Die Wahrheit vor Gericht - Klaus Volk - E-Book

Die Wahrheit vor Gericht E-Book

Klaus Volk

4,9
15,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Auf der Suche nach der Wahrheit – ein Staranwalt
erzählt von spektakulären
Rechtsfällen


Geht es in Prozessen und bei der Urteilsfindung um die Wahrheit? Eine nur auf den ersten Blick erstaunliche Frage, zumal aus der Feder eines bekannten Strafverteidigers. Jetzt zeigt er anhand zahlreicher Beispiele, dass der Augenschein häufig trügt, dass sich zunächst oft nur die halbe Wahrheit enthüllt. Was aber ist überhaupt Wahrheit und wie verhält sie sich zur Gerechtigkeit?

Ist ein Geständnis mehr wert als ein Indizienbeweis? Sind abgesprochene Urteile noch wahr genug, um gerecht zu sein? Warum darf man sich der Wirklichkeit nicht auf jede Weise nähern? Wie beschwerlich und mitunter gefahrvoll diese Wahrheitssuche sein kann, worin der Gerichtssaal manchmal einer Theaterbühne gleicht und warum es kaum etwas Spannenderes gibt als einen Strafprozess, davon erzählt Volk anhand von Fallgeschichten aus seiner Praxis.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 454

Bewertungen
4,9 (16 Bewertungen)
15
1
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Klaus Volk

Die Wahrheit vor Gericht

Wie sie gefunden und geschunden, erkämpft und erkauft wird

C. Bertelsmann

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1. Auflage

© 2016 by C. Bertelsmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: buxdesign München

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-11457-2V001

www.cbertelsmann.de

Wie man der Wahrheit näher kommt

Im Chaos der widerstreitenden fanatischen Überzeugungen ist eine der wenigen einigenden Kräfte die wissenschaftliche Wahrheitsliebe; ich verstehe darunter die Gepflogenheit, unseren Glauben auf Beobachtungen und Schlüsse zu stützen, die so unpersönlich und von Veranlagung und Umgebung so unbeeinflusst sind wie nur menschenmöglich […] Die Gewöhnung an strenge Wahrhaftigkeit läßt sich auf den ganzen Bereich des menschlichen Tuns ausdehnen; sie bewirkt allenthalben, daß der Fanatismus nachläßt und die Bereitschaft wächst, einander Sympathie und Verständnis entgegenzubringen.

Bertrand Russell im Schlusswort seiner Philosophie des Abendlandes

Inhalt

Vorwort

Kapitel 1: Wo steht geschrieben, was Wahrheit ist?

Die halbe Wahrheit • Die ganze Wahrheit • Exkurs: Der empörte Gesetzgeber • Kein Straf-Recht ohne Prozess • Die Ziele des Strafverfahrens • Das vergrabene Goldstück • Man kann in niemanden hineinschauen1

Kapitel 2: Wie sich Beweise führen lassen

Glauben und Wissen • »So wahr mir Gott helfe« • Wo kein Kläger, da kein Richter • Bertrams letztes Stündlein hat geschlagen

Kapitel 3: Folter und Geständnis – damals und heute

Ein Zeuge, kein Zeuge • Folter, die erste: Wir wollen ein Geständnis hören • Folter, die zweite: Die »Rettungsfolter« • Das Geständnis, die abgedankte Königin der Beweismittel

Kapitel 4: Was von Zeugen zu halten ist

Das Gehirn schreibt die Story • Die Schere im Kopf • Wahrheit und Wahrhaftigkeit • Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht • Kann man dem glauben? • Der Lügendetektor • Eure Rede aber sei »ja, ja, nein, nein« • »Zeugin der Anklage« • High Noon • Agent Provocateur • Tatsachen bitte

Kapitel 5: Ihr Urteil bitte, Herr Sachverständiger

Halbgötter in Weiß • Zimmer mit Aussicht • Dr. Jekyll und Mr. Hyde • Wahrheit Größe L • Wo ein Wille, ist auch ein Weg …

Kapitel 6: Nur der Schein trügt nicht

Was man schwarz auf weiß besitzt • Wer schreibt, der bleibt • Trau, schau – wem oder was • Papier ist geduldiger als wir • Hausaufgaben

Kapitel 7: Zum Prinzip der Öffentlichkeit und anderen Revolutionen

Französische Zustände • Die deutsche Revolution • Nur für die Galerie? • Galerie war gestern • Presseprivilegien • Monstranz oder Monstrum? • Absolut falsch und relativ daneben

Kapitel 8: Der Staatsanwalt, Wächter des Gesetzes

»Staatsanwälte küsst man nicht« • Die Macht der Staatsanwaltschaft • Die Privatklage • Der General • Illegal und doch egal • Der schöne Schein des Legalitätsprinzips • Organ der Rechtspflege • Die »objektivste Behörde der Welt«1

Kapitel 9: Vom Beruf des Strafverteidigers

Strafverteidigung, muss das sein? • Der himmelblaue Rolls-Royce • Dunkle Wolken • Die goldene Ananas • Welcome back • Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Strafverteidiger • Trost und Rat • Ich will es wissen • Die Pflichtentrias • Einspruch, Euer Ehren • Pflicht und Neigung • Ich bin so frei • So frei nun auch wieder nicht • Die Tabuzone • Strafverteidigung als Borderline-Syndrom

Kapitel 10: Unschuldsvermutung und Verdacht

Der »mutmaßliche Täter« • Im Namen des Volkes • Die Wahrheit des Verdachts • Die Fundstelle der Wahrheit

Kapitel 11: Die Freiheit der Beweiswürdigung und ihre Grenzen

Im Brustton der Überzeugung • Wahrheit und Wahrscheinlichkeit • Sherlock Holmes und die Elfen • Die Erde ist eine Scheibe • Hütchenspiele • Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm • Der Geist der Zeiten • Die Gezeiten des Geistes • »High noon, die zweite« • Den kenne ich! • Grenzen der Freiheit • Der Indizienprozess

Kapitel 12: Daran dürfen Sie noch nicht einmal denken – die Beweisverbote

Wer schweigt, scheint zuzustimmen • Das Beweisgebäude • List und Tücke • Wie man Beweisverbote begründen kann • Der Fluch der guten Tat • Die Früchte des vergifteten Baumes • Faule Früchte • Räuber und Gendarm

Kapitel 13: In dubio pro reo

Die Zweifel bleiben • Jenseits vernünftiger Zweifel • Diesseits des Zweifels • Zwei halbe Wahrheiten

Kapitel 14: Deutschland, deine Richter

Schöffen und Geschworene • Volkes Stimme • Schuld und Bühne

Kapitel 15: Alles auf Anfang

Der Instanzenzug – einfache Fahrt oder hin und zurück? • Die Wiederaufnahme des Verfahrens

Kapitel 16: Was ist normal? Über das Richtige im Falschen

Die falsche Strafe • Wo soll das hinführen? • Von der Strafe zur Tat

Kapitel 17: Das kann man doch im Stillen erledigen …

Wahrheit light • Zu wahr, um schön zu sein • Der Millionärsparagraf • Der Teufel, an die Wand gemalt

Kapitel 18: Segen oder Fluch – die Absprache

Noch einmal: Trau, schau, wem • Die unverständliche Verständigung • Die Sanktionsschere • Durchsichtige Manöver • Die Kündigung aus nichtigem Grund • Aus dem Reich der Untoten: das Geständnis • Die deformierte Wahrheit • Schuldig, Euer Ehren

Kapitel 19: Die Wahrheit über die Wahrheit

Die formalisierte Wahrheit • Wahrheit und Wirklichkeit • Diverse Wahrheiten • Wahrheit und Gerechtigkeit

Nachwort

Vorwort

Noch ein Buch über die Wahrheit – wer schreibt es und weshalb?

Es ist lange her: Als junger Assistent an der Uni habe ich es abgelehnt, für viel Geld in einer berühmten Kanzlei den schnöden Interessen reicher Mandanten zu dienen. Da wird doch nur, schauderte mir, Schindluder mit der Wahrheit getrieben, sie wird geheuchelt und gemeuchelt. Stattdessen bin ich also im Elfenbeinturm der Wissenschaft geblieben, habe das Armutsgelübde des idealistischen Wissenschaftlers abgelegt und versucht, den Dingen auf den Grund zu gehen. Was denn Wahrheit ist, das vor allem wollte ich wissen. Ich verschlang alles, was seit den alten Griechen darüber gedacht und geschrieben worden war. Das Ergebnis war auch antik, in der Formulierung von Sokrates oder Cicero: Ich weiß, dass ich nicht weiß (was Wahrheit ist).

Dann hat mir, gerade Strafrechtsprofessor geworden, der noch keine Ahnung von der Praxis hatte, eine Ikone der deutschen Industrie angeboten, ihn zu verteidigen. Es war nicht der Erfolg, der mich so faszinierte (und auch nicht das Honorar), dass ich anschließend immer wieder Verteidigungen übernahm und das bis heute mache. Es war das Erlebnis, wie alle Beteiligten – Staatsanwälte, Richter und Verteidiger – um die Wahrheit ringen. Ein Kampf ist das immer, mag er nun lautstark mit klirrenden Waffen oder leise in diplomatischen Tönen ausgetragen werden. Jeder weiß, was auf dem Spiel steht, wenn es denn ein Spiel wäre – das persönliche Schicksal von Beschuldigten nämlich. Da wird, zugegeben, manchmal auch zu Tricks und Finten gegriffen, um Interessen durchzusetzen. Letztlich aber eint doch alle im Stillen dieselbe Rechtskultur, das Ethos, dem man verpflichtet bleibt. Und alle wissen, dass sie am Ende nicht sicher wissen werden, was denn nun wirklich wahr war. Diese Ungewissheit lässt niemanden los. Das hat Gründe, von denen ich berichten möchte.

Ich würde nie beschwören, dass ich auch nur in einem einzigen meiner Fälle die ganze Wahrheit erfahren hätte. Ich will aber darauf bestehen, dass es meist gerecht zugegangen ist. Das ist ein großer, beruhigender Unterschied. Es gibt auch eine Gerechtigkeit, die nicht auf der absoluten Wahrheit beruht. Die zu erreichen ist im Strafprozess ohnehin unmöglich. Kein Strafprozessrecht dieser Welt, sofern sie zivilisiert ist, lässt alles zu, was der Wahrheitsfindung dienen könnte. Die prozessuale Wahrheit ist, verglichen mit den Erwartungen der Öffentlichkeit, immer verbeult und verbogen. Sie wird in einem sehr formalisierten Verfahren ermittelt, mit begrenzten Mitteln zu dem begrenzten Zweck, ein Urteil über einen begrenzten Tatvorwurf abzugeben. Muss es denn aber auch immer diese nebulöse »ganze« Wahrheit sein, die man braucht, um ein ganz richtiges Urteil zu fällen?

Wie das sein kann, wie das geht und funktioniert, davon handelt dieses Buch. Auf dem Königsweg zur Wahrheit werden wir auch Lug und Trug begegnen und mittelalterlichen Ruinen am Wegesrand, wir werden in Abgründe schauen und Reisende treffen, die uns begeistert von amerikanischen Errungenschaften berichten. Wir werden zu Umwegen gezwungen sein, weil das Prozessrecht hohe Mauern um die Rechte anderer Leute errichtet und uns den geraden Weg versperrt; wir werden der Versuchung ausgesetzt sein, »kurzen Prozess« zu machen, weil der lange Weg zum Ziel verkürzt werden kann, wenn sich alle Beteiligten darüber verständigen und ihn gemeinsam beschreiten. Das Buch handelt allerdings auch von so schrecklichen Dingen wie Folter, Fehlurteilen und falschen Geständnissen. Wie kann es dazu kommen, und wer trägt Schuld an misshandelter oder verleugneter Unschuld?

Wer glaubt, dass es die Wahrheit gebe wie ein vergrabenes Goldstück, das man nur finden müsse, der bildet sich gerne ein, dass ihm das gelungen sei und er nun endgültig »im Besitz der Wahrheit« sei. Ein Prediger, ein Moralist vielleicht könnte das von sich behaupten. Juristen hingegen (sollten) wissen, dass der trotzige Satz »Was wahr ist, muss wahr bleiben« niemals stimmt. Jede Wahrheit muss erst einmal wahr werden. Und »die« Wahrheit ist es am Ende ohnehin nicht, die ans Licht kommt. Festgestellt wird immer nur die Wahrheit, die man gesucht hat. Für einen Strafbefehl über eine kleine Geldstrafe genügt weniger Wahrheit als für ein »lebenslänglich«, verhängt vom Schwurgericht. Es gibt eben diverse Wahrheiten. Das ist eine der Wahrheiten über die Wahrheit, die hier beschrieben wird.

Mit einem Buch macht man sich nicht nur Freunde. Ich möchte einige meiner »Taten« benennen, ehe sie für Untaten gehalten werden.

Zunächst muss ich gestehen, dass ich gelegentlich abgeschrieben habe, nicht wörtlich, aber immerhin sinngemäß – und zwar von mir selbst. Wäre das hier eine wissenschaftliche Veröffentlichung, müsste ich nach neueren Maßstäben wohl kenntlich machen, wann und wo ich schon einmal etwas über die Wahrheit veröffentlicht habe, das sich hier mit der Akribie von den Jägern des Plagiats aufspüren ließe.

»Wie können Sie nur«, wird eine Frage sein, »über eigene Fälle reden, ohne die Schweigepflicht eines Strafverteidigers zu verletzen?« Ganz einfach deshalb, weil ich keine Namen nenne und vor allem nur Szenen aus Fällen aufgreife, über die öffentlich berichtet wurde.

Als Anwalt ist man verpflichtet, auch das Schlimmste zu bedenken und alle Risiken und Nebenwirkungen von Formulierungen zu berücksichtigen. Ich habe oft »der« gesagt, wo ich auch »die« hätte sagen können oder eben, nach Ansicht mancher, hätte sagen müssen, um korrekt zu bleiben. »Der« Angeklagte, »die« Angeklagte – erst im Plural sind sie wieder gleich. Es gibt indessen, glaube ich, kein anderes Fach, in dem das Geschlecht schon seit Langem so bedeutungslos war und ist wie in der Juristerei. Hätte ich mich in diesem Punkt stets »korrekt« ausgedrückt, wäre das Buch ohne jeden Sinn viel länger geworden. Klagen über die mangelnde Differenzierung von »Angeklagten« und anderen in prozessualen Rollen (»RichterInnen«, »ZeugInnen« etc.) möchte ich also nicht entgegennehmen.

Und noch etwas: Wenn ohne Zusatz von »Recht« die Rede ist, von Strafrecht und Strafprozessrecht, ist das deutsche gemeint.

Sehen wir also zu, wie dieses Recht mit der Wahrheit umgeht.

Kapitel 1: Wo steht geschrieben, was Wahrheit ist?

Die Antwort auf diese Frage kann nur eine Gegenfrage sein: Warum wollen Sie das wissen, welche Wahrheit suchen Sie denn? Die »absolute«, von allen Zielen und Interessen, Bedürfnissen und Situationen gelöste Wahrheit gibt es nicht. Wir suchen die Wahrheit vor Gericht, genauer gesagt, die Wahrheit als Ziel strafrechtlicher Ermittlungen und als Grundlage eines Strafurteils. In den Gesetzen dazu kommt der Begriff »Wahrheit« nicht vor. Wir müssen uns also auf eine Entdeckungsreise machen.

Die halbe Wahrheit

Die Mutter ließ das Baby einfach schreien. Es schrie sehr viel, nachts vor allem, wenn Amaru lernen wollte.

Amaru war vor einem Jahr aus Nigeria nach München gekommen und studierte Elektrotechnik. Ein Zahnarztehepaar hatte ihn aufgenommen. Sie bewohnten ein Haus in Harlaching, einem vornehmen Viertel. Dort logierte Amaru in einem Dachzimmer. Bezahlen musste er nichts dafür. Anfangs fühlte er sich ganz wohl, obwohl es gar nicht städtisch war in dieser Gegend und deshalb ein bisschen langweilig. Aber ruhig war es, sehr ruhig. Wenn nur dieses Geschrei nicht gewesen wäre! Eines Nachts, als das Kind endlich einmal schlief, schlich er sich ins Kinderzimmer und erstickte das Baby mit einem Kissen.

»Brutaler Kindermord in München!«, schrieben die Gazetten. »Der Schwarzafrikaner Amaru N. erstickte das Baby des Zahnarztehepaars Dr. B. heimtückisch mit einem Kissen. Er durfte in ihrer noblen Villa umsonst wohnen und missbrauchte ihre Gastfreundschaft auf entsetzliche Weise. Die verzweifelte Mutter: ›Nur, weil es ihn gestört hat, dass mein Baby manchmal geschrien hat!‹ Sie will Gerechtigkeit. In Nigeria würde ihm die Todesstrafe drohen. Bei uns könnte er nur lebenslänglich bekommen.«

Zwei Polizisten führten Amaru durch die langen Gänge des Polizeipräsidiums in das Vernehmungszimmer der Mordkommission. Er gestand sofort, dass er das Baby umgebracht hatte. Dabei musste er weinen, aber das machte natürlich keinen Eindruck. Der Kommissar verkniff sich immerhin die Bemerkung, dass es jetzt für Reue zu spät sei. Amaru fühlte sich erleichtert, nachdem er alles erzählt hatte. Der Kommissar aber sagte, dass er ihn jetzt zum Ermittlungsrichter bringen werde, wo er sein Geständnis wiederholen sollte. Amaru traute sich nicht zu fragen, weshalb er noch einmal eine Vernehmung über sich ergehen lassen müsse. Er konnte nicht wissen, dass nur Geständnisprotokolle, die ein Richter aufgenommen hat, später im Prozess verlesen werden dürfen. Es könnte ja sein, dass der Angeklagte dann schweigt oder sein Geständnis widerruft.

Amaru kam in Untersuchungshaft, was immer der Fall ist, wenn der dringende Verdacht von Mord oder Totschlag besteht. Dieser Haftgrund erinnert fatal an einen, den es in den Zeiten des nationalsozialistischen Rechts gab, nämlich den der »Erregung der Öffentlichkeit«. Mörder sollen nicht frei herumlaufen, hieß es damals, und es steht zu befürchten, dass nicht wenige auch heute noch so denken. Davon einmal ganz abgesehen, dass man jemanden erst dann einen »Mörder« nennen darf, wenn er wegen Mordes rechtskräftig verurteilt wurde, ist das Argument nur populistisch und ansonsten hohl. Wenn nämlich die Gefahr besteht, dass ein »Mörder« flieht oder Beweise vernichtet und Spuren verwischt, darf man ihn, wie jeden anderen Tatverdächtigen auch, sowieso in Haft nehmen. Oder soll man alle, die im Verdacht stehen, getötet zu haben, aus Angst davor inhaftieren, dass sie es vielleicht noch einmal tun könnten? Das ist extrem selten. Wer seine Mutter getötet hat, kann es nicht noch einmal tun.

Die meisten Tötungsdelikte sind Beziehungsdelikte. Man bringt einen anderen Menschen ja gerade deshalb um, weil man ihn so gut kennt. Und weitaus die meisten dieser Taten geschehen aus einem einmaligen Konflikt heraus, oft auch im Affekt, der sich lange aufgestaut hat. Der Mörder, der einfach so aus dem Busch springt und irgendjemanden wahllos absticht, ist die große Ausnahme Aber machen wir uns nichts vor: »Mörder sollen nicht frei herumlaufen« ist eben leider ein archaisches Muster, das auch in unserer Gesellschaft noch wirkungskräftig ist.

Und so kam Amaru in Untersuchungshaft. Da blieb er so verschlossen wie seine Zellentür. Mit wem sollte er auch reden, und worüber? Scheppernde Absperrgitter, rasselnde Schlüsselbunde, latente, aber spürbare Gewaltbereitschaft, Feindseligkeiten gegen den »Nigger«, der ein Baby gemeuchelt hatte, Abscheu und Verachtung.

Aber auf einmal wurde Amarus dunkelgraues Dasein weiß: Man verlegte ihn in eine Nervenklinik, Abteilung forensische Psychiatrie. Bei Tötungsdelikten wird regelmäßig schon im Ermittlungsverfahren von der Staatsanwaltschaft ein psychiatrischer Sachverständiger beauftragt. Seine Untersuchungen muss man bis zu sechs Wochen lang erdulden (und was da geschieht, werden wir im Kapitel über Sachverständige darstellen). Der Psychiater erhält den Auftrag, die Frage zu beantworten, ob der Verdächtige zur Tatzeit voll schuldfähig war. Mehr soll er nicht herausfinden, aber meistens erfährt er mehr. Mit den freundlichen Leuten im weißen Kittel spricht es sich eben besser als mit Staatsanwälten und ihrer Truppe. Und Amaru sprach.

Die Geschichte hatte vor etwa anderthalb Jahren ihren Anfang genommen. Amaru war zunächst einmal bei einem Bekannten untergekommen. Wieder das ganze Wochenende in dem kleinen, muffigen Zimmer verbringen, das er bewohnen durfte, immer nur lernen und aus dem Fenster schauen, das machte ihn schwermütig. Viele Kontakte hatte er nicht geknüpft in München. Er hatte von einem Lokal gehört, »Ball der einsamen Herzen« oder so ähnlich, da konnte man tanzen und vielleicht eine Frau kennenlernen. Einen Versuch war es wert.

Amaru tanzte meist für sich allein. Er bemerkte nicht, dass ihn eine Frau schon länger beobachtet hatte. Sie kam an seinen Tisch, blond, schlank, Mitte dreißig etwa, und forderte ihn auf. Sie tanzten lange, berührten sich enger, schließlich nahm sie ihn an der Hand und führte ihn zu ihrem Tisch. »Das, Amaru, ist mein Mann.« Und zu ihrem Mann sagte sie: »Ich glaube, wir haben ihn gefunden.«

Amaru wusste nicht, wie ihm geschah. »Setz dich, Amaru. Es ist so: Wir möchten gerne ein Kind, aber mit meinem Mann geht das nicht. Also haben wir beschlossen, dass ich jemanden suchen darf, der mir ein Kind macht. Wenn du das willst, dann kannst du auch bei uns wohnen, solange du studierst.«

Jeder, der diese Geschichte hört, dürfte so verblüfft sein, wie Amaru es gewesen war, und dem Psychiater erging es ebenso. Das Ehepaar bestätigte das Geschehen an jenem Abend im Tanzlokal. Über die Gründe für diese Wahl eines potenziellen Vaters wollten sie nicht sprechen. Sie spielen am Ende auch keine Rolle für die Frage nach der Schuld.

Amaru beschrieb dem Psychiater seine Überraschung, sein Erstaunen und Zögern, seine Zweifel, aber auch die Lust auf dieses Abenteuer. Er nahm das Angebot an und zog in das Dachzimmer. Ein Jahr später kam das Kind zur Welt. Die Mutter war glücklich und dankbar. Das Glück blieb, die Dankbarkeit aber wich. Die Frau ließ Amaru spüren, dass sie ihn zunehmend als Last empfand. Es war ihr Kind, und ihr Mann usurpierte die Vaterrolle.

Der Psychiater dachte sich, was wahrscheinlich jedem einfällt, der diese Geschichte liest: »Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen.« Amaru aber entwickelte eine tiefe Beziehung zu »seinem« Kind, das Geschrei hörte sich für ihn an, als wäre es ein Ruf nach ihm. Er wollte sich nicht wegekeln lassen. Wenn er das Kind nicht haben durfte, dann sollten die anderen es auch nicht haben. So kam es zur Tat.

Als Amaru bei diesem Ende seiner Erzählung angelangt war, musste er wieder weinen.

Die ganze Wahrheit

Amaru hat das Baby getötet, das ist wahr. Es ist jedoch nur die halbe Wahrheit. Was aber macht dann die ganze Wahrheit aus?

Die Frage klingt harmlos, ist aber eine ziemlich vertrackte Angelegenheit. Eigentlich sind es ja zwei Fragen: Was ist Wahrheit? Und wann ist sie »ganz«?

Die Frage »Was ist Wahrheit?« hat vor mehr als zweitausend Jahren in einem spektakulären Fall einer gestellt, der sie gar nicht beantworten wollte und sich lieber die Hände in Unschuld wusch. Dieser Pilatus hätte besser daran getan, für ein faires Verfahren gegen Jesus zu sorgen, anstatt sich mit dieser rhetorischen Frage aus der Affäre zu ziehen und den Dingen achselzuckend ihren Lauf zu lassen.

Schon vor Christi Geburt gab es viele Philosophen, die sich über den Begriff der Wahrheit gestritten haben, und bis heute sind es Hunderte mehr geworden. Wir wollen jetzt nicht zum Jünger eines dieser Denker werden, sondern nach dem alltäglichen Sprachgebrauch fragen.

Ein Strafverfahren ist nämlich kein philosophisches Symposion, sondern der Versuch, einen sozialen Störfall so aufzuarbeiten, dass die Gesellschaft sich beruhigt und »Rechtsfrieden« hergestellt wird. Deshalb ist es richtig, einen gesellschaftlich akzeptierten Begriff von Wahrheit zu verwenden: Wahr ist etwas dann, wenn es der Wirklichkeit entspricht. Diese Definition dürften die meisten von uns für richtig halten, und sie genießt auch die höheren Weihen der Philosophie: Schon Aristoteles hat so gedacht

Das »Etwas«, dessen Wahrheit infrage steht, ist eine Behauptung, eine Aussage. Unser Thema ist ja, wann ein Gerichtsurteil auf Wahrheit beruht, und da dreht es sich immer darum, die Wahrheit von Behauptungen zu überprüfen. So ist, um ein theoretisches Beispiel zu nehmen, der Satz »Dieser Schwan ist weiß« dann wahr, wenn es sich bei dem Tier, auf das sich die Aussage bezieht, um einen Schwan handelt und es weiß ist. Wenn es nicht ganz weiß, sondern ein bisschen grau ist, stört das nicht weiter, weil wir die Welt der Schwäne nun einmal in eine weiße und in eine schwarze eingeteilt haben.

Bei alledem setzen wir voraus, dass auf der Suche nach der Wahrheit dieselbe Sprache gesprochen wird. Amaru würde das Tier in der Sprache seiner Heimat vielleicht ganz anders benennen. Außerdem müssen wir sicher sein, dass derjenige, der eine Behauptung aufstellt, einigermaßen vernünftig ist. Wenn jemand auf einen Tisch deutet und sagt: »Das ist Konstantinopel«, dann ist er entweder böswillig oder schwachsinnig. Er gehört nicht zur Sprachgemeinschaft der Vernünftigen. Entscheidend für die Wahrheit ist also die »Korrespondenz«, die Übereinstimmung der Aussage mit der Wirklichkeit.

Was ist es nun also, das die halbe Wahrheit von der ganzen unterscheidet? Der Jurist wird die Lieblingsantwort aller Juristen geben: »Das kommt darauf an.« Aber ist es nicht so, dass es nur eine Wahrheit geben kann, eine ungeteilte, für alle gültige? Was wahr ist, muss wahr bleiben – in dieser Erwartung leben wir. Worauf soll es denn da noch ankommen? Zunächst einmal darauf, welche »Wirklichkeit« wir in Erfahrung bringen wollen, also unsere Erwartungshaltung. Ein Beispiel: Ein Ministerpräsident wird vom Landtag gefragt, ob er geschäftliche Beziehungen zu einem Unternehmer namens Immo Bilien habe oder hatte. »Nein«, sagt der Ministerpräsident. Na ja, private Beziehungen gab es schon, wie sich herausstellte, nämlich einen Kredit fürs Häuslebauen. Den hat der Ministerpräsident verschwiegen. Juristisch, sagt sein Büro, habe er sich korrekt verhalten und wahrheitsgemäß geantwortet. Spitzfindig sei das, jault die Opposition auf, haarspalterisch, typisch formaljuristisch. Das war nicht die ganze Wahrheit!

Warum denn nicht, nach mehr hat man doch nicht gefragt?

Aber mehr erwartet hat man: moralische Integrität, untadeliges Verhalten, vorbildliches Benehmen. Die Frage des Landtags war »juristisch« begrenzt, der Anspruch aber, der dahinter stand, moralisch umfassender. Gemessen daran war die juristisch ganze Wahrheit »eigentlich« nur die halbe.

Wenn wir uns über dieses »Eigentliche« verständigt haben, also den Ausschnitt des Geschehens, den wir wissen wollen und über den die Wahrheit gesagt werden soll, kommt es immer noch darauf an. Dieses Mal auf die Perspektive.

Es gab einmal eine Kontroverse zwischen einem Juristen und einem Psychiater. Das tatsächliche Geschehen, über dessen Deutung sie sich stritten, war ganz einfach: Eine Frau nahm einen Anhalter mit. Der zog auf einmal eine Pistole, richtete sie auf die Jeans der Frau, zwang sie anzuhalten, entriss ihr die Handtasche, stieg damit aus und verschwand im Gebüsch. Das Streitgespräch zwischen dem Juristen und dem Psychiater verlief etwa so:

Der Jurist: »Ein klarer Fall. Handtaschenraub. Das weiß ja jeder. Hätte die Frau dem Anhalter die Tasche gegeben, wäre es räuberische Erpressung, was aber auf dasselbe hinausläuft. Mit solchen juristischen Feinheiten müssen wir uns hier nicht abgeben. Ich sollte aber noch zwei Dinge hinzufügen: Der Mann hat eine Waffe benutzt, sodass es sich um einen schweren Raub handelt; Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren. Überdies hat er die besonderen Verhältnisse des Straßenverkehrs ausgenutzt, sodass der Tatbestand des räuberischen Angriffs auf Kraftfahrer vorliegt, ebenfalls bedroht mit mindestens fünf Jahren.«

Der Psychiater: »Sie wollen diesen armen Kerl wirklich mindestens fünf Jahre einsperren? In Wahrheit hat sich hier etwas ganz anderes abgespielt. Die Pistole ist doch nur ein Symbol; das sieht man schon an der Zielrichtung auf den Unterleib der Frau. Und die Handtasche ist nur der Ersatz für etwas, das zu fordern er sich nicht getraut hat, ein Fetisch sozusagen.«

»Wollen Sie ihn etwa wegen versuchter Vergewaltigung verurteilen?«

»Es ist tatsächlich in Wahrheit eine versuchte Vergewaltigung.«

»Hören Sie, die Pistole ist nun einmal eine Pistole und kein Penis. Sie halten sich nicht an die Wirklichkeit, Sie deuten sie!«

»Das tun Sie doch auch. In Ihrem Gesetz ist nicht von ›Pistole‹ die Rede, sondern von ›Gewalt‹, und Sie deuten die Pistole als ein Mittel von Gewalt. So weit sind wir gar nicht auseinander, weil Vergewaltigung auch ein Gewaltdelikt ist.«

»Aber er hat nun einmal eine Handtasche weggenommen und die Frau nicht sexuell bedrängt.«

»Wie ich schon sagte: als Ersatz. Eigentlich wollte er etwas anderes.«

»Selbst wenn er das zugeben würde, müsste man ihn wegen Raubes bestrafen. Gedanken, aus denen nichts geworden ist, sind nicht strafbar.«

»So verfahren Sie als Jurist, aber Sie verfehlen damit die wirkliche Dimension des Falles. Wenn Sie glauben, Sie hätten damit die Wahrheit gefunden, dann ist es eine andere Wahrheit und bestenfalls die halbe. So einseitig werden Sie dem Fall nicht gerecht.«

Da war sie wieder, die halbe Wahrheit. Wer hat denn nun recht?

Salomonisch gesprochen: beide. Sowohl der Jurist als auch der Psychiater sprechen über eine identische »Wirklichkeit«, nämlich dasselbe konkrete Geschehen. Aber sie sehen die Fakten aus unterschiedlichen Perspektiven, und so ergeben sich diverse Wahrheiten. Wie gesagt – es kommt darauf an. Jeder will dem Fall auf seine Weise gerecht werden, jeder hat seine Ziele. Der Psychiater will eine Persönlichkeitsstörung diagnostizieren, um sie zu therapieren, und der Jurist will herausfinden, ob eine Straftat vorliegt, um mit den Mitteln des Strafrechts darauf zu reagieren.

Was der Jurist für Gerechtigkeit hält, mag aus der Sicht anderer Denkweisen dem Fall nicht »gerecht« werden. Jeder hat so sein Programm. Das Programm des Juristen ist das Strafgesetzbuch, das er auf den Fall anwenden muss. Also filtert er die Wirklichkeit, indem er von ihr lediglich das aufnimmt, was für die Vorgaben des Programms wichtig ist. Das Ergebnis dieser Auswahl kann aber nur dann »gerecht« sein, wenn das Programm gerecht gestaltet ist.

Das befindet sich, wie gesagt, im Strafgesetzbuch. Dort stehen die Straftatbestände, die Umschreibungen der Delikte also. Eindeutig formuliert sind sie nie, sodass man sie immer auslegen muss. Über die richtige Auslegung herrscht oft Streit zwischen Gericht, Staatsanwaltschaft und Verteidigung. Ist sie falsch, kann die Strafe nicht gerecht sein (davon wird hier später noch die Rede sein).

Alle Künste der Auslegung helfen nichts, wenn schon das Gesetz ungerecht formuliert ist. Das ist zwar nicht das Thema dieses Buches. Aber einen kurzen Ausflug in dieses Gebiet müssen wir dennoch unternehmen, weil die Wahrheit einen schalen Beigeschmack bekommt, wenn sie sich auf ein verfehltes Gesetz bezieht.

Exkurs: Der empörte Gesetzgeber

Wäre es denn gerecht, unseren Anhalter – den aus dem Beispiel mit der Pistole und der Frau – die ganze Härte des Gesetzes spüren zu lassen? Die drakonische Strafe von fünf bis fünfzehn Jahren für einen »räuberischen Angriff auf Kraftfahrer« geht auf einen Fall aus den Dreißigerjahren des letzten Jahrhunderts zurück. Die Gebrüder Götze hatten im Grunewald zwischen zwei Alleebäumen ein Drahtseil über die Chaussee gespannt und die so gestoppten Automobilisten ausgenommen. Die Empörung war groß, und es ging ganz schnell mit dem neuen Gesetz. In der ersten Erregung, sozusagen blind vor Wut, sollte man aber nichts unternehmen, jedenfalls als Gesetzgeber nicht.

Er muss ein Gesetz für alle Fälle machen, soll heißen, für das ganze Spektrum zukünftiger Fälle, von den leichten bis zu den schwersten. Starrt er nur mit Tunnelblick auf eine singuläre, schockierende Tat, geht das schief. Mopeds, die es damals noch nicht gab, sind auch Kraftfahrzeuge. Wer also heute einen vom Moped stößt, das mit Tempo 20 herumknattert, hat einen Kraftfahrer angegriffen. Er sollte sich lieber an Mountainbikern vergreifen oder an Rennradfahrern. Die sind zwar oft noch schneller, aber eben nicht Kraftfahrer. Wenn sie vom Rad geschubst werden, ist jenes fürchterliche Strafgesetz nicht anwendbar.

Übereilt beschlossene Gesetze, die unter dem noch frischen Eindruck skandalöser Taten geschaffen werden, sind häufig fürchterlich. Sie »passen« dann unversehens auch auf Fälle, für die sie nicht gedacht waren.

Vor nicht langer Zeit erschraken unsere Abgeordneten, als deutsche Waffen im Iran auftauchten, einem Land, das damals mit einem Embargo belegt war. Man fand, dass die angedrohte Strafe für Embargoverstöße viel zu gering sei, und erhöhte den Strafrahmen im ersten Zorn auf nicht unter zwei bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe. Wenig später stand ein deutsches Ehepaar vor Gericht, dessen Geschäft der Vertrieb tiefgefrorener Himbeeren war. Sieben Wagenladungen davon hatte das Paar aus dem Gebiet Exjugoslawiens importiert, was es nicht durfte, weil es ein Embargo gab und der Handel mit solchen Gütern darunterfiel. Sie deklarierten deshalb das Herkunftsgebiet um. Das fiel bei Grenzkontrollen auf, und sie wurden angeklagt. Das Urteil, gegründet auf sieben Fälle verbotenen Imports aus einem Embargogebiet, lautete auf dreieinhalb Jahre Gefängnis.

Wer das als überhart empfindet, sollte dem Richter keinen Vorwurf machen. Für hartnäckige Verstöße kann er schließlich nicht die Mindeststrafe von zwei Jahren aussprechen, wenn es »nach oben« bis zu zehn Jahren geht.

Das Programm also gibt vor, welchen Ausschnitt der Wirklichkeit man suchen muss, um die Wahrheit festzustellen. Ungerechte Programme sind aber ebenso wenig unser Thema wie die nicht sachgerechte Auslegung eines Strafgesetzes. Die weitere, dritte Bedingung für Gerechtigkeit ist, dass im Strafverfahren alles richtig gemacht wird, und es ist dieser Prozess der Wahrheitsfindung, um den es hier geht.

Kein Straf-Recht ohne Prozess

Da muss man erst einmal innehalten und sich an etwas Wesentliches erinnern: Ohne einen Strafprozess gibt es keine Wahrheit. Ein Straf-Recht, also ein Recht zu strafen, entsteht für den Staat erst durch ein rechtskräftiges Urteil am Ende eines Strafverfahrens. Man liest landauf, landab in den Gazetten, aber selbst in juristischen Kompendien, von einem »Strafanspruch«, der dem Staat aus der kriminellen Tat erwachsen soll, und der nun im Strafprozess durchgesetzt werden müsse. Das ist unsinnig (und wenn es einen milderen Ausdruck für den dahintersteckenden Denkfehler gäbe, würde ich ihn verwenden).

Stellen wir uns einmal folgende Situation vor: Es klingelt an der Tür zur Justizvollzugsanstalt – wie das Gefängnis ja eigentlich heißt –, und draußen steht ein Dieb, der erklärt: »Ich habe die Tat begangen, ich gestehe sie! Ihr habt doch einen Strafanspruch, den ich jetzt erfüllen will!«

Wer nun glaubt, die schweren Tore würden sich öffnen und der geständige Dieb würde direkt in eine Zelle eskortiert, der irrt. Vielleicht schickt man ihn kopfschüttelnd nach Hause, vielleicht in die »Nervenheilanstalt«, aber ins Gefängnis kommt er sicher nicht. Im Strafrecht ist es eben anders als in anderen Rechtsgebieten. Wenn man ein Darlehen aufgenommen hat, darf der Gläubiger erwarten, dass sein Schuldner den Rückzahlungsanspruch erfüllen wird. Geschieht das nicht, riskiert der Schuldner eine Klage.

Überall im Recht ist der Prozess nur das letzte Mittel, zu seinem Recht zu kommen. Im Normalfall läuft alles glatt: Die Beteiligten halten sich an ihre Verträge und erfüllen ihre Verpflichtungen. Selbst wenn einmal Streit ausbricht, lässt er sich schlichten, ohne dass die Parteien den Staat und seine Gerichte zu Hilfe rufen müssen. Im Strafrecht aber muss es immer zum Prozess kommen – es gibt keine Ausnahme. Niemand kann an der Gefängnispforte rufen: »Ich habe Schuld auf mich geladen und bin dem Staat etwas schuldig!« Das ist so unmöglich wie absurd.

Schuldig ist man nur, wenn man vom Gericht schuldig gesprochen worden ist. Wenn wir das ohnehin absurde Beispiel des Diebes, der den Strafanspruch des Staates erfüllen möchte, auf die Spitze treiben wollten, könnten wir den Wachtmeister, der an der Pforte des Gefängnisses sitzt, noch sagen lassen: »Wir können Sie nicht brauchen, denn für Sie gilt die Unschuldsvermutung!« Da würde unser Dieb wohl wirklich irre werden, an sich oder den anderen.

Fazit: Einen »Strafanspruch« kann man nicht erfüllen, nicht zugestehen und nicht anerkennen – weil es ihn nicht gibt. Ein Recht zu strafen entsteht erst am Ende eines Strafprozesses.

Die Ziele des Strafverfahrens

Im Strafprozess soll vor allem die Wahrheit ans Licht kommen. Alle Welt will wissen, was »wirklich« gewesen ist. Aber es geht nicht allein darum. Gerecht soll das Urteil sein, und es soll die Sache so abschließen, dass man einen Strich darunter ziehen kann.

Ein Prozess hat also drei Ziele, die er zu erreichen sucht: Wahrheit, Gerechtigkeit und Rechtsfrieden. Doch diese Dreifaltigkeit ist leider nicht immer auch eine Dreieinigkeit. Im Idealfall ist das Urteil gerecht, weil es auf Wahrheit beruht und deshalb Rechtsfrieden schafft. Manchmal ist man allerdings gezwungen, Zielkonflikte auszubalancieren und mit Defiziten zu leben.

Es muss auch eine Gerechtigkeit geben, die nicht von der »absoluten« Wahrheit abhängt, weil die nicht immer erreichbar ist, dennoch aber eine endgültige Entscheidung der Sache ansteht und zwingend getroffen werden muss. Der weise Salomo ist gerade deshalb so berühmt geworden, weil er es geschafft hat, als gerecht empfundene Urteile zu fällen, obwohl unklar blieb, was eigentlich stimmte und was nicht.

Die sprichwörtlichen salomonischen Urteile haben überdies Rechtsfrieden geschaffen und damit das dritte Ziel des Strafverfahrens erfüllt. Jetzt könnten Sie sich fragen: Wie kann durch ein Urteil Rechtsfrieden erlangt werden, wenn die Wahrheit auf der Strecke geblieben ist? Das klingt merkwürdig, ist aber jedem vertraut und gewissermaßen alltäglich. Ein Beispiel: Der FC Bayern hat 1:0 gewonnen. Borussia Dortmund hatte allerdings in der 78. Minute noch ein Tor geschossen, das der Schiedsrichter nicht anerkannte. Zu Unrecht, wie sich später herausstellte, denn die Wiederholung in der Sportschau bewies, dass der Torschütze nicht im Abseits gestanden hatte. Doch Entrüstung ist zwecklos, denn so sind nun einmal die Regeln im Fußball. Der Schiedsrichter hat eine Tatsachenentscheidung getroffen, und damit muss man leben. Es findet sich auch jeder damit ab, früher oder später. Oder können Sie sich noch erinnern, welches scheinbare Abseitstor vor einem Monat zu Unrecht nicht gegeben wurde?

Im Strafrecht ist das ähnlich, aber differenzierter. Werden die Urteilsgrundlagen nachträglich so gründlich erschüttert, dass man nicht an dem Urteil festhalten und auf seiner Rechtskraft beharren darf, lässt der Staat unter bestimmten Voraussetzungen die Wiederaufnahme des Verfahrens zu (der später ein eigenes Kapitel gewidmet ist). Dabei, so viel sei vorweg gesagt, ist zu unterscheiden. Eine Verurteilung kann man schon dann »kippen«, wenn dem alten Urteil im Lichte neuer Tatsachen oder Beweismittel die Grundlagen entzogen sind. Einen Freispruch jedoch, der im Lichte neuer Tatsachen oder Beweismittel zweifelhaft erscheint, nimmt der Rechtsstaat hin. Lieber einer zu Unrecht freigesprochen als einer zu Unrecht verurteilt. Beides ist ungerecht. Der eine Mangel an Wahrheit und Gerechtigkeit ist jedoch leichteren Herzens zu verkraften als der andere.

Das vergrabene Goldstück

Die Wahrheit muss ans Licht kommen. Sie liegt also zuerst einmal im Dunkeln, ist verborgen: Die Wahrheit, so stellt man sich das bei uns vor, ist wie ein vergrabenes Goldstück, das man suchen muss. Man kann sie finden, weil es sie »gibt«. Es gibt sie auch dann, wenn man sie nicht findet. Sie existiert nun einmal, wie das vergrabene Goldstück. Und die Schürfrechte liegen allein beim Gericht. Es hat das Recht und die Pflicht, den Schatz der Wahrheit zu heben.

Anderswo sieht man das anders. Da glaubt man nicht, dass die Wahrheit existiert, sondern dass sie erst im Prozess konstruiert und produziert wird. In amerikanischen Krimis beispielsweise kann man das gut verfolgen: Der Staatsanwalt und der Verteidiger präsentieren ihre Version des Geschehens, bekämpfen sich wie bei uns die Parteien in einem Zivilprozess. Der Richter dreht den Kopf mal nach links und mal nach rechts und sieht zu, wie die Argumente fliegen. Wer die big points macht, gewinnt.

»Aber«, mag der skeptische Deutsche an dieser Stelle sichtlich befremdet einwenden, »dann hängt die Wahrheit ja von den Parteien ab, ist also letztlich ›parteiisch‹. Es darf doch nicht sein, dass die Beteiligten über die Wahrheit disponieren können!«

Warum eigentlich nicht? Im Zivilprozess ist das auch bei uns gang und gäbe. Wenn die Parteien da nicht streiten, denkt der Richter gar nicht erst darüber nach, ob es zutrifft, was der Kläger vorträgt. Ein Beispiel: Der Kläger behauptet, er habe dem Beklagten ein Darlehen gegeben, und der sei mit der Rückzahlung in Verzug. Erklärt der Beklagte nun, dass alles so stimme, wie es der Kläger vorgetragen habe, dann sind die Tatsachen, auf die der Richter sein Urteil gründet, zugestanden. Das bedeutet, sie stehen »außer Streit«, und der Richter muss sie als wahr behandeln. Ob sie auch wahr »sind«, geht ihn gar nichts mehr an. Sie stehen selbst dann »außer Streit«, wenn der Beklagte sich nicht äußert, sondern einfach schweigt und sie nicht bestreitet.

Was für eine grauenhafte, undenkbare Vorstellung im Strafprozess: Der Angeklagte schweigt und wird einfach deshalb verurteilt. Er hat ja das Recht zu schweigen, braucht nichts zu bestreiten und schon gar nicht zu beweisen. Es ist die Aufgabe des Gerichts, mühsam herauszufinden, wie es wirklich gewesen ist. Im Zivilprozess kann die Partei sagen: »Machen Sie sich keine Mühe, Herr Richter, stimmt so.« Oder eben gar nichts, und dann stimmt es auch, was die Gegenpartei vorgetragen hat.

Wenn das noch Wahrheit genannt werden darf, mäkeln die Strafrechtler, dann ist es eine nur formelle Wahrheit, inakzeptabel im Strafprozess und minderwertig. Da kommt es auf die »materielle« Wahrheit an, ohne Wenn und Aber, und es liegt allein in der Macht des Gerichts, sie zu finden. Die Parteien dürfen darüber nicht disponieren.

»Parteien« war nicht der richtige Ausdruck. Im Strafprozess gibt es keine Parteien. Der Angeklagte – beziehungsweise sein Verteidiger – und der Staatsanwalt sind meistens Gegner, aber nicht »Parteien«. Das hat seinen Grund in den Unterschieden von Zivilrecht und Strafrecht.

Verträge kann man aushandeln, wie man will, von wenigen zwingenden Vorschriften einmal abgesehen. Folglich darf man auch im Prozess disponieren. Es geht ja um die eigenen, privaten Interessen, und da ist jeder seines Glückes Schmied – oder seines Unglücks, wenn er nicht aufpasst.

Im Strafprozess dagegen muss der Staat aufpassen, denn es ist sein Recht, sein Strafrecht, das er durchsetzen will und über das man natürlich nicht verhandeln kann. Raub ist Raub, und Betrug ist Betrug. Täter und Opfer können nicht sagen: »Wir haben das zwischen uns anders geregelt«, also können sie auch im Prozess nicht die Wahrheit unter sich ausmachen.

In den USA sieht man übrigens den Unterschied zwischen Strafrecht und Zivilrecht nicht so deutlich und schon gar nicht so krass wie in Deutschland, und deshalb gibt es bei unseren amerikanischen Freunden durchaus die Möglichkeit, im Strafrecht zu verhandeln. Die Rede ist vom »Deal«, der über den großen Teich zu uns gekommen ist wie Burger und Cola. Neuerdings ist er unter dem vornehmeren Begriff »Verständigung« in die deutsche Strafprozessordnung aufgenommen worden, aber es ist etwas anderes daraus geworden. Ein Monstrum nämlich, das wir später noch genauer beschreiben müssen. Der deutsche Gesetzgeber, so viel vorab, konnte nicht über die Schatten der Vergangenheit springen. Es sind düstere Schatten, denn sie werden vom Inquisitionsprozess des Mittelalters geworfen. Von dessen schrecklichen Seiten sind wir zwar befreit, aber das inquisitorische Prinzip ist uns geblieben, die eherne Regel nämlich, dass das Gericht »inquiriert«, untersucht und die Wahrheit sucht, allein und in aller Machtvollkommenheit.

In einer »Absprache« oder einem »Deal« kann man sich über dies und jenes verständigen, wie wir noch sehen werden niemals aber über die Wahrheit. Es gibt nun zwar gewisse konsensuale Momente in unserem Prozess. Der Gesetzgeber wird, als er die alltägliche Praxis der Verständigung akzeptiert und toleriert hat, dabei wohl verschämt zu Boden geschaut haben. Eine Wahrheit jedoch, die sich aus einem Konsens ergibt, erschien ihm dann doch als Teufels Beitrag zum Werk der Gerechtigkeit. Da malte er schnell noch den Drudenfuß der »materiellen Wahrheit« auf die Schwelle zum Gerichtssaal, um den Dämon der »vertraglich vereinbarten Wahrheit« draußen zu halten.

Die Verfahrensbeteiligten sind keine Marionetten. Aber das Gericht hat nach wie vor die Fäden in der Hand und vor allem den Faden der Ariadne, der durch das Labyrinth der Wirklichkeit zum Goldschatz der Wahrheit führt.

Man kann in niemanden hineinschauen

Nicht alles jedoch, dessen Wahrheit erwiesen sein muss, lässt sich »ausgraben«. Bilder wie die vom verborgenen Goldstück haben ihre Grenzen. Leichen kann man exhumieren, Pistolen im Teich finden, Handelsbücher im Müll und Bilanzen im Computer. Objektiv, gegenständlich in diesem Sinne sind aber nicht nur »Dinge«, die man anfassen kann. Auch die »Zahlungsunfähigkeit« zum Beispiel ist ein Begriff, den man auf Handfestes reduzieren, objektivieren und also eindeutig »beweisen« kann.

Wie aber ist das mit alledem, was sich im Kopf abspielt, der »subjektiven Tatseite«, wie das im Wörterbuch der Justiz heißt? Gesteht der Beschuldigte – was er nicht muss –, mag das falsch sein; sagt er nichts – was sein gutes Recht ist –, muss man sich mit Indizien behelfen. Davon wird noch oft die Rede sein. Im Augenblick geht es nur darum, zu illustrieren, wie eminent wichtig es ist, zu wissen, was sich der Verdächtige gedacht hat.

Dafür halten wir uns an einen ganz einfachen erfundenen Fall: Der Täter hat die Pistole in Richtung des Opfers erhoben und abgedrückt. Es gibt Zeugen dieses Geschehens. Das Opfer hat einen Streifschuss am Oberarm erlitten; es ist nur eine Fleischwunde. Wir stellen uns vor, dass es zum Prozess kommt.

Der Richter beugt sich vor und fragt den Angeklagten: »Was haben Sie sich dabei gedacht?«

Der Angeklagte summt vor sich hin.

»Haben Sie meine Frage verstanden?«, fragt der Richter.

»Ja, habe ich.«

»Warum trällern Sie dann vor sich hin?«

»Ich singe mir ein Liedchen. Altes Volkslied.

Die Gedanken sind frei.

Wer kann sie erraten?

Sie fliegen vorbei

Wie nächtliche Schatten.

Kein Mensch kann sie wissen,

Kein Jäger erschießen

Mit Pulver und Blei:

Die Gedanken sind frei!«

Der Richter lehnt sich gelassen zurück, er zählt nicht zu denen, die nun poltern würden, dass das hier keine Volksmusiksendung sei, der Komödienstadel oder sonst etwas. »Gedanken sind in der Tat nicht strafbar«, erwidert er. »Aber Sie haben ja Gedanken in die Tat umgesetzt, mit Pulver und Blei, und ich muss wissen, welche Gedanken das waren.«

Der Angeklagte hat aufgehört zu summen und schweigt.

Die Stimme des Richters bekommt einen gewissen Unterton, der schärfer wird, je mehr er das Szenario steigert. »Hören Sie, es kann ja sein, dass Sie danebenschießen, ihr Opfer nur erschrecken wollten und aus Versehen getroffen haben. Das wäre fahrlässige Körperverletzung. Oder Sie haben zwar auf ihn gezielt, aber gedacht, die Waffe sei nicht geladen. Auch das wäre nur fahrlässig, es sei denn, Sie hätten damit gerechnet, dass vielleicht doch ein Projektil im Lauf ist. Vielleicht war es aber so, dass Sie ihn treffen, aber nicht töten wollten. Dann sind wir schon bei gefährlicher Körperverletzung und einer Höchststrafe von zehn Jahren. Hatten Sie vor, ihn zu erschießen, ist es versuchter Totschlag – mindestens. Daraus wird schnell ein Mordversuch, sprich lebenslänglich. ›Niedrige Beweggründe‹ und ›Heimtücke‹ sind Mordmerkmale. Waren Sie eifersüchtig auf ihn, wollten Sie an sein Geld, hat das Opfer überhaupt nicht mit einem Angriff gerechnet? Das sind die Fragen, die wir klären müssen, und Sie könnten uns dabei helfen.«

»Muss ich nicht, will ich nicht«, sagt der Angeklagte. Da hat er recht. Aber es ist nicht immer sinnvoll und angenehm, recht haben zu wollen. Er könnte natürlich ein Zweckgeständnis abgeben nach dem Motto: »Wenn Sie mich so fragen, wollte ich ihn nur erschrecken.« Da wird nachgehakt werden. Im Strafverfahren zählt nur das glaubhafte Geständnis. Das Gericht ist verpflichtet, dessen Glaubwürdigkeit zu überprüfen und zu dokumentieren. Man wird das Verhältnis zwischen Täter und Opfer durchleuchten. Waren sie verfeindet, gab es akute Konflikte, hat der Täter schon einmal geäußert: »Den Kerl bringe ich um«? Geben Facebook, Twitter & Co. etwas her? Was hat der Täter nach der Tat getan und zu wem gesagt? Wie ist er an die Waffe gekommen? Ist er erfahren im Umgang mit Waffen und so weiter? Man braucht also Beweise für oder gegen die Glaubwürdigkeit des Geständnisses. Und wenn der Angeklagte ganz und gar schweigt, muss man sich eben auf andere Weise ein Bild machen. Davon handeln die nächsten fünf Kapitel.

An der Universität haben die Studenten im ersten Semester ihres Studiums »Jura«, nachdem ich ihnen einen Fall präsentiert und sie aufgefordert hatte, ihn zu lösen, meist gefragt, mit großen Augen und zweifelndem Blick: »Wie kann man das denn beweisen?« Da musste ich immer sagen: »Das kriegen wir später, wenn das Prozessrecht besprochen wird.« Später ist jetzt, in diesem Buch.

Kapitel 2: Wie sich Beweise führen lassen

Mit dem Beweis ist es wie mit der Wahrheit: »Den« Beweis gibt es ebenso wenig wie »die« Wahrheit. Es kommt eben darauf an, ob man die Existenz Gottes beweisen will, die Unendlichkeit des Weltalls, die Wirksamkeit eines Medikaments oder was auch immer. Die Strafjustiz sucht nach Beweisen für eine Tat und ihren Täter. Dieser Zweck prägt die Wahl der Mittel.

Glauben und Wissen

Wie wird der Kommissar das beweisen? Wir wissen ja, wer es war. Der Fernsehkrimi hat mit der Tat angefangen. Findet der Kommissar den Täter, und kann er ihn überführen? Oder wir haben es mit der anderen Sorte von Krimis zu tun, bei denen der Kommissar schon zu Beginn sagt: »Ich weiß, dass er es war«, womit er allerdings nur eine Ahnung ausdrückt und auf die Frage der strengen Staatsanwältin (es sind, im Krimi wie im wirklichen Leben, meistens Frauen) einräumen muss: »Nein, Beweise habe ich noch nicht.« Dieser Kommissar »weiß« ja eigentlich nichts. Er hat eine persönliche Überzeugung, die sich aber nicht auf Fakten gründet, eine bloße Vermutung, ein Bauchgefühl. Hochtrabend gesagt, ist seine Überzeugung intersubjektiv nicht verifizierbar, also anderen nicht so zu vermitteln, dass sie nachvollziehbar und eben »überzeugend« ist. So aber soll es sein, und natürlich nicht nur für die Kriminalpolizei.