Die weite Wildnis - Lauren Groff - E-Book

Die weite Wildnis E-Book

Lauren Groff

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Beschreibung

"Lauren Groff hat gerade den Abenteuerroman neu erfunden." – Los Angeles Times Eine kühne literarische Expedition in die amerikanische Wildnis und das Leben einer Pionierin  Ein Mädchen allein, frierend, auf der Flucht. Hinter ihr liegen Hungersnot und die Brutalität der Menschen, unter denen sie aufgewachsen ist; um sie herum fremdes Land und seine Bewohner, die sie fürchtet, weil sie es so gelernt hat; vor ihr das Unbekannte.  Nordamerika im frühen 17. Jahrhundert: Englische Siedler, fromm, überheblich und fähig zur schlimmsten Gewalt, nehmen das Land in Besitz. Das Mädchen gehörte zu ihnen, doch nun ist sie allein. Die Wildnis ist hart, sie kämpft ums Überleben und beginnt, infrage zu stellen, was man ihr beigebracht hat. Haben die Menschen hier nicht ihre eigenen Götter, ihre eigenen Namen für die Dinge? Wozu brauchen sie die Europäer? Ist sie nicht selbst nur ein fremdes, zerbeultes Wesen in einer Welt, die ihrer nicht bedarf? Und während sie die Natur zu lesen lernt, wächst etwas Neues in ihr: ein anderer Sinn, eine Liebe, die nicht besitzergreifend ist.  Die weite Wildnis ist die packende Geschichte einer Pionierin, einer Visionärin: Mit ihrer eigenen, gewaltigen Sprachmacht und dem Pathos biblischer Geschichten erzählt Lauren Groff das abenteuerliche Leben einer jungen Frau, die lernt, zuerst von der Natur zu leben und dann mit ihr – und die dabei eine neue, freie Sicht auf die Welt gewinnt.   "Lauren Groffs Roman folgt einer jungen Frau aus der sogenannten Zivilisation in die Wildnis, wo sie lernt, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist – und sie nicht beherrschen zu wollen. Die weite Wildnis ist voller unvergesslicher Szenen und steht in einer großen nordamerikanischen Erzähltradition, die Groff zugleich gegen den Strich bürstet." – Nicole Seifert "Lauren Groff nutzt die Spielräume verschiedener Genres genial aus, um hochpolitische Romane zu schreiben, die direkt ins Herz unserer Gegenwart treffen." – Denis Scheck "Lauren Groff muss eine Zauberin sein. Auch Wochen nach dem Lesen denke ich an so gut wie nichts anderes als diesen Roman und seine unvergleichliche Hauptfigur. "Die weite Wildnis" ist ein ergreifendes, sprachlich und intellektuell bestechendes und dazu noch hochspannendes Buch." – Daniel Schreiber

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Die weite Wildnis

Die Autorin

Lauren Groff, 1978 geboren, lebt in Gainesville, Florida. Ihr Roman Licht und Zorn ist einer der größten Erfolge der amerikanischen Literatur der vergangenen Jahre. Er stand ebenso wie Matrix und ihr Erzählungsband Florida auf der Shortlist des National Book Award.Stefanie Jacobs, geboren 1981, lebt und arbeitet als freie Übersetzerin in Wuppertal. Für ihre Übersetzungen von Lauren Groff, Ben Marcus, Lisa Halliday, K-Ming Chang u. v. a. wurde sie mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis 2023.

Das Buch

Nordamerika im frühen 17. Jahrhundert: Ein Mädchen, fast schon junge Frau, hat mit einer Gruppe englischer Siedler die ihr unbekannte neue Welt erreicht. In der Hungersnot hat sie die falsche Frömmigkeit und Brutalität der Menschen erlebt, unter denen sie aufgewachsen ist, nun ist sie auf der Flucht vor ihnen. Vor ihr liegt ein wildes, fremdes Land, dessen Bewohner sie fürchtet, weil es ihr so beigebracht wurde, hinter ihr liegt alles, was sie war und besaß. Sie ist auf sich gestellt, ein Nichts in der Wildnis, frei.Der Wald umfängt sie mit Dunkelheit und eisiger Kälte. Sie weiß nichts über dieses riesige Land mit seinen Schluchten, Bergen und Wasserfällen, sie weiß nur, dass sie einer vagen Hoffnung folgend nach Norden will, und so rennt sie los. Müde, hungrig, starr vor Angst ruft sie Gott um Hilfe, und die Natur antwortet: Die glatte Rinde der Bäume tröstet sie, der Schnee spricht ihr Mut zu, Felsen bieten ihr Unterschlupf. Sie sammelt Pilze, Beeren, Vogeleier, Honig. Und während sie immer weiterzieht – denn es gibt nichts, was sie sonst tun könnte –, öffnet sich ihr das Land. Und bietet ihr eine neue, freie Sicht auf die Welt.

Lauren Groff

Die weite Wildnis

Roman

Aus dem Englischen von Stefanie Jacobs

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel The Vaster Wilds im Verlag Riverhead Books, einem Imprint von Penguin Random House, LLC, New York.Anmerkung der Übersetzerin:Die Wahl des weiblichen Personalpronomens im Zusammenhang mit der Protagonistin erfolgte aus Gründen der Lesbarkeit und Natürlichkeit. »Das Mädchen« (Orig.: »the girl«) ist deshalb immer »sie«.claassen ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH© Lauren Groff, 2023© der deutschsprachigen Ausgabe 2023 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinAlle Rechte vorbehaltenWir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.Umschlaggestaltung: Anzinger und Rasp, München nach einer Vorlage von © Jaya MiceliUmschlagmotiv: Based on detail of Penitent Magdalene, 1833, by Francesco Hayez (oil on canvas) / Photo: © NPL – DeA Picture Library / Bridgeman ImagesPorträt der Autorin: © Eli SinkusE-Book powered by pepyrus

ISBN 978-3-8437-3035-8

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

1.

2.

3.

4.

5.

6.

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8.

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10.

11.

12.

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14.

15.

16.

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19.

20.

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22.

23.

24.

25.

Danksagung

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

1.

Widmung

Für meine Schwester Sarah

1.

Der Mond verbarg sich in den Wolken. Der Wind spie schräge Wehen aus eisigem Schnee.

Durch einen Spalt zwischen den hohen schwarzen Palisaden, scheinbar zu schmal für einen Menschen, kletterte das Mädchen hinaus in die grimmige, weite Wildnis.

Sie hatte den Umhang tief ins Gesicht gezogen und war zierlich, sowohl schlank als auch kindlich klein, und vom Hunger gehagert, nur noch Faden und Faser und Sehne und Kern. Selbst derart ausgezehrt und im Dunkeln halb blind, bewegte sie sich flink. Sie rappelte sich auf, stolperte beim ersten Schritt und stürzte beinahe, fing sich aber wieder und rannte los, geduckt über die gefrorenen Ackerfurchen und all die toten Maisstängel, die im Sommer aus der Erde gewachsen waren und nun schon schwarzbraun und fruchtlos und voller Mehltau.

Schneller, Mädchen, trieb sie sich an, und in ihrer Angst und ihrem Schmerz trugen ihre Beine sie noch schneller.

Die guten Stiefel hatte das Mädchen dem Sohn eines Edelmanns gestohlen, einem Jüngling halben Alters, doch gleicher Größe, der in der Nacht zuvor an Pocken gestorben war, die sich rostgleich auf den hervorstehenden kleinen Knochen ausgebreitet hatten. Die Lederhandschuhe und den dicken Umhang hatte sie ihrer eigenen Herrin gestohlen. Den Gedanken an die Frau, die noch immer weinend auf dem gefrorenen Boden im Innenhof kniete, schob sie beiseite. Schritt um Schritt ließ sie diesen höllengleichen Ort hinter sich, und sein Zugriff auf sie schwand.

Doch dann bemerkte sie vor sich auf dem dunklen Feld einen seltsamen Schimmer, und als sie näher kam, erkannte sie das Unterhemd eines Soldaten, den man vierzehn Tage zuvor gesehen hatte, wie er sich langsam schlängelnd von den Schrecken des Forts entfernte, auf die andersartigen Schrecken des Waldes zu. Den halben Weg bis zu den Bäumen hatte er geschafft, als sich plötzlich ein Schatten auf dem Boden verdichtete, emporschnellte und als der furchteinflößendste aller Männer dieses Landes erkennbar wurde, jener Krieger, der zwei Köpfe größer war als die Männer im Fort und seine fürchterliche Wirkung noch verstärkte, indem er einen weiten, dunklen Umhang aus Truthahnfedern über den Schultern trug. Er hatte den zitternd dahinkrauchenden Soldaten mit einer Hand beim Schopfe gepackt und ihm mit einem Messer die Kehle aufgeschlitzt, sodass ein lang gezogener roter Mund darin klaffte. Dann hatte er ihn fallen lassen, auf dass er seines Herzens Blut auf die gefrorene Erde vergieße, und da lag der Tote nun, in unedel verrenkter Pose. Unbegraben, denn der Hunger hatte die Soldaten der Siedlung zu schwach und zu feige werden lassen, um den Leichnam zu holen.

Das Mädchen hatte den Toten bereits hinter sich gelassen, hatte seinen Gestank nicht mehr in der Nase und war schon beinahe am Waldrand angelangt, als sie abermals stolperte, denn der Gedanke an diese beiden Männer ließ Gedanken an jene anderen aufkommen, die in den Wäldern lauern könnten, still in ihren Verstecken. Und als sie in den Wald spähte, der dunkel vor ihr lag, sah sie nun im noch tieferen Schattenschwarz jedes Baumes einen Mann im Hinterhalt kauern, mit einem Messer vielleicht, mit einer Axt oder einem Pfeil und mit kalter Mordlust im Blick.

Für einen Atemzug blieb sie stehen und hatte doch keine Wahl, und so nahm sie ihren Mut zusammen und rannte weiter.

Und jeder dieser Männer erwies sich im Vorbeirennen doch nur als ein Schatten.

Sie hatte beschlossen zu fliehen, und mit diesem Entschluss hatte sie allem entsagt, was sie besaß, ihrem Dach, ihrem Zuhause, ihrem Land, ihrer Sprache, der einzigen Familie, die sie je hatte, und der kleinen Bess, in ihre Obhut geboren, als sie selbst noch ein Kind von vier oder fünf Jahren war; sie hatte ihrer Unschuld, ihrem Verständnis von sich selbst und auch den Träumen entsagt, wer sie eines Tages sein könnte, wenn sie nur diese Hungersnot überlebte.

Denk nicht daran, Mädchen, sagte sie sich, denk nicht daran, sonst wirst du Grames sterben.

Und sie drehte sich nicht um, blickte kein letztes Mal auf das Fort, über dem der Schein eines Feuers den Nachthimmel rot anmalte. Sie konnte weder lesen noch schreiben, doch sie war ein gutes und frommes Kind und hatte stets aufmerksam zugehört, wenn die Pfarrer aus dem Heiligen Buch vorlasen, und sich auf diese Weise lange Passagen daraus Wort für Wort eingeprägt. Nur vorwärts gehen, diese Lektion hatte sie von Lots Frau gelernt, die auf der Flucht vor der Zerstörung von Sodom einmal hinter sich sah und durch ihre Schwäche und den Zorn Gottes zur Salzsäule ward.

Erst als sie im Wald angelangt war, nahm der Wind seine Hände von ihren Wangen, zog sie unter ihrem Rock hervor. Es war wärmer inmitten der Bäume, doch mitnichten warm. Sie blieb stehen und legte die Stirn gegen die schorfige Rinde einer Kiefer, und die raue Härte auf ihrer Haut ließ sie verharren. Der Himmel über ihr war von einer dicken Schicht Wolken überzogen und sandte kein Licht hinab in ihr Dunkel, gar keines. Pechschwarz umgab sie der Wald, nur in den Mulden rings um die Bäume schimmerten Pocken aus Schnee. Mit Mühe beruhigte sie ihren keuchenden Atem. Sie ließ die Stille in sich einsinken, in sich und in den Wald, wo sie sich über die Erinnerung an ihre krachenden Schritte legte, und sie fragte sich, ob sie mit ihrem Lärm wohl die Männer im Fort geweckt hatte oder die, die von jeher in diesem Wald lebten. Die Männer, die sie kannte, und die, die sie nicht kannte. Beide könnten sich in diesem Moment an sie heranpirschen.

Sie lauschte, und da war nur der Wind, der seinen Kratzfuß machte, war nur das Reiben von kaltem Stamm an kaltem Stamm wie das Stimmen von Fiedeln, sie hörte weder Schritte noch knackende Zweige. Doch war die Abwesenheit von Geräuschen kein echter Trost.

Als sich das Blut in ihren Ohren etwas beruhigte, hörte sie nicht weit entfernt den Bach, der unter seinem Schild aus Eis entlangschrappte. So schnell und sachte sie konnte, ging sie weiter, und als sie schließlich Glätte unter den Füßen spürte und dann das steingesäumte Bett sah, durch das er im Frühjahr angeschwollen strömen würde, folgte sie ihm gen Norden und war froh, den spitzen Zweigen und Büschen zu entfliehen, die begehrlich nach ihrem Gesicht und ihren Kleidern schnappten.

Das Mädchen rannte immer tiefer in die Nacht, und die Kälte, die Dunkelheit, die Wildnis, ihre Angst und ihre tiefen Verluste, all das zusammen ließ immer weniger übrig von ihr selbst, wie sie sich kannte, bis sie schließlich nichts mehr war.

Ein Nichts ist nicht da, und was nicht da ist, hat keine Vergangenheit.

Doch ohne eine Vergangenheit, dachte das Mädchen, war ein Nichts wiederum auch frei.

Nach einer Weile wich der erste Schrecken der Flucht, und ihre Gedanken regten sich wieder.

Sie spürte, dass Blicke auf ihr ruhten.

Und auch wenn es in ihrer Vorstellung die Blicke feindseliger Männer waren, so handelte es sich in Wahrheit um den Blick des Waldes selbst, der sich dieses neuartige Wesen mit seinem keuchenden Atem, dem lärmenden Tritt und dem beißenden Menschengeruch besah; alle Nachtvögel und sämtliches herumstreifende Getier verharrte in regloser Verwunderung, während das Mädchen vorüberlief. Und als sie das rennende Mädchen schon nicht mehr sehen oder hören konnten und die letzte Schärfe ihrer Pein aus den Nasen all der krauchenden Kreaturen gewichen war, als dem Laub, der Erde und dem von ihren Füßen verdrängten Schnee nur noch eine vage Ahnung ihres Geruchs anhaftete, schien der Wald noch einmal zu erbeben und die Zeit einen Sprung zu machen, und der Riss, den das hastende Mädchen verursacht hatte, schloss sich, und hinter ihr erwachte allseits der Hunger, folgte jedes Wesen wieder dem Lauf seiner Gelüste. Bloß Stunden nachdem das Mädchen den Wald durchquert hatte, war das nur noch ein seltsamer Traum, ob der Dringlichkeiten des Augenblicks schon beinahe vergessen.

Vielleicht nach Minuten, vielleicht nach Stunden, es ließ sich nicht sagen, in jedem Fall nach einer langen, dicken Schicht aus Zeit, die sie nordwärts das Flussbett hinaufgerannt war, entdeckte das Mädchen einen tieferen, dunkleren Glanz unweit der Stelle, an der ihr Stiefel jetzt leicht einsank, und sie wusste, es war vom Eis befreites Wasser, das offen floss. Sie bückte sich, zog mit den Zähnen die ledernen Handschuhe aus und schob die eiskalten Hände zwischen ihre Schenkel, bis sie etwas aufgetaut und wieder beweglich waren, und dann öffnete sie den Sack, den sie in ihrer steifen Faust getragen hatte, holte den gestohlenen Zinnbecher heraus und nahm einen herzhaften Schluck des plätschernden Wassers. Die Kälte schlitzte sie innerlich auf wie eine Messerspitze. Sie zitterte. Ihre Zähne klapperten, dass ihr ganzer Schädel vibrierte. Ihr Magen, vier Tage ohne Nahrung, protestierte gegen diese neue Fülle. Schließlich packte sie den Becher wieder ein und band sich den Sack fest um die Taille, hob Umhang und Kleid hoch, um ihn direkt auf der Haut zu tragen und seine tröstliche Nähe zu ihrem eigenen Fleisch zu spüren. Am liebsten wäre sie in den kleinen Schneehügel hinabgesunken und eingeschlafen, denn ihr war schwindelig und es wummerte in ihrem Kopf, doch das ging nicht, und so trieb sie sich wieder an, vorwärts, weiter, fort von hier.

Und während sie rannte, betete sie in ihrer Seele: Ach, du liebreicher Gott, der du die Demütigen nach deinem Rate führest und den Frommen dein Licht aufgehen lässt, gewähre mir in meinem Zweifel und meiner Unsicherheit die Gnade, dich anzurufen, was du mich würdest tuen lassen, auf dass mich dein weiser Geist vor allen falschen Entscheidungen bewahre und ich von deinem Licht erleuchtet werde und meine Füße nicht mögen auf Höllenwegen wandeln.

Sie lauschte auf alles, auf das leise Stöhnen eines Nachtvogels als Abgesandter des Allmächtigen, auf irgendeine Änderung in der Luft, die ihr seinen Willen verraten würde, doch als Antwort kamen nur das Knirschen ihrer Schritte und das Pfeifen des kalten Windes, der mit dem gleichgültigen Wald sein Spiel trieb.

Und so rannte sie weiter, setzte die Füße, so sachte sie konnte, und erinnerte sich auf einmal an den Trost des Singens, ja, vielleicht konnte Singen die Ränder ihrer Furcht erwärmen und zum Schmelzen bringen.

Sie sang also still für sich, so hell sie nur konnte, the spring clad all in gladness doth laugh at winter’s sadness fa la la la la la la la la la la und so weiter.

Sie kannte natürlich viele Lieder, doch dieses war das einzige, das sich ihr zeigen wollte, eine recht merkwürdige Liederleere herrschte in ihrem Kopf, dabei war sie doch früher, in einem anderen Leben, eine tanzende und singende kleine Närrin gewesen, die Hunderte von Weisen kannte. Doch sie wusste, dass es eine solche Närrin nur geben konnte, wo es auch der Wonnen und Freiheiten genug gab, um zu lachen, und so war es nur natürlich, dass alle anderen Lieder auf der Flucht verschwunden waren. Dieses eine jedoch spendete ihr leidlichen Trost, wenn er auch klein war in solch einer Notlage.

Der Mond zeigte allmählich sein Gesicht, sodass der Wald nun hell und dunkel gebändert vor ihr lag und sich am Boden weiße Furchen abzeichneten.

Im Himmel über ihr riss etwas auf, und der Schnee glich jetzt nicht mehr eisigen Nadeln wie kurz nach der Flucht aus dem Fort, sondern fiel schwebend in weichen Flocken, die sich auf der alten Schneedecke sammelten und über ihre Fußspuren legten.

Danke, guter Schnee, für deine Hilfe, dachte das Mädchen.

Eile weiter, Mädchen, sagte der Schnee im Fallen.

Nicht lange darauf begannen die Stimmen vom Himmel aus zu ihr zu sprechen.

Zuerst verstand sie nicht recht, was sie sagten, doch bald sprachen sie lauter zu ihr und schließlich im Ton ihrer Herrin, ein einziges Schelten. Du gottloser Kobold, du widerliche Strunze, du niederstes, ungebildetes Zett, die du deiner Herrin in der Stunde höchster Not, als sie dich am ärgsten brauchte, davongerannt bist. Denn es heißt doch, ihr Jüngeren seid untertan den Ältesten, allesamt seid untereinander untertan und haltet fest an der Demut, denn Gott widerstehet den Hoffärtigen, aber den Demütigen gibt er Gnade.

So zischte die Stimme ihrer Herrin sie aus dem Dunkel des Waldes heraus an.

Und das Mädchen vergaß sich und sprach laut in den fallenden Schnee hinein, O, aber steht in dem guten Buch nicht auch, auf dem Berge errette dich, damit du nicht umkommest?

Und sie lachte, weil sie wusste, dass es so geschrieben stand und dieser Punkt an sie ging.

Doch der Wald wurde wachsam angesichts dieses Lachens, dieser neuen Laute, die seine schläfrige Stille störten, und das Mädchen musste sich ohrfeigen, um wieder zu schweigen und sich weiter voranzutreiben.

Die Stimme der Dienstherrin fiel flockengleich zu Boden, und das Mädchen in seiner Eile ließ sie dort zurück.

Der Mond kroch jetzt ganz unter seiner Wolkendecke hervor, und die Nacht wurde alt. Das Mädchen war müde, so müde. Inzwischen hielt sie kaum noch mehr als die Luft in ihren Lungen und der Drang ihrer Angst auf den Beinen. Hinter ihr schwebte in weißen Wölkchen ihr Atem empor.

Eine neue Stimme sprach ihr ins Ohr, Warum, mein Kind, richtest du deine Schritte gen Norden?

Ich renne in Richtung des Lebens, in Richtung der Lebenden, antwortete das Mädchen dieser neuen Stimme. Weg von einem sicheren und elenden Tod, weg vom Teufel, der unsichtbar durch die Siedlung schlich. Ich renne auf das zu, was ich einst über die Schulter des Kommandanten hinweg erspäht habe, ein Pergament, eine Karte mit einer breiten Bucht gen Osten, an die sich nach Norden hin gleich den Strahlen der Sonne mehrere Flüsse anreihten. Er tippte mit seinem dicken Finger auf die Zeichnung, der Kommandant, und sagte zu dem Mann neben sich, dort oben im Norden, an der Spitze der kartografierten Ländereien, befänden sich die Siedlungen der Franzosen, Kanada, und hier im Süden die der Spanier, la florida. Und während ich kurz vor meiner Flucht schnell, schnell mein Zeug in den Sack packte, besann ich mich dessen und wägte ab, dass Franzosen wie Spanier zwar gleichermaßen widerliche Papisten sind, doch immer noch Menschen, die zu demselben Gott beten und denen dasselbe Buch das heiligste von allen ist. Und dass ich mich, auch wenn es zu ihren Siedlungen nach Norden wie nach Süden gleich weit ist, für die Franzosen entscheiden muss, denn ich verstehe kein Jota der spanischen Sprache, während ich vom Französischen ein wenig gelernt habe und mich verständlich machen kann.

Ach, und weißt du denn auch, wie weit diese Siedlungen sich erstrecken?, fragte die Stimme, jetzt voll des Hohnes.

Und das Mädchen sagte, Nein, doch sicher sind sie kleiner als mein eigenes, weit größeres Land jenseits des Wassers, wo jeder Acker von so dicken Schichten aus Mythen und Legenden und vergangenen Schlachten bedeckt ist, dass ein Schritt kein bloßer Schritt durch den Raum wie hier in der neuen Welt ist, sondern zugleich ein Schritt durch die Zeiten. Hier gibt es nichts, nur Land, und all die Erde und die Berge und die Bäume sind noch unbefleckt von Geschichten. Dieser Ort selbst ist ein unbeschriebenes Stück Pergament.

Und selbst wenn du lebend dort ankommen solltest, was glaubst du, fragte die Stimme, was solch elende Papisten mit einem Mädchen wie dir, mit dem zarten Leib einer jungen Weibsperson machen?

O, lenke meine Gedanken nicht zu solch üblem Ende hin, sagte sie streng.

Doch die Stimme wollte nicht schweigen. Und bist du, fuhr sie fort, die du dein Leben lang nur Behagen und Gesellschaft kanntest, die du stets bei warmen Leibern schliefest und dich zu anderen geselltest, kaum dass du einen Augenblick allein warst, weil dir das Alleinsein unerträglich war, bist ausgerechnet du bereit, in dieser leeren Einöde ganz ohne einen Freund zu sein?

Und am liebsten hätte sie geweint, aber sie tat es nicht und sagte stattdessen, Ich bin ja nicht allein, trage ich doch stets meinen Gott im Herzen.

Und sie spürte ihn tatsächlich, Gott, ein helles Fünkchen Licht tief in ihrem Inneren.

Doch die Stimme sprach, Und wenn die beständigste Gefahr nicht der Mensch, sondern Gottes eigene Wildnis ist, die gefahrvollen Weiten und die Tiere, die darin umherstreifen und auf Beutezug sind?

Und nun dachte sie zum ersten Mal an die todbringende Kälte dieser letzten Wintertage und dann an die Wölfe und Berglöwen und Schlangen, die in diesem wilden und unzivilisierten Land heimisch waren.

Und das waren nur die Gefahren, von denen sie wusste, sicher drohte auch Unbekanntes. Ungeheuer, die sich die menschliche Fantasie noch nicht ausgemalt hat, Schwierigkeiten, denen man unmöglich entkam.

Kit, der Sohn ihrer Dienstherrin, der sie, als sie klein war, die meiste Zeit drangsalierte, hatte sie in seinen seltenen Anflügen von Sanftmut auf seine Knie gesetzt und ihr die schauderhaften Dinge in seinen Büchern gezeigt, und sie hatte das Bild eines kopflosen Mannes gesehen, der die Augen tief in den Schultern und einen Mund unterhalb der Rippen hatte. Einen Mann mit einem Hundekopf. Außerdem erzählte Kit ihr die wundersamsten Geschichten, Dinge, die nur gebildete Knaben wussten, etwa von den Lemuren, die die Schatten feindseliger Toter waren, und von Stellen auf dem Ozean, an denen Seeleute in einen mahlenden Schlund herabgesogen oder aber von einem riesigen Tier von ihrem Schiff gepflückt und verschlungen wurden. Rätselfrauen mit dem Leib von Löwinnen. Von den boshaften Waldelfen, die kleine Kinder stahlen, um sie im Reich unter den Hügeln großzuziehen, und kreischende Wickelkinder aus Lehm an ihre Stelle legten. Und was sie nicht in einem Buch gesehen oder von Kit erzählt bekommen hatte, das brachte ihr eigener übersprudelnder Geist hervor, eine Frau mit Vipernzähnen zum Beispiel oder schwarzen Giftnebel, der lauernd über dem Boden lag.

Derartige Ungeheuer gediehen in einer so unermesslichen, mannigfaltigen Gegend wie dieser hier sicher prächtig.

Nicht zu vergessen die ärgsten Schrecken, die im Walde lauerten und vor denen selbst die furchteinflößendsten Kerle im Fort sich ängstigten, und das waren weder Bären noch Ungeheuer, sondern die scharfsinnigen Männer, die sie hassten und hinterrücks morden würden.

Doch andererseits hatte sie lange genug mit den Männern im Fort zusammengelebt, um zu begreifen, dass es auch in ihrem eigenen Volk schlimme Männer gab, denn vor gewissen Gentlemen hatten die Mädchen einander flüsternd gewarnt, und es hatte Soldaten mit rotem Teufelsschimmer im Blick gegeben und Söldner, die so mühelos töteten, wie sie des Abends einschliefen, und einen solchen würde man ihr nachschicken, denn was sie getan hatte, durfte nicht ungestraft bleiben.

Sie schauderte und musste den Gedanken an die qualvollen Dinge wegwischen, die dieser üble Mann mit ihr machen würde, bekäme er sie tatsächlich zu fassen.

Denn selbst ein guter Mann war todbringender als der schlimmste aller Bären, und sie hatte gesehen, was noch ein blinder alter Bär anrichten konnte, dem man die Zähne aus dem schwarzen Zahnfleisch gezogen, die Klauen abgehackt und die Augen aus den Höhlen gestochen hatte. In den Gärten am Südufer hatte sie in der Sommerhitze inmitten der Schaulustigen gestanden, die, fein angetan und bis zum Speien angespannt, den Blick nicht losreißen konnten von jener Stelle in der Arena, wo der massige stinkende geifernde Bär an einen Pfahl gebunden war. Doch als die wütenden Hunde losgelassen wurden, um das elende, verfilzte Tier zu erledigen, schleuderte der Bär sie eins, zwei, drei mit Leichtigkeit in die Luft, bis alle drei zerschmettert winselten und sich mit den Vorderläufen davonschleppten an irgendein Fleckchen, wo sie in Ruhe sterben konnten. Und rings um sie herum ergingen sich die Leute in höhnischem Gelächter über die Tiere, siegreiche wie getötete. Dem Mädchen jedoch hatte das Entsetzen förmlich die Eingeweide gefrieren lassen, und in jener Nacht suchte der arme alte Bär sie heim und zeigte ihr im schlimmsten ihrer Albträume sein Zahnfleisch voll grüner Eiterabszesse, bis sie am Morgen zitternd zum Geläut der Kirchenglocken erwachte. Und dieser berühmte Kampfbär war bloß ein Bär aus der Stadt gewesen, der die dichteren, älteren Wälder dieser neuen, wilden Welt nicht kannte, ein gezähmter Bär. Ein wilder Bär wäre um ein Vielfaches bösartiger und brutaler als der, den sie gesehen hatte, so wie alles in diesem Land, das noch vollkommen im Dunkeln lag. Er wäre unvorstellbar viel größer und grausamer. Doch Männer wären noch schlimmer.

Sie taumelte jetzt, keuchte in der kalten Luft.

Inzwischen musste sie meilenweit entfernt sein vom Fort, sagte sie sich, und wagte es schließlich, hinter sich zu blicken, dorthin, wo das Fort liegen würde. Doch sie entdeckte keinerlei Spuren von Licht am Himmel, kein Anzeichen dafür, dass überhaupt je ein Angehöriger ihres Volkes einen Fuß auf dieses Land gesetzt hatte. Und das war gut.

Die Stimme suchte sie noch ein weiteres Mal heim und sagte ruhig, Einmal Närrin, immer Närrin.

Still jetzt, schrie sie laut. Und die Stimme in ihrem Kopf gehorchte und verstummte. Und sie selbst war wieder ganz allein in der schrecklichen Dunkelheit.

2.

Sie rannte weiter, obwohl sie zu müde war, sie rannte, bis das Mondlicht verblasste und sich in ihren Gliedern nach Stunden ein brennendes Hochgefühl ausbreitete.

Mit einem Mal atmete sie freudig die kalte Luft, und ihre Beine fühlten sich leicht und frei an. Ihre Haut kribbelte und brannte wie Feuer.

Und mit dieser Freude am Rennen zogen vor ihren Augen kleine Visionen auf.

Dort im Umriss einer Ulme, die vor langer Zeit ein Sturm entwurzelt hatte und deren knorrige Wurzeln sich dunkel vor dem Nachthimmel abzeichneten, sah sie einen steigenden Hengst, schwarz und glänzend.

Aber nein, Mädchen, erinnerte sie sich selbst, nein, es gibt doch keine Hengste in dieser neuen Welt, denn die einzigen Pferde hier, mit den Schiffen gekommen, wurden schon vor langer Zeit, als der Hunger immer ärger wurde, aufgegessen.

Später von einer Anhöhe aus sah sie im trüben, silbrigen Licht, wie der Wind den leichteren Schnee emporfegte und daraus eine glänzende Stadt mit Dächern und Giebeln und einem Kirchturm baute, ja, sogar der Rauch der Feuer kräuselte sich aus den Schornsteinen fröhlich gen Himmel, und ihr Herz ward von solcher Freude erfüllt, dass sie laut aufjauchzte. Doch dann drehte der Wind und legte die Märchenstadt in Schutt und Asche.

Am Boden zerstört, rannte sie weiter.

Schließlich wurde der Bach, dem sie seit einiger Zeit gefolgt war, immer breiter, und im Halbdunkel teilten sich die Bäume und gaben den Blick auf weiten Himmel und kaltes, sterbendes Mondlicht frei. Und dort lag er, der eisbedeckte Fluss, er schimmerte in einem grünlichen Weiß, und unter seiner Oberfläche lag tiefes, zorniges Wasser, das immer weiter voranstürzte, hinaus in die Bucht und dann in die Meere, die noch größer waren und kälter und wilder.

Und dieser Fluss war so weit entfernt vom Ausgangspunkt ihrer Flucht, sagte sie sich, dass selbst ein so blutdurstiger Mann, wie ihn das Fort auf ihre Fersen geschickt haben würde, es wahrscheinlich nicht bis hierher schaffte, sondern eher aufgab und sich sieglos nach Hause schleppte. Denn sämtliche Seelen, die in dieses Land übergesetzt hatten, waren jetzt gegen Ende dieses verheerenden Winters ausgehungert, und selbst von den Robustesten hatten sich viele inzwischen ins letzte Reich des Todes gehungert, geschissen oder gespien, und auch die bösartigsten der Männer, die den Ozean überquert hatten, waren schwächlich und seltsam träge geworden, blieben den ganzen Tag auf ihrem Lager und starrten leer in den grauen Himmel, der nur Eis pisste, Eis schiss.

Zwischen zwei Felsbrocken am Flussufer entdeckte sie einen Spalt, kaum breiter als ihr eigener Leib, und sie schlüpfte flink hindurch, um sich in dem Raum dahinter ein Obdach herzurichten, denn im Osten zeigte sich schon das erste Licht des neuen Tages, und bald würde sie für jeden ringsherum gut sichtbar sein.

In ihrem Versteck, geschützt vor dem eisigen Wind, schob sie die Hände in den warmen Spalt zwischen ihren Schenkeln. Als sie die Finger wieder bewegen konnte, knotete sie ihren Beutel auf und packte ihre paar Habseligkeiten aus: die beiden braunen Decken, dick und warm, auch wenn es darauf nur so wimmelte von Läusen, dann das kleine Beil, dann das Messer, dann den fahl glänzenden Zinnbecher und dann den Feuerstein.

Das war alles, woran sie im Moment ihres hastigen Aufbruchs gedacht hatte. Sie hätte auch Proviant mitgenommen, nur hatte es schon seit Tagen nichts Essbares mehr zu stehlen gegeben.

Als sie sich in ihrem windgeschützten Versteck genügend gewärmt hatte, wagte sie sich noch einmal hinaus und rannte zu einer Kiefer, wo sie einige tote Äste abknickte, die sie über die Steine zu ihrem Unterschlupf schleifte und mit den Füßen so klein brach, dass sie sie mit hineinnehmen konnte. Von den kleinsten Zweigen streifte sie eine Handvoll trockener brauner Nadeln ab, dann hockte sie sich auf den Boden und schlug mit dem Heft des Dolches auf den Feuerstein, und sie schlug und schlug und schlug, doch es wollte einfach kein Funke hervorspringen. Und so schlug sie noch kräftiger, bis ihre Hände taub waren und ihr Gesicht von hilflosen Tränen überströmt.

Funke, falle auf diese Nadeln und werde zur Flamme, flüsterte sie.

Allmächtiger Vater, deine Dienerin fleht um Hilfe.

Doch der Funke blieb lange Zeit taub für ihre Bitten, und sie musste sich noch zwei weitere Male die Hände zwischen den Beinen aufwärmen, um sie wieder bewegen zu können.

Endlich fiel ein Funke herab, und sie hatte ihm ein Bett aus trockenem Laub und Nadeln gebaut und hauchte ihn an, aber der Funke war scheu und wäre um ein Haar verloschen, und sie betete und pustete noch einmal, bis er anschwoll und hungrig wurde, ein Stück von einer trockenen Kiefernnadel fraß und schließlich mehr wollte, und jetzt loderte er auf und wurde ein fröhlich flackerndes Flämmchen. Sie fütterte es, bis es zu einem heißen kleinen Feuerchen heranwuchs, für das sie so dankbar war und dessen Wärme sie so entzückte, dass sie den Drang verspürte, es in den Mund zu nehmen und sich einzuverleiben.

Die Flamme führte einen hübschen Tanz auf, streckte ihr kesses Köpfchen bald hierhin, bald dorthin wie ein lebendiges Wesen. Als das Mädchen Gewissheit hatte, dass sie stark genug war, um nicht auszugehen, spuckte sie hinein, auf dass die Flamme ihr Glück bringe.

Jetzt breitete sie eine der Wolldecken über den hohen Felsbrocken aus, die ihr Versteck bildeten, sodass eine Art Zelt entstand, und wickelte sich in die andere Decke ein, und in der Wärme des Feuers wurde der Fels ringsherum allmählich warm. Die paar Schneeflocken, die nahe dem Feuer landeten, schmolzen zischend auf den Steinen. Atemzug für Atemzug wich die Anspannung aus ihren Gliedern. Sie fühlte sich merkwürdig und stellte bald fest, dass dieses Gefühl daher rührte, dass sie zum ersten Mal seit Monaten nicht zitterte. Das Rennen durch die Nacht all diese Meilen weit und dieses neue Feuer hatten sie gewärmt und das unkontrollierte Schlottern beruhigt. Im Fort war nach der langen Zeit der Belagerung kaum mehr Brennholz übrig gewesen, und was vom Abriss einzelner Häuser an Holz noch da war, musste zuerst die feinen Leute wärmen, während man sie, ein bloßes Dienstmädchen, wenn auch einst der Schützling eines liberalen und großzügigen Künstlerhaushaltes, zusammen mit dem niederen Volk den scharfen Zähnen der Kälte überlassen hatte. Bei Tag ein einziger Eiszapfen, konnte sie sich nur des Nachts an den fiebernden Körper der kleinen Bess schmiegen, sich vom schmächtigen Fleisch des Kindes nehmen, was sie konnte, und es ihrerseits zu wärmen versuchen.

Die Behaglichkeit ihres Unterschlupfs war so unerwartet, dass ihre Panik und ihre Furcht ein wenig nachließen und sie augenblicklich in einen tiefen, seligen Schlaf fiel. Und selbst wenn ein wildes Tier gekommen wäre und ihr übers Gesicht geleckt hätte oder wenn der verschlagene Soldat, der noch in diesem Moment ihrer Spur durch die Dämmerung folgte, in einem Wimpernschlag die vielen Meilen hätte überspringen können, die sie trennten, um sich ihr heimlich und leise mit einem Messer zu nähern, sie wäre nicht wach genug geworden, um Angst zu verspüren.

3.

Der Wind peitschte kleine Schneewirbel über den zugefrorenen Fluss, die einander jagten wie tollende Hunde.

Das Licht wurde stärker, und das gegenüberliegende Ufer tauchte klar und deutlich aus dem Dunkel auf.

Wäre das Mädchen wach gewesen und hätte hinübergesehen, sie hätte jenseits der Eisfläche Frauen und Kinder entdeckt, die hier geboren waren und in einer losen Reihe von ihrem Dorf zum Flussufer gingen. Bald züngelten zwei Feuer empor, und in ihrem Licht war zu sehen, dass zum Wasserholen und Baden fein säuberlich eine Öffnung ins Eis gesägt worden war.

Im Dämmerlicht gingen sie zum Wasser, ein Dutzend wohlgenährter Frauen und Kinder, und sie badeten dort trotz der Kälte, rannten hinein, planschten umher und rannten dann ebenso schnell wieder hinaus, um sich nahe den Feuern zu wärmen, ihre Körper schimmernd im Licht der Flammen und des zaghaft dämmernden Morgens. Von Nahem hätte das Mädchen gesehen, dass sie fingerdick mit einer Paste bedeckt waren, einer Mixtur aus Talg und Kräutern und Lehm, die sie im Winter warm hielt und in den heißen Monaten vor der Sonne schützte, ebenso wie zu jeder Jahreszeit vor Insektenstichen. Sie hätte gesehen, dass sie nicht nackt waren, wie ihr eigenes Volk annahm, sondern mit wunderbar geschmeidiger Kleidung angetan, die eng an der Haut lag, die sich bog, wenn sie sich bogen, und sich bewegte, wenn sie sich bewegten.

Noch im Schlaf öffnete das Mädchen die Augen und blickte um sich, und noch während sie träumte, sah sie die kleinen Gestalten am anderen Flussufer, die Fleisch brieten und Brot buken, sah die Mütter Moos in die Luft werfen, damit die Kinder mit ihren kleinen Pfeilen und Bögen zielen lernten, und wie ein jedes, selbst das kleinste, das noch wacklig auf den Beinchen stand, sogleich darauf schoss. Ein Gewirr aus Stimmen und Gelächter wehte über das Eis, derart verzerrt durch die Entfernung, den Wind und ihren eigenen tiefen Schlaf, dass sie es für die Geräusche ihrer Geburtsstadt hielt, die am Morgen eines neuen Tages erwachte.

Den Stimmen, die dicht verwoben über den gefrorenen Fluss wehten, folgte der mit Rauch vermischte Duft von Speisen, den das Mädchen in den Tiefen ihres Schlummers wahrnahm, doch da sie sich während der langen Hungersnot im Fort Essen immer so lebhaft vorgestellt hatte, dass es vor ihren Augen beinahe real geworden war, hielt sie die Speisen nun selbst im Traum für bloße Träume.

Und dennoch bewegte sich kauend und schluckend ihr Mund, bis ihr Hunger gestillt war.

Und so schloss sie ihre träumenden Augen fest zu, ließ sich fallen und tauchte wieder in tiefen Schlaf, und während sie in den Morgen hineinschlummerte, löschten die Menschen ihre Feuer und gingen den Pfad entlang zurück zu ihrem Dorf.

Das Mädchen schlief und schlief, und alsbald kamen die Nachtschrecken zu ihr.

Sie waren ihr nicht fremd, die Nachtschrecken, sie hatten sie schon heimgesucht, lange bevor sie zu sprechen gelernt hatte, als die ganze Welt neu und unheimlich gewesen war und es schien, als spielten sich unter der Oberfläche ihrer Wahrnehmung unablässig die entsetzlichsten Dinge ab.

Jetzt sah sie Knochen ohne Fleisch daran aus den Wiesen aufsteigen, und von den Gelenken dieser Bestien bröckelte Lehm, und mit jedem Schritt knackte ihr Skelett, das nachtschwarz und versengt war, konnten sich doch in einer so grauen, verlassenen Prärie wie der, die sie in ihrer Panik vor sich sah, nur die Toten mit ihren Phantomknochen ergehen.

Solche Visionen hatten sich durch ihren Hunger verschlimmert, auch wenn sie diese üblen Schlafbegleiter kannte und es gewohnt war, des Nachts von schlimmen Bildern gepeinigt aufzuschrecken.

Selbst damals im Haus ihrer Dienstherrin, nachdem sie gegessen und getrunken hatte, bis sie nicht mehr konnte, und auf dem mit grünem Schilfgras und frischen Kräutern bestreuten Boden gebettet war, hatte sie im Schlaf wundersame Schreckensdinge gesehen: nachtseidene Geier und ölige Pfützen aus Dunkelheit über ihr an der Decke, die wie dicke Tropfen immer weiter anschwollen und sich mit brüllender Fratze und gebleckten Reißzähnen auf sie stürzen wollten.

Und als sie jetzt allein in ihrem Felslager erwachte, hatten die Nachtschrecken sämtliche Behaglichkeit zunichtegemacht, und sie fühlte sich innerlich hohl und leer.

Ihr Leben lang war ihr erster Gedanke beim Aufwachen die kleine Bess gewesen – ob sie hungrig war, ob es ihr gutging oder an irgendetwas fehlte. Jetzt, wo es keine Bess mehr gab, war sie wie versteinert, denn sie wusste nicht, wie man zuerst an sich selbst dachte.

Unter der Asche leuchteten noch ein paar Glühwürmchen. Als sie sich bückte, um hineinzupusten und die Flammen wieder zum Leben zu erwecken, keuchte sie kurz auf, so elend wund war ihr ganzer Körper von der Flucht. Die Decke über ihrem Kopf war nass von den Flocken, die der Wind daraufgewirbelt hatte und die dort in der Wärme geschmolzen waren.

Sie schickte ihre Gedanken zurück auf den Weg, den sie in der Nacht gerannt war, und versuchte zu erspüren, ob jemand sie verfolgt hatte.

Sie schnupperte in die Luft, als könnte sie es ihr verraten.

Doch all die Meilen hinter ihr und die Luft verrieten ihr rein gar nichts.

Die Welt, das wusste das Mädchen, war noch schlimmer als wild, die Welt war gleichgültig.

Es kümmerte sie nicht, was mit ihr geschah, es konnte sie nicht kümmern, nicht im Geringsten.

Sie war ein Sandkorn, ein Sprenkel, ein Flugstaub im Spiel des Windes.

Während sie in ihrem warmen Unterschlupf lag, spürte sie, dass in ihr eine Entscheidung darauf wartete, getroffen zu werden. Entweder würde sie den gefahrvollen und tauenden Fluss überqueren, oder sie würde hier an diesem Ufer weiter nach Westen gehen, um flussaufwärts vielleicht eine schmalere Stelle zu finden, an der sie durchs Wasser waten konnte. Ihre Zunge fühlte sich steif und trocken an, zu groß für ihren Mund, und so nahm sie ihr Beil und ihren Zinnbecher, und obwohl sie eigentlich still sein sollte, rappelte sie sich stöhnend auf, denn sie durchzuckte ein messerscharfer Schmerz.

Auf Händen und Knien kroch sie durch die Spalte und über Steine und lief Gefahr, vom anderen Ufer aus erspäht zu werden, sollte dort irgendwer sein und herübersehen. Sie arbeitete sich in den Wald vor, wo der Tag dunkler war.

Hungrig und frierend auf allen vieren fühlte sie sich wie eine Greisin, doch sie kroch immer weiter, auf das Rauschen des Baches zu. Dort angekommen, hockte sie sich auf die knorrigen Knie einer mächtigen Eiche und hob die Röcke, und während die Kälte nach ihren nackten Pobacken griff, pinkelte sie einen so heißen Strahl, dass ihr die Pisse als Dampf ins Gesicht stieg. Sie entdeckte eine offene Stelle im Eis des Baches, wo das Wasser hinter einem Stein frei an der Oberfläche sprudelte, und sie rutschte vorsichtig über die Eisdecke, kniete sich an den Rand des Wasserlochs und trank mit ihrem Zinnbecher, bis ihr vor Kälte ganz schwindelig wurde.

Dann zog sie die Handschuhe aus und schloss dabei die Augen, um nicht sehen zu müssen, dass ihre Hände blutverklebt waren, und sie tauchte sie ins eiskalte Wasser und schrubbte und schrubbte, und als sie die Hände, die sich nicht mehr wie ein Teil von ihr anfühlten, schließlich herauszog, waren noch immer rote Ränder um die Nägel, und sie zog die Handschuhe schnell wieder an, um sie zu verstecken und die Hände aufzuwärmen.

Als sie wieder hinabsah, bemerkte sie, dass der Halbkreis ihres Stiefelabsatzes auf dem Eis etwas Glänzendes freigelegt hatte. Sie schaute genauer hin. Von dort unten starrte sie ein goldenes Auge an.

Als sie noch fester rieb, erkannte sie, dass es der Kopf eines großen Fisches war, der dort im Eis festgefroren war, die blauen Lippen in einem Kuss an der Oberfläche erstarrt.

Weine nicht, Mädchen, o nein, gemahnte sie sich streng, so fassungslos war sie über dieses unerwartete Geschenk, und trotzdem verschwamm ihr die Welt heiß vor Augen.

Sie war erlöst worden. Lieber Gott, hab Dank für deine Gnade, sagte sie laut.

Und sie nahm ihr Beil zur Hand und schlug vorsichtig das Eis rings um den Kopf des Fisches weg, befreite mit sachten Hieben die Kiemen und dann den Körper, der schräg zur Eisoberfläche lag, mit der gezackten Rückenflosse, den beiden Brustflossen und dem dicken, bleichen Bauch. Sie hackte zaghaft und hackte langsam und versuchte, das Geräusch der Schläge mit ihrem Umhang zu dämpfen.

Als ihr schließlich die Knie festfroren, verlor sie die Geduld, und sie befreite den Fisch mit kräftigen Hieben aus dem Eis, auch wenn sie in ihrer Hast einen beträchtlichen Teil des Schwanzes stecken ließ.

Und dann steckte sie Beil und Becher ins Oberteil ihres Kleides, um die Hände frei zu haben, bückte sich und hob den Fisch auf, doch schwach und schmächtig, wie sie war, bekam sie ihn kaum hoch, und als sie damit aufstehen wollte, rutschte er ihr aus den Armen und schlug hart auf dem Eis auf. Für einen Moment betrachtete sie den halben Fisch, der dort lag, dann trat sie ein ums andere Mal mit dem Fuß dagegen, sodass er in Richtung des Flusses rutschte.

Auf diese Weise bugsierte sie den gefrorenen Fisch hin zu ihrem Unterschlupf zwischen den Felsen, wo, wie sie hoffte, noch Feuer brannte und Steine und Luft wärmte. Unterwegs verlor das Tier in einer silberglänzenden Spur zuerst Schuppen, bevor sich dann auch Teile der fettigen Haut ablösten, die sie aufhob und zum Kosten in den Mund steckte. Ihr Magen, seit Langem leer, sträubte sich augenblicklich.

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