Licht und Zorn - Lauren Groff - E-Book + Hörbuch

Licht und Zorn E-Book und Hörbuch

Lauren Groff

4,7

Der Titel, der als Synchrobook® erhältlich ist, ermöglicht es Ihnen, jederzeit zwischen den Formaten E-Book und Hörbuch zu wechseln.
Beschreibung

Lottos Charme bezwingt jeden, Mathildes Schönheit wirft ein Schimmern an jede Wand. Sie lieben und begehren einander, sie heiraten, ziehen nach New York. Ihre Partys sind legendär, und irgendwann feiert Lotto Triumphe als Dramatiker. Ist das glückliche Fügung, oder lenkt hier jemand mit kühlem Verstand die Geschicke? Ahnt Lotto, welchen Zorn Mathilde hinter ihrem Lächeln verbirgt? In einer vor Energie pulsierenden Sprache entwirft Lauren Groff das Bild einer Ehe, hinter deren Glanz sich schleichend etwas Dunkleres offenbart. Denn die Geschichte von Lotto und Mathilde kann auch ganz anders erzählt werden.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 630

Das Hörbuch können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS

Zeit:15 Std. 45 min

Sprecher:Claudia Michelsen

Bewertungen
4,7 (18 Bewertungen)
13
4
1
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über das Buch

Lottos leuchtender Charme bezwingt jeden, Mathildes Schönheit wirft ein Schimmern an jede Wand. Dass sie füreinander bestimmt sind, scheint eine simple göttliche Gleichung zu sein. Sie lieben sich, sie begehren einander, sie heiraten. Sie ziehen nach New York. Die Partys, die sie geben, sind legendär, und irgendwann feiert Lotto Triumphe als Dramatiker. Ist das alles glückliche Fügung, oder lenkt hier jemand mit kühlem Verstand die Geschicke? Ahnt Lotto, welchen Zorn Mathilde hinter ihrem sanften Lächeln verbirgt? Und was geschieht, wenn sich eine einzige Annahme in ihrem Beziehungskosmos als Illusion herausstellt – was bleibt dann bestehen? In einer vor Energie pulsierenden Sprache entwirft Lauren Groff das Bild einer Ehe, hinter deren Glanz sich schleichend etwas Dunkleres offenbart. Denn die Geschichte von Lotto und Mathilde kann auch ganz anders erzählt werden.

Hanser E-Book

Lauren Groff

LICHT UND ZORN

Roman

Aus dem Englischenvon Stefanie Jacobs

Hanser Berlin

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2015

unter dem Titel Fates and Furies bei Riverhead Books in New York

ISBN 978-3-446-25428-2

© Lauren Groff 2015

Alle Rechte der deutschen Ausgabe

© Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag München 2016

Umschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München

Motiv: William Turner, Sonnenuntergang über dem See (um 1840), © akg-images / Cameraphoto

Satz: Greiner & Reichel, Köln

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de.

Erfahren Sie mehr über uns und unsere Autoren auf www.facebook.com/HanserLiteraturverlage oder folgen Sie uns auf Twitter: www.twitter.com/hanserliteratur

Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Für Clay

[War ja klar.]

LICHT

1

Dichter Nieselregen wie ein Vorhang, plötzlich vor die Sonne geweht. Die Seevögel hörten auf zu schreien, das Meer verstummte. Die Lichter über dem Wasser wurden grau.

Am Strand ein Mann und eine Frau. Sie blond und elegant in einem grünen Bikini, obwohl es Mai war in Maine und kalt. Er ein Hüne, strahlend und lebendig; in ihm flackerte ein Licht, das den Blick gefangen nahm und nicht mehr losließ. Sie hießen Lotto und Mathilde.

Einen Moment lang beobachteten sie ein Gezeitenbecken voll stachliger Kreaturen, die Sand aufwirbelten und wieder verschwanden. Dann nahm er ihr Gesicht in die Hände, küsste ihre blassen Lippen. Er hätte sterben können vor Glück. Vor seinem inneren Auge sah er das Meer ansteigen und sie beide aufsaugen, um ihnen das Fleisch von den Knochen zu lutschen und sie anschließend in der Tiefe zwischen seinen Korallenzähnen zu zermahlen. Mit ihr an seiner Seite, dachte er, würde er hinaustreiben und singen.

Nun, er war jung, zweiundzwanzig, und sie hatten am Morgen heimlich geheiratet. Eine gewisse Überspanntheit war unter diesen Umständen verzeihlich.

Ihre Finger hinten in seinen Badeshorts versengten ihm die Haut. Sie schob ihn rückwärts eine Düne hinauf, über die Stängel unzähliger Strandplatterbsen, und auf der anderen Seite wieder hinunter bis zu einem Sandwall, der den Wind abhielt. Ihre Gänsehaut unter dem Bikinioberteil hatte ein mondartiges Blau angenommen, und ihre Brustwarzen waren in der Kälte nach innen geschlüpft. Sie knieten jetzt, obwohl der grobe Sand schmerzte. Es kümmerte sie nicht. Sie waren nur noch Lippen und Hände. Er hob ihre Beine an seine Hüften, drückte sie zu Boden und bedeckte sie mit seiner Wärme, bis sie nicht mehr zitterte, sein Rücken eine Düne. Ihre aufgescheuerten Knie zeigten gen Himmel.

Er sehnte sich nach etwas Wortlosem, Mächtigem: wonach? Sie zu tragen wie ein Kleidungsstück. Er stellte sich vor, für immer von ihrer Wärme umfangen zu sein. Die Menschen in seinem Leben waren einer nach dem anderen verschwunden, umgekippt wie Dominosteine, und mit jedem Stoß hielt er sie fester, damit sie ihn nicht verlassen konnte. Ein Leben lang Vögeln am Strand, bis sie eins von diesen alten Paaren waren, die jeden Morgen Speed-Walken gingen, die Haut wie lackierte Walnusskerne. Er würde sie auch als alter Mann noch in die Dünen entführen und sich dort mit ihr vergnügen, an den zerbrechlichen sexy Vogelknochen erfreuen, den künstlichen Hüftgelenken und der Knieprothese. Über ihnen am Himmel Lebensretterdrohnen, die sie aufscheuchten mit ihren Suchscheinwerfern und schrillen Alarmrufen – Unzucht! Unzucht! – und schuldbewusst fliehen ließen. Das, bis in alle Ewigkeit. Er schloss die Augen und gab sich dem Wünschen hin. Ihre Wimpern auf seiner Wange, ihre Schenkel an seiner Hüfte, der erste Vollzug jener beängstigenden Sache, die sie gerade getan hatten. Heiraten hieß für immer.

[Eigentlich hatte er sich ein richtiges Bett vorgestellt, etwas Zeremonielles: Er hatte einfach das Strandhaus seines Zimmergenossen Samuel besetzt, wo er, seit er fünfzehn war, fast jeden Sommer verbracht hatte, weshalb er wusste, dass der Schlüssel unter dem Seeschildkrötenpanzer im Garten lag. Ein Haus voller Schottenkaros, Blumenmuster und buntem Steingutgeschirr, alles von einer dicken Staubschicht bedeckt; das Gästezimmer mit dem Dreifachblinken des Leuchtturms in der Nacht und darunter der felsige Strand. Das hatte Lotto vorgeschwebt für das erste Mal mit diesem Wahnsinnsmädchen, das er in seine Frau verwandelt hatte. Aber Mathilde hatte recht gehabt, als sie für die Freiluftvariante plädiert hatte. Sie hatte immer recht. Das sollte er schon bald begreifen.]

Und dann war es auch schon vorbei. Als sie schrie, schossen die Möwen hinter der Düne wie Bleischrot in die tiefhängenden Wolken. Später zeigte sie ihm die Schürfwunde an einem Rückenwirbel, von einer Muschel, als er sie immer fester und fester hinuntergedrückt hatte. Sie hatten sich so eng aneinandergeschmiegt, dass sein Lachen, wenn sie lachten, aus ihrem Bauch aufstieg und ihres aus seiner Kehle. Er küsste ihre Wangenknochen, ihr Schlüsselbein und ihr blasses Handgelenk mit den blauen Wurzeladern. Der schreckliche Hunger, von dem er gehofft hatte, er wäre jetzt gestillt, war noch da. Das Ende, das schon am Anfang offenbar wurde.

»Meine Frau«, sagte er. »Meine.« Statt sie anzuziehen, konnte er sie vielleicht mit Haut und Haar verschlingen.

»Ach ja?«, sagte sie. »Stimmt. Ich bin deine Leibeigene. Meine Königsfamilie hat mich gegen drei Maultiere und ein Fass Butter eingetauscht.«

»Ich bin verrückt nach deinem Butterfass«, sagte er. »Jetzt ja mein Butterfass. So salzig. Und so süß.«

»Stopp«, sagte sie. Ihr Lächeln war verschwunden, ein scheues und so beständiges Lächeln, dass er erschrak, sie jetzt ohne es so dicht vor sich zu sehen. »Niemand gehört irgendjemandem. Zusammen sind wir etwas Neues.«

Er betrachtete sie nachdenklich, biss sie sanft in die Nasenspitze. Er hatte sie in diesen zwei Wochen mit jeder Faser seines Herzens geliebt, und der Blick dieser Liebe machte sie für ihn transparent, sie war aus Glas. Er konnte bis zu ihrem grundguten Kern hindurchsehen. Doch Glas ist zerbrechlich, er würde behutsam mit ihr umgehen müssen. »Du hast recht«, sagte er, dachte jedoch, Nein, und sann darüber nach, wie elementar sie einander gehörten. Mit welcher Gewissheit.

Zwischen ihrer Haut und seiner war nur ein winziges bisschen Raum, kaum genug für den Schweißfilm, der jetzt trocknete. Und doch hatte sich etwas Drittes in diesen hauchdünnen Spalt geschoben, ihre Ehe.

2

Sie gingen über die Steine zurück zum Haus, das sie in der Dämmerung hell erleuchtet verlassen hatten.

Eine Einheit, ein Paar, bestehend aus zwei einzelnen Teilen. Lotto war lebhaft und voller Licht; Mathilde still, wachsam. Es erschien offensichtlich, dass er die bessere Hälfte war, den Ton angab. Sein ganzes bisheriges Leben hatte ihn beständig auf Mathilde zugeführt. Und hätte es ihn nicht auf den Moment vorbereitet, in dem sie in den Raum kam, hätte es nie ein Wir gegeben.

Aus dem Nieselregen wurden dicke Tropfen. Das letzte Stück rannten sie.

[Halten Sie sie vor Ihrem inneren Auge so fest: jung und schlank, wie sie im Dunkeln auf dem Weg ins Warme förmlich fliegen über den kalten Sand und die Steine. Wir werden bald zu ihnen zurückkehren. Einstweilen nimmt er unseren Blick gefangen. Er ist es, von dem das Leuchten ausgeht.]

Lotto erzählte die Geschichte nur zu gern. Er wurde, wie er immer sagte, im ruhigen Auge eines Hurrikans geboren.

[Von Anfang an ein teuflisches Timing.]

Seine Mutter war damals hübsch, sein Vater noch am Leben. Sommer, späte Sechziger. Hamlin, Florida. Das Plantagenhaus so neu, dass noch Preisschilder an den Möbeln hingen. Die Fensterläden waren nicht festgeschraubt worden und klapperten ohrenbetäubend, während der Sturm das erste Mal über das Anwesen hinwegfegte.

Jetzt kurz Sonne. Regen tropfte von den Clementinenbäumen. Die Mineralwasserabfüllanlage jenseits der zwei Hektar Buschland, die der Familie gehörten, lief auf Hochtouren. Im Flur drückten zwei Dienstmädchen, der Koch, ein Landschaftsgärtner und der Werkmeister der Abfüllanlage die Ohren an die hölzerne Tür. Drinnen trieb Antoinette in einem weißen Lakenmeer, und der hünenhafte Gawain hielt ihr den glühenden Kopf. Lottos Tante Sallie kniete auf dem Boden, um das Baby in Empfang zu nehmen.

Lottos Auftritt: koboldhaft mit langen Gliedern, riesigen Händen und Füßen und außerordentlich kräftigen Lungen. Gawain hielt ihn am Fenster ins Licht. Der Wind hatte wieder aufgefrischt, immergrüne Eichen dirigierten das Unwetter mit moosbewachsenen Armen. Gawain weinte. Der Höhepunkt seines Lebens. »Gawain junior«, sagte er.

Aber Antoinette hatte schließlich die ganze Arbeit geleistet, und die brennende Leidenschaft für ihren Gatten galt nun bereits zur Hälfte ihrem Sohn. »Nein«, sagte sie. Sie dachte an ihr erstes Rendezvous mit Gawain, den rotbraunen Samt im Theater und Camelot auf der Bühne. »Lancelot«, sagte sie. Ihre Männer würden beide Ritternamen tragen. Es fehlte ihr durchaus nicht an Humor.

Bevor der Sturm zum zweiten Mal toste, kam der Arzt und flickte Antoinette wieder zusammen. Sallie rieb das Baby mit Olivenöl ein. Ihr war, als hielte sie ihr eigenes klopfendes Herz in den Händen. »Lancelot«, flüsterte sie. »Was für ein Name. Damit wirst du todsicher verprügelt. Aber lass mich nur machen. Ich sorge schon dafür, dass du Lotto heißt.« Und weil sie nicht nur aussah wie eine Maus, sondern auch mäusegleich hinter den Tapeten entlangkriechen konnte, nannte ihn jedermann Lotto.

Das Baby forderte sie ganz. Antoinettes Körper war aus dem Leim gegangen, ihre Brüste zerbissen. Das Stillen wollte nicht funktionieren. Aber kaum dass Lotto lächeln konnte und sie sah, dass er ihr winziges Abbild war, mit ihren Grübchen und ihrem Charme, verzieh sie ihm. Eine Erleichterung, ihre eigene Schönheit in ihm zu entdecken. Hübsch anzusehen war in der Familie ihres Mannes kaum jemand; es waren Abkömmlinge aller möglichen Gruppen, die es nach Florida verschlagen hatte, von Timucua über Spanier, Schotten und Seminolen bis hin zu entflohenen Sklaven und Nordstaatlern, die nach dem Sezessionskrieg als Glücksritter in den Süden gekommen waren. Die meisten sahen aus wie verbrannte Cracker. Sallie war hager und hatte ein Spitzmausgesicht. Gawain war vierschrötig, schweigsam und behaart; in Hamlin kursierte der Witz, dass er nur zur Hälfte Mensch war, der Nachkömmling eines Bären, der seiner Mutter auf dem Weg zum Plumpsklo aufgelauert hatte. Antoinette hatte früher für die Glatten und Schönen geschwärmt, die flagrant Vermögenden, aber nach einem Jahr Ehe brachte ihr Mann sie noch immer so in Wallung, dass sie ihm wie in Trance komplett bekleidet in die Dusche folgte, wenn er abends nach Hause kam.

Antoinette war an der Küste von New Hampshire aufgewachsen, in einer alten Fachwerk-Saltbox: fünf jüngere Schwestern und im Winter so garstig kalte Zugluft, dass sie jeden Morgen fürchtete, sie könnte erfrieren, bevor sie es in ihre Kleider schaffte. Schubladen voller Knöpfe und leerer Batterien. Sechs Mahlzeiten hintereinander Backkartoffeln. Mit einem Vollstipendium für das Smith College hatte sie im Zug gesessen, aber einfach nicht aussteigen können. Auf dem Sitz neben ihr lag eine aufgeschlagene Zeitschrift, Florida, Bäume voller goldener Früchte, Sonne und Luxus. Wärme. Frauen mit Fischschwänzen, die sich durch marmoriertes Grün schlängelten. Das Schicksal hatte es so gewollt. Sie fuhr bis zur Endstation, wo auch ihre Barschaft endete, und trampte dann nach Weeki Wachee. Als sie das Büro des Chefs betrat, musterte er ihr hüftlanges, rotgoldenes Haar und ihre Achterbahnkurven und murmelte, Ja.

Das Paradox einer Meerjungfrau: Je träger sie aussieht, desto mehr strengt sie sich an. Antoinettes Lächeln war melancholisch und verblüfft. Seekühe streiften sie, Blaue Sonnenbarsche knabberten an ihrem Haar. Aber das Wasser war ungemütliche 23 Grad kühl und die Strömung stark, und über Auftreiben oder Sinken entschied die exakte Menge Luft in den Lungen. Der Tunnel, durch den die Meerjungfrauen zum Theater hinabschwammen, war schwarz und lang, und manchmal verfing sich ihr Haar irgendwo und hielt sie gefangen. Sie konnte die Zuschauer nicht sehen, aber sie spürte das Gewicht ihrer Blicke durch das Glas. Sie legte sich ins Zeug für das unsichtbare Publikum, die perfekte Illusion. Doch manchmal dachte sie beim Lächeln an Sirenen, wie sie sie eigentlich kannte: nicht diese dämliche kleine Meerjungfrau, die sie hier spielte, sondern diejenige, die ihre Sprache, ihr Lied, ihren Fischschwanz und ihr Zuhause gab und unsterblich wurde. Diejenige, die mit ihrem Gesang ein Schiff voller Männer an den Klippen zerschellen ließ und grimmigen Blickes zusah, wie sie leblos in die Tiefe sanken.

Natürlich ließ sie sich nicht bitten, wenn sie in die Bungalows bestellt wurde. Dort traf sie Fernsehschauspieler, Komiker, Baseballspieler und einmal sogar den Sänger mit dem Hüftschwung, während der Jahre, in denen er sich als Filmstar etablieren wollte. Sie machten ihr Versprechungen, doch kein Einziger hielt Wort. Niemand schickte ihr seinen Jet, um sie abzuholen. Es gab keine Tête-à-Têtes mit Regisseuren, keinen Umzug nach Beverly Hills. Die Jahre gingen dahin, und sie wurde dreißig. Zweiunddreißig. Fünfunddreißig. Ein Filmsternchen würde sie nicht mehr werden, begriff sie beim Auspusten der Kerzen. Vor ihr lag nichts als das kalte Wasser, das träge Ballett.

Dann kam der Tag, an dem Sallie das Unterwassertheater betrat, sonnenverbrannte siebzehn Jahre alt. Sie war von zu Hause abgehauen; sie wollte leben! Mehr als ihr schweigsamer Bruder, der achtzehn Stunden am Tag in seiner Abfüllanlage verbrachte und sofort schlafen ging, wenn er nach Hause kam. Aber der Chef der Meerjungfrauen lachte sie nur aus. Viel zu dünn, sie war mehr Aal als Nixe. Mit verschränkten Armen setzte sie sich vor ihn auf den Boden. Damit sie wieder aufstand, bot er ihr den Hot-Dog-Stand an. Und dann betrat sie das verdunkelte Amphitheater und blieb gebannt vor der glänzenden Scheibe stehen, hinter der Antoinette gerade ihren Auftritt hatte, mit Fischschwanz und rotem Bikinioberteil. Sie zog sämtliches Licht auf sich.

Sallies inbrünstige Aufmerksamkeit konzentrierte sich exakt auf die Größe der Frau hinter der Scheibe und blieb dort, für immer.

Sie machte sich unentbehrlich. Sie nähte paillettenbesetzte Paradeschwänze und lernte den Umgang mit dem Atemgerät, um Algen von der Innenseite der Scheibe zu kratzen. Etwa ein Jahr später, als Antoinette gerade zusammengesunken im Umkleideraum saß und sich den tropfenden Schwanz von den Beinen streifte, trat Sallie an sie heran. Sie gab Antoinette einen Handzettel des neuen Disney-Parks in Orlando. »Du bist Cinderella«, flüsterte sie.

Antoinette hatte sich noch nie im Leben so verstanden gefühlt. »Ja«, sagte sie.

Und sie war es wirklich. Sie bekam ein Satinkleid mit Reifrock und ein Zirkonia-Diadem. Sie bekam einen Bungalow in einem Orangenhain und eine neue Mitbewohnerin, Sallie. Als Antoinette gerade in einem schwarzen Bikini und mit einem Hauch rotem Lippenstift auf dem Balkon lag, kam Gawain mit dem alten Familien-Schaukelstuhl die Treppe hoch.

Er füllte die ganze Türöffnung aus: zwei Meter groß, so haarig, dass sein Bart in sein Haupthaar überging, und so einsam, dass die Frauen es riechen konnten, wenn er an ihnen vorbeiging. Man hatte ihn immer für begriffsstutzig gehalten, dabei hatte er damals, als er mit zwanzig bei einem Autounfall beide Eltern verlor und mit seiner siebenjährigen Schwester allein dastand, als Einziger den Wert des Familiengrundstücks erkannt. Er nutzte die Ersparnisse seiner Eltern als Grundstock für den Bau einer Anlage, in der er das saubere, kühle Wasser der Familienquelle in Flaschen abfüllte. Den Einwohnern von Florida zu verkaufen, was ihnen per Geburtsrecht ohnehin zustand, mochte moralisch grenzwertig sein, aber es war die amerikanische Art, Geld zu verdienen. Er sparte alles, gab nichts aus. Als sein Verlangen nach einer Frau zu stark wurde, ließ er das Plantagenhaus mit den großen weißen korinthischen Säulen ringsherum bauen. Frauen liebten große Säulen, hatte er sich sagen lassen. Er wartete. Es kamen keine Frauen.

Dann rief seine Schwester an und bat ihn, den Familienplunder in ihre neue Wohnung zu bringen, und da stand Gawain nun und vergaß fast zu atmen, als er die blasse, wohlgerundete Antoinette sah. Man konnte ihr verzeihen, dass sie nicht begriff, wen sie vor sich hatte. Der arme Gawain, mit seinem verfilzten Haar und seinen schmutzigen Arbeitssachen. Sie lächelte und lehnte sich wieder zurück, um sich von der Sonne bewundern zu lassen.

Sallie sah ihre Freundin an und dann ihren Bruder; und auf einmal machte es Klick. »Gawain«, sagte sie, »das ist Antoinette. Antoinette, das ist mein Bruder. Er hat ein paar Millionen auf dem Konto.« Antoinette stand auf, schwebte durchs Zimmer und schob ihre Sonnenbrille ins Haar. Sie blieb so dicht vor Gawain stehen, dass er sah, wie ihre Iriden von den Pupillen verschluckt wurden, in deren Schwarz er sich spiegelte.

Eilig wurde geheiratet. Antoinettes Meerjungfrauen saßen mit schillernden Schwänzen auf der Kirchentreppe und bewarfen die Frischvermählten mit Fischfutter. Mürrische Yankees ertrugen die Hitze. Sallie hatte eine Marzipanfigur für die Torte geformt: ihren Bruder und Antoinette, sie rücklings auf seinem erhobenen Arm in der Luft schwebend, das Adagio, das grand finale der Meerjungfrauenshows. Innerhalb einer Woche wurden die Möbel für das Haus gekauft, wurden Helfer organisiert und Bagger bestellt, die ein Loch für den Pool schaufelten. Nun, da ihr Lebensstandard gesichert war, fehlte Antoinette die Phantasie, wofür sie das Geld sonst noch ausgeben könnte; alles andere hatte Katalogqualität und genügte ihr.

Den Komfort nahm sie wie etwas, was ihr zustand; mit der Liebe hatte sie nicht gerechnet. Gawain überraschte sie mit seiner Klarheit und Güte. Sie nahm sich seiner an. Als sie den Bart abrasierte, kamen darunter ein feinfühliges Gesicht und ein sanfter Mund zum Vorschein. Im Maßanzug und mit der Hornbrille, die sie ihm gekauft hatte, sah er distinguiert aus, wenn nicht sogar gut. Durch das Zimmer hinweg lächelte er sie an, ein neuer Mensch. In diesem Moment wurde der Funken in ihr zur Flamme.

Zehn Monate später kam der Hurrikan, das Baby.

Für dieses Erwachsenentrio stand von Anfang an fest, dass Lotto etwas Besonderes war. Ein Goldjunge.

Gawain ließ all die Liebe in ihn hineinfließen, die er jahrelang aufgestaut hatte. Ein Baby, ein Klümpchen Fleisch, geformt von Hoffnung. Gawain, den man so lange einen Dummkopf genannt hatte, hielt seinen Sohn in den Armen und spürte das Gewicht eines Genies.

Sallie schmiss den Haushalt. Sie stellte die Kindermädchen ein und feuerte sie wieder, weil sie nicht sie waren. Als das Baby die erste feste Nahrung zu sich nahm, zerkaute sie Bananen und Avocados und gab sie ihm in den Mund wie einem Küken.

Und kaum dass er zum ersten Mal zurücklächelte, richtete Antoinette ihre ganze Energie auf Lotto. Sie spielte ihm auf der Anlage in voller Lautstärke Beethoven vor und skandierte dabei musikalische Begriffe, von denen sie irgendwo gelesen hatte. Sie nahm Fernunterricht in früher amerikanischer Möbelstilkunde, griechischer Mythologie und Linguistik und las ihm ihre Studienbriefe in voller Länge vor. Vielleicht verstand dieses erbsenbeschmierte Kind in seinem Hochstuhl nur ein Zwölftel dessen, was sie ihm vorlas, sagte sie sich, aber es wusste schließlich niemand, was in so einem Köpfchen hängenblieb. Wenn er einmal eine große Persönlichkeit werden sollte, woran sie keinen Zweifel hatte, würde sie schon jetzt daran zu arbeiten beginnen.

Als Lotto zwei war, offenbarte sich sein hervorragendes Gedächtnis. [Eine dunkle Gabe, die ihn faul machte, weil ihm alles zuflog.] Und Antoinette wurde belohnt. Eines Abends las ihm Sallie vor dem Schlafengehen ein Kindergedicht vor, und am nächsten Morgen kam er herunter ins Frühstückszimmer, stellte sich auf einen Stuhl und posaunte es laut heraus. Gawain applaudierte erstaunt, und Sallie wischte sich mit einer Gardine die Tränen aus den Augen. »Bravo«, sagte Antoinette nüchtern und hob die Tasse, um Kaffee nachgeschenkt zu bekommen und das Zittern ihrer Hand zu verbergen. Sallie las ihm nun abends längere Gedichte vor, die der Junge bis zum Morgen behielt. Mit jedem Erfolg wuchs in ihm eine Gewissheit, ein Gefühl, als würde er die Sprossen einer unsichtbaren Leiter erklimmen. Wenn andere Wasser-Industrielle mit ihren Frauen übers Wochenende in das Plantagenhaus kamen, schlich sich Lotto nach unten und kroch durch das Dunkel unter der langen Dinner-Tafel. Dort in seiner Höhle sah er Herrenfüße, die aus Mokassins herausquollen, und Damenhöschen, feuchte Muscheln in Pastellfarben. Er kroch unter dem Tisch hervor, deklamierte Kiplings »If« und erntete tosenden Applaus. Die Wonne, die der Applaus dieser Fremden in ihm auslöste, wurde durch Antoinettes dünnes Lächeln getrübt, die, statt ihn zu loben, nur sanft sagte: »Geh wieder ins Bett, Lancelot.« Ihr war nämlich aufgefallen, dass er sich keine große Mühe mehr gab, wenn sie ihn lobte. Als Puritanerin begriff sie den Nutzen des Belohnungsaufschubs.

Der feuchte Gestank von Central Florida, wilde Vögel auf langen Beinen und Obst direkt vom Baum; so wuchs Lotto auf. Als er laufen konnte, verbrachte er die Vormittage mit Antoinette und streifte nachmittags durch das sandige Gestrüpp, vorbei an kalten Quellen, die gluckernd aus dem Boden kamen, und durch Sümpfe, in denen ihn durch die Schilfhalme Alligatoren beobachteten. Lotto war ein kleiner Erwachsener, eloquent und sonnig. Bis zur Einschulung kannte er keine anderen Kinder, denn Antoinette war zu reich und schön für die Kleinstadt Hamlin, und die Töchter des Vorarbeiters waren wilde Rotzgören – wohin das führte, wusste man ja. Nein danke. Im Haus gab es Personal, das ihm wortlos diente: Wenn er ein Handtuch auf den Boden warf, hob es jemand auf; wenn er um zwei Uhr morgens etwas essen wollte, wurde es ihm wie von Zauberhand serviert. Jeder verhielt sich freundlich und gefällig, und in Ermangelung anderer Vorbilder bemühte sich Lotto ebenfalls um Freundlichkeit. Er bürstete Antoinette das Haar, ließ sich von Sallie selbst dann noch tragen, als er fast so groß war wie sie, und setzte sich den ganzen Nachmittag lang schweigend neben seinen Vater in dessen Arbeitszimmer, beruhigt von seiner stillen Güte und seinem Humor, der von Zeit zu Zeit aufblitzte wie die Sonne, wenn sie durch die Wolken brach und sie alle zum Blinzeln brachte. Allein der Gedanke daran, dass es Lotto gab, machte seinen Vater glücklich.

Eines Nachts, Lotto war vier, holte ihn Antoinette aus seinem Bett. Sie nahm ihn mit in die Küche, schüttete ihm Kakaopulver in eine Tasse und vergaß die Milch. Er aß das Pulver mit der Gabel, tauchte sie immer wieder ein und leckte sie ab. So saßen sie im Dunkeln. Schon seit einem Jahr vernachlässigte Antoinette jetzt ihre Fernkurse zugunsten eines Fernsehpredigers, der aussah wie eine von Kindern geschnitzte und mit Wasserfarben bemalte Styroporbüste. Die Frau des Predigers trug stets einen Lidstrich und hatte das Haar zu kunstvollen Kathedralen aufgetürmt, die Antoinette kopierte. Antoinette bestellte Aufnahmen von Missionierungsreden und hörte sie mit einem 8-Spur-Tonbandgerät und riesigen Kopfhörern am Pool. Danach schrieb sie üppige Schecks, die Sallie im Waschbecken verbrannte. »Liebling«, flüsterte sie Lotto in jener Nacht zu. »Wir sind hier, um deine Seele zu retten. Weißt du, was mit Ungläubigen wie deinem Vater und deiner Tante am Tag des Jüngsten Gerichts passiert?« Sie wartete nicht auf eine Antwort. Oh doch, sie hatte sehr wohl versucht, Gawain und Sallie zum Licht zu führen. Sie wollte nichts lieber, als den Himmel mit ihnen teilen, aber sie lächelten bloß scheu und suchten das Weite. Ihr Sohn und sie würden von ihren Wolkensesseln aus kummervoll zu den beiden anderen hinabsehen, wenn sie auf ewig in der Hölle schmorten. Lotto musste sie einfach retten. Sie entzündete ein Streichholz und las mit leiser, bebender Stimme Die Offenbarung des Johannes vor. Wenn das Streichholz abgebrannt war, zündete sie ein neues an und las weiter. Lotto sah zu, wie sich die Flammen an den schlanken Hölzchen entlangfraßen. Wenn sie sich den Fingern seiner Mutter näherten, spürte er förmlich die Hitze, als wäre er es, der verbrannt wurde. [Finsternis, Posaunen, Meeresgeschöpfe, Drachen, Engel, apokalyptische Reiter und vieläugige Ungeheuer; jahrzehntelang beherrschten sie seine Träume.] Er betrachtete den schönen Mund seiner Mutter und ihre Augen, die verloren in ihren Höhlen lagen. Am Morgen wachte er auf und war überzeugt, dass er beobachtet und unablässig beurteilt wurde. Von morgens bis abends Kirche. Wenn er etwas Schlimmes dachte, machte er dabei ein unschuldiges Gesicht. Selbst wenn er allein war, spielte er eine Rolle.

Lotto wäre ein intelligenter, gewöhnlicher Junge geworden, wären seine Jahre so weitergegangen. Ein privilegierter Sprössling von vielen mit den Sprösslingssorgen so vieler.

Doch dann kam der Tag, an dem Gawain wie üblich um halb vier seine Pause machte und über den langen grünen Rasen zum Haus spazierte. Seine Frau schlief am tiefen Ende des Pools, den Mund offen und die Handflächen der Sonne zugewandt. Er deckte sie vorsichtig mit einem Laken zu, damit sie keinen Sonnenbrand bekam, und küsste ihr den Puls. In der Küche zog Sallie ein Blech Kekse aus dem Ofen. Gawain ging hinters Haus, pflückte eine Mispel und rollte die saure Frucht im Mund herum, dann setzte er sich auf den Brunnenrand neben die Afrikanische Malve und sah hinunter auf den Weg, bis dort endlich sein Junge auftauchte, eine Mücke, eine Fliege, eine Heuschrecke auf seinem Fahrrad. Es war der letzte Schultag der siebten Klasse. Der Sommer lag vor Lotto wie ein breiter, träger Fluss. Fernsehorgien, endlose Wiederholungen von Serien, die er wegen der Schule verpasst hatte: Ein Duke kommt selten allein; Happy Days. Mitternächtliches Fröschefangen mit Speeren in den Teichen. Die Fröhlichkeit seines Sohns erleuchtete den ganzen Weg. Es rührte Gawain, überhaupt einen Sohn zu haben, aber dieses Exemplar Mensch selbst, groß gewachsen, gutaussehend und geistreich, war ein Wunder, besser als diejenigen, die ihn gemacht hatten.

Doch plötzlich zog sich die Welt um seinen Jungen herum zusammen. Alles bekam eine so gleißende Klarheit, dass Gawain bis zu den Atomen der Dinge hindurchblicken konnte.

Als Lotto sah, dass sein Vater am alten Brunnen saß und offenbar schlief, stieg er vom Fahrrad. Seltsam. Gawain schlief tagsüber nie. Ein Specht hämmerte gegen eine Magnolie. Eine Anolis huschte über den Fuß seines Vaters. Lotto ließ das Fahrrad fallen und rannte los, und er nahm Gawains Gesicht in die Hände und rief den Namen seines Vaters so laut, dass er beim Aufblicken seine Mutter herbeirennen sah, jene Frau, die sonst niemals rannte und jetzt schreiend und weiß auf ihn zuschoss wie ein Vogel im Sturzflug.

Die Welt offenbarte sich, wie sie wirklich war. Voll dunkler Bedrohungen aus der Tiefe.

Lotto hatte einmal gesehen, wie sich plötzlich ein Erdloch aufgetan und das alte Plumpsklo verschluckt hatte. Überall: Krater.

Er rannte die sandigen Wege zwischen den Pekannussbäumen entlang und fürchtete dabei ebenso sehr, dass der Boden unter seinen Füßen aufbrechen und ihn in den schwarzen Untergrund reißen könnte, wie er das Ausbleiben dieses Ereignisses fürchtete. Die Freuden von einst waren farblos geworden. Der Fünf-Meter-Alligator, für den er früher ganze Hühnchen aus der Gefriertruhe gestohlen hatte, war jetzt nur noch eine Eidechse. Die Abfüllanlage nur eine große Apparatur.

Hamlin sah zu, wie die junge Witwe in die Azaleen spie, während ihr prächtiger Sohn ihr den Rücken tätschelte. Dieselben hohen Wangenknochen, dasselbe rotgoldene Haar. Schönheit verleiht dem Pfeil der Trauer eine scharfe Spitze, die mitten ins Herz trifft. Hamlin weinte um die Witwe und ihren Jungen, nicht um den massigen Gawain, den eigentlichen Sohn der Stadt. Doch Antoinette erbrach nicht nur aus Trauer. Sie war wieder schwanger, musste das Bett hüten. Monatelang sah die Stadt zu, wie Verehrer mit schwarzen Anzügen und Aktentaschen in schicken Wagen vorfuhren, und man spekulierte, für wen sie sich wohl entscheiden würde. Wer würde eine so reiche und so hübsche Witwe nicht heiraten wollen?

Mit Lotto ging es bergab. Er versuchte die Schule zu boykottieren, aber die Lehrer kannten ihn als Musterschüler und spielten sein Spiel nicht mit. Er setzte sich zu seiner Mutter, hielt ihre aufgedunsene Hand und hörte sich ihre religiösen Sendungen an, aber Gott stieß ihm nur noch sauer auf. Er behielt bloß Bruchstücke: die Geschichten, die strenge Moral, das manische Streben nach Reinheit.

Antoinette, träge wie eine Seekuh in ihrem Bett, küsste seine Handfläche und ließ ihn gehen. Ihre Gefühle waren abgetaucht. Ihr Blick kam aus weiter Ferne. Sie wurde rund und runder. Schließlich platzte sie auf wie eine große Frucht. Heraus fiel Baby Rachel, der Kern.

Wenn Rachel nachts aufwachte, war Lotto als Erster bei ihr, setzte sich mit ihr in den Sessel, gab ihr ein Fläschchen und wiegte sie. Sie brachte ihn durch das erste Jahr, seine hungrige Schwester, die er füttern konnte.

Auf seinem Gesicht war eine blasenartige Akne erblüht, die heiß war und unter der Haut pulsierte; ein hübscher Junge war er jetzt nicht mehr. Egal. Die Mädchen rissen sich um ihn und wollten ihn küssen, ob aus Mitleid oder weil er reich war. In ihren schlickigen weichen Mündern – Kaugummi und warme Zungen – sammelte er sich und wurde endlich das Grauen los, das ihn fest im Griff gehabt hatte. Knutschpartys im Gemeinschaftsraum und abends im Park. Mit dem Fahrrad sauste er durch die Dunkelheit Floridas nach Hause, trat, so schnell er konnte, als wollte er seiner Traurigkeit davonfahren, aber die Traurigkeit war stets schneller und überholte ihn.

Ein Jahr und einen Tag nach Gawains Tod kam der vierzehnjährige Lotto im Morgengrauen in den Frühstückssalon. Er wollte sich ein paar hartgekochte Eier mitnehmen für die Fahrt in die Stadt, wo Trixie Dean wartete, deren Eltern übers Wochenende verreist waren. In der Tasche hatte er eine Dose WD-40. Gleitmittel war wichtig, hatten ihm die Jungen in der Schule gesagt.

»Liebling«, hörte er aus dem Dunkel die Stimme seiner Mutter, »ich muss dir etwas sagen.« Erschrocken fuhr er zusammen, schaltete das Licht an und sah sie in einem schwarzen Kostüm am anderen Ende des Tischs sitzen. Ihr hochgestecktes Haar umwallte ihren Kopf wie Flammen.

Arme Muvva, dachte er. So ruiniert. So dick. Sie hielt die Schmerztabletten, die sie nach Rachels Geburt einfach immer weiter genommen hatte, für ihr Geheimnis. Irrtum.

Stunden später stand Lotto blinzelnd am Strand. Die Männer mit den Aktentaschen waren keine Verehrer gewesen, sondern Anwälte. Alles war weg. Die Bediensteten waren weg. Wer sollte die ganze Arbeit erledigen? Das Plantagenhaus, seine Kindheit, die Abfüllanlage, der Pool und Hamlin, wo seine Vorfahren von jeher gelebt hatten, alles war weg. Der Geist seines Vaters, weg. Verkauft für einen unerhörten Batzen Geld. Es war eine nette Gegend, Crescent Beach, aber das Haus oberhalb der Dünen war rosa und winzig und stand auf Pfählen, wie eine Lego-Box aus Beton auf Stützpfeilern. Darunter nur Palmengestrüpp und Scharen von Pelikanen im heißen, salzigen Wind. Der Strand war für Autos freigegeben. Obwohl man die Pick-ups mit dem laut aufgedrehten Thrash-Metal hinter den Dünen nicht sah, hörte man sie bis ins Haus.

»Das?«, fragte er. »Du hättest meilenweise Strand kaufen können, Muvva. Warum sitzen wir in dieser winzigen Hütte? Warum gerade hier?«

»Billig. Zwangsversteigerung. Das Geld ist nicht für mich, mein Schatz«, sagte seine Mutter. »Es ist für dich und deine Schwester. Ich lasse es treuhänderisch für euch verwalten.« Ein Märtyrerinnenlächeln.

Aber was kümmerte ihn Geld? Es war ihm zuwider. [Er würde sein Leben lang jeden Gedanken daran vermeiden und die Sorge darum anderen überlassen in der Annahme, es werde schon reichen.] Es war nicht sein Vater, nicht das Land seines Vaters.

»Verrat«, sagte Lotto unter zornigen Tränen.

Seine Mutter nahm sein Gesicht in die Hände, wobei sie versuchte, seine Pickel nicht zu berühren. »Nein, Liebling.« Sie lächelte strahlend. »Freiheit.«

Lotto schmollte. Er setzte sich allein in den Sand. Stocherte mit Stöcken in toten Quallen. Trank Slush-Eis aus dem Mini-Markt unten an der A1A.

Und dann ging er zu dem Tacostand, bei dem sich die coolen Kids zum Mittag trafen, dieser Miniyuppie in seinen Polohemden, karierten Shorts und Segelschuhen, in dieser Stadt, in der sich die Mädchen auch im Laden nichts über ihr Bikinioberteil zogen und die Jungen ihre Hemden zu Hause ließen, um ihre Muskelpakete zu bräunen. Er war schon eins achtzig groß; Ende Juli wurde er fünfzehn. [Er war Löwe, das erklärt alles.] Aufgescheuerte Ellbogen und Knie, dichte Haarbüschel im Nacken. Die aknegeschundene Haut. Diese verwirrt blinzelnde Halbwaise wollte man an sich drücken und trösten. Ein paar Mädchen hatten ihn bemerkt und nach seinem Namen gefragt, aber er war zu offensichtlich beeindruckt gewesen, um interessant zu sein, und sie hatten ihn stehenlassen.

Er aß ganz allein an einem Picknicktisch. Ein Korianderblättchen blieb an seinen Lippen kleben, und ein schleimiger asiatischer Junge lachte darüber. Neben ihm saß ein Mädchen mit einer wilden Mähne, scharfen Lidstrichen, einer Sicherheitsnadel über der Augenbraue und einem funkelnden falschen Smaragd in der Nase. Sie sah Lotto so durchdringend an, dass seine Zehen kribbelten. Sie war gut im Bett, spürte er, auch wenn er nicht wusste warum. Neben dem Mädchen saß ein dicker Junge mit Brille und verschlagenem Blick, eindeutig ihr Zwillingsbruder. Der Asiat hieß Michael; das Mädchen mit dem durchdringenden Blick Gwennie, ihr Zwilling Chollie.

An jenem Tag war noch ein anderer Lancelot am Tacostand, er wurde Lance genannt. Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit? Lance war mager und blass, zu wenig Gemüse; er hinkte betont, trug eine schief sitzende Kappe und ein T-Shirt, das ihm bis in die Kniekehlen hing. Beatboxend ging er zur Toilette, und als er zurückkam, stank es um ihn herum. Der Junge hinter ihm trat in sein T-Shirt, und heraus fiel ein Klümpchen Kot.

»Lance hat sich ins Hemd gekackt!«, schrie jemand, und das war eine Weile Thema, bis sich jemand anders daran erinnerte, dass es noch einen Lancelot gab, einen neuen, der verletzlich und merkwürdig aussah, und sie fragten Lotto: »He Neuer, machen wir dir Angst, hast du schon die Hosen voll?«, und: »Was hast du für eine Windelgröße?« Er sank kläglich in sich zusammen. Er ließ sein Essen stehen und trottete davon. Unter einer Dattelpalme holten ihn die Zwillinge und Michael ein. »Ist das ein echtes Ralph Lauren?«, fragte Chollie und befühlte den Ärmel seines Polohemds. »Die kosten im Laden achtzig Eier.« »Choll«, sagte Gwennie, »hör auf mit der Konsumscheiße.« Lotto zuckte die Schultern und sagte: »Ist eine Billigkopie, glaub ich«, obwohl es eindeutig keine war. Sie sahen ihn lange an. »Interessant«, sagte Chollie, und Michael: »Er ist süß.« Sie sahen zu Gwennie, die Lotto musterte und die Augen zusammenkniff, bis sie nur noch mascaraverklumpte Schlitze waren. »Na gut«, sagte sie und seufzte. »Meinetwegen kann er bei uns bleiben.« Wenn sie lächelte, bildete sich in ihrer Wange ein Grübchen.

Sie waren älter, elfte Klasse. Sie wussten Dinge, die er nicht wusste. Bald lebte er für den Sand, das Bier und die Drogen; er stahl die Schmerztabletten seiner Mutter für sich und die anderen. Tagsüber verschwamm die Trauer um seinen Vater, auch wenn er nachts noch immer tränenüberströmt aufwachte. An seinem Geburtstag öffnete er eine Karte und fand darin die Ankündigung eines wöchentlichen Taschengeldes, das absurd war für einen Fünfzehnjährigen. Der Sommer dehnte sich aus bis weit ins Schuljahr hinein, neunte Klasse, ein Kinderspiel mit einem Gedächtnis wie seinem. Nach der Schule bis zum Abend an den Strand, Tag für Tag.

»Schnupf das«, sagten seine Freunde, »rauch das.« Er schnupfte, er rauchte, er vergaß für eine Weile.

Von seinen drei neuen Freunden war Gwennie die Interessanteste. Irgendetwas in ihr war zerbrochen, auch wenn ihm niemand sagen konnte, was. Sie ging über vierspurige Straßen; im Quickie Stop stopfte sie Sprühsahnedosen in ihren Rucksack. Sie kam ihm vor wie eine Wilde, obwohl die Zwillinge zusammen mit beiden Eltern in einem Ranchhaus wohnten und Gwennie schon als Elftklässlerin drei Collegeniveau-Kurse besuchte. Während Gwennie sich nach Michael verzehrte, legte dieser Lotto, wenn die anderen gerade nicht guckten, eine Hand aufs Knie, und Lotto wiederum träumte nachts davon, Gwennie auszuziehen und sie zum Kichern zu bringen; einmal spätabends nahm er ihre kalte Hand und durfte sie eine Weile halten, bevor sie die seine drückte und losließ. Lotto stellte sich manchmal vor, sie alle aus der Vogelperspektive zu sehen: wie sie einander jagten, immer im Kreis, nur Chollie blieb außen vor, sah finster den endlosen Runden der anderen zu und versuchte sich nur selten hineinzudrängen.

»Weißt du«, sagte Chollie einmal zu Lotto, »ich glaube, ich hatte vor dir nie einen richtigen Freund.« Sie waren gerade in der Spielhalle, zockten Videospiele und philosophierten, Chollie frei nach irgendwelchen Kassetten, die er bei der Heilsarmee aufgetrieben hatte, und Lotto nach einem Neunte-Klasse-Schulbuch, das er sich ins Gedächtnis rufen und zitieren konnte, ohne es zu verstehen. Lotto sah ihn an. Auf Chollies fettiger Stirn- und Kinnpartie glänzte der Widerschein von Pac-Man. Der Junge schob die Brille hoch und sah weg. Lotto wurde weich ums Herz. »Ich mag dich auch«, sagte er, und erst als er es laut aussprach, merkte er, dass es wirklich stimmte: Mit seiner ungehobelten Art, seiner Einsamkeit und seiner unschuldigen Geldgier erinnerte Chollie ihn an seinen Vater.

Lottos wildes Leben währte nur bis Oktober. Eine Handvoll Monate, die so viel veränderten.

Das sollte der Wendepunkt werden: später Nachmittag, Samstag. Sie waren seit dem Morgen am Strand gewesen. Chollie, Gwennie und Michael lagen schlafend auf der roten Decke. Verbrannt von der Sonne, salzig vom Meer und sauren Biergeschmack im Mund. Leichtflugzeuge, Pelikane, ein Angler, der weiter hinten am Strand einen großen Fisch an Land zog. Lange beobachtete Lotto die Szene, bis sich ganz langsam ein Bild zusammenfügte, das er einmal in einem Buch gesehen hatte: ein rotes Meer, in das ein Steinpfad schnellt wie die gebogene Zunge eines Kolibris. Er nahm die liegengelassene Schaufel eines Kindes und begann zu graben. Seine Haut spannte, wie von Gummikleber überzogen; ein schlimmer Sonnenbrand, aber die Muskeln darunter lechzten nach der Bewegung. Das Meer zischte und gurgelte. Langsam wurden die anderen drei wach. Gwennie stand auf, Bikinifleisch, pop pop. Gott, er hätte sie am liebsten abgeleckt vom Scheitel bis zu den Zehen. Sie sah ihm zu. Sie verstand. Ein unerschrockenes Mädchen, gepierct, die Knasttätowierungen mit Stecknadeln und Füller selbst gestochen, aber ihre Augen traten über die Ufer ihres Kajals. Sie kniete sich hin und planierte den Sand mit den Unterarmen. Chollie und Michael klauten sich Schaufeln vom Pick-up des Strandwärters. Michael schüttete ein Fläschchen Speed aus dem Vorrat seiner Mutter in die Handfläche, und sie leckten die Pillen auf. Abwechselnd schaufelten sie, ließen die Kiefer knacken. Vier nicht ganz glückliche Kids Ende September, die von der Dämmerung bis tief in die Dunkelheit hinein buddelten. Dann zeigte der Mond sein aufgedunsenes Gesicht, pisste weiß aufs Wasser. Michael sammelte Treibholz, und sie machten ein Feuer. Die sandknirschenden Sandwiches waren schon lange her. Ihre Hände waren voller Blasen und blutig. Egal. Um einen möglichst großen Hohlraum zu gewinnen, den Beginn der Spirale, warfen sie einen Rettungsschwimmerhochsitz um, gruben ihn ein und klopften sorgfältig den Sand darauf fest. Einer nach dem anderen äußerte Vermutungen, was Lottos Skulptur wohl darstellte: Meeresschnecke, Farnspitze, Galaxie. Faden, der von einer Spule gewickelt wird. Naturgewalten, so perfekt wie vergänglich, nahmen sie an. Lotto traute sich nicht, Zeit zu sagen. Er war mit trockener Zunge und dem Verlangen aufgewacht, das Abstrakte konkret zu machen, seine neue Erkenntnis nachzubauen: dass Zeit genau diese Gestalt hatte, die einer Spirale. Er mochte die Sinnlosigkeit all ihrer Mühe, die Vergänglichkeit der Arbeit. Das Meer griff über. Es leckte ihnen die Füße. Es wälzte sich um die Außenwände der Spirale und fingerte hinein. Als das Wasser den Sand um den Hochsitz herum weggespült hatte und darunter wie Knochen das Weiße zum Vorschein kam, zerbrach irgendetwas, und die Bruchstücke wirbelten gen Zukunft. [Dieser Tag sollte sich noch einmal umdrehen und mit seinem Strahlen alles erleuchten.]

Am nächsten Abend war alles vorbei. Chollie, großspurig in seinem Rausch, war im Dunkeln von ebenjenem Hochsitz gesprungen, der wieder stand. Einen kurzen Moment hatte sich seine Silhouette vor dem Vollmond abgezeichnet, dann war er mit einem scheußlichen Knacken auf dem Schienbein aufgekommen. Michael war mit ihm ins Krankenhaus gerast und hatte Gwennie und Lotto allein am dunklen Strand im kalten Herbstwind zurückgelassen. Gwennie nahm seine Hand. Lotto spürte ein Kribbeln unter der Haut – das war seine Stunde –, er würde seine Unschuld verlieren. Auf seiner Lenkstange fuhr sie mit ihm zu einer Party in einem Abrisshaus auf dem Marschland. Sie tranken Bier und sahen zu, wie die Älteren am riesigen Lagerfeuer zu knutschen begannen, bis Gwennie Lotto an der Hand nahm und ins Haus zog. Kerzen auf den Fensterbänken, Matratzen voll schimmernder Arme, Beine und Pobacken. [Lust! Die alte Geschichte, in jungem Fleische neu erzählt.] Gwennie öffnete ein Fenster, und sie kletterten hinaus und setzten sich auf das Dach der Veranda. Weinte sie? Auf ihren Wangenknochen gruselige dunkle Schlieren, Mascara? Ihre Lippen berührten seine, und er, der kein Mädchen mehr geküsst hatte, seit er an den Strand gekommen war, spürte die vertraute flüssige Weißglut in den Gliedern. Die Party war laut. Sie drückte ihn rücklings auf die raue Dachpappe, er sah im Halbdunkel hinauf in ihr Gesicht, und sie zog den Rock hoch und schob den Slip beiseite, und Lotto, stets bereit, schon beim abstraktesten Gedanken an ein weibliches Wesen – Spuren eines Strandläufers, die wie Slipfalten zwischen Mädchenschenkeln aussahen, rundliche Milchflaschen, die an Brüste erinnerten –, war so Knall auf Fall nicht bereit. Auch egal. Gwennie schob ihn hinein, obwohl sie noch trocken war. Er schloss die Augen und dachte an Mangos, aufgeschnittene Papayas, süße, saure, safttriefende Früchte, und dann gab es kein Halten mehr; er stöhnte und sein ganzer Körper fühlte sich wonnig an, und Gwennie sah zu ihm hinab, auf ihren zerbissenen Lippen breitete sich ein Lächeln aus und sie schloss die Augen, entfernte sich von ihm, und je weiter sie wegdriftete, desto näher wollte Lotto ihr kommen, als jagte er eine Nymphe im Hain. Er erinnerte sich an seine heimlichen Pornohefte und drehte sie auf die Knie, sie lachte ihm über die Schulter zu und er schloss die Augen, stieß in sie hinein und spürte, wie sie einen Katzenbuckel machte, und er grub die Finger in ihr Haar und sah genau in diesem Moment Flammen aus dem Fenster züngeln. Aber er konnte nicht aufhören. Konnte nicht. Hoffte einfach nur, das Haus würde halten, bis er fertig war. Ringsherum knisterte es, begleitet von einer glühenden, sonnenähnlichen Hitze, Gwennie unter ihm erschauderte und eins-zwei-drei, explodierte er in ihr.

Dann brüllte er ihr ins Ohr, Los, weg hier, los, los, los. Ohne sich einzupacken, raste er zum Dachrand und sprang in die Sagopalmen darunter. Gwennie schwebte auf ihn herab, ihr Rock wie die Blütenblätter einer aufblühenden Tulpe. Sie krochen aus dem Gebüsch, er mit offener Hose und heraushängendem Zipfel, und wurden von hämisch applaudierenden Feuerwehrleuten begrüßt. »Saubere Arbeit, Romeo«, sagte einer.

»Lancelot«, flüsterte er.

»Und ich bin Don Juan«, sagte ein Polizist und ließ erst um Lottos und dann um Gwennies Handgelenke Handschellen zuschnappen. Die Fahrt war kurz. Sie würdigte ihn keines Blickes. Er sollte sie nie mehr wiedersehen.

Dann die Zelle, die Toilette in der Ecke ein fieser Troll, Lotto am Boden auf der Suche nach Holzsplittern, die als Klinge taugten, und die flackernde Glühbirne, die im Morgengrauen endlich in einem Scherbenregen explodierte.

Zu Hause. Sallies düsteres Gesicht und Rachel, die den Kopf auf Lottos Brust gelegt hatte und am Daumen lutschte. Mit einem Jahr schon fest im Griff der Angst. Es war beschlossene Sache: Er musste weg von diesen Delinquenten. Antoinette schloss die Tür hinter sich, ließ die Daumen knacken und griff zum Telefonhörer. Mit genügend Geld ließ sich jedes Rädchen schmieren. Am Nachmittag war es vollbracht. Am Abend schlurfte er über eine Gangway in ein Flugzeug. Er drehte sich noch einmal um. Sallie hielt Rachel in den Armen, beide heulten laut. Antoinette stemmte die Arme in die Seiten. Ihr Gesicht war verzerrt. Vor Wut, dachte er. [Falsch.]

Die Tür schloss sich hinter Lotto, verbannt für seine Sünden.

An die Reise gen Norden erinnerte er sich später nicht mehr, nur an den Schock. Am Morgen in der Sonne Floridas aufwachen und am Abend desselben Tags im kalten, düsteren New Hampshire zu Bett gehen. In einem Schlafsaal, der nach Jungenfüßen roch. Mit Magenschmerzen vor Hunger.

Beim Abendessen im Speisesaal hatte ihn ein Stück Kürbistorte an der Stirn getroffen. Als er aufsah, lachten ihn die anderen Jungen aus. Ah, das arme Kürbistörtchen, rief jemand, und jemand anders sagte, Armes Floridatörtchen, und noch jemand anders sagte, Provinztörtchen, und erntete damit die meisten Lacher, und damit hatte er seinen Spitznamen weg. Er, der sein Leben lang lässig durch die schwüle Hitze spaziert war, als würde ihm der Ort gehören [der Ort hatte ihm gehört], huschte jetzt mit hochgezogenen Schultern über den kalten, harten Boden. Provinztörtchen, ein Dörfler für diese Jungen aus Boston und New York. Pickelig, die kindliche Lieblichkeit dahin, zu groß und zu dünn. Ein Südstaatler, minderwertig. Sein Reichtum, der ihn früher herausgehoben hatte, war unter Reichen nichts Besonderes mehr.

Er erwachte vor dem Morgengrauen, saß zitternd auf der Bettkante und sah zu, wie das Fenster heller wurde. DOOM-doom, DOOM-doom, machte sein Herz. Die Cafeteria mit den kalten Pfannkuchen und halbrohen Eiern, der Weg zur Kapelle über gefrorenen Boden.

Jeden Sonntagabend um sechs rief er zu Hause an, aber Sallie war nicht der Typ für Smalltalk, Antoinette ging in letzter Zeit kaum noch aus dem Haus und hatte außer von ihren Fernsehsendungen wenig zu erzählen, und Rachel war noch zu klein, um in ganzen Sätzen zu sprechen. Nach fünf Minuten war jedes Gespräch beendet. Bis zum nächsten ein dunkles Meer, das er durchschwimmen musste. Nichts in New Hampshire war warm. Selbst der Himmel hatte etwas amphibienhaft Kaltes. Kaum dass die Turnhalle um halb sechs öffnete, setzte sich Lotto in den Whirlpool neben dem Schwimmbecken, um sich das Eis aus den Knochen zu sieden. Halb schwebend stellte er sich vor, wie seine Freunde dort oben in der Sonne rauchten. Wäre er bei Gwennie, hätten sie schon alle ihm bekannten Varianten von Geschlechtsverkehr durchexerziert, selbst die apokryphen. Post bekam er nur von Chollie, wenn auch selten mehr als Witze auf versauten Karten.

Lottos Phantasie kreiste um die Balken der Turnhalle, die mindestens fünfzehn Meter hoch waren. Ein Hechtsprung von dort oben würde allem ein Ende bereiten. Nein, er würde auf das Dach der Sternwarte klettern, sich ein Seil um den Hals legen und springen. Nein. Er würde sich ins Hauswirtschaftsgebäude schleichen, etwas von der weißen Milch stehlen, mit der die Waschräume geputzt wurden, und sie löffeln wie Eiscreme, bis ihm die Gedärme aus dem Mund herausschäumten. Eine gewisse Theatralik, schon in seiner Phantasie. Weder an Thanksgiving noch an Weihnachten durfte er nach Hause kommen. »Werde ich immer noch bestraft?«, fragte er. Obwohl er versuchte, männlich zu klingen, war seine Stimme brüchig. »Ach, Schatz«, sagte Sallie. »Das ist keine Strafe. Deine Mama will, dass du es einmal besser hast.« Besser? Hier war er das Provinztörtchen; und weil er keinen Fluch über die Lippen brachte, konnte er sich nicht einmal über seinen Spitznamen beklagen. Seine Einsamkeit heulte noch lauter. Weil Sport zum Pflichtprogramm gehörte, musste er im Neulingsachter rudern, und seine Hände bekamen Blasen und schließlich Schwielen, kleine Schutzschilde.

Der Dekan rief ihn zu sich. Er habe gehört, Lancelot hätte Sorgen. Seine Noten seien hervorragend; er sei kein Dummkopf. Ob er unglücklich sei? Die Augenbrauen des Dekans waren Raupen, die über Nacht Apfelbäume kahl fraßen. Ja, sagte Lotto, er sei unglücklich. Hm, erwiderte der Dekan. Lotto sei reich, klug und gut gebaut. [Und weiß.] Jungen wie er seien dazu bestimmt, Anführer zu sein. Wenn er sich eine gute Gesichtsseife kaufte, könne er vielleicht einen höheren Platz auf dem Totempfahl erringen, erlaubte sich der Dekan zu bemerken. Er habe einen Freund, der ihm ein Rezept ausstellen könne; er kramte nach einem Notizblock, um ihm die Telefonnummer aufzuschreiben. Lotto erhaschte einen Blick in die offene Schublade und erkannte das vertraute ölige Schimmern einer Pistole [Gawains Nachttisch, Lederholster]. Dieses Bild blieb, und während er in den darauffolgenden Tagen durch sein Leben taumelte, sah er nur noch jene flüchtig erblickte Waffe vor sich, spürte ihr Gewicht förmlich in den Händen.

Im Februar öffnete sich die Tür des Englischraums, und herein kam eine Kröte im roten Umhang. Ein Gesicht wie eine Made. Käsiger Glanz, dünnes Haar. Der zwergenhafte Mann wirbelte das Cape von den Schultern und schrieb Denton Thrasher an die Tafel. Er schloss die Augen, und als er sie wieder öffnete, war sein Gesicht von Schmerz gezeichnet, und er streckte die Arme aus, als hielte er etwas Schweres darin.

Heult, heult, heult, heult!, flüsterte er. O ihr seid all’ von Stein!

Hätt’ ich eu’r Aug’ und Zunge nur, mein Jammer

Sprengte des Himmels Wölbung! – Hin auf immer!

Ich weiß, wenn einer tot und wenn er lebt:

Tot wie die Erde! Gebt ’nen Spiegel her;

Und wenn ihr Hauch die Fläche trübt und streift,

Dann lebt sie.

Stille. Niemand spottete. Die Jungen waren mucksmäuschenstill.

Ein unbekannter Raum in Lotto wurde erleuchtet. Da war sie, die Antwort auf alles. Man konnte sich selbst zurücklassen, sich in jemand anderen verwandeln. Man konnte das Furchterregendste der ganzen Welt zum Schweigen bringen – ein Klassenzimmer voll Jungen. Lotto hatte seinen Fokus verloren in den anderthalb Jahren seit dem Tod seines Vaters. In diesem Moment wurde er schlagartig wieder scharf gestellt.

Der Mann stieß einen Seufzer aus und wurde wieder er selbst. »Euer Lehrer hat sich irgendeine Krankheit eingefangen. Brustfellentzündung. Wassersucht? Jedenfalls werde ich ihn vertreten«, sagte er. »Mein Name ist Denton Thrasher. Und nun, ihr Jünglinge, verratet mir: Was lest ihr gerade?«

»Wer die Nachtigall stört«, flüsterte Arnold Cabot.

»Gott bewahre«, sagte Denton Thrasher und ging mit dem Papierkorb durch die Reihen, um die Taschenbücher der Jungen hineinzuwerfen. »Wer kaum eine Zeile Shakespeare gelesen hat, darf sich nicht mit geringeren Sterblichen abgeben. Wenn ich mit euch fertig bin, wird euch Shakespeare aus jeder Pore dringen. Und das nennt sich nun eine exzellente Bildung. In zwanzig Jahren werden die Japaner uns beherrschen.« Er setzte sich auf die Pultkante, die Arme wie zwei Strebepfeiler vor den Schritt gestützt. »Erstens«, sagte er. »Was ist der Unterschied zwischen Tragödie und Komödie?«

»Das eine ist ernst, das andere humorvoll«, sagte Francisco Rodriguez. »Hier Schwere, da Leichtigkeit.«

»Falsch«, antwortete Denton Thrasher. »Reingefallen. Es gibt keinen Unterschied. Es ist eine Frage der Perspektive. Das Geschichtenerzählen ist eine Landschaft, und Tragödie ist Komödie ist Drama. Es kommt nur darauf an, in welchen Rahmen man das setzt, was man sieht. Seht her«, sagte er, bildete aus seinen Händen einen Kasten und bewegte ihn durch den Raum, bis er auf Schwabbel gerichtet war, einen traurigen Jungen, dem der Nacken aus dem Hemdkragen quoll. Denton verkniff sich, was ihm auf der Zunge lag, und bewegte den Händerahmen weiter zu Samuel Harris, dem flinken, allseits beliebten und schokoladenbraunen Steuermann von Lottos Achter, und sagte: »Tragödie.« Alle lachten, und Samuel am lautesten; sein Selbstbewusstsein ließ alles an ihm abperlen. Denton Thrasher bewegte den Rahmen weiter, bis Lottos Gesicht darin aufleuchtete, und Lotto sah die Knopfaugen des Mannes auf sich ruhen. »Komödie«, sagte er. Lotto lachte mit den anderen, nicht wegen des Witzes auf seine Kosten, sondern weil er Denton Thrasher dankbar dafür war, dass er ihm die Welt des Theaters offenbart hatte. Ein Weg, begriff er, wie er hier überleben könnte.

In der Frühjahrsaufführung war er Falstaff, aber nach dem Abschminken kroch sein eigenes, elendes Ich wieder in ihn hinein. »Bravo!«, sagte Denton Thrasher im Unterricht, als Lotto einen Monolog aus Othello rezitierte, aber Lotto rang sich nur ein halbes Lächeln ab und ging zurück an seinen Platz. Beim Rudern hatte sein Neulingsachter den der Uni besiegt, und er stieg zum Schlagmann auf und gab den Rhythmus vor. Trotzdem war alles trüb, selbst als die Bäume Knospen bekamen und die Vögel zurückkehrten.

Im April rief Sallie an. Sie weinte. Lotto könne den Sommer über nicht nach Hause kommen. »Es ist zu … gefährlich«, sagte sie, und da wusste er, dass seine Freunde noch da waren. Er stellte sich vor, wie Sallie sie über die Straße gehen sah und ihre Hände den Wagen wie von selbst auf sie zusteuerten, damit er sie zerquetschte. Ach, wie sehnte er sich danach, seine Schwester in die Arme zu nehmen; sie wurde größer, sie würde sich nicht mehr an ihn erinnern. Er sehnte sich nach Sallies Essen. Nach seiner Mutter, ihrer Stimme, wie sie ihm verträumt von Moses oder Hiob erzählte, als hätte sie sie persönlich gekannt. Bitte, bitte, flüsterte er, er würde nicht einmal das Haus verlassen, und Sallie versprach ihm zum Trost, dass sie ihn im Sommer zu dritt in Boston besuchen würden. Florida strahlte in seinen Gedanken inzwischen so hell wie die Sonne. Er fürchtete zu erblinden, wenn er direkt hinsah. Seine Kindheit war in diesem blendenden Schein nicht mehr zu erkennen.

Er legte auf, ohne jede Hoffnung. Ohne Freunde. Verlassen. Hysterisch vor Selbstmitleid.

Beim Abendessen, nach einer Schlacht mit Minz-Brownies, verfestigte sich ein Plan.

Als es dunkel war, die Blüten der Bäume bleiche Motten, ging er hinaus.

Im Verwaltungsgebäude lag das Büro des Dekans, und im Büro des Dekans befand sich die Schublade, in der die Waffe lag. Er malte sich aus, wie der Dekan am nächsten Morgen die Tür öffnete, die Sauerei entdeckte und schaudernd einen Schritt zurücktrat.

Sallie und seine Mutter würden vor Trauer zerspringen. Gut so! Sollten sie doch den Rest ihres Lebens heulen. Sollten sie sich doch daran totheulen, was sie ihm angetan hatten. Nur beim Gedanken an seine Schwester kamen ihm Zweifel. Aber sie war ja noch so klein. Sie würde nicht begreifen, was sie verloren hatte.

Das Gebäude war ein düsterer Kasten. Er tastete nach der Tür – unverschlossen –, die dem Druck seiner Hand nachgab. Das Glück war auf seiner Seite. [Wenigstens einer.] Licht einzuschalten war zu riskant. Er tastete sich an der Wand entlang: Anschlagbrett, Garderobenständer, Anschlagbrett, Tür, Wand, Tür, Eckwand. Ab da begann ein großer schwarzer Raum, der riesige Flur. Im Geiste sah er ihn so deutlich vor sich wie bei Tageslicht. Die zweiläufige Treppe am anderen Ende. Oben die Galerie, gesäumt von Ölporträts feister weißer Männer. Das antike Ruderboot, das an den Dachbalken hing. Tagsüber wanderte die Sonne von einem der hohen Oberlichter zum nächsten. In dieser Nacht waren es dunkle Löcher.

Er schloss die Augen. Er würde tapfer bis nach hinten durchgehen. Er setzte einen Fuß vor. Dann den anderen. Berauscht vom Gefühl des weichen Teppichs unter den Füßen und der schwindelerregenden Leere vor sich, rannte er drei übermütige Schritte.

Ein Schlag ins Gesicht.

Er war auf die Knie gefallen, tastete sich über den Teppich. Noch ein Schlag auf die Nase. Er hob die Hand, aber es war weg, nein, da war es wieder, und er wich zurück und spürte, wie es ihn streifte. Er ruderte mit den Armen, bekam Stoff zu fassen. Stoff auf Holz, nein, nicht Holz, Schaumstoff mit einem Stahlgerüst darin, nein, doch kein Schaumstoff, Pudding mit einer harten Schale drum herum? Spürte Flaum. Spürte Leder. Schnürsenkel? Schuhe? Er bekam einen Schlag vor die Zähne.

Rücklings im Krebsgang wich er zurück und hörte von irgendwoher ein klagendes Fiepen; er tastete sich hastig die Wände entlang, fand nach einer halben Ewigkeit den Schalter und blickte in der entsetzlichen Helligkeit auf das Boot, das von der Decke hing, jetzt nach vorn geneigt, und daran baumelte der grauenvollste Weihnachtsschmuck aller Zeiten. Ein Junge. Tot. Blau im Gesicht. Mit heraushängender Zunge. Verrutschter Brille. Im selben Moment erkannte er ihn: Dort am Bugball des Riemenachters hing der arme Schwabbel. Er war hochgeklettert, hatte den Strick festgebunden. War gesprungen. Auf dem T-Shirt Minz-Brownie vom Abendessen. Das Fiepen aus Lottos Brust verstummte. Er rannte los.

Nach der Polizei und dem Krankenwagen kam der Dekan. Er hatte Lotto Donuts und einen Becher Kakao mitgebracht. Seine Augenbrauen tanzten über das ganze Gesicht, und er faselte von Gerichtsverfahren, Nachahmerselbstmorden und Durchsickern an die Presse. Er fuhr Lotto in sein Wohnheim, aber kaum dass die Rücklichter verschwunden waren, ging Lotto wieder hinaus. Er konnte jetzt nicht in der Nähe all der anderen Jungen sein, die gerade unschuldige Angstträume von nackten Mädchen und Sommerpraktika träumten.

Als die Glocke der Schulkapelle drei Uhr morgens schlug, saß er auf der Bühne in der Aula.

Die halbrunden Sitzreihen bargen die Erinnerung an Zuschauer. Er holte den Joint heraus, den er hatte rauchen wollen, kurz bevor er sich die Pistole in den Mund geschoben hätte.

Nichts hatte mehr einen Sinn. Aus der rechten Kulisse kam ein dünnes Pfeifen. Ohne Brille und in einem abgewetzten Karo-Pyjama ging Denton Thrasher über die Bühne, in der Hand einen Kulturbeutel.

»Denton?«, fragte Lotto.

Der Mann drückte die Tasche an seine Brust und spähte ins Dunkel. »Wer ist da?«, fragte er.

»Nein, mir antwortet; steht und gebt Euch kund!«, sagte Lotto.

Denton tappte auf die Bühne. »Ach, Lancelot. Hast du mir vielleicht einen Schrecken in die Glieder gejagt.« Er hustete. »Rieche ich da etwa den faunischen Duft von Cannabis?«

Lotto gab ihm den Joint in die ausgestreckten Finger, und Denton zog daran.

»Was machen Sie hier im Pyjama?«, fragte Lotto.

»Die Frage, mein Lieber, lautet doch eher: Was machst du hier?« Er setzte sich neben Lotto und fragte mit einem schiefen Grinsen: »Oder wolltest du zu mir?«

»Nein«, antwortete Lotto.

»Ach«, sagte Denton.

»Aber da sind Sie«, sagte Lotto.

Als der Joint aufgeraucht war, sagte Denton: »Ich schlafe im Kostümfundus. Aus Gründen der Sparsamkeit. Ich füge mich in einen mittellosen Lebensabend. Ist gar nicht mal so übel. Keine Bettwanzen. Und ich mag das regelmäßige Läuten.«

Wie auf Kommando schlug es halb vier, und sie lachten.

»Ich habe vorhin einen Jungen gefunden, der sich erhängt hat«, sagte Lotto. »Erhangen. Erhängt.«

Denton wurde still. »O mein Junge«, sagte er.

»Ich kannte ihn kaum. Sein Spitzname war Schwabbel.«

»Harold«, sagte Denton. »Dieser Knabe. Ich habe mit ihm zu reden versucht, aber er war so traurig. Ihr Jungs wart grausam. Barbaren. Oh, du nicht, Lotto. Dich habe ich nie gemeint. Tut mir leid, dass ausgerechnet du ihn finden musstest.«

Lottos Kehle füllte sich mit irgendetwas, und er sah sich selbst an diesem Strick baumeln, bis die Tür aufging und das Licht aufleuchtete. Ihm wurde klar, dass irgendetwas in ihm Widerstand geleistet hätte, selbst wenn er sich die Treppe hochgeschlichen hätte, die Tür zum Büro des Dekans offen gewesen wäre, er die Schublade aufgezogen und das Gewicht der Pistole in seiner Hand gespürt hätte. Er hätte nie so geendet. [Stimmt genau. Es war nicht seine Zeit.]

Denton Thrasher nahm Lotto in die Arme und wischte ihm mit dem Saum seines Pyjama-Oberteils das Gesicht ab, wobei ein haariger weißer Bauch zum Vorschein kam, und Lotto wurde auf dem Bühnenrand gewiegt, in der Nase den Geruch von Hamameliswasser, Mundspülung und einem zwischen zwei Waschgängen zu oft getragenen Pyjama.

Lancelot, dieses Kind in Dentons Schoß. So jung. Er weinte sich an dem Punkt des unmittelbaren Kummers vorbei in etwas Tieferes. Es machte Denton Angst. Vier Uhr. Der liebliche Lancelot, dieses Talent, aber das war ein wenig viel, selbst wenn Denton in ihm den seltenen Götterfunken sah. Obwohl sein Äußeres vielversprechend war, hatte sich irgendein wesentliches Versprechen anscheinend bereits verflüchtigt und Ruinen hinterlassen, was eigenartig war; der Junge war höchstens vierzehn. Gut, die Schönheit konnte vielleicht zurückkommen. In zehn Jahren konnte er hinreißend sein, in seinen großen Trottelkörper und seinen Charme hineingewachsen: Schon jetzt zeigte sich auf der Bühne die Größe eines echten Schauspielers. Aber ach, die Welt war voll von echten Schauspielern, das wusste Denton nur zu gut. Herrje, es läutete schon wieder, halb fünf, ihm platzte gleich der Schädel. Denton ertrug diesen Kummer nicht. Er war zu schwach. [Trauer ist etwas für die Starken, die damit ihr Feuer nähren.] Ich sitze hier bis in alle Ewigkeit mit diesem Jungen fest, dachte er. Ihm fiel nur eines ein, um diese Tränenflut zu stoppen, und in seiner Panik drückte er das Kind in den aufrechten Sitz, wühlte in seinen Jeans und zog den blassen Wurm heraus, der nicht wusste, wie ihm geschah, und in seinem Mund zu eindrucksvoller Größe anwuchs, Gott sei Dank, denn das allein genügte, um dem Schluchzen Einhalt zu gebieten. Oh, der Staffelstab der Jugend! Jugendlich schnell ebenfalls. Ach, dass es schon schmolz, das feste Fleisch, dass es sich auflöste und zu stürmischem Tau zerrann. Denton Thrasher wischte sich über den Mund und setzte sich auf. Was hatte er getan? Der Blick des Jungen verschwand im Dunkel. »Ich gehe schlafen«, flüsterte er, und er rannte die Gänge entlang, durch die Türen und hinaus. Eine Schande, dachte Denton. Dramatisch, so in die Nacht hinaus fliehen zu müssen. Er würde diesen Ort vermissen. Er würde es bedauern, Lancelot nicht aufwachsen zu sehen. Er stand auf und verbeugte sich. »Gebenedeit seist du«, sagte er zu dem großen, leeren Theater und ging in den Kostümfundus, um seine Sachen zu packen.