Die Warnung - Hans-Jürgen Papier - E-Book

Die Warnung E-Book

Hans-Jürgen Papier

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Beschreibung

Vor dem Gesetz sind alle gleich. Doch was geschieht, wenn geltendes Recht nicht mehr für jeden gilt und nicht ausnahmslos greift? Wenn gefällte Urteile nicht vollzogen werden? Wenn der Staat auf neue Entwicklungen in Zeiten von Digitalisierung und Globalisierung nicht angemessen reagiert? Wenn die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit zunehmend zu Lasten der Freiheit verloren geht? Wenn zwar der Sozialstaat weiter ausgebaut wird, die Kernaufgaben des Rechtsstaates aber vernachlässigt werden? All dies ist heute in Deutschland zu beobachten und weist auf eine besorgniserregende Entwicklung hin. Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts warnt eindringlich vor einer Erosion des Rechtsstaates, insbesondere vor einer Schwächung der Judikative.

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Vor dem Gesetz sind alle gleich. Doch was geschieht, wenn geltendes Recht nicht mehr für jeden gilt und nicht ausnahmslos greift? Wenn gefällte Urteile nicht vollzogen werden? Wenn der Staat auf neue Entwicklungen in Zeiten von Digitalisierung und Globalisierung nicht angemessen reagiert? Wenn die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit zunehmend zulasten der Freiheit verloren geht? Wenn zwar der Sozialstaat weiter ausgebaut wird, die Kernaufgaben des Rechtsstaates aber vernachlässigt werden? All dies ist heute in Deutschland zu beobachten und weist auf eine besorgniserregende Entwicklung hin. Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts warnt eindringlich vor einer Erosion des Rechtsstaates, insbesondere vor einer Schwächung der Judikative.

HANS-JÜRGEN PAPIER

DIE WARNUNG

Wie der Rechtsstaat ausgehöhlt wird

Deutschlands höchster Richter a. D. klagt an

Unter redaktioneller Mitarbeit von Dr. Petra Thorbrietz

Wilhelm Heyne Verlag

München

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Copyright © 2019 by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch Agentur Stefan Linde

Redaktion: Dr. Thomas Tilcher

Covergestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

unter Verwendung eines Fotos von

© Kay Blaschke / Random House

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-24673-0V005

www.heyne.de

Meiner Frau

Inhalt

Einleitung: Risse im Fundament der Republik

1 Ist das Recht nur was für Dumme?

2 Der Wert der Freiheit: oft unverstanden und missachtet

Keine Demokratie ohne Grundrechte · Der Wert der Freiheit · Sicherheit als Staatsziel · Die Verfassung in Schräglage · Die Ausdehnung der Polizeigewalt · Die Polizei ist kein Nachrichtendienst · Die Schutzpflicht des Staats · Auch Terroristen haben Menschenwürde · Strenge Strafen gewinnen Sympathien · Die Ethik des Abhörens · Der Kernbereich der Privatsphäre · Digitaler Lifestyle – das Ende der Privatheit? · Daten auf Vorrat · Die Gedanken sind frei · Das Dilemma des Rechtsstaats

3 Kapituliert der Rechtsstaat? Von »Asyl« bis »Zuwanderung«

Mitgefühl ersetzt kein Recht · Juristischer Verschiebebahnhof · Das deutsche Asylgrundrecht weitgehend abgeschafft · Ausnahmeentscheidung oder Kontrollverlust? · Vom Sinn der Abweisung · Schengen muss dringend reformiert werden · Menschenrechtsverletzungen mit deutscher Hilfe · Verfolgt oder gefährdet? · Anspruch auf Aussitzen · Rechtsbrüche und Politikversagen · Menschlichkeit auf Basis des Rechts · Seenotrettung ist selbstverständlich · Im Schatten der Illegalität · Abschieben ist schwer · Unterschiede berücksichtigen · Unsere »Leitkultur« ist die Vielfalt · Handlungsoptionen für Deutschland · Eigenstaatlichkeit in der EU · Zukunftsorientierte Migrationspolitik · Schöne Worte als Soft Law

4 Selbstjustiz: Gefährliche Entwicklungen

Das Gesetz der Clans · Parallelgesellschaften · Im Namen der Ehre · Autoritätsverlust der Familie · Auch Ehrenmord ist Mord · Die ehrenwerten Gesellschaften · Diebe im Gesetz · Kinder als Räuber · Wegsehen ist ein Rechtsbruch · Ziviler Ungehorsam · Moral ist vergänglich · Keine Öko-Diktatur · Die beste aller Welten? 

5 Die globale Digitalisierung: grenzenlose Herausforderung

Von der Volkszählung zur Datenwirtschaft · Europäisches Hickhack um Vorratsdaten · »Alexa – hör weg!« · Der »kleine« Lauschangriff · Facebook und kein Ende · Das Grundgesetz in der digitalen Ära · Beschneidung der Meinungsfreiheit · Urheberrecht im Internet · Keine »Vermummung« im Netz! · Meinungsfreiheit neu denken? · Ein Rundfunkgesetz fürs Internet? · Die Datenschutz-Grundverordnung der EU · Ist der Zug abgefahren? · Im Ausland rechtlos? · Sollbruchstelle Datenschutz · Die Gefahr der Überwachungsgesellschaft

6 Politik und Verfassung: auf Kollisionskurs

Unbequeme Hüter · Rechtserkenntnis statt Politik · Kontrolle, nicht Gestaltung · Rote Karte für die Politik · Der Streit ums ungeborene Leben · Auftrag zur Wiedervereinigung · Zurechtgerückt · Deutschland im Krieg · Systeme kollektiver Sicherheit · Out of area · Umgehung des Bundestags · Bündnispartner allein reichen nicht · Auslandseinsätze bleiben beschränkt · Die Ehe im Zeitgeist · »Soli« ohne Rechtsgrundlage · Kein Dauerzustand · »Reichensteuer« ist keine legitime Lösung · Gerecht ist anders · Strukturelle Vollzugsdefizite · Die Dummensteuer · Cum-Ex: Das Darknet der Banken · Eigentum für alle? · Guck-in-die-Luft · Im Zweifel für die Autolobby? · Gesetzgebung als (Symbol-)Politik · Keine rechtliche Rundumversorgung · Mehltau im Gesetzesdickicht · Recht soll schützen, nicht maßregeln · Ist das Schicksal einklagbar? · Der Filz des Steuerrechts · Staatsaufgaben führen zu Gesetzesflut · Eilige Kompromisse statt Klarheit · Zweifel am Recht · Gesetze müssen vollzogen werden · Die Abhängigkeit der Justiz von der Politik · Die richterliche Unabhängigkeit · Staatlicher »Rechtsungehorsam« · Durchrationalisierte Justiz · Selbstverwaltung als Allheilmittel? 

7 Die große Schwester: Europa und das Grundgesetz

Die Anfänge des europäischen Rechts · Die Grundrechte in der Gemeinschaft · Abtretung von Hoheitsrechten · Souveränität ist unverzichtbar · Bewahrung der Verfassungsidentität · Wechsel- und Nebenwirkungen · Dialog der Instanzen · Beispiel Datenschutz: EU-Recht ist strenger · Beispiel Frauen an der Waffe: EU-Recht ist konsequenter · Beispiel Kirchenrecht: EU-Recht ist neutraler · Der Fall Fransson: fragwürdige Zuständigkeit · Gerichte als Rivalen · Demokratieverluste an der Basis · Abgehobenheit der Eliten? · Das europäische Trilemma · Kein Superstaat · Nicht Ausbau, sondern Umbau · Was tut Deutschland? · Staatlichkeit als Wert

8 Mehr Rechtsbewusstsein!

Rechtsbruch als (Klima-)Politik · »Nachhaltigkeit« ins Grundgesetz · Verantwortung für die kommenden Generationen · Wie verankert man die Zukunft? · Stärkung von Identität und Vertrauen · Was ist »gutes« Recht? · Für eine effektive Klimapolitik ohne Übermaß an Ge- und Verboten · Wandel im Verfassungsverständnis · Machtverzicht des Bundestags · Der Einfluss der Lobbys · Placebo-Gesetze · Das Dickicht lichten · Staatsaufgaben in der Kritik · Der Parlamentarismus verblasst · Mediendemokratie · Die Simplifizierung von Politik · Mehr Initiativrecht für das Volk? · Schwachstelle Wahlrecht · Plädoyer für den Föderalismus · Chaos in der Asylpolitik: der Schuss vor den Bug · Bewusstsein statt Kalkül

Dank

Register

Einleitung

Risse im Fundament der Republik

»Einen tollen Text haben wir da, Dokument eines Urvertrauens in demokratische Kräfte, staatliche Verantwortung und individuellen Schutz; ein Vademecum der politischen Tugend.« So preist Der Tagesspiegel in seiner Ausgabe vom 23. Mai 2019 das deutsche Grundgesetz. Anlässlich des siebzigsten Jahrestags der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland wurde viel Lob über das Gesetzeswerk ausgeschüttet, das ursprünglich als Provisorium für eine Übergangszeit konzipiert war. Doch längst hat es – ergänzt, erweitert und inzwischen doppelt so umfassend wie die Ursprungsfassung – den Ruf des wiedervereinigten Deutschlands als eine der stabilsten rechtsstaatlichen Demokratien der Welt gefestigt.

Soweit die Außenansicht. Wer sich jedoch nicht von der strahlenden Oberfläche blenden lässt, entdeckt die Risse, die sich quer durch das Gebäude unseres Rechtsstaats ziehen, blinde Flecken und verwaiste Ecken, die dadurch entstanden sind, dass die Intentionen des Grundgesetzes immer häufiger ignoriert werden – von globalen Unternehmen, staatlichen Institutionen, von Bürgern, Politikern, vor allem aber auch vom Gesetzgeber.

Erfüllt das Grundgesetz wirklich noch eine seiner wichtigsten Aufgaben, nämlich Freiheit zu ermöglichen? Ersticken Selbstbestimmung und Verantwortung nicht längst unter einem Wust von Regelwerken, von denen viele Regularien aber gar nicht beachtet werden? Verkommt Gesetzgebung zur Symbolpolitik? Ist unsere hochgelobte Verfassung also so ehrwürdig wie ein poliertes altes Möbelstück, oder entfaltet sie noch die vitale gestalterische Kraft, die sie so wertvoll für den Rechtsstaat und die Demokratie macht?

Zwölf Jahre lang, von 1998 bis 2010, durfte ich, erst als Vizepräsident, dann als Präsident des unabhängigen Bundesverfassungsgerichts und Richter, meine Arbeit in den Dienst des Grundgesetzes stellen, in einer Phase, in der sich viele neue Herausforderungen für unsere Demokratie und den Rechtsstaat abzuzeichnen begannen. Es war ein spannender, erfüllender Abschnitt meiner Karriere als Jurist. Werde ich aber gefragt, ob Deutschland »in bester Verfassung« sei, muss ich das leider verneinen. Die Rechtsstaatlichkeit in unserer Republik ist vielen Angriffen ausgesetzt; das Bewusstsein, was da alles in Schieflage gerät, fehlt aber den meisten Bürgern. Viele von ihnen fühlen sich zwar vom Staat irgendwie ungerecht behandelt – ob es nun um Dieselabgase geht, Bauplatzbesetzungen oder die Asylpolitik –, aber sie verlieren das Bewusstsein dafür, dass sie selbst es sind, die den Rechtsstaat tragen, nicht »die Politik« oder »die Regierung«. Die Rechte und Werte, die unsere Verfassung garantiert, müssen immer wieder erinnert und erkämpft werden.

Deshalb habe ich mich entschieden, ein Buch zu schreiben, das sich an eine breite Öffentlichkeit richtet und den Wert des Rechtsstaats neu ins Bewusstsein rufen will. Fehlentwicklungen und Willkür müssen umgehend entlarvt und korrigiert werden, sonst ist unser Rechtsstaat in ernster Gefahr, und damit auch die Demokratie. Deshalb ist dieses Buch auch, wie es der Titel sagt, eine »Warnung«. Eine Warnung, die jeden einzelnen Bürger angeht.

1

Ist das Recht nur was für Dumme?

Es war einmal ein Land, in dem Freiheit, Sicherheit und Wohlstand herrschten – eine Demokratie, die sich Rechts- und Sozialstaat nannte. Ihr stabiles Fundament war das Grundgesetz, auf das die Deutschen stolz waren. Sie vertrauten in die Handlungs- und Zukunftsfähigkeit ihrer Republik. Die politische Landschaft war durch Parteien der Mitte geprägt, extremistische Gruppierungen von rechts und links hatten wenig Einfluss; der Terror der Roten Armee Fraktion in den Siebziger- und Achtzigerjahren konnte den Rechtsstaat nicht brechen, sondern stärkte ihn sogar. Die Wirtschaft erlebte eine beispiellose Erfolgsgeschichte und konnte den ökonomischen Wohlstand weiter Teile der Bevölkerung sichern. Das deutsche Demokratie-Modell wurde zum Vorbild für viele Staaten dieser Erde.

Und heute? Die großen Volksparteien stecken in der Krise, weil ihre Wähler sie im Stich lassen und entweder gleich zu Hause bleiben oder an die extremistischen Ränder abwandern. Ihre Politiker verteidigen sich gegenüber der jungen Protestgeneration, dass die Demokratie eben »kompliziert« sei, während in ihrem Rücken die Populisten aufsteigen, die gerne alles ganz einfach machen würden. Die Warnsignale sind nicht mehr zu übersehen: Wer hätte beispielsweise noch vor einem Jahrzehnt erwartet, dass eine ehemals so große und bedeutsame Volkspartei wie die SPD mit ihren ganz unbestrittenen Leistungen für den Staat und die Gesellschaft sich binnen weniger Jahre politisch nahezu marginalisiert? Auch bei der CDU/CSU bröckelt die Wählerschaft massiv. Stattdessen ist mit der AfD eine Partei in die Parlamente eingezogen, die legitim gewählte Volksvertreter anderer Parteien als »Volksverräter« verunglimpft.

Das schwindende Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Politik hat viele Ursachen – die Disruption und den digitalen Umbau der Wirtschaft, die Neuordnung der Welt durch die Globalisierung, den Klimawandel und die Zuwanderung von Migranten. Vor allem aber spiegelt es den drohenden Verlust einer gemeinsamen Werteordnung wider, die das Grundgesetz repräsentiert. Wer aber die Verfassung nicht achtet, verliert den zentralen Orientierungsrahmen unserer Gesellschaft.

Einen Großteil der Verantwortung für die sich abzeichnende Krise haben sich die Politiker – Männer wie Frauen – selbst zuzuschreiben. Indem sie seit Jahren immer wieder an der Verfassung vorbeiagieren und -regieren, sägen sie an dem Ast, auf dem sie selbst sitzen, dem Stammbaum der Demokratie. Denn auf Rechtsstaatlichkeit und Treue gegenüber dem Gesetz beruft man sich in diesem Land vielfach nur noch, wenn das gerade opportun scheint. Die Lobpreisung der Verfassungswerte in Sonn- und Feiertagsreden sind vielfach pure Lippenbekenntnisse. Im täglichen politischen Handeln aber erkenne ich nichts, das den schleichenden Verfall bremsen und der Erosion des Rechtsstaats wirksamen Einhalt gebieten könnte.

Dabei wäre es dringend notwendig, dass dieses Thema in unserer Gesellschaft neu diskutiert wird – angesichts des Wachsens extremistischer Kräfte, nicht nur bei uns, sondern auch in der gesamten Europäischen Union. Unsere Rechtsordnung populistisch schlechtzumachen ist einfach – stattdessen sollten gerade diejenigen, die entschiedene Befürworter und Hüter des demokratischen Rechts- und Sozialstaats sind, eine kritische Bestandsaufnahme wagen und sich nicht scheuen, den Finger in die Wunden zu legen. Denn es gibt einige davon.

Man muss sich davor hüten, Kritiker der Erosion und Fehlentwicklung des demokratisch-rechtsstaatlichen Systems leichtfertig mit jenen gleichzusetzen, die es angreifen und zerstören wollen. Das Gegenteil ist der Fall: Demokratiefeindlichen Gruppierungen kann man nur den Wind aus den Segeln nehmen, wenn man die verfassungsmäßige, rechtsstaatlich-demokratische Ordnung der Bundesrepublik stärkt. Fundierte Kritik und rechtzeitige Reformen sind dafür notwendig.

Die Menschen in diesem Land müssen wieder ein Bewusstsein dafür entwickeln, welch hohes Gut der demokratische Rechts- und Verfassungsstaat darstellt. Das können sie nur dann, wenn die Politik sich auf die in unserer Verfassung festgelegten Wertentscheidungen besinnt und sie immer wieder deutlich macht.

Die Erosion des Rechtsstaats wird von verschiedenen Seiten befördert. Da ist zum einen die Tendenz, immer mehr Freiheit für die Illusion der Sicherheit zu opfern. Eine Zahl von Bürgern hat Angst oder fühlt sich unsicher angesichts der immer komplexer werdenden Welt. Sie sind bereit, individuelle Freiheiten aufzugeben und sich mehr staatlicher Kontrolle und Überwachung zu unterwerfen – zum Beispiel zur Abwehr des islamistischen Terrors. Als Bürger des 21. Jahrhunderts ist ihnen nicht mehr bewusst, dass die Freiheit von staatlicher Bevormundung das vielleicht wichtigste Motiv der Demokratie war, das weit in die Geschichte zurückreicht. Sie ist sicher ein zentrales Element unserer verfassungsrechtlichen Ordnung.

Die Freiheit der Bürger wird aber nicht nur von realen Sicherheitsrisiken wie dem Terror infrage gestellt. Technologische und ausgehend davon auch ökonomische Entwicklungen sind dabei, die Gesellschaften dieser Welt massiv zu verändern. Die Digitalisierung führt nicht nur zu einem Paradigmenwechsel, der der kulturellen Revolution durch den Buchdruck nahekommt. Sie treibt auch die Globalisierung voran und beschleunigt die Dynamik von Veränderung in fast allen gesellschaftlichen Bereichen – selbst in der Justiz. Durch die Digitalisierung sind in wenigen Jahren weltbeherrschende internationale Technologiekonzerne entstanden: Facebook, Apple, Amazon, Microsoft und Google haben zusammen eine Marktkapitalisierung, die größer ist als das deutsche Bruttoinlandsprodukt. Entsprechend groß ist die Marktmacht dieser Konzerne, sowohl was ihre asymmetrische Dominanz gegenüber den Konsumenten angeht als auch ihre Fähigkeit, sich staatlicher Kontrolle zu entziehen.

Ein drittes Feld, das in der aktuellen Politik wie auch im Bewusstsein der Bevölkerung nach wie vor die vielleicht größte Rolle spielt, ist die Asyl- und Migrationspolitik. Nicht nur in Deutschland, sondern auch im Verhältnis zu den anderen EU-Staaten wurde hier das geltende Recht vielfach unterlaufen. Die Öffentlichkeit hat das als »Staatsversagen« und »Wehrlosigkeit unseres Rechtsstaats« kritisiert. Wir wären aber nicht wehrlos, wenn die tragenden Grundsätze der Verfassungsstaatlichkeit beachtet und angewendet würden. Dazu zähle ich das Grundbedürfnis nach Schutz, auch nach Schutz durch Grenzen. Humanität, das ist meine Überzeugung, kann nur im Rahmen von Verfassung, Gesetz und Recht praktiziert werden, nicht aber gegen sie. Subjektive Moralvorstellungen können die integrierende Kraft des Rechts keinesfalls ersetzen und dürfen sie auch nicht untergraben.

Besonders gefährlich wird die Erosion des Rechts, wenn der Eindruck entsteht, sie sei bereits gesellschaftliche Normalität. Geltendes Recht, glauben viele, sei letztlich nur noch etwas für die Schwachen, die Braven oder die Dummen – jene eben, die sich nicht erfolgreich selbst durchsetzen und sich die Leistungen und Vorteile unserer Gesellschaftsordnung sichern können.

Paradoxerweise wird der Vertrauensverlust in den Rechtsstaat durch eine scheinbar gegenläufige Entwicklung noch verstärkt. Während sich in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens eine »Was soll’s?«-Mentalität breitzumachen scheint, erleben Bürgerinnen und Bürger in ihrem persönlichen und beruflichen Umfeld, wie Gesetze immer komplizierter werden und ein Übermaß an Regulierung sie einengt. Das ist so bei der Abgabe der Steuererklärung, bei der Einstellung einer Haushaltshilfe bzw. Pflegekraft oder auch bei dem Versuch, sich mit einer selbstständigen Tätigkeit eine Existenz oder einen Zuverdienst zu verschaffen. Privatmenschen wie Wirtschaftstreibende oder auch Beamte fühlen sich durch ein Dickicht von Normen und bürokratischen Hürden gegängelt und zunehmend überfordert. Wie Mehltau hat sich die Überregulierung auf die Republik gelegt – wo das Recht doch eigentlich nur Sicherheit für kreative Initiativen und Aktivitäten bieten sollte.

Mehr Gesetze bedeuten nicht automatisch mehr Recht und schon gar nicht mehr Gerechtigkeit. Wenn der Staat sich anschickt, seinen Bürgerinnen und Bürgern jedwedes Lebensrisiko abzunehmen, dann wird er selbst zum Risiko, denn das führt letztlich in einen Überwachungs- und Präventionsstaat. Mit dem Verlust von Freiheit erodiert eine der Grundbedingungen von Demokratie und Rechtsstaat.

Dass Freiheit und Sicherheit einander bedingen und gleichzeitig im Widerspruch zueinander stehen können, wird angesichts der internationalen Terrorgefahr sehr deutlich. Seit dem Anschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001 geht wieder Furcht in diesem Land um. Kein Dorffest kommt heute noch ohne »Security« aus, das weltberühmte Münchener Oktoberfest wird jährlich zur Hochsicherheitszone mit Taschenkontrolle und Gesichtserfassung. Auf der anderen Seite weicht der Staat zurück: Einem Bericht der Berliner Zeitung zufolge denkt der Berliner Senat im Kampf gegen Drogenhandel und Gewaltkriminalität über die Schließung des berüchtigten Görlitzer Parks in Berlin-Kreuzberg nach. Städtische Schwimmbäder führen wegen fortgesetzter Randale die Ausweispflicht für Besucher ein. Besonders schockierend ist es, wenn der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung jüdischen Mitbürgern davon abrät, in der Öffentlichkeit eine Kippa zu tragen, und seit Jahren Synagogen unter ständigem Polizeischutz stehen müssen. Auf die Bedrohung durch Rechtsextremismus hat, zeigt das Beispiel der Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke im Juni 2019, die Politik keine wirkliche Antwort.

Das Bedürfnis nach Sicherheit darf jedoch nicht dazu führen, dass verfassungsmäßige Standards zurückentwickelt werden. Die Möglichkeit einer selbstbestimmten Lebensführung ist eine Errungenschaft und keine Selbstverständlichkeit. Die Freiheiten der Bürger gegenüber dem Staat müssen erhalten bleiben. Das gilt erst recht, wenn es sich um fremde Staaten und deren Nachrichtendienste handelt.

Der Staat ist eine Friedens- und Ordnungsmacht, der Leib, Leben und Unabhängigkeit seiner Bürger zu schützen hat. Das sind hochwertige Verfassungsgüter. Der Terrorgefahr wie auch anderen Bedrohungen muss er wirksam entgegentreten – aber nur mit den Mitteln des Rechtsstaats. Gerade aufgrund des Umstands, dass die Regeln des Rechtsstaats auch für seine Gegner gelten, zeigt sich seine Kraft.

In den folgenden Kapiteln werde ich die konkreten Gefahren für den demokratisch verfassten Rechtsstaat detaillierter ausführen und aufzeigen, welche Gegenmaßnahmen notwendig sind. Angesichts dieser Bedrohung möchte ich den dringenden Appell an Sie richten, die Kraft unseres Rechtsstaats wieder anzuerkennen, sie hochzuhalten und wertzuschätzen, ihn letztlich auch gegen Angriffe zu verteidigen und weiter zu stärken. Nur die Unterwerfung unter die Werteordnung des Grundgesetzes kann unsere pluralistische Gesellschaft, die nicht länger von gemeinsamer Religion, Kultur oder Tradition geleitet wird, zusammenhalten und in die Zukunft führen.

2

Der Wert der Freiheit: oft unverstanden und missachtet

Bevor wir uns mit den Bedrohungen des Rechtsstaats auseinandersetzen, ist es wichtig, uns nochmals das Rückgrat unserer Demokratie bewusst zu machen. Das sind die Grundrechte – sowie die bürgerliche Freiheit und Unabhängigkeit, für die sie in vielen Fällen stehen.

Keine Demokratie ohne Grundrechte

Warum ist es so wichtig, dass wir in Deutschland in einem »Rechtsstaat« leben? Schließlich kennen viele Nationen diesen Begriff gar nicht und setzen ihn mit »Demokratie« oder »Verfassungsstaat« gleich. In Ländern wie der Türkei, aber auch in Polen, Ungarn oder sogar den USA verunglimpfen führende Politiker den Rechtsstaat als Hindernis und schwärmen von einer »illiberalen Demokratie«. Man beginnt auch bei uns, darüber zu diskutieren, ob es eine Demokratie ohne Rechtsstaat geben kann. Das ist jedoch eine sehr gefährliche Entwicklung.

Eine Demokratie ohne rechtsstaatliche Ordnung ist weder erstrebenswert, noch kann sie auf Dauer existieren. Denn dass »das Volk« regiert, das zeigen viele historische Beispiele, bedeutet nicht automatisch, dass ein Staat prosperiert. Demokratie führt auch nicht zu Gerechtigkeit, sondern unweigerlich in eine Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit. Ohne Rechtsstaat wären die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes also der Willkür ausgeliefert.

Deshalb legt das Grundgesetz (Art. 20 Abs. 3 GG) fest, dass die Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung an Gesetz und Recht gebunden sind. Und damit der Gesetzgeber den Geist der Verfassung nicht einfach ändern kann – auch nicht, wenn er dies mit demokratischen Mehrheiten tun will –, enthält das Grundgesetz einen Kanon fundamentaler und unverbrüchlich festgeschriebener Rechte, die ihm quasi eingebrannt sind. Sie dürfen nicht wesentlich verändert werden. Diese Grundrechte sind der Kern unseres Rechtsstaats und damit unserer Demokratie. Auch die Europäische Union gründet sich auf ähnliche Grundwerte und Rechtsstaatlichkeit (Art. 2 des EU-Vertrages).

Heute erscheint uns das selbstverständlich, doch im 19. Jahrhundert war dies noch anders: Die Bürger hatten nur die Rechte, die ihnen von den jeweiligen deutschen Staaten verliehen wurden, aber auch jederzeit wieder entzogen werden konnten. Gesetze durften der Verfassung inhaltlich widersprechen. Auch die Grundrechte in der 1919 verkündeten Weimarer Reichsverfassung hatten keinen Vorrang vor den Befugnissen des Parlaments und des Reichspräsidenten, wie auch die Bürger nicht vor verfassungswidrigen staatlichen Handlungen geschützt waren. Die Erfahrung der Instabilität der Weimarer Republik und der folgenden totalitären Diktatur der Nationalsozialisten veranlasste die Mitglieder des Parlamentarischen Rates 1948/49, das zu ändern. Sie schrieben Grundrechte fest, an denen weder das Parlament als Gesetzgeber noch der Staat insgesamt rütteln können.

Die Herrschaft des Rechts ist uneingeschränkt und unverbrüchlich; was das allerdings konkret bedeutet, lässt sich nicht leicht auf einen definitorischen Nenner bringen. In der Praxis wird der Rechtsstaat stark von der Werteordnung beeinflusst, die sich in den Artikeln des Grundgesetzes ausdrückt. Zu seinen konstituierenden Prinzipien gehören außerdem: Die Gerichte sind unabhängig. Nur der Staat darf Recht unmittelbar durchsetzen, zur Not auch mit physischer Gewalt. Die Bürger können zur Verteidigung ihrer Rechte ein Gericht anrufen (»staatliche Justizgewährung«).

Der Wert der Freiheit

Auch wenn Deutschland fast ein halbes Jahrhundert lang durch eine Mauer getrennt war, denken wohl zumindest im westlichen Teil der Bundesrepublik die wenigsten Menschen im Alltag über die Freiheit nach. Sie ist uns selbstverständlich. Das ändert sich erst an dem Punkt, an dem wir das Gefühl bekommen, in unserer persönlichen Freiheit im Übermaß beschnitten zu werden. Denn so, wie die Freiheit des Autofahrens durch den nächsten Stau ihre Grenzen findet, so müssen wir in einer Demokratie den Mitbürgern in unserer Gesellschaft dieselben Rechte zubilligen, wie wir sie für uns in Anspruch nehmen – und das führt automatisch zu Beschränkungen. Doch Freiheit darf nur begrenzt werden um der größeren Freiheit aller willen. Dies bedarf der ausdrücklichen Zustimmung der Allgemeinheit – in Gestalt der demokratischen Gesetzgebung. Individuelle Freiheit und kollektive Freiheit bedingen also einander wechselseitig. Einer allein kann nicht frei sein.

Das Verhältnis zwischen Individuen ist jedoch nur die eine Seite des Freiheitsbegriffs. Historisch älter und bedeutsamer ist die Freiheit gegenüber dem Staat. Seit der Aufklärung ist sie die wichtigste staatsphilosophische wie auch politische Forderung; im Kern zielt sie auf die Befreiung von Furcht. So formulierte der große niederländische Philosoph Baruch de Spinoza bereits 1670: »Der letzte Zweck des Staats ist nicht zu herrschen, noch die Menschen in Furcht zu halten oder sie fremder Gewalt zu unterwerfen, sondern vielmehr den Einzelnen von der Furcht zu befreien, damit er so sicher als möglich leben und sein natürliches Recht, zu sein und zu wirken, ohne Schaden für sich und andere vollkommen behaupten kann […] Der Zweck des Staats ist in Wahrheit die Freiheit.«

20 Jahre zuvor, 1651, hatte der englische Mathematiker Thomas Hobbes, geprägt von der anhaltenden Gewalt der Kriege, politischen Umstürzen und religiösen Auseinandersetzungen in seinem Land, die Idee einer starken Staatsmacht entwickelt. An sie sollten die Untertanen per Vertrag ihre natürlichen Rechte abtreten. Am besten repräsentiert würde die Macht, so Hobbes in seinem Leviathan, durch den absolutistischen Herrscher, da ohne ihn die Gesellschaften »im Naturzustand« dem egoistischen Krieg aller gegen alle zum Opfer fallen würden. Macht gegen Schutz war also das Konzept von Hobbes, der von sich selbst schrieb, dass er schon »mit einem Zwilling aus Angst« geboren worden war. Der Preis für den Schutz war der Verzicht auf Freiheit.

Hobbes war bereits zu Lebzeiten heftig für seine Staatsphilosophie kritisiert worden, denn andere wollten nach den europaweiten Verwüstungen und Umbrüchen des Dreißigjährigen Kriegs den Staat nun lieber als Friedenseinheit etablieren und dazu die Rechte des Herrschers einschränken. Zu diesem Kreis gehörte auch der englische Arzt und Landbesitzer John Locke, der durch die Förderung prominenter Patienten politischen Einfluss gewann. Er postulierte die Gleichheit und Unverletzlichkeit der vernunftbegabten Mitglieder einer Gesellschaft. Ihre Freiheit bestehe gerade darin, sich nicht den Entscheidungen eines anderen zu unterwerfen. In diesem Impetus von Aufklärung und Liberalismus wurzelt auch unser moderner Verfassungsstaat christlich-abendländischer Prägung.

Bis heute ist er Ausdruck der Sehnsucht des Menschen nach Sicherheit – mehr noch: Er schützt seine Bürger nicht nur vor Gefährdungen von außen wie Gewalt, Verbrechen und Not, sondern auch von innen. In unserem modernen Verständnis kann aber nur ein solcher Staat den äußeren wie inneren Frieden gewährleisten, dessen Macht durch Bürger- und Menschenrechte begrenzt ist. Der moderne Rechts- und Verfassungsstaat hat also, das ist wichtig, eine dienende Funktion. Er beschränkt sich selbst, indem er eines seiner wichtigsten Ziele darin sieht, Freiheit zu ermöglichen. Um das zu tun, braucht er das Recht. Bürger- und Menschenrechte sind also im Kern Abwehrrechte.

Sicherheit als Staatsziel

Unsere Vorväter wollten mit dem Staat die »Furcht« besiegen. In moderner Auffassung verlangen wir heute »Sicherheit«. Da werden wieder Rufe nach einem »starken Staat« laut. Aber was bedeutet »stark« in einem Rechtsstaat? »Der Mensch, der bereit ist, seine Freiheit aufzugeben, um Sicherheit zu gewinnen, wird beides verlieren«, ist ein berühmter Ausspruch von Benjamin Franklin, einem der Verfasser der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika. Schon bei der Gründung der ersten modernen Demokratie war also die sensible Balance von Freiheit und Sicherheit ein Thema. Beide sind Ziele mit Verfassungsrang. Das Gewaltmonopol des Staats, das Frieden und Sicherheit gewährleisten soll, darf aber nicht auf Kosten der liberalen, staatsbegrenzenden und freiheitsverbürgenden Funktionen des Rechtsstaats gehen. So weckt die Furcht vor Terroranschlägen zwar vielleicht unsere elementaren Sicherheitsbedürfnisse, aber das darf uns nicht dazu verleiten, unsere Freiheitsrechte, das hohe Gut unserer verfassungs- und rechtsstaatlichen Errungenschaften, dafür zu opfern.

Es gibt also auch kein »Supergrundrecht« auf Sicherheit, wie das 2013 der damalige Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) nach einer Sitzung des Parlamentarischen Kontrollgremiums des Bundestags sagte und damit letztlich Abhöraktionen des amerikanischen Nachrichtendienstes NSA in Deutschland zu verharmlosen suchte – gemäß dem Motto »Terrorabwehr vor Datenschutz«. Wenn Terror die Zerstörung der freiheitlichen demokratischen Ordnung zum Ziel hat und dafür auch noch planmäßig Menschenleben einsetzt, ist es ganz klar, dass der Staat das mit effektiven Mitteln bekämpfen muss. Die Maxime des Rechtsstaats dabei lautet aber: Der Staat hat sich bei der Auswahl seiner Mittel auf diejenigen zu beschränken, deren Einsatz mit der Verfassung, insbesondere mit den Grundrechten, in Einklang steht. Seine Kraft zeigt sich gerade darin, dass er sich auch im Umgang und im Kampf mit seinen Gegnern den allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsätzen unterwirft.

Die Verfassung in Schräglage

Ich habe bereits früher öffentlich kritisiert, dass die Sicherheitsdebatte in Deutschland zulasten der Freiheitsrechte geführt wird. Nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 in New York und des 11. März 2004 in Madrid wurden in Deutschland und auf der EU-Ebene umfassende freiheitsbeschneidende Eingriffe vorgenommen oder beschlossen, wie die präventive polizeiliche Rasterfahndung nach sogenannten Schläfern, die automatisierte Kfz-Kennzeichenerfassung oder die vorbeugende Telefonüberwachung durch die Polizei.

Das Luftsicherheitsgesetz aus dem Jahr 2005 sah vor, dass ein nach dem Vorbild von 9/11 gekapertes Zivilflugzeug als Angriff gewertet und deshalb abgeschossen werden dürfe. Ein anderes Beispiel: Der CSU-Innenpolitiker Hans-Peter Uhl qualifizierte im Jahr 2013 gemäß der Tageszeitung Die Welt das informationelle Selbstbestimmungsrecht als »Idylle aus vergangenen Zeiten« ab.

Das Bundesverfassungsgericht musste zum Beispiel in den Jahren 2004 bis 2009 allein 40 Korrekturen an erlassenen Gesetzen vornehmen, weil diese zu weit formuliert waren oder unverhältnismäßige Grundrechtseingriffe vorsahen. Auch Gesetzesvorhaben wie das immer wieder auf Eis gelegte zur Vorratsdatenspeicherung (siehe hier.) oder das zur Online-Durchsuchung (siehe hier) greifen massiv in die Freiheitsrechte jedes Bürgers ein. Das ist aber nur legitim, wenn konkrete Hinweise auf eine Gefahr vorliegen. Die Speicherung von Daten »ins Blaue hinein« ist verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen.

Was die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit angeht, so ist die Interpretation unserer Verfassung eindeutig in Schräglage geraten. Denn unsere Freiheitsrechte als Bürgerinnen und Bürger, das wertvollste Gut der Verfassung, werden von der Politik zusehends infrage gestellt.

Die Ausdehnung der Polizeigewalt

Warnzeichen sind in diesem Zusammenhang auch Bestrebungen in der neueren Gesetzgebung, der Polizei mehr Rechte zu verleihen. Nach klassischem Verständnis darf sie nur dann eingreifen, wenn eine konkrete Gefahr für individuelle oder kollektive Rechtsgüter besteht – wenn also beispielsweise ein körperlicher Angriff oder ein Umweltvergehen vorliegen oder wahrscheinlich sind. Das 2017 und 2018 durch Novellen neu gefasste Bayerische Polizeiaufgabengesetz sieht jedoch vor, dass bereits eine »drohende Gefahr« ausreicht, um zum Beispiel eine elektronische Fußfessel anzulegen, ohne Wissen des Betroffenen Post sicherzustellen oder eine Person für drei Monate in Präventivhaft zu nehmen (die unbegrenzt oft um jeweils drei Monate ausgedehnt werden darf). Solche Befugnisse im sogenannten Gefahrenvorfeld lassen sich jedoch allenfalls dann rechtfertigen, wenn höchstrangige Rechtsgüter im Spiel sind – etwa bei vorliegenden konkreten Hinweisen auf einen terroristischen Anschlag und Gefahr für Leib und Leben. Sie auf allgemeine Gefahrenabwehr durch die Polizei auszudehnen ist unverhältnismäßig, weshalb die Verfassungskonformität auch umstritten ist und sowohl vor dem Bayerischen Verfassungsgerichtshof als auch vor dem Bundesverfassungsgericht angegriffen worden ist.

Auch in Nordrhein-Westfalen ist von der CDU und FDP mit den Stimmen der oppositionellen SPD ein neues Polizeigesetz installiert worden, das 2019 in Kraft trat. Dieses Gesetz ermöglicht es zum Beispiel, bei begründetem Verdacht auf ein bevorstehendes Verbrechen Personen bis zu zwei Wochen in Gewahrsam zu nehmen – vorher waren es nur 48 Stunden. Auch in Sachsen und Niedersachsen existieren neue Polizeigesetze, die vor allem die Befugnisse im »Gefahrenvorfeld« erweitern und – zum Beispiel in Niedersachsen – der Polizei auch gestatten, Trojaner auf Computern und Handys zu installieren, um Daten auszulesen. In Sachsen sollen im öffentlichen Raum Autokennzeichen und biometrische Kennzeichen erfasst werden. Alle diese Gesetze sind höchst umstritten und Gegenstand von Klagen.

Zu bedenken ist bei dieser Politik der »Versicherheitlichung«, wie das Amnesty International nennt, auch, dass Verfahren wegen Polizeigewalt fast ausnahmslos eingestellt werden, wie die Menschenrechtsorganisation für 2015 dokumentiert hat: in 97,7 Prozent der Fälle (im Bevölkerungsdurchschnitt sind es nur 54,8 Prozent).

Die Polizei ist kein Nachrichtendienst

Auch wenn es vor dem Hintergrund der Terrorismus-Debatte immer wieder als »Mangel« der deutschen Sicherheitsarchitektur bezeichnet wird, ist es im Sinne unserer Verfassung, dass die Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern weitgehend getrennt voneinander operieren und auch nicht sämtliche Informationen ungehindert miteinander teilen können. Das erschwert vielleicht in manchen Fällen eine Ermittlung, aber – und das ist für Rechtsstaat und Demokratie entscheidend – es sichert die Freiheitsrechte der Bürger.

Überwachungsdaten, die im Rahmen einer Ermittlung gewonnen wurden, sind genauso vom Grundgesetz geschützt wie jede andere private Information. Sie zwischen Behörden weiterzugeben ist aus juristischer Sicht eine »Zweckänderung«, weil die Daten dann in einem völlig anderen Kontext genutzt werden können als dem, für den sie legitim erhoben wurden. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn Abhörprotokolle im Zusammenhang mit Wirtschaftskriminalität an einen Nachrichtendienst gelangen, der den verdächtigen ausländischen Staatsbürger vielleicht als potenziellen Gefährder einordnet.

Polizei und Nachrichtendienste haben deutlich voneinander abgegrenzte Aufgaben: Die Polizei ist zuständig für konkrete Gefahrenabwehr und Strafverfolgung. Die Nachrichtendienste erheben Informationen etwa zu Bestrebungen gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung im Vorfeld möglicher Gefahrenlagen. Anders als in vielen anderen Ländern gibt es in Deutschland ein striktes Trennungsgebot von Polizei und Nachrichtendiensten. Im Gegensatz zur Geheimen Staatspolizei (Gestapo) der Nazizeit oder auch zum Ministerium der Staatssicherheit (Stasi) in der ehemaligen DDR sind die Zuständigkeiten streng getrennt und diese Behörden unterschiedlicher Kontrolle unterworfen. Der grundrechtliche Freiheitsschutz begrenzt ihre Zusammenarbeit: Daten dürfen nur dann zu operativen Zwecken ausgetauscht werden, wenn das einem »herausragenden öffentlichen Interesse« dient – nur das erlaubt eine Ausnahme zum »informationellen Trennungsprinzip«. So stellte das ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2013 fest, das sich mit der Verfassungsmäßigkeit des Antiterrordateigesetzes (ATDG) beschäftigte.

Den Anstoß zur Antiterrordatei gab ein missglücktes Bombenattentat auf zwei Züge im Großraum Köln im Sommer 2006. Diese zentrale Datei erfasst Daten zu Personen, die der internationalen Terrorszene zugerechnet werden, und wird seit 2007 beim Bundeskriminalamt (BKA) geführt; beteiligt sind u.a. die Bundespolizei, die Landeskriminalämter, die Verfassungsschutzbehörden von Bund und Ländern, der Bundesnachrichtendienst, der Militärische Abschirmdienst und das Zollkriminalamt – insgesamt sind es 38 verschiedene Sicherheitsbehörden. Der Bundesdatenschutzbeauftragte und der Deutsche Anwaltsverein lehnten das Gesetz ab.

Das Bundesverfassungsgericht verwies bei seinem Urteil unter anderem darauf, dass Nachrichtendiensten der Zugriff auf Informationen erleichtert sei, weil sie bereits im Gefahrenvorfeld operierten. Ihre Datenzugriffe dienten verschiedenartigen und weitgefassten Zielen, etwa dem Schutz vor verfassungsfeindlichen Bestrebungen im Inland oder dem Schutz vor Bestrebungen, die »gegen den Gedanken der Völkerverständigung oder das friedliche Zusammenleben der Völker« gerichtet sind, zum Beispiel Aktivitäten der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) in Deutschland. Nachrichtendienste haben dem Bundesverfassungsgericht zufolge »mannigfaltige Bestrebungen auf ihr Gefährdungspotenzial hin allgemein zu beobachten und sie gerade auch unabhängig von konkreten Gefahren in den Blick zu nehmen«. Das Ziel der Datenerhebung durch die Nachrichtendienste ist also nicht die operative Gefahrenabwehr, sondern die politische Information.

In den Worten des Bundesverfassungsgerichts: »Die Rechtsordnung unterscheidet zwischen einer grundsätzlich offen arbeitenden Polizei, die auf eine operative Aufgabenwahrnehmung hin ausgerichtet und durch detaillierte Rechtsgrundlagen angeleitet ist, und den grundsätzlich verdeckt arbeitenden Nachrichtendiensten, die auf die Beobachtung und Aufklärung im Vorfeld zur politischen Information und Beratung beschränkt sind und sich deswegen auf eine weniger ausdifferenzierte Rechtsgrundlage stützen können. Eine Geheimpolizei ist nicht vorgesehen.« Der Datenaustausch mit einer Polizeibehörde bedarf deshalb einer klaren gesetzlichen Grundlage und setzt, wie beim Antiterrordateigesetz, ein begründetes Gemeinwohl voraus, das den individuellen grundrechtlichen Schutz überwiegt. Ähnliches gilt (ohne Beteiligung des Bundesnachrichtendienstes) für das Rechtsextremismus-Datei-Gesetz von 2012. Auch hier werden überwiegende Gemeinwohlbelange vorausgesetzt.

Im Klartext heißt das: Die Schwelle, die Polizei und andere Sicherheitsbehörden überwinden müssen, um personenbezogene Daten zu beziehen, ist hoch – und das ist richtig so. Es ist verfassungskonform und im Sinne des Grundgesetzes. Denn auch wenn die Bedrohung durch Terror real ist, dient die überwältigende Mehrheit der erhobenen Daten tatsächlich nicht der Gefahrenabwehr. Häufig fehlten im Vorfeld der Terrorgefahr auch gar nicht die Informationen, sondern die vorliegenden Daten wurden falsch bewertet, wie etwa beim Fall des Tunesiers Anis Amri, der 2016 das Attentat auf den Berliner Weihnachtsmarkt auf dem Breitscheidplatz verübte. Der marokkanische Geheimdienst hatte, wie sich später herausstellte, mehrfach vor seiner Gefährlichkeit und bevorstehenden Terrorakten gewarnt.

Ein Terrorist, der mit unlauteren Methoden operiert, kann unter Umständen – das ist richtig – von den Freiheitsrechten unseres Grundgesetzes profitieren. Aber wir würden die Freiheit von Millionen Menschen einschränken, wenn wir dem Staat angesichts der Terrorgefahr größere Macht einräumten – das wäre eine weit gefährlichere Entwicklung.

Die Schutzpflicht des Staats

Ich hatte bereits betont, dass der moderne Staat dem Bürger zu dienen hat. Sinn und Zweck der Grundrechte ist es in erster Linie, die Freiheitssphäre des Bürgers vor Eingriffen des Staats zu sichern. Sie sind Abwehrrechte – gleichzeitig aber auch Grundsatzentscheidungen zu unseren Werten. Die Grundrechte können aber auch von Unternehmen oder Organisationen, vielleicht auch durch fremde Staaten (etwa bei Bespitzelung ausländischer Geheimdienste) bedroht und beeinträchtigt werden. Gesetzgeber, Behörden und Gerichte haben sich dann schützend vor den Bürger zu stellen. Mit welchen Mitteln und in welchem Maße das im Einzelnen zu geschehen hat, entscheiden die staatlichen Organe grundsätzlich selbst. So hat es auch das Bundesverfassungsgericht 1977 in dem Verfahren um die Entführung von Hanns-Martin Schleyer getan. Der ehemalige Arbeitgeberpräsident war von den RAF-Terroristen entführt und mit dem Tod bedroht worden, um neun RAF-Gefangene freizupressen. Das Bundesverfassungsgericht befand damals, dass die Bundesregierung frei sei in ihrer Entscheidung – zwischen der Aussicht auf das Leben des Arbeitgeberpräsidenten und dem Risiko, die Terroristen freizulassen. In diesem Dilemma der Schutzpflicht hatte sich Bundeskanzler Helmut Schmidt gegen ein Eingehen auf die Erpressung entschieden, was das Bundesverfassungsgericht verfassungsrechtlich nicht beanstandete. Schleyer wurde später ermordet.

Allerdings sind dieser Entscheidungsfreiheit des Staates Grenzen gesetzt: Zur Erfüllung der Schutzpflicht dürfen auf keinen Fall Mittel eingesetzt werden, die die Menschenwürde anderer verletzen. 2005 waren die Bundesregierung und das Parlament bereit, im Extremfall eine kleinere Anzahl von Menschenleben zu opfern, um eine größere zu retten – und beriefen sich dabei auf ihre Schutzpflicht. Die Streitkräfte waren, wie bereits kurz angesprochen (siehe hier