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Wolfram Wette

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Beschreibung

***Die unheilvolle Tradition der Wehrmacht und der Vernichtungskrieg im Osten*** Die Wehrmacht führte von 1941 bis 1944 in Osteuropa einen grausamen Vernichtungskrieg. Doch warum haben sich Generäle, Offiziere und Soldaten so bereitwillig am Holocaust beteiligt und zumeist ohne großes Zögern Kriegsverbrechen begangen? Der renommierte Militärhistoriker Wolfram Wette stellt als Erster dar, wie sehr langjährige Traditionen und ideologische Anschauungen Die Wehrmacht geprägt hatten. Er zeigt, wie obrigkeitsstaatliches Denken sowie antisemitische und antirussische Feindbilder in den Köpfen der Offiziere und Soldaten wirkten. Ohne die Verherrlichung von Krieg und Gewalt, ohne die traditionsreiche Missachtung des Kriegsvölkerrechts hätte der Krieg im Osten so nicht geführt werden können. Selbst nach 1945 waren diese Denkweisen nicht gebrochen, sodass die Legende von der sauberen Wehrmacht über Jahrzehnte nicht in Frage gestellt wurde.

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Wolfram Wette

Die Wehrmacht

Feindbilder Vernichtungskrieg Legenden

FISCHER E-Books

Inhalt

GeleitwortTeil I: Feindbilder Russland, Sowjetunion und Bolschewismus1. Russlandbilder der Deutschen im 20. JahrhundertÜber die politische Bedeutung von FremdbildernWest-östliche SpiegelungenDas bürgerlich-kulturelle RusslandbildDas sozialdemokratische Russlandbild»Friedensmacht«: Das Freundbild der deutschen KommunistenDas nationalistisch-imperialistische Russlandbild2. Das nationalsozialistische Russland-Feindbild: »Jüdischer Bolschewismus«3. Russlandbilder in der deutschen Wehrmacht-GeneralitätReichswehr und Wehrmacht vor 1940Der ideologische Schulterschluss im Kriegsjahr 1941Teil II: Antisemitismus im deutschen Militär1. Vom Antisemitismus zum Holocaust?2. Kaiserzeit und Erster WeltkriegJüdische Offiziere unerwünschtDie Judenzählung von 1916Ludendorff, Bauer, Tirpitz, Gebsattel, Keim und andere3. Revolutionszeit 1918/19Feindbild »jüdischer Bolschewik«Offiziere als Mörder der jüdischen Politiker Rosa Luxemburg und Kurt Eisner sowie Karl LiebknechtsGegen Antisemitismus in der Reichswehr: Gustav Noske und Walther Reinhardt4. Der NachkriegDie antisemitischen Desperados des NachkriegsAttentat auf den USPD-Vorsitzenden Hugo HaaseOffiziere als Mörder von Matthias ErzbergerDer Anschlag auf Philipp Scheidemann und die Ermordung von Walther Rathenau5. Die Weimarer RepublikDer »Arier-Paragraph« des Frontsoldatenbundes »Stahlhelm«Keine Juden in der Reichswehr6. Die Zeit des Nationalsozialismus bis 1939Die Einführung des »Arier-Paragraphen« 1934Einwände des Obersten Erich v.MansteinAntisemitische Maßnahmen bis zum Wehrgesetz von 1935Ausnahmeregelungen für »Halbjuden« und »Vierteljuden«Die Feindbilder des Generalobersten Werner Frhr.v.FritschIndoktrination: Antisemitismus in der Erziehung der WehrmachtTeil III: Wehrmacht und Judenmorde1. Befehlsgebung und Propaganda in der WehrmachtDer Schulterschluss der Generäle mit Hitler am 30. März 1941Die »verbrecherischen Befehle«Rassistische Befehle und Reden von Truppenführern: Hoepner, Manstein, ReichenauRassistische Wehrmacht-Propaganda für den »kleinen Mann«2. Ausgewählte SchauplätzePolenSerbienDie litauische Hauptstadt KaunasBjelaja Zerkov – der Kindermord vom August 1941Das Massaker von Babij Jar am 29. und 30. September 1941Wehrmacht und SS im Russlandkrieg3. Antisemitismus als DienstpflichtGeneral Rudolf Schmundts Direktive von 1942Die Admirale Erich Raeder und Karl DönitzKritik von Wehrmachtoffizieren am mangelnden Antisemitismus der ItalienerTeil IV: Generäle und Gefreite1. Die preußisch-deutsche Militärelite im Banne des KriegsdenkensGeneralfeldmarschall Graf v.Moltke d.Ä.Generaloberst Hans v.SeecktGeneral Wilhelm GroenerGeneraloberst Ludwig Beck2. Hitler und die Generäle3. Der »kleine Mann« in UniformDie Allgemeine Wehrpflicht: Nachschub für das MenschenschlachthausKriegsdienstverweigerer: Die Zeugen JehovasDeserteure und »Wehrkraftzersetzer«Die Wirkungen der Kriegspropaganda auf den »kleinen Mann«4. Wehrmachtsoldaten im Lichte neuerer ForschungenDer »kleine Mann« in UniformDer Kriegsalltag von Hitlers Frontsoldaten5. Untergangspathos und Überlebenswillen in der Schlussphase des KriegesTeil V: Die Legende von der »sauberen« Wehrmacht1. Die Entstehung der LegendeVerwischung der Spuren bereits im KriegeDiffuse Wehrmachtbilder 1945Beginn der Legendenbildung: Dönitz' letzter WehrmachtberichtDie Generalsdenkschrift vom November 19452. Die KriegsverbrecherprozesseDer Nürnberger HauptkriegsverbrecherprozessDer Nürnberger OKW-Prozess von 1948/49Die Sorge der Alliierten vor LegendenbildungenPublikationen gegen das VergessenDer Kesselring-Prozess und der Manstein-ProzessAusgeklammert: Wehrmacht und Holocaust3. Geschichtsschreibung im Geiste der WehrmachtGeneraloberst a.D. Franz Halder und die »Historical Division«Generalsmemoiren und »Landserhefte«4. Im Zeichen des Kalten KriegesVon der »Himmeroder Denkschrift« zu Eisenhowers und Adenauers Ehrenerklärungen 1951Die Wehrmacht in der Vergangenheitspolitik der Ära Adenauer (1949–1954)5. Wehrmachtverbrechen, Justiz, VerjährungTeil VI: Ein Tabu bricht1. Historische ForschungErgebnisse der kritischen MilitärgeschichtsforschungHolocaustforschung und Militärgeschichtsforschung: Getrennte Wege2. Das Bild der Wehrmacht in der BundeswehrDie Bedeutung der Geschichte für die Legitimation des MilitärsPositives Wehrmachtbild in der Aufbauphase der BundeswehrDie ReformerDer erste Traditionserlass aus dem Jahre 1965Der zweite Traditionserlass von 1982Die Gegenwehr der Soldatenverbände3. Nach 50 Jahren: Ein Tabu brichtDie »Wehrmachtsausstellung« 1995–1999Das Wehrmachtbild in der Bundeswehr von heuteUnerbetene ErinnerungEin Judenretter als Vorbild: Wende in der Traditionspolitik?Teil VII: SchlussbetrachtungAnhangAuswahlbibliographieAbkürzungen

Geleitwort

Wolfram Wettes Anliegen ist nicht nur eine neue Beschreibung der sogenannten »Verstrickung« der Wehrmacht in den Vernichtungskrieg. Er zeigt vielmehr, was mit diesem Begriff zugedeckt wird: nämlich die lange vor 1933 einsetzende Ideologie- und Feindbildentwicklung, die den ideologischen Schulterschluss Wehrmacht-Nationalsozialismus für nationale Gruppierungen als plausible Möglichkeit deutscher Kraftentfaltung sinnvoll gemacht hat.

Dass aus dem in der deutschen Gesellschaft vorhandenen Russlandbild das Feindbild »jüdischer Bolschewismus« wurde, ist nicht nur den Nationalsozialisten zuzuschreiben. Reichswehr, Teile des Bildungsbürgertums, schließlich auch kirchliche Stimmen trugen dazu bei. Der Anteil der Wehrmacht am Holocaust hat hier seine Wurzeln. Ihre Mitwirkung an der Realisierung der Kriegsziele Hitlers im Osten musste nicht erzwungen werden. Die Generale sind nicht »verführt« worden.

Wette bleibt nicht bei abstrakten oder politikwissenschaftlichen Aussagen stehen. Er zeigt den Zusammenhang von politikmächtigen Ideologien mit Handlungsabläufen und mit Entscheidungen militärischer Führer auf verschiedenen Ebenen der Hierarchie, die die Wehrmacht neben den speziellen Organen der Vernichtungsarbeit zum arbeitsteiligen Täter werden ließen.

Was in den meisten Darstellungen des Krieges kaum zu finden ist, nämlich die Haltung des »kleinen Mannes« unter dem Zwang des Befehlsgehorsams, schildert Wette in den Grenzen und Bedingtheiten des NS-Systems. Widerständigkeit aus christlicher Gesinnung konnte kaum auf Beistand bei den beiden großen Kirchen zählen, während die »Zeugen Jehovas« sich bei ihrer Glaubensgemeinschaft aufgehoben wussten, wenn sie den Dienst in der Wehrmacht verweigerten. Aus der Perspektive des »kleinen Mannes« wird die arbeitsteilige Täterschaft der Wehrmacht, werden Gesinnungsdokumentationen von Generalen besonders anschaulich -selbst die mancher Angehöriger der militärischen Opposition. Hier zeigt sich eine wichtige Dimension der von Wette seit einiger Zeit schon betriebenen Erforschung des »Krieges von unten«.

Dieser Ansatz hat auch Bedeutung für das zweite große Thema dieses Buches: die Geschichte des Umgangs mit der Rolle der Wehrmacht, die zugleich eine Geschichte der Verdeckung, der Verharmlosung und der Verfälschung war, deren Folgen bis heute nicht beseitigt sind. Hier hat es sich um eine nationalkonservative »Gesamtleistung« gehandelt, begünstigt vom »Kalten Krieg«, maßgeblich gefördert von Militär, Justiz und dem politischen Interesse an der Aufrüstung. Diese Geschichte belegt Wette mit überzeugenden Beispielen der Verdeckungsstrategie, die nicht nur nachhaltig auf die Traditionsbildung der Bundeswehr eingewirkt hat, sondern auf die historische Wissenschaft selbst, unter anderem mit dem Ergebnis, dass Militärgeschichtsforschung und Holocaustforschung »getrennte Wege« gegangen sind und erst in jüngster Zeit das Tabu zu brechen beginnt.

Wettes Buch ist an dieser Schwelle zum Umdenken ein notwendiges Buch. Es zeigt, wie schon vorhandene kritische Arbeiten für ein Gesamtbild rezipiert werden können. Und es zeigt dies eindrucksvoll, denn es ist klar gegliedert und bemerkenswert gut lesbar. Wenige Bücher regen wie dieses zum Nachdenken an.

Manfred Messerschmidt

Teil I:Feindbilder Russland, Sowjetunion und Bolschewismus

Die Wehrmacht-Generalität war im Jahre 1941 bereit, einen historisch beispiellosen Krieg gegen die Sowjetunion zu führen, nämlich einen ideologisch motivierten und auf die physische Vernichtung bestimmter Feindgruppen hin angelegten Krieg. Der Tatbestand selbst wird heute nicht mehr bestritten. Erklärungsbedürftig sind allerdings noch immer die Ursachen dieses Verhaltens. Wie kam es dazu, dass die Generäle der Wehrmacht den von Hitler so gewollten rassenideologischen Krieg zu ihrer eigenen Sache machten und sie ihn kraft ihrer Befehlsmacht auch exekutierten? Die Antwort auf diese Frage erschließt sich durch eine Betrachtung der unmittelbaren Vorgeschichte des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion nur unzureichend. Denn einige der ideologiegeschichtlichen Hintergründe des Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion reichen sehr viel weiter zurück: Gemeint sind erstens die für die preußisch-deutsche Geschichte typischen Anschauungen über Krieg und Kriegsnotwendigkeiten, zweitens die Traditionen des Obrigkeitsstaates und des mit ihm korrespondierenden Untertanengeists, drittens der traditionelle Antisemitismus und viertens die Russlandbilder beziehungsweise die Ansichten über die Sowjetunion und den Bolschewismus.

Zunächst sollen die Russlandbilder rekonstruiert werden. Man muss sich klarzumachen versuchen, dass die Frage, welche Kenntnisse die Generäle der Wehrmacht im Jahre 1941 über die Sowjetunion hatten und wie sie über deren Bewohner dachten, eine erhebliche politische Bedeutung hatte. Denn die Militärelite stellte innerhalb des NS-Staates einen wesentlichen Machtfaktor dar.

Wenn die Wehrmacht als die »zweite Säule« des NS-Staates und als sein »stählerner Garant« beschrieben wird, so soll damit nicht allein der Tatbestand verdeutlicht werden, dass die Wehrmacht ein enormer Gewaltapparat war, sondern auch, dass die Wehrmachtelite, wenn sie das angestrebt hätte, auch als ein eigenständiger Machtfaktor hätte auftreten können. Dass sie diese Rolle in der Regel gar nicht wahrnehmen wollte, ist der erklärungsbedürftige Befund.

Die Militärs lehnten die Demokratie ab, weil sie diese für eine schwache Staatsorganisation hielten, und sie begrüßten die Wiedererrichtung eines autoritären Staates unter Hitler. Nicht begriffen hatten sie, dass Deutschland im Ersten Weltkrieg von Demokratien besiegt worden war, die ihre Bevölkerungen in stärkerem Maße hatten motivieren und mobilisieren können als dies in Deutschland gelungen war. Antipluralistische Vorurteile hinderten die deutschen Militärs daran, diese Zusammenhänge zu begreifen.

Eine Binsenweisheit wird häufig verdrängt: Sie besagt, dass der Diktator Hitler, auch wenn er seit 1934 zugleich das Amt des Oberbefehlshabers der Wehrmacht ausübte, seine Kriege nicht allein planen, vorbereiten und durchführen konnte, sondern dass dies nur in enger Zusammenarbeit mit der militärischen Elite geschehen konnte, also mit den Generälen von Heer und Luftwaffe, den Admiralen der Marine sowie deren Gehilfen, den Generalstabs- und Admiralstabsoffizieren. Tatsächlich waren die Kriegsplanungen, sieht man von gelegentlichen militärfachlichen Bedenken einmal ab, von einem weitgehenden Konsens getragen.

1.Russlandbilder der Deutschen im 20. Jahrhundert

Über die politische Bedeutung von Fremdbildern

Haben Bilder, die sich Menschen über ein anderes Land machen, tatsächlich einen nachhaltigen Einfluss auf die Art des Zusammenlebens der betreffenden Völker? Oder kommt ihnen diese politische Bedeutung in Wirklichkeit gar nicht zu? Ganz allgemein lässt sich dazu Folgendes sagen: Die Vorstellungen, die sich Menschen von anderen Nationen machen, haben unter bestimmten Umständen sogar ein größeres politisches Gewicht als die Wirklichkeit selbst. Die realen Verhältnisse eines anderen Landes und seiner Menschen sind häufig gar nicht bekannt. So fällt dem Fremdbild die Rolle zu, die – durch eigene Anschauung nicht erfahrene – Wirklichkeit zu ersetzen. Dieses Fremdbild orientiert das eigene Denken und leitet gegebenenfalls auch das eigene Handeln an. Selbst wenn die Bilder einem Phantom gleichen, also nur einen ganz geringen Realitätsbezug haben, stellen sie einen gewichtigen politischen Faktor dar. Die Macht der Bilder liegt darin, dass sie geglaubt werden, nicht darin, wie viel Realität sie widerspiegeln. Die in der konfliktreichen Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen in diesem Jahrhundert nachweisbaren Russlandbilder sind ein anschaulicher Beleg für diesen Sachverhalt.

Damit ist naturgemäß noch nichts über die Frage ausgesagt, wie ein bestimmtes Russlandbild in die Köpfe der Menschen gekommen ist. Sie lässt sich auch gar nicht monokausal beantworten, da bei der Prägung der Vorstellungen über ein anderes Land die verschiedensten Einflüsse wirksam werden, die nur selten der Anonymität entrissen werden können. In der Entstehungsgeschichte der deutschen Russlandbilder dieses Jahrhunderts gab es allerdings Triebkräfte, die sich durchaus benennen und beschreiben lassen. Gemeint sind die politischen Eliten in Deutschland, die für jene aggressiven Zuspitzungen des Russlandbildes verantwortlich zeichneten, die dann vor und während der Kriege propagiert wurden. Dass dies im Kontext ganz bestimmter politischer und wirtschaftlicher Interessen geschah, ist eine Binsenweisheit. Die Funktion solcher Russlandbilder bestand darin, die Menschen des eigenen Landes von der Richtigkeit und Notwendigkeit der jeweiligen politischen Konzepte zu überzeugen, und zwar besonders dann, wenn ihre Durchsetzung nur mittels kriegerischer Gewalt möglich war.

In diesen historischen Situationen nahmen die Fremdbilder den Charakter von Feindbildern an, und das bedeutete in der Sache, dass es noch weniger als bislang schon auf den Realitätsgehalt ankam. Feindbilder verzerren die Wirklichkeit. Sie dienen weniger der Information über den Anderen als vielmehr der Motivation der eigenen Seite in der Vorbereitung und Begleitung eines kriegerischen Konfliktes. Das Mittel zum Transport der Feindbilder ist die Propaganda.

West-östliche Spiegelungen

Die Russlandbilder der Deutschen – und parallel dazu die Deutschlandbilder der Russen – sind der Gegenstand eines Forschungsprojekts, das in der Bundesrepublik mit dem Namen des 1997 verstorbenen russischen Schriftstellers und Germanisten Lew Kopelew verbunden ist. Das von ihm in den 80er Jahren initiierte »Wuppertaler Projekt zur Erforschung der Geschichte deutsch-russischer Fremdenbilder« verfolgt das Ziel, unter Bündelung des interdisziplinär vorhandenen wissenschaftlichen Sachverstandes den Fremdbildern von den Anfängen bis zum 20. Jahrhundert nachzuspüren. Die Ergebnisse werden seit 1985 in dem Reihenwerk »West-östliche Spiegelungen«[1] veröffentlicht. Die an diesem Forschungsprojekt beteiligten Wissenschaftler wollen nicht nur herausfinden, »was im Laufe der Jahrhunderte Deutsche und Russen voneinander wussten«, sondern auch, »wie deutsche Dichter und Wissenschaftler, Diplomaten, Handels- und Forschungsreisende sowie Publizisten über Russland und Russen und wie ihre russischen Zeitgenossen über Deutschland und Deutsche dachten und schrieben und welches Bild des fremden Anderen aus ihren Schriften entstand«.[2] Das heißt, sie wollen neben den Bildern selbst auch ihre Entstehungsbedingungen, ihre Produzenten und ihre Vermittler erforschen.

Im Hinblick auf das 20. Jahrhundert wäre ein zusätzlicher Aspekt zu bedenken: In dieser Phase waren es weniger die Schriftsteller, Wissenschaftler, Händler und Diplomaten, die das deutsche Russlandbild zeichneten. Vielmehr traten jetzt die politischen Eliten und ihre administrativen Helfer auf den Plan. Sie gingen geradezu systematisch daran, die deutsche Öffentlichkeit mit ausgesprochen politisierten Vorstellungen von Russland zu beeinflussen. In dieser Politisierung haben wir ein Charakteristikum der deutschen Russlandbilder des 20. Jahrhunderts vor uns. In der Form eines negativ eingefärbten Sowjetunion-Bildes hat es über einen längeren Zeitraum hinweg jene Russlandbilder überlagert, wenn nicht gar verdrängt, in denen sich die Russen als Volk und in denen sich die russische Kultur spiegelten. Dieses politisierte Sowjetunionbild war allerdings kein spezifisch deutsches. In ähnlicher Weise wurde es von den politischen Eliten aller westlichen Länder gezeichnet, sofern sie antikommunistisch eingestellt waren.[3]

Wesentliche neue Erkenntnisse hat die historische Detailforschung über das Russlandbild im Dritten Reich[4] erbracht. Für eine Gesamtschau ist jedoch ein breiterer Ansatz erforderlich. Daher soll im Folgenden den allgemeineren Fragen nachgegangen werden, welche Russlandbilder es in Deutschland in diesem Jahrhundert überhaupt gegeben hat, welche dieser Bilder die wirkungsmächtige Hauptlinie verkörperten und welche Nebenlinien blieben, die nicht Geschichte machten. Hinzu kommt die Frage, ob es bestimmte Kristallisationspunkte gab, in denen vorhandene Tendenzen gebündelt und auf die Spitze getrieben wurden. Hernach soll versucht werden, das Spektrum der deutschen Russlandbilder im 20. Jahrhundert systematisch zu erfassen und einige idealtypische Ausprägungen zu unterscheiden, nämlich das kulturelle, das sozialdemokratische, das kommunistische, das nationalistisch-imperialistische und das rassistische Russlandbild.

Das bürgerlich-kulturelle Russlandbild

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es in Deutschland noch kein klar konturiertes Bild vom zaristischen Russland. Es galt als »fernes Land«, als rätselhaft, geheimnisvoll, »asiatisch«[5], und es gab das diffuse Gerede von der »russischen Seele«.[6] Im Konversations-Lexikon von 1866 wird über die Russen ausgesagt: »Das niedere Volk zeigt als vorherrschende Charakterzüge Frohsinn, Sorglosigkeit, Genügsamkeit, Gutmüthigkeit, aber auch Gefräßigkeit und Unmäßigkeit, sowie unter Umständen auch Grausamkeit, Arglist und Tücke. Vorherrschend ist die Neigung zum Diebstahl […].«[7] Und einem Lexikon von 1907 konnten die Zeitgenossen entnehmen, die Großrussen seien offenherzig und gastfrei, »aber auch träge, unordentlich, dem Trunk ergeben«. Weiter heißt es: »Zu den Schattenseiten des russischen Charakters gehören noch Streben nach materiellen Genüssen, Neigung zu Betrug und Diebstahl, Bestechlichkeit […].«[8] Wie ersichtlich, atmet diese Charakterisierung kaum verhüllt den Geist zivilisatorischer Überheblichkeit.

Das politische Verhältnis von Preußen-Deutschland und Russland war im 19. Jahrhundert – trotz etlicher Spannungen, die sich aus dem deutschen Nationalismus beziehungsweise dem russischen Panslawismus ergaben – eher kooperativ denn feindselig[9]. Zumal die Bismarcksche Außenpolitik (bis 1890), die auf ein Zusammengehen von Preußen-Deutschland und Russland zu Lasten Polens ausgerichtet war, begünstigte in der Tendenz die positiven Wahrnehmungsmuster. Unter diesen politischen Rahmenbedingungen konnte sich im deutschen Bildungsbürgertum ein Russlandbild herausbilden, das in erster Linie auf die Kulturleistungen abhob. Diese Sehweise war einerseits – im Gegensatz zu den geschichtsmächtigen Russlandbildern, die sich dann im 20. Jahrhundert durchsetzen sollten – geprägt von Interesse und Verständnis, andererseits war es mit dem bereits genannten zivilisatorischen Überlegenheitsgefühl verknüpft. Allerdings interessierten sich die deutschen Anhänger russischer Kultur nicht sonderlich für die politischen Herrschaftsverhältnisse in diesem Lande, auch nicht für das Elend der einfachen Menschen. Stattdessen stellten sie die russische Literatur, Philosophie und Kunst sowie die traditionsreichen Kulturbeziehungen zwischen den beiden Ländern in den Vordergrund.[10] Für diese Tradition stand ein großer Name: Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716). Der Philosoph hatte schon im 17. Jahrhundert die Gründung der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Sankt Petersburg angeregt und mit dem reformwilligen Zaren Peter dem Großen tatkräftig zusammengearbeitet.[11]

In die Reihe der großen russischen Namen, die in Deutschland Geltung hatten und noch haben, gehören unter anderem Alexander S. Puschkin, Nikolai W. Gogol, Iwan S. Turgenjew, Fjodor M. Dostojewski, Leo N. Tolstoi, Anton P. Tschechow, Maxim Gorki, Boris Pasternak und Alexander Solschenyzin. Man muss sich – mit Fritz Fischer – klarmachen, »daß von den 70er und 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts bis heute, also über 100 Jahre lang, die große russische Literatur in der deutschen Bildungsschicht eine tiefe emotionale und geistige Verbindung mit der russischen Welt schuf, die beständig blieb über allen Wechsel der Regierungen und ihrer Beziehungen, selbst über Kriege und Revolutionen hinweg«.[12]

Vor dem Ersten Weltkrieg gab es ganze russische Studentenkolonien in Berlin, Heidelberg, Dresden, Leipzig und Jena.[13] Russische Künstler und Wissenschaftler arbeiteten an deutschen Hochschulen. Der Erste Weltkrieg führte dann zu einem weitgehenden Abbruch dieser Beziehungen. Mit der bolschewistischen Oktoberrevolution 1917 erhielt das bildungsbürgerliche, kulturell bestimmte Russlandbild einen weiteren Stoß. Als die russischen Revolutionäre die schmale Schicht des russischen Bürgertums entmachteten, wurde das in Deutschland verständlicherweise als eine potentielle politische Bedrohung empfunden.

Gleichwohl konnte sich in den 20er Jahren erneut, wenngleich in beschränktem Umfang, ein deutsch-russischer Kulturaustausch entwickeln. Deutsche Schriftsteller sowie Tausende kommunistischer Arbeiter bereisten Russland und berichteten zu Hause ihre Eindrücke. Ihre Russlandbilder dürften ein interessantes Forschungsthema sein, ist doch zu vermuten, dass sie den Realitäten sehr nahe kamen.

Die Wissenschaftsbeziehungen der Zwischenkriegszeit erreichten einen gewissen Höhepunkt, als anlässlich des 200. Jahrestages der Gründung der Petersburger Akademie der Wissenschaften der prominente deutsche Gelehrte Max Planck[14] mit einer Delegation nach Leningrad reiste und in einer Rede das einigende Band der Wissenschaft beschwor. Im Jahre 1928 gab es in Berlin eine deutsch-sowjetische Historikerwoche. Dabei waren die Wissenschaftsbeziehungen nur Teil eines dichten Geflechts sehr viel breiter ausgefächerter Kulturbeziehungen (Theater, Filme, Ausstellungen). Sie kamen allesamt zum Erliegen, als Hitler 1933[15] die Regierungsmacht übertragen wurde.

Die Träger eines solchen, auf die Kulturleistungen abhebenden Russlandbildes, die überwiegend dem deutschen Bildungsbürgertum angehörten, stellten in der deutschen Gesellschaft allerdings keine sonderlich einflussreiche Interessengruppe dar. Darin bestand ein wesentlicher Unterschied zur Wirkungsmächtigkeit anderer Russlandbilder, besonders der imperialistischen, rassistischen und antibolschewistischen. Das kulturelle Bild blieb, was seine Prägekraft in Deutschland angeht, insofern eine Nebenlinie.

Das sozialdemokratische Russlandbild

Es dürfte gerechtfertigt sein, von einem eigenständigen sozialdemokratischen Russlandbild zu sprechen. Sein genuines Profil bestand darin, dass es ein betont politisches Bild war. Die russischen Verhältnisse wurden jeweils durch die Optik der eigenen demokratischen Überzeugungen betrachtet und kritisiert. Das sozialdemokratische Russlandbild war – in aller Regel – nicht imperialistisch, nicht kriegerisch und nicht rassistisch. Die Sozialdemokraten setzten sich mit den wechselnden politischen Herrschaftssystemen in Russland auseinander: zuerst mit dem autokratischen Zarismus, dann mit dem – nicht minder autokratischen – Kommunismus in der Version des Stalinismus.[16] Der Kommunismus wurde innenpolitisch auch als Konkurrenz zu den eigenen politischen Idealen und damit – in abstrakter Form – als politischer Gegner wahrgenommen.[17]

Vor dem Ersten Weltkrieg waren die deutschen Sozialdemokraten lediglich insoweit antirussisch, als sie das zaristische Herrschaftssystem, das sich gegen jede demokratische Veränderung abzuschotten versuchte, als autokratisch und als sozial ungerecht anprangerten. Während der russischen Revolution von 1905 waren die Sympathien der deutschen Sozialdemokratie auf Seiten der Revolutionäre. Im Hinblick auf den Zarismus verstieg sich August Bebel gar zu verbaler Kraftmeierei. Schon ein alter Mann, ließ er hören, wenn es einst zu einem Krieg gegen das zaristische Russland mit seinem brutalen Unterdrückungssystem kommen sollte, wollte auch er noch »die Flinte auf den Buckel nehmen«.[18] Er betrachtete es als »Hort der Reaktion« in Europa und als verantwortlich dafür, dass Russland keine zeitgemäße wirtschaftliche Entwicklung zu nehmen vermochte.

Das Verhalten der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion am Beginn des Ersten Weltkrieges war in starkem Maße von diesem antizaristischen Russlandbild beeinflusst. Wenn es nun gegen den »Hort der Reaktion« ging, wollte man selbst nicht beiseite stehen. Zu fragen wäre allerdings, ob sich die verantwortlichen SPD-Politiker in dieser Stunde der Entscheidung auch hinreichend klarmachten, dass auf der anderen Seite der Front eben jene armen russischen Bauernsöhne standen, die man eigentlich vom Zarismus befreien wollte. Rosa Luxemburg jedenfalls wollte von eben dieser Gefahr einer Entsolidarisierung der einfachen Menschen in den kriegführenden Ländern warnen, als sie formulierte: »Die Dividenden steigen, die Proletarier fallen.«[19]

Unter dem Eindruck des Kriegsbeginns mischten sich in die Stellungnahmen einiger sozialdemokratischer Politiker auch Töne, die aus der chauvinistischen Propagandaküche der kaiserlichen Regierung hätten stammen können. So schrieb etwa der SPD-Reichstagsabgeordnete Gustav Noske in der Chemnitzer »Volksstimme«: »[…] in diesem Augenblick empfinden wir alle die Pflicht, vor allem anderen gegen die russische Knutenherrschaft zu kämpfen. Deutschlands Frauen und Kinder sollen nicht das Opfer russischer Bestialitäten werden, das deutsche Land nicht die Beute der Kosaken […]. Deshalb verteidigen wir in diesem Augenblick alles, was es an deutscher Kultur und deutscher Freiheit gibt, gegen einen schonungslosen und barbarischen Feind.«[20]

Eine Stellungnahme wie diese signalisierte eine Tendenz zur Angleichung der damals in Deutschland verbreiteten negativen Russlandbilder unter den Bedingungen des äußeren Krieges. Der Kriegsbeginn 1914 stellte damit einen jener Kristallisationspunkte dar, von dem aus ein negativ besetztes deutsches Russlandbild zum vorherrschenden wurde.[21] Die Zeit nach den beiden russischen Revolutionen des Jahres 1917 – der menschewistischen vom Februar und der bolschewistischen vom Oktober – war, was die SPD anbetraf, geprägt von zwei Gesichtspunkten: Erstens gab es so etwas wie eine Grundsympathie mit den Russen, die das zaristische Regime abschüttelten; zweitens aber setzte sich die SPD klar vom autokratischen und undemokratischen Herrschaftsstil Lenins ab. Hinzu kam, dass die SPD fortan den weltrevolutionären Anspruch der russischen Kommunisten fürchtete, weil er sich an den gleichen Adressaten richtete, nämlich die Arbeiterschaft. Damit drohten die Kommunisten zu einer ernsthaften Konkurrenz für den eigenen, reformistischen Kurs zu werden. Eine Grundsympathie für das nachrevolutionäre Russland blieb in der SPD auch während der 20er Jahre erhalten, was zumindest temporär auch regierungsrelevant wurde. Die Linie der politischen und ideologischen Auseinandersetzung mit dem kommunistischen Russland, bei klarer Absage an jede Gewaltpolitik, bestimmte übrigens auch nach 1945 den sozialdemokratischen Kurs. Einen rassistischen Zungenschlag gegen die Slawen hat es in der Geschichte der SPD nicht gegeben.

»Friedensmacht«: Das Freundbild der deutschen Kommunisten

Unter allen deutschen Russlandbildern im 20. Jahrhundert, die auf das politische und gesellschaftliche System und nicht bloß auf Kulturelles abhoben, war das der deutschen Kommunisten das einzig positive. Ihr in den 20er Jahren gezeichnetes Bild von der jungen Sowjetunion lebte von einer Idealisierung der russischen Revolution und des kämpfenden Proletariats. Auch die Begeisterung über den machtpolitischen Erfolg Lenins spielte im Russlandbild der deutschen Kommunisten eine große Rolle. Die tatsächlich vorhandenen Entwicklungsunterschiede zwischen dem industrialisierten Deutschland und dem Agrarstaat Russland, in dem es 1917 nur eine kleine Industriearbeiterschaft gab, wurden in solch kritikloser Anschauung allerdings nicht hinreichend deutlich reflektiert. Stattdessen wurde die deutsch-sowjetische Freundschaft beschworen.[22]

Das von der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) und ihren Vorfeldorganisationen vertretene Russlandbild war zur Zeit der Weimarer Republik ganz und gar auf die Unterstützung der weltpolitischen Rolle des revolutionären Russlands abgestellt. Die KPD repräsentierte im Deutschland der Zwischenkriegszeit allerdings nur eine Minderheit von allenfalls etwa 10 Prozent der Bevölkerung.

Das nationalistisch-imperialistische Russlandbild

Wesentlich einflussreicher wirkte in Deutschland das nationalistische Russlandbild. Es bestand im Wesentlichen aus zwei Gedanken. Der erste lautete, Russland sei riesig groß, aber strukturell schwach. Diesen Befund drückte die zeitgenössische Propaganda in dem Bild vom »tönernen Koloss« aus. Der zweite Gedanke war ausgesprochen aggressiv. Er hatte seinen Ort im Kontext eines »deutschen Drangs nach Osten«, wobei sich hinter diesem nebulösen Begriff nichts anderes als das deutsche Interesse an einer kriegerischen Landnahme im Osten, auf Kosten Russlands, verbarg. Schon bald nach der Jahrhundertwende, spätestens seit 1912/13, kam in Deutschland die Parole vom »unvermeidlichen Existenz- und Endkampf« zwischen Slawen und Germanen auf.[23] Es »lief eine Propagandawelle an gegen den Panslawismus, gegen die Flut der Slawen, die das Germanentum bedrohten, aber auch gegen den Erzfeind Frankreich«.[24] Mit dieser Deutung einer möglichen künftigen Konfliktlage verband sich jedoch wiederum weniger die Furcht vor der Übermacht des Slawentums als vielmehr ein raumpolitisch-strategisches und wirtschaftliches Expansionsinteresse, unter anderem an der »Kornkammer Ukraine«.

Der Beginn der historischen Wirksamkeit dieses nationalistisch-imperialistischen Russlandbildes ist bereits in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg festzumachen. Sie steigerte sich in den Jahren 1914–1918 und erreichte ihren Höhepunkt im Eroberungs- und Vernichtungskrieg Hitler-Deutschlands gegen die Sowjetunion 1941–1945. Die Exponenten dieses kriegerischen Russlandbildes waren die deutschen Nationalisten: von den extremistischen »Alldeutschen« der Kaiserzeit bis zur faschistischen NSDAP. Von ausschlaggebender historischer Bedeutung aber war der Tatbestand, dass dieses Russlandbild von den tonangebenden Teilen der deutschen Eliten mitgetragen wurde. Genuiner Bestandteil dieses nationalistischen Russlandbildes war eine selbstgefällige und herabsetzende Interpretation des unterschiedlichen Entwicklungsstandes beider Länder, die bereits zu dieser Zeit mit einem rassistischen Zungenschlag einherging. Typisch hierfür war beispielsweise eine 1914 verbreitete Postkarte mit dem arroganten, auf das Thema Reinlichkeit anspielenden Text: »Väterchen, in deinem Lande ist es eine Affenschande! Wir kommen euch zu kultivieren und recht gründlich zu desinfizieren! «[25]

Ein Russlandbild dieser Art hatten auch jene 56 deutschen Professoren, die im Oktober 1914 den berühmten Aufruf »An die Kulturwelt« unterzeichneten, in dem der Krieg als ein Daseinskampf dargestellt wurde, der dem friedliebenden Deutschland aufgezwungen worden sei. In dem Aufruf der deutschen Gelehrten steht auch der folgende Satz: »Im Osten aber tränkt das Blut der von russischen Horden hingeschlachteten Frauen und Kinder die Erde und im Westen zerreißen Dum-Dum-Geschosse unseren Kriegern die Brust. Sich als Verteidiger europäischer Zivilisation zu gebärden, haben die am wenigsten das Recht, die sich mit Russen und Serben verbündeten und der Welt das schmachvolle Schauspiel bieten, Mongolen und Neger auf die weiße Rasse zu hetzen.«[26]

Das nationalistisch-imperialistische Russlandbild war von der allgemeinen Annahme geprägt, die Deutschen seien den Russen -und im weiteren Sinne den Slawen insgesamt – politisch, wirtschaftlich, militärisch und geistig überlegen. Dieser Gedanke führte bei den deutschen Nationalisten jedoch nicht, wie bei den Vertretern des »kulturellen Russlandbildes«, zur Beschäftigung mit Formen des Austauschs, die geeignet sein konnten, die Unterschiede konstruktiv zu nutzen und den unterschiedlichen Entwicklungsstand auszugleichen. Stattdessen wurde er aggressiv gewendet: Die – wie es hieß: bei der Verteilung der Welt zu kurz gekommenen – Deutschen seien berechtigt, »den Osten« kriegerisch zu erobern, politisch zu beherrschen und wirtschaftlich auszubeuten. In der Wahrnehmung der Vertreter einer deutschen Machtpolitik dieses Zuschnitts war das riesige russische Reich groß und schwach zugleich. Unter dem Ansturm der überlegenen deutschen Eroberungsarmee, so lautete ihre Annahme, würde es schnell zusammenbrechen. Der Verlauf des Ersten Weltkrieges schien diese Annahmen tendenziell zu bestätigen. Mit dem Frieden von Brest-Litowsk vom Frühjahr 1918, den die deutsche Regierung den Russen diktierte, konnten die ost-expansionistischen Ambitionen Deutschlands für eine kurze Zeit befriedigt werden.

Obwohl Deutschland mit dem Friedensvertrag von Versailles 1919 dann in seinen realen machtpolitischen Möglichkeiten drastisch beschnitten wurde, lebte das nationalistisch-imperialistische deutsche Russlandbild auch in der Zwischenkriegszeit[27] unterschwellig fort. Es nahm jetzt auch bereits die Konturen eines Sowjetunionbildes an. Die Nationalisten präsentierten es in einer neuen, defensiven Variante: Deutschland sei der »Wall« oder das »Bollwerk« gegen den Bolschewismus. Der Tatbestand, dass das nationalistisch-imperialistische Russlandbild mit dieser vorübergehenden defensiven Wendung auch im Deutschland der Weimarer Republik fortlebte, sollte auch bei der Bewertung des Rapallo-Vertrages nicht außer Acht gelassen werden.[28] Gleichzeitig ist hervorzuheben, dass die antibolschewistische Ideologie seit den 20er Jahren in der deutschen Innenpolitik instrumentalisiert und als integrierende Klammer benutzt worden ist.

Merkwürdigerweise vertrug sich der zeitgenössische Antibolschewismus der nationalistischen Rechten mit einer temporären Zusammenarbeit. Hier sei nur an die Kooperation von Reichswehr und Roter Armee erinnert.[29]

Von der »Bollwerk«-These ausgehend, konnte Hitler dann später sein eigenes Programm zur Eroberung von Lebensraum im Osten ins Werk setzen. Auch in anderer Hinsicht baute Hitler auf älteren Russlandvorstellungen auf. Zu ihnen gehörte nicht zuletzt die folgenschwere Fehleinschätzung, Russland sei ein »tönerner Koloss«, die bekanntlich noch im Jahre 1941 das Bewusstsein der NS-Führung und der Wehrmachtspitze prägte.[30] Man sieht: Die Übergänge sind fließend.

2.Das nationalsozialistische Russland-Feindbild: »Jüdischer Bolschewismus«

Das rassistische Russlandbild stellt eine spezifische Ausformung und Übersteigerung des nationalistischen Russlandbildes dar. Von ihm gingen insoweit besondere Gefahren aus, als es den unterschiedlichen Entwicklungsstand Deutschlands und Russlands rassistisch deutete. Damit erhielt das deutsche Überlegenheitsgefühl, das auch ein Bestandteil anderer Russlandbilder war, eine biologische Erklärung. In ihrer einfachsten Form lautete sie, dass es eben natürliche Unterschiede zwischen der germanischen und der slawischen Rasse gebe, wobei erstere die höherwertige sei.

In Ansätzen war dieses rassistisch begründete deutsche Überlegenheitsgefühl schon vor dem Ersten Weltkrieg vorhanden.

Weltgeschichtliche Bedeutung erhielt es jedoch erst in der Hitler-Zeit,[31] genauer gesagt, während des deutsch-sowjetischen Krieges seit 1941.[32] Die rassistische Betrachtungsweise bildete den ideologischen Kern von Hitlers Russlandbild. Hitler meinte, die Rasse der Slawen sei zur Staatsbildung selbst unfähig und müsse daher von anderen beherrscht werden. Aus diesem Grunde habe 1917 der – von Hitler so genannte – »jüdische Bolschewismus« in Russland seine Fremdherrschaft errichten können.[33] Damit wurde suggeriert, die Träger des bolschewistischen Herrschaftssystems, also die Angehörigen der politischen Elite der Sowjetunion, seien großenteils Juden. Sie zu vernichten und im Osten Lebensraum zu erobern – das waren die beiden Hauptziele Hitlers.

Das rassistische Russlandbild Hitlers fixierte also zwei Feindgruppen. Zum einen richtete es sich – im Kontext seines Programms zur Vernichtung des europäischen Judentums – gegen die russischen Juden. Neben dieser antisemitischen Stoßrichtung hatte es eine antislawische. Zeitgenössischen Anschauungen zufolge, die von Hitler gefördert und während des Krieges besonders von der SS propagiert wurden, hatte man nicht nur in den Juden beziehungsweise den »jüdischen Bolschewisten«, sondern auch in den Slawen »Untermenschen«[34] zu sehen. Nach der NS-Ideologie verdienten sie es nicht, gemäß den Regeln des Völkerrechts behandelt zu werden. Im künftigen deutschen Herrschaftsraum, dem »Großdeutschen Germanischen Reich«, das vom Atlantik bis zum Ural reichen sollte, war den Slawen die Rolle von Arbeitssklaven zugedacht, die den deutschen »Herrenmenschen« zu dienen hatten.[35]

Damit ist im Grunde genommen schon das Wesentliche über das nationalsozialistische Russlandbild gesagt. Sein charakteristisches Merkmal bestand darin, dass in ihm alle negativen Klischees, die in Deutschland über Russland, die Russen und die Sowjetunion in Umlauf waren, gebündelt und zu einem regelrechten Feindbildkomplex zusammengefügt wurden. Das von der NS-Propaganda gezeichnete Sowjetunionbild bestand aus mehreren Versatzstücken, die nach wechselnden taktischen Erfordernissen unterschiedlich in Szene gesetzt werden konnten.[36] Die NS-Propaganda verknüpfte das traditionelle nationalistische Überlegenheitsgefühl der Deutschen mit einem hemmungslos aggressiven Antibolschewismus, der als »antibolschewistische Platte« an- und abgestellt, also instrumentalisiert werden konnte. Des weiteren stellte sie die Verbindung her zu den erwähnten rassistischen Elementen, also zu den antisemitischen und antislawischen. Diese Feindbild-Facetten wurden des weiteren mit den traditionellen Ängsten der Deutschen vor der als »asiatisch« bezeichneten Großmacht im Osten zusammengebunden, die angeblich das Abendland in seiner Existenz bedrohe.

So entstand jener diffuse Feindbildkomplex, der es ermöglichte, Kriegführung und Rassenpolitik miteinander zu verbinden.[37] Diese Funktion der von der NS-Propaganda gezeichneten Russlandbilder liegt auf der Hand: Sie sollten die deutschen Soldaten, die Angehörigen der SS sowie das übrige in Russland eingesetzte Besatzungspersonal mental in die Lage versetzen, das rassenideologische Programm des Nationalsozialismus, dessen Kernstücke die »Endlösung« und das deutsche Ostimperium waren,[38] zu exekutieren.

Was war an diesem Bild neu, was wurde aus älteren Traditionen übernommen? Fritz Fischer betont die Kontinuität zwischen dem älteren, wilhelminisch-alldeutschen Expansionismus (»Nach Ostland wollen wir reiten!«) und der Hitlerschen Eroberungspolitik, arbeitet aber zugleich die Unterschiede wie folgt heraus: »Neu, der Person Hitlers alleine zuzuschreiben, ist die Übersteigerung dieser Politik ins Kriminelle: die Behandlung der polnischen und russischen Bevölkerung als Heloten; das Verhungernlassen von Millionen russischer Kriegsgefangener, woran auch die Wehrmacht eine große Mitschuld trägt. Wohl Hitler alleine zuzuschreiben ist die Ermordung von Millionen europäischer Juden.«[39] Die geschilderte NS-spezifische Bündelung und aggressive Zuspitzung mehrerer älterer Russlandbilder und ihre Koppelung mit einem auf Vernichtung angelegten Antisemitismus repräsentierte unter den deutschen Russlandbildern des 20. Jahrhunderts die folgenschwerste und damit geschichtsmächtigste Hauptlinie.

Die NS-Propagandaformel »jüdischer Bolschewismus« muss deutlich abgehoben werden von einem anderen Russland- beziehungsweise Sowjetunionbild, das zwar ebenfalls antikommunistisch beziehungsweise antibolschewistisch war, aber keine rassistischen Elemente enthielt und sich im Wesentlichen auf eine Kritik am politischen und gesellschaftlichen System der Sowjetunion konzentrierte. Ein politisches Sowjetunionbild dieser Provenienz gehört seit 1918 zum – oben bereits beschriebenen – sozialdemokratischen Russlandbild ebenso wie zu einigen bürgerlichen Russlandbildern des Westens insgesamt.[40] Die NS-typische Vermengung mit antisemitischen und antislawischen Elementen fand 1945, mit dem Sieg der Alliierten über das nationalsozialistische Deutschland, zwar ein Ende. Aber das von einem politischen Antikommunismus beziehungsweise Antibolschewismus geprägte Sowjetunionbild hatte eine Kontinuität über das Kriegsende 1945 hinaus.[41] Für die Westdeutschen bildete es eine der wenigen ideologischen Klammern zwischen Kriegs- und Nachkriegszeit.

3.Russlandbilder in der deutschen Wehrmacht-Generalität

Reichswehr und Wehrmacht vor 1940

Wenn man nach dem geistigen und politischen Milieu fragt, in dem die Offiziere der Reichswehr und der späteren Wehrmacht lebten, so geht man kaum fehl in der Annahme, dass sie unter den Anhängern des nationalistisch-imperialistischen Russlandbildes zu suchen sind. Neuere Forschungen lassen hier allerdings interessante Differenzierungen erkennen.[42] Bekanntlich gab es in den Jahren der Weimarer Republik eine Phase der Zusammenarbeit von Reichswehr und Roter Armee. Die Sowjetunion – wie Deutschland Verlierer des Ersten Weltkrieges – verschaffte der Reichswehr die Möglichkeit, auf russischem Boden intensive Test- und Erprobungsarbeiten durchzuführen, die in Deutschland verboten waren. Das damit verbundene Waffentraining erleichterte es hernach Hitlers Wehrmacht, schon Mitte der 30er Jahre die ersten Panzerverbände und Geschwader der Luftwaffe aufzustellen und auszubilden. Diese mehrjährige und intensive Kooperation von Reichswehroffizieren mit Offizieren der Roten Armee[43] prägte das Russlandbild der deutschen Offiziere keineswegs nur negativ.[44] Überdies kann die Zusammenarbeit von ideologisch so unterschiedlich geprägten Offizieren wie denen aus der deutschen Reichswehr und der sowjetischen Roten Armee als ein Hinweis darauf verstanden werden, dass es bei Berufsmilitärs – ebenso wie bei Angehörigen anderer Berufe – selbst im kriegerischen Zeitalter der Nationalstaaten so etwas wie eine internationale professionelle Solidarität gab.

Im Interesse einer weiteren Differenzierung lässt sich sagen, dass unter den jüngeren Reichswehroffizieren der 20er Jahre nicht wenige waren, die ihre innenpolitischen Feindbilder – »Schwarzrotgold«, Kommunisten und Sozialdemokraten – nicht auf die Außenpolitik übertrugen. Konkret konnte das bedeuten, dass sie nicht in erster Linie gegen die Sowjetunion gerichtet waren, sondern gegen Versailles, die Weimarer Republik und Polen. Bei manchen Offizieren überwogen sogar die antiwestlichen und antiliberalen Einstellungen, und diese korrespondierten dann mit der Option einer Zusammenarbeit mit der Sowjetunion. Beispielsweise sah der Reichswehr-Planer Oberstleutnant Joachim v.Stülpnagel in seinen 1924 formulierten »Gedanken über den Krieg der Zukunft« eindeutig Frankreich und Polen als künftige Hauptfeinde an.[45] Ein außenpolitischer Pragmatismus dieser Art folgte dem machtpolitischen Denkansatz, demzufolge der Außenpolitik der klare Vorrang unter allen Politikfeldern zukam. Man konnte also im Innern antibolschewistisch, antisozialistisch und antidemokratisch orientiert sein und gleichzeitig eine Militärkooperation mit der bolschewistischen Sowjetunion befürworten. Auch diese Position gab es innerhalb der Reichswehr.

Welche Erfahrungen brachten die Reichswehroffiziere aller Dienstgrade mit, denen die Möglichkeit geboten war, im Zuge ihrer zahlreichen Besuchsreisen das riesige russische Reich kennen zu lernen? Offenbar brachten sie einen gemeinsamen Gesamteindruck mit: Dass es der kommunistischen Staatsführung gelungen sei, den traditionellen Minderwertigkeitskomplex der russischen Menschen gegenüber Ausländern zu überwinden und dass sich das Land in kultureller wie in ökonomischer Hinsicht in einer dynamischen Phase mit großen Zukunftserwartungen befinde.[46] In diesem Sinne äußerte sich 1931 etwa Oberst Wilhelm Keitel,[47] damals Chef der Heeresorganisationsabteilung im Truppenamt, der Mann, der 1941 als Generalfeldmarschall und Chef des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW) einen Teil der verbrecherischen Befehle unterzeichnete und der jede Kritik an Hitlers Vernichtungskriegskonzept scharf zurückwies.

Beeindruckt zeigten sich nicht wenige deutsche Offiziere von dem, wie sie anerkennend formulierten, »gesunden Militarismus« des Sowjetstaates. Gemeint waren damit »seine mit vollem Einsatz betriebene Propagierung des Wehrgedankens und der hohe soziale Stellenwert des Militärischen«,[48] eine gesellschaftliche und politische Wertschätzung des Berufsmilitärs also, welche die Reichswehroffiziere in dem teilweise antimilitaristischen Klima der Weimarer Republik mit ihrem 100000-Mann-Heer schmerzlich vermissten.

Perspektivisch mag man einmal dem Gedanken nachhängen, dass die Stabsoffiziere der Reichswehr der 20er Jahre die Wehrmacht-Generäle der 40er Jahre waren, die den Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion führten. Allerdings standen ihnen nicht die russischen Offizierskameraden aus den Jahren der Kooperation gegenüber. Denn diese lebten 1941 großenteils nicht mehr. Sie waren den Stalinschen Säuberungen von 1937/38 zum Opfer gefallen.

Vereinzelt sind unter den Reichswehroffizieren auch schon vor 1933 penetrant rassistische Denkmuster bei der Beurteilung russischer Offiziere festzustellen. So charakterisierte ein Hauptmann namens Hans Krebs Offiziersgäste aus der Besucherdelegation des sowjetischen Generals und Politikers Michail Tuchatschewski in Berlin 1932 mit folgendem Vokabular: »geriebener, verschlagener Jude […], jüdische Blutmischung […] von unaufrichtigem, mißtrauischem und hinterhältigem Wesen, anscheinend fanatischer Kommunist«.[49] Das war eine Diktion, die man getrost in die geistige Vorgeschichte des rassenideologischen Vernichtungskrieges einreihen kann. Als Russlandexperte der Wehrmacht und bekennender Nazi ging Krebs 1936 an die deutsche Botschaft nach Moskau, vertrat dort den Militärattaché, General Ernst August Köstring, und trug in dieser Rolle nicht unwesentlich zu jener grandiosen Fehleinschätzung der Roten Armee bei,[50] von der bereits die Rede war. In der Schlussphase des Krieges (am 29. März 1945) beauftragte Hitler den General der Infanterie Krebs mit der Wahrnehmung der Geschäfte des Generalstabschefs des Heeres.

Dieser versuchte nach Hitlers Tod vergeblich, mit der Roten Armee in Verhandlungen einzutreten. Er beging dann am 1. Mai 1945 in der Reichskanzlei Selbstmord.

Mit dem Jahre 1933 brach die neue Regierung Hitler die Zusammenarbeit von Reichswehr und Roter Armee ab. Nicht wenige Offiziere bedauerten das. Zu ihnen gehörte auch Oberst Walter von Reichenau, der soeben zum neuen Chef des Ministeramts im Reichswehrministerium ernannt worden war und damit – im Umfeld des Hitler ergebenen Reichswehrministers, General Werner von Blomberg – eine politische Schlüsselstellung innehatte. Interessanterweise versicherte Reichenau im Juni 1933 einem Angehörigen der sowjetischen Botschaft in Berlin, die Reichswehr stünde »ganz wie früher für die Entwicklung und Vertiefung der deutsch-sowjetischen Freundschaft«.[51] Acht Jahre später, beim Überfall auf die Sowjetunion 1941, sollte Reichenau dann als Generalfeldmarschall und Oberbefehlshaber der 6. Armee als einer der glühendsten Verfechter des rassenideologischen Vernichtungskrieges auftreten.[52]

Die 30er Jahre waren hinsichtlich des Russlandbildes deutscher Militärs dadurch geprägt, dass konkrete Informationen über die Sowjetunion und ihre Streitkräfte immer spärlicher flossen. Dieses Defizit begünstigte den Rückgriff auf alte Klischees. Sie ersetzten jetzt zunehmend die Wirklichkeit. Die Stalinschen Säuberungen wurden in deutschen Militärkreisen als eine »Enthauptung« der Roten Armee interpretiert, welche die ohnehin nicht auf dem möglichen Stand der Technik befindliche Streitmacht der Sowjetunion führerlos machte und weiter schwächte.[53] Tatsächlich handelte es sich um eine fast völlige Auslöschung der Führungskader der sowjetischen Roten Armee. Nach den Angaben eines russischen Militärhistorikers fehlten ihr als Folge dieser Säuberungen im Juni 1945120000 Kommandeure.[54] So gesehen, konnte in Deutschland das traditionelle Bild vom »Koloss auf tönernen Füßen« erneut Bedeutung erlangen.[55]

Der ideologische Schulterschluss im Kriegsjahr 1941

In einer Studie aus dem Jahre 1978 nahm der bekannte Weltkriegs-Historiker Andreas Hillgruber in einer »Art Momentaufnahme« die Russland-Vorstellungen von Wehrmachtgenerälen in der Planungsphase des Russlandkrieges, also dem Jahr zwischen Juli 1940 und Juni 1941, unter die Lupe.[56] Dabei konzentrierte er sich auf jenen Personenkreis, der speziell mit den Vorbereitungen für den Russlandkrieg befasst war.[57] Sein Ergebnis bestätigt großenteils das bisher Gesagte. Laut Hillgruber wies das Russlandbild der Militärelite von 1940/41 die folgenden typischen Merkmale auf:[58]

verhältnismäßig geringe aktuelle Informationen über die Sowjetunion, ihre Streitkräfte und ihr industrielles Potential, daher

Rückgriff auf die traditionelle Vorstellung, bei Russland handle es sich noch immer um einen »tönernen Koloss«, der bei einem starken Stoß von außen schnell zusammenbrechen werde,

eine militärspezifische Verengung des Blickwinkels, die jedoch wegen des Mangels an konkreten Informationen ebenfalls ältere Klischeevorstellungen aktualisierte, wozu

eine tendenzielle Geringschätzung der militärischen Fähigkeiten der Roten Armee gehörte, besonders der Führung, während dem einfachen russischen Soldaten Zähigkeit und Ausdauer zugesprochen wurden, damit korrespondierend

eine überhebliche – nach dem raschen Sieg über Frankreich im Jahre 1940 teilweise geradezu euphorische – Einschätzung der Fähigkeiten der Wehrmacht und, aus alledem resultierend,

die Prognose, dass die Wehrmacht einen Krieg gegen die Sowjetunion in acht bis zehn Wochen gewinnen könne.

Hillgruber zufolge waren die meisten Militärs einem eher traditionellen Russlandbild verhaftet. Hitler habe jedoch seine Konzeption des rassenideologischen Vernichtungskrieges mit Hilfe »einiger führender Militärs« durchsetzen können.[59] Neuere Forschungen legen die weitergehende These nahe, dass es 1941 zu einem regelrechten ideologischen Schulterschluss zwischen Hitler und der Wehrmacht-Generalität gekommen ist. Um diesen Vorgang erklären zu können, muss zunächst auf die antisemitischen Strömungen im deutschen Militär eingegangen werden.

Schon an dieser Stelle kann jedoch festgestellt werden, dass sich die Offiziere in der Wehrmacht- und Heeresführung im Frühjahr 1941 »weitgehend die Hitlerschen Intentionen zu eigen« machten.[60] Es steht außer Zweifel, dass das rassenideologische Russlandbild nunmehr der Mainstream war, dass er geschichtsmächtig wurde und dass die vereinzelten Proteste, etwa gegen den Kommissarbefehl, den Gang der Dinge in keiner Weise mehr zu beeinflussen vermochten. Das heißt: Seit dem Überfall bestimmten das rassenideologische Russlandbild, die Vernichtungsvorstellungen sowie die »verbrecherischen Befehle« den Charakter der Kriegshandlungen und nicht etwa die Restbestände eines weniger radikalen, traditionellen Russlandbildes, die es in den Köpfen von Angehörigen der militärischen Elite zum Teil noch gegeben hat. Um es – mit einem Vergleich – auf den Punkt zu bringen: Die Wehrmachtführung benötigte 1941 – zur ideologischen Mobilisierung der ihr überantworteten Soldaten – keine Politischen Kommissare wie die Rote Armee; die deutschen Generäle besorgten dies gleich mit.

Es soll gewiss nicht unterschlagen werden, dass es sowohl in der deutschen Diplomatie[61] als auch in der Wehrmacht oppositionelle Stimmen gab. Sie blieben jedoch vereinzelt und konnten in keiner Phase des Krieges eine Kursänderung bewirken. Ein Historiker, der die Haltung deutscher Widerstandskreise zu Hitlers Russlandpolitik und Ostkrieg[62] untersucht hat, kommt im Übrigen zu dem Ergebnis, »daß sich viele Hitlergegner auch während des Krieges nicht von dem schon in den 30er Jahren von der Nazi-Propaganda besonders unterstrichenen – zum Teil militanten -Antibolschewismus zu lösen vermochten«.[63] Auch in diesen Kreisen wurde der Krieg gegen die Sowjetunion – auf der Basis eines »grundsätzlichen antibolschewistischen Einvernehmens« und teilweise wohl auch einer rassistischen Haltung gegenüber der slawischen Bevölkerung – als Krieg gegen den »richtigen« Gegner akzeptiert.[64]

Die Vorstellungen über Russland, die sich in den Köpfen der Angehörigen der Wehrmachtelite festgesetzt hatten, standen also in der Tradition eines nationalistischen Russlandbildes, das in bestimmten Kreisen der deutschen Gesellschaft bereits seit der Jahrhundertwende vorhanden war. Dieses Bild hatte auch schon rassistische, sprich antislawische Züge und wurde in der Bedrohungsvorstellung von der »asiatischen Gefahr« artikuliert und propagiert. Seit der russischen Oktoberrevolution 1917 und der deutschen Revolution von 1918 entstand im Lager der nationalistischen Rechten und in Teilen des Bildungsbürgertums zudem ein hoch emotional aufgeladenes antibolschewistisches Feindbild, das gegen die Sowjetunion mobilisiert werden konnte. Diese beiden Stränge des nationalistischen Russlandbildes prägten – unabhängig von den eher positiven Erfahrungen der temporären Zusammenarbeit mit Angehörigen der Roten Armee in den 20er Jahren – die Offiziere der Reichswehr und späteren Wehrmacht. Hitler war es dann, der die Vorstellung von einer »asiatischen Gefahr« mit dem Antisemitismus, dem Antibolschewismus und dem antislawischen Rassismus verschmolz.

Teil II:Antisemitismus im deutschen Militär

Gab es in der deutschen Wehrmacht des Jahrzehnts 1935–1945 einen besonders ausgeprägten Antisemitismus, der die Beteiligung von Soldaten der Wehrmacht an den Judenmorden erklären kann? Oder wird man eher davon auszugehen haben, dass der Antisemitismus in der Wehrmacht sich nicht sonderlich von jenem unterschied, der in der deutschen Gesellschaft insgesamt verbreitet war? Die Ausprägungen dieses Antisemitismus selbst waren höchst unterschiedlich. Sie reichten von dem vagen Gefühl, dass die Juden Fremde seien, über die Vorstellung, dass es kein Fehler sei, wenn sie aus dem öffentlichen Leben entfernt würden, bis hin zu jenem – von Daniel J. Goldhagen so genannten – »eliminatorischen Antisemitismus«.[65] Wir wissen nicht, wie viele Deutsche dieser mörderischen Ausprägung des Antisemitismus anhingen. Waren es vielleicht 100000 Menschen oder mehr?

Wichtiger als die Klärung dieser quantitativen Frage scheint jedoch der Tatbestand zu sein, dass sich diese extremste Form des Antisemitismus unter den Bedingungen eines allgemeinen Vorbehalts gegen die Juden entfalten und betätigen konnte. Die Mörder konnten offensichtlich mit dem klammheimlichen Wegschauen der Mitläufer rechnen. Dabei war von zentraler Bedeutung, dass die Obrigkeit, in diesem Falle der NS-Staat und seine für die Soldaten entscheidenden Organe, nämlich das Oberkommando der Wehrmacht (OKW) und das Oberkommando des Heeres (OKH), die Schleusen zu den Mordtaten öffneten, also ihren Teil dazu beitrugen, dass die Judenmorde als Staatsverbrechen organisiert und durchgeführt werden konnten.

1.Vom Antisemitismus zum Holocaust?

Wer sich über den Stand unseres Wissens über das Ausmaß und die Rolle des Antisemitismus im deutschen Militär ein Bild zu machen versucht, wird alsbald merkwürdige Beobachtungen machen. Es gibt wohl einige allgemeine Darstellungen über die Geschichte des Antisemitismus in Deutschland,[66] bezeichnenderweise mehrheitlich aus der Feder jüdischer Historikerinnen beziehungsweise Historiker. Aber wir verfügen kaum über spezielle empirische Untersuchungen, die uns über den Antisemitismus im deutschen Militär Auskunft geben könnten. So wissen wir bis heute auch vergleichsweise wenig über gegebenenfalls vorhandene Kontinuitätslinien im antisemitischen Denken innerhalb des Militärs vom 19. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg. Die nach wie vor beste Einführung ist die Überblicksdarstellung von Manfred Messerschmidt mit dem etwas irreführenden Titel »Juden im preußisch-deutschen Heer«.[67] Dieser Beitrag bietet nämlich eine ganze Reihe von Aussagen zum Antisemitismus im deutschen Militär vor dem Zweiten Weltkrieg. Im Übrigen fällt auf, dass eine ansonsten so vorzügliche Darstellung der Geschichte der Reichswehr wie die von Rainer Wohlfeil – Bestandteil des einschlägigen »Handbuchs zur deutschen Militärgeschichte« – das Thema Antisemitismus völlig ausklammert.[68] Der englische Historiker Francis L. Carsten dagegen weiß in seiner politischen Geschichte der Reichswehr dazu durchaus einiges zu sagen.[69]

Die Frage, ob es im deutschen Militär einen Antisemitismus gegeben hat, ist also insgesamt wenig thematisiert worden. Stattdessen steht uns eine ganze Reihe von Untersuchungen über den Dienst von Juden in deutschen Heeren zur Verfügung. Dabei steht die Bereitschaft der Juden, den Militärdienst zu leisten und dadurch gesellschaftliche Anerkennung zu erreichen, durchgängig im Vordergrund. Horst Fischer studierte dieses Problem für die Phase des frühen 19. Jahrhunderts, besonders im Zusammenhang mit den preußischen Befreiungskriegen.[70] Einige Darstellungen stammen aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg und aus den Jahren der Weimarer Republik. Sie wurden großenteils von Juden geschrieben und dienten dem Ziel, das patriotische Engagement deutscher Juden zu dokumentieren, wie es in ihrer – zum Teil freiwilligen – Ableistung des Militärdienstes zum Ausdruck kam.[71] In diesem Zusammenhang sind auch verschiedene Schriften des »Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten«[72] zu nennen, der die Interessen dieser Soldaten in der Öffentlichkeit vertrat. Auch die Forschungsbeiträge über die jüdischen Soldaten im Ersten Weltkrieg[73] sowie über den im Jahre 1919 gegründeten jüdischen Frontsoldatenbund[74] gehen in diese Richtung.

Eine ähnliche Perspektive wie diese zeitgenössische projüdische Literatur verfolgt ein bestimmter Typus von deutschen Publikationen, die seit den 60er Jahren erschienen sind. Hier wird das – an sich ehrenwerte – Ziel verfolgt, antisemitische Parolen früherer Jahrzehnte über die Drückebergerei von Juden im Kriege zu widerlegen und das zu bestätigen, was die jüdischen Interessenvertretungen schon immer behauptet und auch statistisch belegt haben: dass nämlich die Deutschen jüdischen Glaubens nicht minder patriotisch waren als die anderer Konfessionen. Diese Tendenz verfolgt die Neuauflage der erstmals im Jahre 1935[75] veröffentlichten Dokumentation »Kriegsbriefe gefallener deutscher Juden«[76] im Jahre 1961 – also nach dem Zweiten Krieg und in Kenntnis des Holocaust. Für den damaligen Bundesverteidigungsminister Franz Josef Strauß, der die Edition durch ein Geleitwort förderte und ihr damit politisches Gewicht verlieh, waren die Kriegsbriefe aus dem Ersten Weltkrieg »ein wunderbarer Beweis für die patriotische Haltung der deutschen Juden und ein schlagender Gegenbeweis gegen die Nazi-Propaganda, die bemüht war, den jüdischen Mitbürger als von Natur feige, korrupt und verräterisch hinzustellen«.[77] An anderer Stelle erklärte Strauß, es gehe ihm darum, »das von den Nationalsozialisten geschändete Bild des jüdischen Mitbürgers und Soldaten in Deutschland wieder in das rechte Licht zu rücken«, wobei er – in richtiger Erkenntnis der mit diesem Blickwinkel verbundenen Beschränkungen – hinzufügte, es sei ihm klar, dass sich diese Absicht »neben dem großen Problem des Antisemitismus und den damit verbundenen Ungeheuerlichkeiten recht bescheiden« ausnehme.[78]

Auf derselben Linie liegt eine in den 70er Jahren im Auftrage des Bundesministeriums der Verteidigung vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt Freiburg i.Br. erarbeitete Wanderausstellung »Deutsche jüdische Soldaten 1914–1945«.[79] Der 1982 erschienene Katalog zu dieser Ausstellung enthält ebenfalls aufschlussreiche Geleitworte. Der damalige Bundestagspräsident Richard Stücklen machte das »staatspolitische Anliegen« der Ausstellung folgendermaßen deutlich: Es gehe um das »Bemühen um Rehabilitation der deutschen jüdischen Soldaten«, die sich tapfer und selbstverständlich für das deutsche Vaterland eingesetzt hätten.[80] Der Amtschef des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes, ein Offizier der Bundeswehr, betonte seinerseits, es sei »das erklärte Ziel der Ausstellung, […] einer Rehabilitation der deutschen jüdischen Soldaten zu dienen, die mit ihrem militärischen Einsatz für ihr Vaterland auch die volle bürgerliche Anerkennung als Staatsbürger erringen wollten, ein Bemühen, um dessen Früchte sie von den Nationalsozialisten betrogen wurden«.[81]

Die deutschen jüdischen Soldaten sollen demnach durch diese Ausstellung »rehabilitiert« werden, was nur heißen kann, sie -gleichsam rückwirkend – vor verleumderischen Angriffen in Schutz zu nehmen. Man fragt sich, wer der Adressat dieses Anliegens sein könnte. Die für die Ausstellung Verantwortlichen beantworten diese Frage nicht ausdrücklich. Auszuschließen als Empfänger dieser Rehabilitierungs-Botschaft sind jedenfalls diejenigen Deutschen, die Juden niemals verunglimpft haben. Sie müssen nicht davon überzeugt werden, dass die deutschen jüdischen Soldaten nicht dem Negativbild entsprachen, das die Antisemiten von ihnen zeichneten. Offen bleibt aber: Sind die Antisemiten unserer Tage als Adressaten gemeint, etwa die Angehörigen der Kriegsgeneration, die bis heute den – vor 1945 geprägten – Denkgewohnheiten verhaftet sind? Oder wendet man sich – in einem eher theoretischen Rückblick, der aber in die rechte Traditionsbildung einmünden soll – an diejenigen Deutschen, die während des Ersten Weltkrieges und danach die Juden als »feige, korrupt und verräterisch«[82] diffamierten, also an die erklärten Antisemiten? Zum Beispiel an jene Offiziere im preußischen Kriegsministerium, die 1916 die – für ungeheure Empörung sorgende – Judenzählung im preußisch-deutschen Heer auf den Weg brachten? Oder die Freikorps-Offiziere, die in den Jahren der Weimarer Republik prominente jüdische Politiker ermordeten? Oder die Antisemiten der NS-Zeit – in der SS und in der Wehrmacht –, welche die Judenmorde durchführten?

Erkennbar ist das Bestreben, die Verantwortung für die Vernichtung der europäischen Juden in der Zeit des Zweiten Weltkrieges auf »die Nationalsozialisten« hin zu kanalisieren. Die Frage nach der Vorgeschichte des nationalsozialistischen Rassenantisemitismus wird kaum gestellt. Ebenso bleibt die Frage nach dem Ausmaß und der Rolle des Antisemitismus im deutschen Militär vor Hitler und natürlich auch während der NS-Zeit ungeklärt. Mit der Formulierung »Deutsche jüdische Soldaten« wird stattdessen die Vorstellung suggeriert, in den deutschen Heeren habe es nachweislich jüdische Soldaten gegeben, aber keinen Antisemitismus. Konsequenterweise schließt der Katalog von 1982 zur Wanderausstellung »Deutsche jüdische Soldaten« mit einem Artikel über jene – erfreulichen – Einzelfälle, in denen deutsche Offiziere Juden und ›Halbjuden‹ geholfen haben.[83] Nun kann und soll gar nicht bestritten werden, dass es Fälle solcher Hilfeleistung gegeben hat. Allerdings setzt sich eine historische Betrachtung, welche diese bemerkenswerten Fälle von Zivilcourage nicht in den Gesamtkontext von Krieg und Holocaust einordnet, dem Verdacht der Apologetik aus.

Die rechtsradikale »Deutsche Nationalzeitung« (DNZ) publizierte im Jahre 1997 über einen längeren Zeitraum hinweg »Dokumente zum Patriotismus deutscher Juden«, um dem »falschen Eindruck einer angeblich ewigen deutsch-jüdischen Feindschaft« entgegenzuwirken. Unter Berufung auf den »vaterländisch gesinnten Sozialdemokraten aus jüdischer Familie«, Professor Herbert Weichmann, mahnte das Blatt, »man dürfe das Dutzend Hitlerjahre nicht zum ewigen Maßstab eines Volkes machen«.[84] Als Belegstücke für diese »Betriebsunfall-These« werden wiedergegeben ein »flammend prodeutscher« Artikel aus der »Jüdischen Rundschau« vom 7. August 1914, »der in seiner Tendenz von den Alldeutschen nicht hätte übertroffen werden können«, sowie ein Artikel aus der »C.V.-Zeitung,« dem Organ des »Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens«, vom 30. März 1933, in dem »vaterländisch orientierte deutsche Juden« ausländischen Presseberichten, die über antisemitische Ausschreitungen in Deutschland berichtet hatten, entgegentraten. Auch hier lautet die Botschaft: Nur in der Hitlerzeit hat es »Geschehnisse« gegeben, die gegen die Juden gerichtet waren. Die Kontinuitätsfrage soll ausgeklammert werden. Wer nach wirklichen Erklärungen sucht, darf ihr jedoch nicht ausweichen.

2.Kaiserzeit und Erster Weltkrieg

Jüdische Offiziere unerwünscht

Vergleicht man den Antisemitismus der Kaiserzeit mit den antisemitischen Haltungen früherer Jahrhunderte seit dem Mittelalter, so kann man einige wesentliche neue Entwicklungen feststellen.[85] Erstens breitete sich jetzt die pseudowissenschaftliche Lehre von der biologischen Verschiedenheit der Rassen aus. Die Konsequenz war, dass versucht wurde, die bislang schon vorhandenen Vorurteile über die Juden wissenschaftlich zu beweisen und sie damit -im Kontext der Wissenschaftsgläubigkeit der damaligen Zeit – besonders gewichtig erscheinen zu lassen. Zweitens wird man den Tatbestand festhalten müssen, dass der Antisemitismus nun erstmals zu einer politisch organisierten Angelegenheit wurde. Es entstanden politische Vereinigungen – zum Beispiel der »Deutsche Handlungsgehilfenverband«, der »Bund der Landwirte« und der »Alldeutsche Verband« –, die den Antisemitismus zu ihrem Programm machten und die Juden gleichsam als eine innenpolitische Feindgruppe bekämpften. Dazu dienten Publikationsorgane wie zum Beispiel die »Kreuz-Zeitung«. Die antisemitische Propaganda, die sich schon damals der gesamten modernen Medientechnik bediente, zielte in erster Linie auf die Absteiger der Gesellschaft. In den politischen Parteien des rechten Spektrums fasste der Antisemitismus insgesamt Fuß, weniger aber in der katholischen Zentrumspartei und in der deutschen Sozialdemokratie.

Da das preußische Offizierkorps im politischen Spektrum der Kaiserzeit weit rechts angesiedelt war – monarchisch, obrigkeitsstaatlich, antisozialdemokratisch und antiliberal orientiert –, wird man über die Einstellung der Offiziere gegenüber Juden nicht lange rätseln müssen. Tatsächlich gab es im Offizierkorps des preußischen Heeres der Kaiserzeit eine antisemitische Grundeinstellung. Sie manifestierte sich insbesondere in der von der Armee praktizierten Personalpolitik. Zwar gab es weder ein Gesetz noch eine Vorschrift noch einen speziellen Befehl, der besagte, dass Juden -damals definierte man sie noch primär als Angehörige eines Glaubensbekenntnisses und nicht als Angehörige einer Rasse – von der Zulassung zur Offizierslaufbahn ausgeschlossen seien.[86] Vielmehr waren sie nach der Verfassung des deutschen Kaiserreiches als Staatsbürger gleichberechtigt. Infolgedessen stellte es einen klaren Verstoß gegen die Verfassung dar, wenn jüdische Beamte und Angestellte in der Verwaltungspraxis der Behörden laufend dadurch diskriminiert wurden, dass man sie bei Ernennungen und Beförderungen überging. Nicht minder verfassungswidrig war die Praxis, dass jüdische Soldaten in der preußischen Armee keine Offiziere und – nach 1885 – auch keine Reserveoffiziere werden konnten.[87]

Juden wurden nicht zu den Kreisen gerechnet, die in der exklusiven preußischen Militärkaste als »erwünscht« galten.[88] Kaiser Wilhelm II. definierte in einem Erlass über die Ergänzung des Offizierkorps vom 29. März 1890 die »erwünschten Kreise« folgendermaßen: »Neben den Sprossen der adligen Geschlechter des Landes, neben den Söhnen Meiner braven Offiziere und Beamten, die nach alter Tradition die Grundpfeiler des Offizierkorps bilden, erblicke ich die Träger der Zukunft Meiner Armee auch in den Söhnen solcher ehrenwerter bürgerlichen Häuser, in denen Liebe zu König und Vaterland, ein warmes Herz für den Soldatenstand und christliche Gesittung gepflegt und anerzogen werden […].«[89] Was die Juden anging, so konnte man sich in der militärischen Personalpolitik auf die bei ihnen fehlende »christliche Gesittung« beziehen. Den Sozialdemokraten, die man aus politischen Gründen vom preußischen Offizierkorps fernhielt, unterstellte man dies ebenfalls. Zudem hielt man ihnen vor, dass es ihnen an »Liebe zu König und Vaterland« mangele. Mit den »vaterlandslosen Gesellen« wollten preußische Offiziere nichts zu tun haben. Da sie das Eindringen sozialistischer Ideen in die Kasernen auf dem Wege selbst über die eingezogenen Wehrpflichtigen fürchteten, entwickelten sie ein ganzes System von Überwachungsmethoden.[90]

Bei dem abweisenden Verhalten preußischer Offiziere gegenüber den Bürgern jüdischer Konfession spielten antisemitische Vorurteile eindeutig die Hauptrolle. Solche Vorurteile gab es in unterschiedlicher Ausprägung bei den aus dem Adel stammenden Angehörigen der militärischen Führungsschicht wie auch bei den Reserveoffizieren, die aus dem höheren und mittleren Bürgertum stammten. Die Unterschiede beschrieb der amerikanische Historiker Werner T. Angress folgendermaßen: »Der Antisemitismus der ersteren [der Adligen, d. Verf.] beruhte auf einer unter den deutschen Führungsschichten weit verbreiteten und traditionell tief eingewurzelten Abneigung gegen eine religiöse Minderheit, die man als Fremdkörper im christlichen Obrigkeitsstaat empfand, gesellschaftlich nicht als ebenbürtig betrachtete, politisch teils der demokratischen, teils der ›umstürzlerischen‹ Opposition zurechnete, und deren soldatische Fähigkeiten man gering schätzte. Diese Haltung den Juden gegenüber war besonders ausgeprägt in Preußen, dem Staat, der in Deutschland die meisten jüdischen Einwohner zählte.« Dieser »konventionelle« Antisemitismus der höheren Führungsschichten basierte »weitgehend auf althergebrachtem Standesdünkel und entbehrte, von einigen Ausnahmen abgesehen, zumeist des blinden, fanatischen Judenhasses«. In Einzelfällen heirateten adlige Offiziere vermögende jüdische Frauen. Die bürgerlichen Reserveoffiziere passten sich auch in dieser Hinsicht in der Regel dem feudalen Offizierkorps an. Allerdings sieht der Historiker Werner Angress die Notwendigkeit, den in der adligen Militärelite anzutreffenden Antisemitismus von dem der bürgerlichen Reserveoffiziere zu unterscheiden: »Diese gehörten am Vorabend des Krieges einer Generation an, die am Ausgang des verflossenen Jahrhunderts aufgewachsen war, dem gehobenen und mittleren Bürgertum entstammte und vom Zeitgeist des extremen Nationalismus und der antisemitischen Bewegung jener Epoche erfasst und politisch geformt worden war. Auch waren die Reserveoffiziere viel anfälliger als ihre höheren Vorgesetzten für die Zugkraft des modernen völkischen Rassenantisemitismus, der um die Jahrhundertwende von den Antisemitenparteien populär gemacht worden war […].«[91]

Mit anderen Worten: Es gab im preußischen Offizierkorps einen eher gemäßigten, konventionellen Antisemitismus wie auch eine radikalere Variante, nämlich den modernen, rassenideologischen Antisemitismus, der dann Jahrzehnte später, in der NS-Zeit, zur Staatsideologie erhoben werden sollte.

Bleibt darauf hinzuweisen, dass die Verhältnisse in Bayern und in Sachsen zumindest partiell anders waren als in Preußen. In der Königlich Bayerischen und in der Königlich Sächsischen Armee konnten Juden immerhin noch bis zur Jahrhundertwende Reserveoffiziere werden, vereinzelt auch aktive Offiziere. Dieser Tatbestand veranlasste nicht wenige wohlhabende jüdische Familien, aus der preußischen und Reichshauptstadt Berlin weg und in die genannten Staaten umzusiedeln, um ihren Söhnen die Möglichkeit zu verschaffen, das – in der militarisierten Gesellschaft jener Zeit so begehrte – Reserveoffizierspatent zu erwerben.[92]

Wie funktionierte das Heraushalten von Juden aus dem preußischen Offizierkorps in der Praxis? Entscheidend ist, dass es keines zentralen Befehls bedurfte, um das gewünschte Ziel zu erreichen. Vielmehr stellte das System der Offizierswahl in den einzelnen Regimentern (Kooptationsrecht) sicher, dass jüdische Offiziers- oder Reserveoffiziersbewerber ohne Chance blieben.[93]

Mit anderen Worten: Der Antisemitismus war im preußischen Offizierkorps eine feste Größe. Vor dem Reichstag gab der preußische Kriegsminister, Generaloberst Josias von Heeringen, in einer Debatte über die Judenfrage am 10. Februar 1910 offen zu, dass es eine gewisse Abneigung gebe, jüdische Einjährig-Freiwillige zu Reserveoffizieren zu befördern. Diese Abneigung sei darin begründet, behauptete er, damit von den antisemitischen Vorbehalten im preußischen Offizierkorps ablenkend, »daß im niederen Volk hier und da eine Auffassung herrsche, nach der ein Jude nicht die dem Vorgesetzten zukommende Autorität sichern würde, und der Auffassung müsse man Rechnung tragen«.[94]

Zum bisher Gesagten bedeutete es durchaus keinen Widerspruch, wenn der »Verband deutscher Juden« im Jahre 1911 in einer Schrift über »Das jüdische Bekenntnis als Hinderungsgrund bei der Beförderung zum preußischen Reserveoffizier« feststellte, dass immerhin 26 Söhne jüdischer Eltern im preußischen Heer zu Reserveoffizieren ernannt worden seien.[95] Denn bei diesen Männern handelte es sich um ehemalige Juden, die zum Christentum konvertiert waren, um ihre Assimilation zu erleichtern. Trotz der verbreiteten Aversionen gegen das Judentum sperrte sich das preußische Offizierkorps bei getauften Juden nicht mehr, sie zum Reserveoffizier aufsteigen zu lassen. Dieses Faktum bestätigt, dass man Juden vor dem Ersten Weltkrieg überwiegend konfessionell definierte und nicht rassisch. Der radikale Rassenantisemitismus der bürgerlichen Nationalisten war vor dem Ersten Weltkrieg noch nicht bestimmend.

Die Judenzählung von 1916

In den Jahren 1914 bis 1918 lebten in Deutschland rund 500000 jüdische Bürger. Von ihnen dienten annähernd 100000 als Soldaten – als Mannschaften, Unteroffiziere und, zu einem ganz geringen Teil, auch als Offiziere und Militärärzte. 12000 deutsche jüdische Soldaten sind im Ersten Weltkrieg gefallen.[96]35000 jüdische Soldaten wurden mit militärischen Orden ausgezeichnet, bis hin zum höchsten Orden Pour le Mérite.[97] Das heißt: Der jüdische Teil der deutschen Bevölkerung beteiligte sich an den Lasten des Krieges in der gleichen Weise wie die übrigen Deutschen auch. Viele der deutschen jüdischen Soldaten des Ersten Weltkrieges waren Kriegsfreiwillige. Sie wollten sich in besonderer Weise als deutsche Patrioten bewähren, um die Integration des jüdischen Bevölkerungsteils in die deutsche Gesellschaft und die Gleichberechtigung der jüdischen Menschen zu befördern.[98] Charakteristisch für diese Haltung war die Äußerung eines württembergischen Fliegerleutnants jüdischen Glaubens namens Josef Zürndorfer: »Ich bin als Deutscher ins Feld gezogen, um mein bedrängtes Vaterland zu schützen. Aber auch als Jude, um die volle Gleichberechtigung meiner Glaubensbrüder zu erstreiten.«[99]

In gleicher Weise empfindend, meldete sich beispielsweise auch der bedeutende sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Ludwig Frank, ein deutscher Jude aus Mannheim, 1914 demonstrativ freiwillig zum Kriegsdienst.[100] Er verlor schon bei seinem ersten Fronteinsatz sein Leben. In der Bundesrepublik Deutschland wurde er für sein Engagement am Beginn des Ersten Weltkrieges dadurch geehrt, dass in den 50er Jahren eine Kaserne in Mannheim nach ihm benannt wurde.

Als Kaiser Wilhelm II. bei Kriegsbeginn 1914