahrung war. Hausgeburten habe ich nicht gemacht, dafür weite Wege. 1987 bekam ich selbst mein zweites Kind. In den so genannten Wendejahren 1989/90 absolvierte ich inmitten zunehmender Turbulenzen und Auflösungserscheinungen in Rostock eine zweite Ausbildung zur OP-Schwester.

Seit 1992 arbeite ich im Raum Hamburg, erst als fest angestellte Hebamme in verschiedenen Krankenhäusern, schließlich als selbständige Beleghebamme. Ich wollte meine eigene Chefin sein, unabhängig von Schicht- und Urlaubsplänen. Ich habe seit Jahren einen Vertrag mit einer großen Hamburger Klinik, der mir erlaubt, jederzeit im Kreißsaal Betten für das Entbinden »meiner« Frauen zu belegen.

Das Buch

Ich habe bisher so viele unterschiedliche Frauen betreuen dürfen, dass ich täglich dankbar bin für diese außergewöhnliche Chance, meinen Horizont ständig zu erweitern. Und immer wieder haben mich »meine« Frauen gefragt, wann ich denn meine gesammelten Erfahrungen aufschreibe, wann sie das denn lesen können. Jetzt habe ich es endlich getan, in Etappen, wenn ich Zeit dazu hatte. Ich schreibe also sozusagen im Auftrag »meiner« Frauen. Unendlich viel habe ich von ihnen über das Leben gelernt. Sie haben mir in all den Jahren erst die Einblicke und Einsichten ermöglicht, von denen ich spreche.

Mich kann mittlerweile nicht mehr viel erschüttern: Ich habe so gut wie jede Situation erlebt, die man in meinem Beruf mitten im und am Beginn des neuen Lebens überhaupt nur erleben kann. Ich kann Frauen praxisnahe, realistische Antworten geben auf so gut wie alle Fragen, die sie mir stellen (nur wie sie ihre Kinder nennen wollen, das müssen sie selber klären). Je mehr sie Bescheid wissen, umso besser läuft es später bei der Geburt. Und ich erzähle ihnen keine Märchen, verheimliche keine Risiken. Ich kenne inzwischen sämtliche Aspekte der medizinischen Geburtshilfe und beschreibe dieses Metier in meinem Buch aus der Sicht einer erfahrenen, modern denkenden Hebamme– und Mutter zweier Töchter.

Ich berichte von meiner täglichen Arbeit als Hebamme in Deutschland. Meine Ansichten stützen sich also zum größten Teil auf eigene Berufserfahrungen– im Kreißsaal sowie bei meinen unzähligen Hausbesuchen. Das dokumentiere ich mit vielen Begegnungen, die ich tatsächlich hatte: komische, ernste, tragische und unvergessliche Erlebnisse. Ich wollte bewusst kein weiteres trockenes Nachschlagewerk oder gar eine sentimentale Bettlektüre für werdende Mütter und Väter verfassen. Vielmehr sollen meine kritischen Ansichten zu Theorie und Praxis der Geburtshilfe zum Nachdenken anregen und ein Anstoß zu konkreten Verbesserungen sein. Mein Buch klärt darüber auf, wie Geburten in Deutschland heute verlaufen, was im wirklichen Leben passiert, nicht in der Fantasie der Familienplaner. Mit ihm möchte ich meinen Beitrag zu den vielen Debatten rund um die Kinderfrage leisten.

Denn es bleibt ein seltsamer Widerspruch: Kinder zu bekommen war in Deutschland noch nie so sicher (medizinisch gesehen) wie heute und erscheint vielen gleichzeitig so unsicher (sozial betrachtet). Ich möchte den Frauen und Familien mit meinem Buch Mut machen und ihnen helfen, ihre Interessen zu erkennen und engagiert durchzusetzen. Mein Wunsch ist es, ihr nicht selten nur schwach entwickeltes Selbstvertrauen zu stärken– so, wie ich es tagtäglich in meinen Gesprächen versuche.

Noch gibt es sie, die letzten klassischen Hebammen. Sie geben alles, damit Mutter und Kind gesund und glücklich nach Hause kommen. Ich bin eine von ihnen.

KAPITEL 1 – Hebamme gestern und heute

Die Frau saß allein auf einer Bank in der Eingangshalle. Sie jammerte und schrie nicht– sie brachte nur noch einen Satz über die Lippen: »Jetzt kommt mein Kind!« Da sah ich schon, wie sich ihre Hose wölbte, ich musste das Beinkleid jetzt sofort mit der nächstbesten Schere aufschneiden. Die holte ich mir beim Pförtner und schrie ihn an, im Kreißsaal im dritten Stock Hilfe zu holen. Der schaute nur auf meinen weißen Kittel und dachte gar nicht dran: »Du bist doch Hebamme, du schaffst das schon!«, rief er aufmunternd. Männer! Inzwischen lag die Gebärende in ihren letzten Presswehen auf dem Boden. Fünf Minuten später hatte ich mein erstes Kind auf die Welt gebracht– allein, ohne Arzt und nicht einmal im Kreißsaal. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich bei meiner Feuerprobe Zuschauer gehabt hatte: Direkt vor der Klinik lag eine Straßenbahnhaltestelle– die Leute hatten die Geburt durch die Scheibe mitverfolgen können und drückten sich natürlich die Nasen platt.

Das geschah in Rostock im Mai 1984. Ich war damals 19Jahre und mächtig stolz darauf, dass im Geburtenbuch eingetragen wurde, die Hebammenschülerin Livia habe diese »Entbindung durchgeführt«. Der Mutter und ihrem Kind ging es von Anfang an wunderbar– ein schönes Erfolgserlebnis, das ich nie im Leben vergessen werde. Seitdem habe ich an die 4000Kinder ans Licht der Welt befördert. Und nicht nur mein Leben hat sich total verändert. Auch Deutschland, dieses kinderärmste Land Europas, das sich um seine Geburtenrate so große Sorgen macht.

Kinderkriegen in Deutschland

Im Rekordjahr 1964– dem letzten vor dem »Pillenknick«– wurden in Deutschland noch mehr als 1,35Millionen Kinder geboren, seitdem jedes Jahr weniger, von kleinen Ausreißern nach oben einmal abgesehen. 2011 kamen gerade einmal 663 000 neue Bundesbürger zur Welt, nicht halb so viele wie 50Jahre davor, 2012 immerhin wieder etwa 10 000 mehr. Auf lange Sicht ist der negative Megatrend des Bevölkerungsschwunds nach Ansicht der Statistiker nicht mehr zu stoppen. Denn weniger Geburten in der Gegenwart bedeuten logischerweise auch weniger Mütter– ein paar Jahrzehnte später. Sind die heute geborenen Mädchen erst einmal erwachsen und bekommen wie die Frauen heute auch nur 1,4Kinder im Durchschnitt (statt des errechneten »Baby-Solls« von 2,1Kindern pro Mutter), wird die Zahl der Geburten weiter sinken. Weil aber zugleich die starken Jahrgänge der deutschen Babyboomer (1955 – 1969) jetzt nach und nach ins Rentenalter kommen, werden künftig jedes Jahr mehr Deutsche sterben als auf die Welt kommen. So hat es das Statistische Bundesamt in Wiesbaden ausgerechnet, und diese ungünstige demografische Zukunftsprognose wird früher oder später zu einem riesengroßen Problem der öffentlichen Kassen und zur sozialen Belastung aller.

Die deutsche »Schicksalsfrage«, ob die Geburtenzahlen in den Kreißsälen zwischen Kiel und Passau um ein paar Tausend Babys im Jahr steigen oder sinken und was die jeweils gerade praktizierte Familienpolitik dazu beiträgt oder auch nicht, berührt mich und meine Kolleginnen aber nur am Rande. Wir können bei der Arbeit nicht jeden Tag darüber nachdenken und werden als Hebammen an den Zahlen auch nichts ändern können– das ist nicht unsere Aufgabe.

Natürlich fällt uns auf, dass die Frauen, die zu uns kommen, im Durchschnitt viel später ihr erstes Kind bekommen als früher. Wir kennen auch die typisch deutsche Endlosdebatte darüber, dass Frauen sich angeblich zwischen Kind und Karriere entscheiden müssen, als ginge es um eine Glaubensfrage. Mal fehlt ihnen der richtige Arbeitsplatz, mal der passende Mann, irgendetwas versperrt immer den Weg zur Familiengründung. Es hat viele komplexe Ursachen, dass die Geburtenrate in Deutschland so viel niedriger ist als früher.

Die materielle und rechtliche Situation der Frauen in Deutschland hat sich im Vergleich zur Zeit ihrer Großmütter und Urgroßmütter deutlich verbessert. Ob nämlich eine werdende Mutter bei der »freudigen Nachricht« jubelte oder in Tränen ausbrach, war noch vor zwei, drei Generationen selten so absehbar wie im Hollywood-Film. Denn ob ein Baby ins jeweilige Leben passte, war für die meisten Menschen zwar schon immer eine existenzielle Frage, nur wurden die Frauen früher nicht gefragt. Und die Last hatten immer zuallererst sie zu tragen.

1961 kam dann »die Pille« auf den Markt– in Westdeutschland zuerst, vier Jahre später auch in der DDR–, und zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte konnten Frauen nun selbst entscheiden, ob und wann sie Kinder bekommen wollten. Dass ihre Emanzipation ohne das Verhütungstablettchen nicht vorstellbar gewesen wäre, bezweifle ich; sie hätte nur andere Wege genommen. Doch es lässt sich nicht bestreiten: Seit dieser revolutionären Erfindung aus Amerika ist Schwangerschaft kein Schicksal mehr. Aber es ist eine Phase im Leben der Frau, in der Weichen gestellt werden. Und die Qual der freien Wahl macht vielen Eltern heute mehr zu schaffen als ihren Vorfahren, für die Kinderlosigkeit noch ein makelbehaftetes Statusproblem war. Heute schützen sich 60Prozent der deutschen Frauen zwischen 20 und 44 vor einer unerwünschten Schwangerschaft. Familienplanung ist möglich, von Anfang an. Doch ganz frei sind sie in dieser Entscheidung eben auch nicht.

Die Stellung der Frau und Mutter in der westlichen Gesellschaft ist nicht mehr vergleichbar mit derjenigen aus den Zeiten um 1900 oder 1950. Unwiederbringlich vorbei sind Gebärgehorsam und Mutterkreuz oder die schlimmen Jahrhunderte, als der Tod im Wochenbett die Geißel so vieler Familien war. Auch bei Ehe und Scheidung besitzt die deutsche Frau inzwischen gleiche Rechte wie der Mann. An die Stelle einstiger sozialer Härten und gesundheitlicher Risiken sind jedoch andere, subtilere Zwänge und Unsicherheiten getreten. Kind oder Karriere? Familie oder Freiheit? Die Frau muss sich entscheiden, das ist ihre große Chance. Früher war es Schicksal, Mutter zu werden. Wenn eine Frau heute ein Baby erwartet, kann sie das glücklich machen oder unglücklich. Eine staatliche Garantie für ein schönes Familienleben gibt es aber ebenso wenig wie für die Treue der Männer.

Einer der wichtigsten Gründe, warum deutsche Frauen im so genannten gebärfähigen Alter heute Angst vorm Kinderkriegen haben, ist meiner Meinung nach der folgende: Sie bekommen vor und nach der Entbindung nicht mehr die gleiche umfassende soziale Hilfe und Unterstützung von der Familie wie noch ihre Großmütter. Eine Hebamme kann diese gesellschaftlichen Defizite nicht ausgleichen, sie kann nur helfen, praktische Lösungen im Einzelfall zu finden.

Den jungen Frauen werden heute leider die Kenntnisse und die Lebenserfahrung, die Mütter früher von Generation zu Generation weitergegeben und ausgetauscht haben, kaum noch vermittelt. Es bedarf sicherlich großer soziologischer Studien, um zu erklären, warum das so gekommen ist. Ich vermute als eine von mehreren Ursachen dieser abgebrochenen Kette der Wissensweitergabe: Ihre eigenen Mütter gehörten vor 30, 40Jahren zu der ersten Generation in Deutschland, die mehrheitlich bereits unter sehr klinischen Bedingungen entbunden hat, komplett in der Obhut der Krankenhäuser.

Schon die Mütter der heutigen Mütter haben also diese nützlichen Kenntnisse oft gar nicht mehr gelernt. So schnell geht das Wissen kluger Frauen verloren, was früher geholfen hat und das Leben leichter machte. Diese Entwicklung ist in der Tat bedenklich. Manche Soziologen sprechen gar von einer »Enttraditionalisierung« der Geburt. Dazu kommt die immer größere Mobilität im Berufsleben, die auch früher große Familien räumlich auseinandertreibt. In die offenen Wissenslücken der einsamen Schwangeren dringen dann online Experten und Ratgeber jeder Art und Qualität.

Die eigene Mutter scheint heute als Beraterin so gut wie keine Rolle mehr zu spielen. Ich glaube, viele Frauen trauen sich nicht oder finden es peinlich, ihre Mutter nach intimen Dingen zu fragen; oder sie nehmen deren Angebote einfach nicht gern an. Das ist eine vollkommen neue Situation. Früher spielte die Mutter der Schwangeren in jeder Familie eine wichtige Rolle. Ich habe immer wieder die Erfahrung gemacht: Wo der Zusammenhalt der Sippe noch groß ist und insbesondere die weiblichen Verwandten einander helfen und sich gegenseitig unterstützen, verlaufen die Geburten viel unkomplizierter.

Dabei muss es nicht unbedingt die ältere Schwester, die Tante oder die eigene Mutter sein, auch die beste Freundin kann die Schwangere unterstützen, besonders, wenn sie über eigene Geburtserfahrung verfügt. Frauen, die so begleitet werden, entbinden viel entspannter. Und auch im Wochenbett haben sie weniger Stress, weil sie einen Rückhalt genießen, ein soziales Netz um sich haben. Diejenigen, die alles alleine machen wollen oder müssen, haben weitaus größere Probleme.

Und doch besprechen sich viele Schwangere heute lieber mit ihrem Mann, der noch weniger Ahnung von solchen Dingen hat. Es sei denn, er kommt vielleicht selbst aus einer kinderreichen Familie und musste schon als Junge oder Jugendlicher Aufgaben übernehmen, die mit Babys und kleinen Geschwistern zu tun hatten. Am längsten halten sich diese wertvollen Geburtserfahrungen und Ratschläge von früher noch im ländlichen Raum. Überall dort, wo die intakte Großfamilie überlebt hat.

Hexe, Heilige und Vertrauensperson

Die Hebammen mussten zu allen Zeiten mit einem zwiespältigen gesellschaftlichen Image leben. Im alten Griechenland waren die maia genannten Geburtshelferinnen sehr geachtet, wie zum Beispiel die Mutter des Philosophen Sokrates. Noch im 19.Jahrhundert war es in den adligen und großbürgerlichen Familien Europas eine Frage des Prestiges, sich eine eigene Hebamme leisten zu können. Hebammen galten als Respektspersonen und begleiteten eine Familie häufig über zwei bis drei Generationen hinweg bei den damals üblichen zahlreichen Geburten. Ehefrauen besaßen kaum Rechte, aber viele Pflichten, und mussten nicht selten ein Dutzend Kinder gebären, von denen viele aus unterschiedlichen Gründen nicht überlebten. Die Schuld daran bekam selten die Hebamme, die ein hohes Ansehen genoss und das intime Vertrauen der Mutter in einer prüden Epoche.

Daneben haftete den Hebammen schon von Anbeginn ein negativ geprägter, zweifelhafter Ruf an – nicht nur, weil sie sich die Hände mit allen möglichen unreinen Körperflüssigkeiten schmutzig machten, sondern auch, weil sie wegen ihrer autonomen Arbeitsweise den geistlichen und weltlichen Herren suspekt waren. Frauen mit Geschichtsbewusstsein denken noch mit Schrecken an die Hexenverbrennungen während der katholischen Inquisition, als vor allem die Hebammen als »weise Frauen« dafür büßen mussten, dass sie angeblich nicht Gottes Willen taten, sondern mit »heidnischen« Heilmethoden versuchten, den Frauen und Kindern solidarisch zu helfen und deren Leben zu retten. Man hatte keinerlei Skrupel, der Hebamme die Schuld dafür zu geben, wenn ein Kind oder die Mutter bei der Geburt zu Tode kam, manchmal aber auch, wenn sie dank ihrer Kunst überlebten! Ihre Heilmethoden wurden in die Nähe satanischer Riten gerückt, sie galt als Hexe und wurde mit dem Tode bestraft. Ihr oft uraltes, in mündlicher Überlieferung weitergegebenes Wissen wurde von Kirche, Staat und Ärzteschaft immer wieder als Bedrohung wahrgenommen, noch weit bis ins 20.Jahrhundert hinein.

Auch die von den Katholiken besonders verteufelte Empfängnisverhütung war zu allen Zeiten eine exklusive Domäne der Hebammen, die es nicht hinnahmen, dass Frauen als reine Gebärmaschinen missbraucht wurden, ohne jede Rücksicht auf Leib und Leben. Sie klärten Frauen schon früh darüber auf, wie sie die Zahl ihrer Schwangerschaften und die Pausen dazwischen wenigstens ansatzweise kontrollieren konnten. Es kam auch vor, dass Hebammen sich den Männern in den Weg stellten und darauf bestanden, der Mutter nach einer Geburt eine Schonfrist bis zur nächsten Schwangerschaft zuzugestehen. Sie kämpften als Erste für die Rechte der Frauen und verteidigten sie nicht selten gegen die eigene Verwandtschaft oder gegen Väter, die das Kind nicht als das ihre anerkennen wollten.

Die Geburtshilfe lag also viele Jahrhunderte lang allein in der Hand der Hebammen. Erst vor 250Jahren, als Ärzte anfingen, das Feld der Geburten für sich zu entdecken, wurden in Deutschland die ersten so genannten Gebäranstalten gegründet, vor allem zu Ausbildungszwecken für das Hebammenwesen. Doch die hygienischen Verhältnisse in diesen Häusern waren miserabel, und viele Gebärende fielen ihnen zum Opfer; in manchen deutschen Städten starb noch fast jede dritte Frau unter der Geburt oder im Wochenbett. Erst Mitte des 19.Jahrhunderts erkannte der Wiener Arzt Ignaz Semmelweis das Problem und sorgte endlich auch unter seinen Kollegen für Hygiene: Da infolge seiner Erkenntnisse die Herren Mediziner dazu übergingen, sich regelmäßig die Hände zu waschen, wenn sie zwischen Leichenschauhaus und Kreißsaal unterwegs waren, trägt er bis heute den Titel »Retter der Mütter«.

Die Zahl der Hausgeburten schrumpfte nach dem Zweiten Weltkrieg immer schneller, zuletzt auch auf dem Land. Im Zuge des zunehmenden Vordringens der modernen technischen und von Männern dominierten Medizin in die Geburtshilfe ließen sich auch immer mehr Hebammen in den Kreißsälen der Krankenhäuser anstellen. Damit tauschten sie einen großen Teil ihrer beruflichen Freiheit gegen ökonomische Sicherheit und mussten sich in die klinische Hierarchie eingliedern. Sie riskierten, dass aus ihrem früher selbstbestimmten Beruf eine Art »Geburts-Krankenschwester« wurde, schlimmstenfalls eine bessere Arzthelferin. Andererseits hatten sie immer die Möglichkeit, als selbständige Beleghebamme zu arbeiten. Wie frei und selbstbestimmt Hebammen in den Kliniken heute agieren können, ist in jedem Haus ein wenig anders. Tatsache bleibt: Die Hebamme leitet die Geburt, der Arzt wird nur im Notfall gerufen.

Hebammen und Ärzte hatten schon immer ein kompliziertes Verhältnis, oft begleitet von Eifersucht und Misstrauen. Sie brauchen und ergänzen einander auf dem Gebiet der Geburtshilfe, aber es bleibt ein Spannungsfeld mit vielen möglichen kleinen und großen Konflikten. Noch bis in die fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts war es üblich, dass Frauen, die es sich leisten konnten, sich eine eigene Hebamme nahmen, um die Überlebenschance für sich und ihr Kind zu erhöhen. Seit dem Beginn der modernen medizinischen Geburtshilfe konnte das Risiko für Mütter und Säuglinge immer weiter verringert werden.

Die Säuglingssterblichkeit ist ein Indiz für die hygienischen und medizinischen Standards eines Landes. Für eine Industrienation lag sie in Deutschland nach dem letzten Krieg noch lange Zeit recht hoch. 1960 beklagte man 35Sterbefälle im ersten Jahr nach der Geburt von 1000Lebendgeburten. Das verbesserte sich erst allmählich, ab den Achtzigern immer schneller. Im Jahr 2011 lag die Zahl der verlorenen Kinder nur noch bei einem Zehntel davon (3,6/1000). Trotzdem kann es im Kreißsaal auch heute immer wieder um Leben und Tod gehen; Geburtsverläufe sind grundsätzlich nicht vorhersehbar und auch deren Ende nicht. Deshalb muss eine gute Hebamme jederzeit in der Lage sein, blitzschnell umzudenken und im richtigen Moment das Richtige zu tun. Aber mit wachsender Erfahrung fällt ihr das immer leichter. Deshalb ist eine solide Ausbildung so wichtig. Je besser die Hebamme weiß, was sie in welchem Moment tun muss, umso weniger braucht sie die ärztliche Notfallhilfe.

Als Dienerin oder rechte Hand des Arztes habe ich meine Arbeit nie verstanden, obwohl ich auch gelernte Operationsschwester bin. Als Hebamme leite ich die Geburt, das ist gesetzlich eindeutig geregelt. Doch auch ich kann mich noch an Situationen erinnern, in denen der Arzt am Bett der Gebärenden stand und schrie: »Pflaster! Schwester, Pflaster!« Und wie ich dann dachte: Wieso kann er sich das nicht selber holen? Als junge Hebammenschülerin sagte ich einmal: »Nehmen Sie sich doch eins, Herr Doktor!« Er hat gelacht.

Im Licht der Öffentlichkeit

Die Hebamme war zu allen Zeiten eine öffentliche Person. Sie war besonderer sozialer Kontrolle unterworfen, Lob und Tadel in ihrer Gemeinde trafen sie direkt, und oft wurden böse Gerüchte über sie verbreitet. Und das hat unmittelbar Konsequenzen für ihr Leben. In Zeiten von Internet und Smartphone gibt es viele neue Möglichkeiten der Kommunikation unter Frauen und Eltern, die positive wie negative Urteile in Umlauf bringen, während die Hebamme selbst zu schweigen hat. Ich brauchte nicht erst ein Buch zu schreiben, um bekannt zu werden, in Hamburg bin ich es schon lange. Und ich kann mir sehr gut vorstellen, was die Mütter in den Cafés sich so alles erzählen, wenn sie die Geburt erst einmal hinter sich haben. Ihre Hebamme oder auch »Hebi«, wie das in den Mama-Chatrooms neuerdings heißt, steht oft im Zentrum all der privaten Kreißsaalstorys. Ich kann nur jeder Kollegin raten, sich auf solche Gerüchte und Diskussionen gar nicht erst einzulassen, ihre Arbeit so korrekt und gewissenhaft wie irgend möglich zu machen– und sich von niemandem provozieren zu lassen.

Viele Frauen sehen in ihrer Beleghebamme heute eine Ersatzmutter, auf die sich Wünsche und Erwartungen projizieren lassen. Auch als Sündenbock für Frust und Enttäuschungen jeder Art darf sie herhalten. Während sie der gesetzlichen Schweigepflicht unterworfen ist, die es ihr verbietet, öffentlich über die von ihr betreuten Frauen und Kinder zu reden, hat sie selbst keinerlei Kontrolle darüber, was über sie verbreitet wird. Deshalb braucht man als Hebamme ein ziemlich dickes Fell. Und in Ausnahmefällen leider auch den Rechtsschutz.

Die von mir entbundenen Hamburger Frauen grüßen mich jedes Mal sehr herzlich, wenn wir uns über den Weg laufen, und berichten mir ohne Umschweife die letzten News aus dem Kinderzimmer. Doch das ist nicht immer so. Einmal habe ich zum Beispiel eine Maklerin aus den Elbvororten betreut, die Geburt ihres Kindes war langwierig und verlief kompliziert. Die Frau hatte sich eine möglichst natürliche Spontangeburt gewünscht, was ich ihr auch ermöglichte, obwohl es nicht ganz einfach war. Und weil das Paar den Geburtsverlauf als »nicht so schön« empfunden hat, wechselt es seitdem jedes Mal die Straßenseite oder grüßt nicht, wenn wir uns auf dem Uferweg längs der Elbe begegnen.

Das ohnehin eingeschränkte Privatleben einer Beleghebamme wird heute immer weniger respektiert. So bekomme ich seit ein paar Jahren häufig selbst an den Wochenenden nach 20Uhr Anrufe von Frauen, die ich gar nicht kenne, die gerade erst schwanger sind– und die mit mir sofort, kostenlos und am liebsten per Du in ausführlichste Beratungsgespräche einsteigen möchten. Und wenn ich dann höflich darauf hinweise, dass mir das an Sonntagen nicht möglich ist, reagieren sie oft völlig verständnislos und sagen: Was ist denn das für eine Hebamme, die nicht für ihre Frauen da ist?

Dabei bin ich wie jede gute Beleghebamme das ganze Jahr nonstop für die Frauen da, die ich betreue. Aber jeder Mensch hat eine Belastungsgrenze. »Meine« Frauen wissen das und rufen mich nur noch an, wenn es wirklich brennt. Und dann sitze ich schneller im Auto als mancher Feuerwehrmann.

Ein aussterbender Beruf

Heute gibt es kaum noch freie Beleghebammen. In Deutschland sind immer weniger junge Frauen noch willens, in der 1 : 1-Betreuung (also mit Geburtshilfe!) zu arbeiten. Es gibt hierzulande derzeit nur noch etwa 2000 freiberuflich tätige Beleghebammen, die diese klassische Komplettleistung erbringen, die früher normal war.

Diese Entwicklung hat mehrere Ursachen: Viele Hebammen halten die physischen Belastungen dieses Jobs mit seinen unberechenbaren Arbeitszeiten nicht mehr aus, anderen machen die immer weiter gestiegenen Haftpflichtprämien für ihren Beruf zu schaffen. Rund drei Viertel der nicht angestellten Hebammen leisten bereits keine Geburtshilfe im Kreißsaal mehr; sie kümmern sich ausschließlich um Vor- und Nachsorge bei den Müttern, brauchen deshalb auch keine Haftpflichtversicherung zu zahlen. Viele Geburtshelferinnen ziehen die Tätigkeit als angestellte Hebamme im Krankenhaus vor– mit oder ohne Nachtschichten, aber mit dem fixen Lohn am Monatsende.

Die meisten aktiven Beleghebammen mit Vollbetreuung gibt es heute in Bayern; dort arbeitet noch jede zweite Hebamme auf diese Weise. Vor allem in den Metropolen wie Berlin und Hamburg sind dagegen immer weniger Frauen dazu bereit. In der 1,8-Millionen-Stadt Hamburg dürften zum Beispiel gegenwärtig kaum ein Dutzend Frauen full time als selbständige Beleghebammen tätig sein. Über mangelnde Nachfrage nach meinen Diensten kann ich also nicht klagen.

Eine individuelle Betreuung vor, während und nach der Geburt in der Klinik, also auch mit einer etwa achtwöchigen, fast täglichen Nachsorge am Wochenbett zu Hause, bietet nämlich unbestreitbar große Vorteile für die Frau. Sie hat in der Beleghebamme eine verlässliche, krisenfeste Bezugsperson, die sie durch alle Phasen führt und immer erreichbar ist. »Meine« Frauen können darauf vertrauen, dass sie die beste Hilfe bekommen, entweder durch mich oder wenn nötig auch von den Experten, die ich vermitteln kann. Und wir gehen zusammen in den Kreißsaal, wenn das große Finale ihrer Schwangerschaft beginnt: die Geburt des eigenen Kindes.

KAPITEL 2 – Wir erwarten ein Kind– Das erste Gespräch

Vor Kurzem saß ein Paar bei mir in der Sprechstunde– unverheiratet, beide Akademiker, schon weit in den Dreißigern. »Es war nicht geplant«, erzählten sie, als müssten sie sich dafür entschuldigen, »wir können uns ein Kind eigentlich momentan gar nicht leisten.« Womöglich erwarteten die beiden jetzt ein wenig Mitgefühl von mir. Ich sagte: »Aber wie man Kinder bekommt, das wissen Sie, oder? Heutzutage wird bei uns in Ihrem Alter niemand zufällig schwanger. Und wenn Sie nicht verhütet haben, dann sage ich Ihnen, warum: weil Sie das Kind wollten!« Und ich fuhr fort, weil ich gerade so gut in Schwung war: »Eigentlich war das zu allen Zeiten so. Und deswegen gibt es für Sie auch keinen Grund zu verzagen. Ich gratuliere Ihnen zu Ihrem Entschluss. Und was kann ich jetzt für Sie tun?« Sie nickten zustimmend, etwas verblüfft von meiner kleinen aufmunternden Ansprache, aber auch spürbar erleichtert.

Ich erlebe solch eine ängstliche, unsichere Einstellung unter werdenden Eltern recht häufig; in der Generation der nach 1975Geborenen ist es fast die vorherrschende Stimmung. Aber ohne Mut zum sozialen Risiko wäre die Menschheit längst ausgestorben. Und das Leben folgt sowieso keinem festen Plan. Deshalb mache ich Mut zum Kind, wann immer es nötig erscheint– und nicht gerade tollkühn angesichts der sozialen Umstände. Aber das Ja zur Familie bleibt letztlich eine Entscheidung, die nicht die Hebamme treffen kann.

Wie, warum und von wem eine Frau schwanger wird, ist für mich als Hebamme nicht wichtig, es sei denn, die Schwangere ist sehr jung, akut drogenabhängig oder befindet sich in prekären sozialen Verhältnissen, ist also unter Umständen nicht im Stande, die auf sie zukommende Verantwortung zu tragen. Dann gilt erst recht der oberste Grundsatz jeder Geburtshilfe: Das Kind muss geschützt werden.

Die große Mehrheit der Frauen, die den Weg zu mir finden, ist jedoch erwachsen und weiß, was sie tut. Diese Frauen haben sich ihr Baby gewünscht oder sogar fest geplant, sie leben in intakten Familien oder in stabilen Partnerschaften– und sie haben meistens keinen Grund, sich besondere Sorgen um sich und ihr Baby zu machen. Sie suchen mich auch erst um die 12.Schwangerschaftswoche auf, wenn aus dem Embryo in ihrem Bauch ein Fötus wird, der sich nun auch bald bemerkbar macht. Da aber allzeit bereite Beleghebammen in Großstädten heute noch seltener sind als freie und bezahlbare Kitaplätze, ist es mir auch schon passiert, dass mich eine Frau anrief und aufgeregt mitteilte: »Ich hatte am Wochenende mit meinem Freund ungeschützten Geschlechtsverkehr– wenn ich jetzt schwanger werden sollte, könnten Sie mich bitte vormerken, so für Ende Juni?« Kein Witz.

Eigentlich ist es mir lieber, wenn die angehende Mutter erst im 5. oder 6.Monat zu mir kommt, weil sie frühestens dann anfangen sollte, sich über die Geburt Gedanken zu machen. Und weil die werdenden Eltern dann schon viel besser wissen, was sie erwarten und was sie erwartet– was eben nicht dasselbe ist! Und doch melden sich die meisten »meiner« Frauen sehr zeitig, im 2. oder 3.Monat der Schwangerschaft bei mir; sie bitten um einen frühen Termin. Manche sind sehr gut informiert und wissen auch, wie die Betreuung durch eine Beleghebamme aussieht. Andere haben von Verwandten und Freunden etwas über mich und meine Arbeit erfahren. Und sie haben auch davon gehört, dass man ohne eine »eigene«, also mitgebrachte Hebamme im Alltag einer großen Klinik ziemlich leicht verloren gehen kann und unter Umständen von Schichtwechsel zu Schichtwechsel weitergereicht wird. Sie wollen lieber eine feste Person ihres Vertrauens, die sie durch diese anstrengende Zeit führt– in der Klinik und zu Hause.

Bedürfnisse der Schwangeren

Das erste Gespräch dient nur dem Kennenlernen, danach entscheiden Hebamme und Schwangere gemeinsam, ob die Chemie zwischen ihnen stimmt. In seltenen Fällen muss auch ich einmal sagen, dass man nicht so gut zueinander passt, das teile ich der Betreffenden dann auch ganz offen mit. Manchmal mag die Frau mich und meine pragmatisch-vernünftige Berufsauffassung einfach nicht. Im umgekehrten Fall kann es für mich (wie auch für jede andere Hebamme) zur Qual werden, eine Schwangere zu betreuen, die einen innerlich ablehnt oder (aus welchen Gründen auch immer) kein Vertrauen entwickelt. Aufgrund meines eher unsentimentalen Stils kommen auffallend häufig Frauen zu mir, die beruflich fest im Sattel sitzen, die selbstbewusst und psychisch stabil sind. Und die ziemlich genau wissen, was sie wollen. Frauen mit einem Hang zur Esoterik sind hingegen meistens schnell wieder weg und suchen sich woanders das, was besser zu ihren Bedürfnissen passt.

Das notwendige Basiswissen über normale Geburtsabläufe und die medizinischen Möglichkeiten im Kreißsaal scheinen bei vielen nicht sehr ausgeprägt zu sein, selbst an anatomischem Schulwissen hapert es mitunter. Ich frage mich manchmal, ob das Thema Geburt im Biologieunterricht überhaupt vorkommt. Andererseits lassen sich die Frauen von jeder babyrelevanten Studie verrückt machen, die gerade im Internet die Runde macht. Und das sind leider unglaublich viele.

Unser erstes Treffen findet meist in der Klinik statt. Ich stelle zunächst absichtlich keine Fragen und höre zu. Die meisten Frauen fangen bald an, von sich zu erzählen, von ihrer Wohn- und Arbeitssituation, von ihrer Beziehung und ihren Zukunftsträumen. Manche Frauen kommen gleich mit einem riesigen Fragenkatalog an, der beweist, dass sie sich schon lang und breit mit dem Thema beschäftigt haben. Sie wollen etwa wissen, ob ich alles anbiete, was andere Hebammen so anbieten– Akupunktur, Homöopathie, Meditation und Massagen, Beckenbodengymnastik und so weiter. Und sind dann nicht selten etwas überrascht, wenn ich sage: »Nein– denn das werden Sie alles nicht brauchen.«