Die Welt ist Bühne - Günter Krenn - E-Book
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Die Welt ist Bühne E-Book

Günter Krenn

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Beschreibung

»Ohne 'Sissi' wäre mein ganzes Leben sicher anders verlaufen. Ich verdanke den Filmen vor allem eines: meine große Bekanntheit.«. Berühmt und von den Frauen vergöttert wurde er als Kaiser Franz in der Filmtrilogie Sissi an der Seite von Romy Schneider. In den Siebzigern entdeckte ihn Rainer Werner Fassbinder und machte ihn zu einem seiner Charakterdarsteller. Heute ist Karlheinz Böhm den meisten als Gründer der Entwicklungshilfe-Organisation Menschen für Menschen bekannt. Günter Krenns eindrückliche Biographie zeigt einen Sohn, der sich aus dem Schatten des berühmten Musikervaters befreien musste, einen facettenreichen Theater- und Filmschauspieler und einen leidenschaftlichen Entwicklungshelfer. »Du musst dich in jeder Sekunde deines Lebens mit der notwendigen Selbstkritik zu allem bekennen, was du gemacht hast. Wenn du das tust, wirst du dich immer nach vorne entwickeln.« Rainer Werner Fassbinder zu Karlheinz Böhm.

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Seitenzahl: 593

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Über Günter Krenn

Günter Krenn, geboren 1961, Studium der Philosophie und Theaterwissenschaft an der Universität Wien. Zahlreiche Publikationen zum Film u. a. über Billy Wilder, Louise Brooks und Walter Reisch. Er lebt in Wien.

Im Aufbau Taschenbuch sind von ihm »Romy Schneider. Die Biographie« und »Romy & Alain. Eine Amour fou« lieferbar.

Informationen zum Buch

»Ohne ›Sissi‹ wäre mein ganzes Leben sicher anders verlaufen. Ich verdanke den Filmen vor allem eines: meine große Bekanntheit.«

Berühmt und von den Frauen vergöttert wurde er als Kaiser Franz in der Filmtrilogie Sissi an der Seite von Romy Schneider. In den Siebzigern entdeckte ihn Rainer Werner Fassbinder und machte ihn zu einem seiner Charakterdarsteller. Heute ist Karlheinz Böhm den meisten als Gründer der Entwicklungshilfe-Organisation Menschen für Menschen bekannt. Günter Krenns eindrückliche Biographie zeigt einen Sohn, der sich aus dem Schatten des berühmten Musikervaters befreien musste, einen facettenreichen Theater- und Filmschauspieler und einen leidenschaftlichen Entwicklungshelfer.

»Du musst dich in jeder Sekunde deines Lebens mit der notwendigen Selbstkritik zu allem bekennen, was du gemacht hast. Wenn du das tust, wirst du dich immer nach vorne entwickeln.« Rainer Werner Fassbinder zu Karlheinz Böhm

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Günter Krenn

Die Welt ist Bühne

Karlheinz Böhm

Die Biographie

Für Mathilde Gotthardt (1944–2014)

Inhaltsübersicht

Über Günter Krenn

Informationen zum Buch

Newsletter

Prolog: Schattenspiel

Erster Teil: Der Vater

Pensionopolis

Von München nach Darmstadt

Bildteil 1

Zweiter Teil: Der Sohn

Das Nomadenkind

»Mens sana in corpore sano«

Die ganze Welt ist Bühne

Warum noch leben?

Graz

Ein junger Mann geht zum Film

»Stell dich hin und schau g’scheit aus!«

Das Theater in der Josefstadt

»Schade, dass Sie kein Schauspieler sind!«

Zu gute Manieren für den Film

Lieslotte Alice Daisy Büchner

»Wir müssen in schlechten Filmen einfach schlecht sein«

»Ein nettes junges Mädchen und sonst nichts«

Kitty und die große Welt

Beatrix Gudula Blau

Im Südpazifik

Cureggia

Carl Boehm

Roll over Beethoven

Better call Paul

(K)Eine Karriere in den USA

Barbaras Männer

»Völlig ausgebucht«

Münchner Freiheit

Martha

Fassbinder

»Fließbandarbeit ist schwerer«

Ein Don Juan wird König Lear

Eva

Martin Scorsese über Peeping Tom

Der Aufstand gegen sich selbst

Bildteil 2

Dritter Teil: Vater Karl

Am Horn von Afrika

»Ich spiele mich selbst«

Abschied von der Bühne

Illubabor

Was bedeutet »helfen«?

Almaz

Die vierte Ehe

Ehrungen

Der Unfall

»Und auf uns sinkt des Glückes stummes Schweigen …«

Bildteil 3

Epilog: Aus dem Schatten treten

»… Nil nisi bene?« — Das Karenina-Syndrom

Eine Geschichte zweier Leben

Anhang

Anmerkungen

Theatrographie

Filmographie

Auftritte in TV-Shows und Dokumentationen

Dank

Bildnachweis

Impressum

Prolog: Schattenspiel

»Jetzo erneut sich lautes Geschrei; den Verfolgenden mahnen

Alle mit günstigem Ruf; es ertönt von Jubel der Äther.

Die sind, eigene Zier und Verdienstglanz nicht zu behaupten,

Unmutsvoll, und es gilt, mit dem Leben sich Ruhm zu erwerben.

Die dort schwellt der Erfolg; man kann, weil zu können man scheinet.«

Vergil, Äneis, 5. Buch, Vers 227–231

Ein Greifvogel zeichnet mit seinen Schwingen ein Fadenkreuz in den Nachmittagshimmel über Äthiopien. Für Mensch und Tier auf dem von der Sonne narkotisierten Boden gilt hier gleichermaßen: Wer sich zu viel bewegt, hat verloren. Auf der ausgetrockneten Erde tief unter dem kreisenden Raubvogel bildet sich der Schatten einer Menschentraube. Viele Einheimische versammeln sich um einen weißen Mann, der sich auf einen Wanderstab stützt, den ihm vor Jahren ein alter äthiopischer Bauer schenkte. Der Träger dieses Schattens ist es seit Jahrzehnten gewohnt, im Zentrum zu stehen, andere zu überschatten. Meist war er dabei nicht er selbst und wurde für die Darstellung anderer, erfundener oder nachgedichteter Persönlichkeiten gelobt und verehrt. Nicht selten wurde er mit diesen angenommenen Identitäten, im Guten wie im Schlechten, verwechselt. Ob das heute anders ist, ob er nun wirklich sich oder lediglich eine neue Rolle verkörpert, mag nur er selbst wissen. Fest steht: Es war ein weiter Weg dorthin, wo er sich jetzt befindet, als ein Schatten unter vielen, und doch, wie schon so oft in der Vergangenheit, deren zentraler …

So könnte die Geschichte beginnen, die ein Leben von 86 Jahren in Worten wiedergeben will. Es könnte aber auch mit einer Münze anfangen, die in diesem Land am Horn von Afrika einmal Zahlungsmittel war und auf deren Kopfseite man das Gesicht einer gut genährten weißen Frau mit lockigen Haaren unter einem Schleier prägte. Im österreichischen Kaisertum war dieser »Maria-Theresien-Taler« von 1741 bis 1885 gesetzliche Währung, in Teilen Afrikas und Asiens sogar bis weit ins 20.Jahrhundert hinein. Ab 1935 sorgten die Briten für dessen Verbreitung in Äthiopien und einigen Nachbarstaaten, um ihre Kolonialmacht zu stabilisieren. Wer darauf abgebildet war, wussten damals wohl die wenigsten. In einem fernen europäischen Reich wurde die Person auf dem Geldstück vor Jahrhunderten als habsburgische »Kaiserin« Maria Theresia angesprochen, obwohl sie diesen Titel als Regentin aufgrund rigider Thronfolgebestimmungen offiziell nie tragen durfte und zeitlebens »nur« Erzherzogin bleiben musste. Besagte Münze mit ihrem monarchischen Konterfei symbolisiert eine merkwürdige Verbindung mit der eingangs geschilderten Szenerie. Der oben erwähnte zentrale Schattenträger stellte als Schauspieler im 20.Jahrhundert in drei Kinofilmen Maria Theresias imperialen Ur-Urenkel dar und wurde deswegen ebenfalls sein Leben lang mit dem Titel »Kaiser« in Verbindung gebracht. Auf zahlreichen Standfotos zu den Leinwanderzeugnissen posierte er ansehnlich vor einem historischen Gemälde der Herrscherin.

Schatten oder Titel lassen nicht immer Rückschlüsse auf die Menschen zu, die sie tragen. Die beiden oben erwähnten Annäherungen an die Person Karlheinz Böhm weisen Wege zu einem Menschen, dessen Leben detailliert nachzuzeichnen sich abseits jeglicher »Denkmalpflege« oder gar Hagiographie als besonders interessant erweist. Zwar darf sich jede Biographie als einzigartig begreifen, dennoch muss die von Karlheinz Böhm in vieler Hinsicht als außergewöhnlich angesehen werden. Sein Vater war der weltberühmte Dirigent Karl Böhm, der dem Sohn lange Jahre als unerreichbares Vorbild galt. Vielleicht war es tatsächlich erst sein humanitäres Engagement in Afrika, das Karlheinz Böhm endgültig jeglichem Konkurrenzdenken enthob und es ihm ermöglichte, mit sich ins Reine zu kommen. Davor lagen Jahre größten Erfolges im Filmgeschäft, gefolgt von schmerzhaften Niederlagen auf beruflichem und privatem Gebiet sowie eine ständige Suche nach einem eigentlichen Lebenssinn, die schließlich in einer humanitären Aufgabe mündete, die Böhm zum Lebensretter von Millionen werden ließ.

Welchen Zugang man zu dem Folgenden auch immer begünstigt, es empfiehlt sich, bevor man die Kinematographie bemüht, über die Person auf der Münze zu den Monarchen der Habsburger zurückzukehren. Zu Beginn der Geschichte, im Jahr 1894, sitzt der reale Nachfahre Maria Theresias, der historische Kaiser Franz Joseph I., im 46.Jahr seiner Regentschaft auf dem Thron der Österreichisch-Ungarischen Monarchie in Wien. Ort der Handlung ist vorerst eine Stadt, die sich etwa 200 Kilometer weiter südlich auf seinem Herrschaftsgebiet befindet.

Erster Teil: Der Vater

Pensionopolis

Auf jenem Gebiet der k.u.k. (kaiserlich und königlichen) Doppelmonarchie Österreich-Ungarn, das man seit dem Ausgleich mit dem Königreich Ungarn 1867 im deutschen Beamtenjargon »Cisleithanien«, also Land diesseits des die beiden Reichshälften trennenden Grenzflusses Leitha, nannte, kam der Stadt Graz eine Art Sonderstatus zu. Die Hauptstadt des heutigen Bundes- und früheren österreichischen Kernlandes Steiermark galt zur Wende vom 19. zum 20.Jahrhundert als eine Art »Pensionopolis«, da sich höhere Staatsbeamte und Offiziere aus vielen Teilen des Reiches nach Quittierung ihres Dienstes dorthin zurückzogen. Man darf sich das Graz jener Tage als ein k.u.k. Universum in der Nussschale vorstellen. Wie in der Metropole an der Donau gab es die obligaten Kaffeehäuser, in denen der politische und kulturelle Alltag zumeist in Form des damit verbundenen Tratsches besprochen werden konnte, flanierte man durch den großzügig angelegten Stadtpark, besuchte die Theater. Die Bevölkerung lebte in der schönen, ruhigen Stadt zwar 200 Kilometer abseits des politischen Zentrums der Donaumonarchie, dafür aber umso beschaulicher, da der Lebensrhythmus den Bedürfnissen der Pensionisten angepasst und der Lebensstandard nahezu ebenso hoch war wie der in Wien, bei deutlich günstigerer Preislage.

Architektonisch wies Graz das typische Gepräge repräsentativer k.u.k. Urbanität auf und war die letzte große deutschsprachige Stadt vor »Transleithanien«, den Gebieten in Ungarn, Kroatien und Slawonien. Verwaltungstechnisch waren die meisten k.u.k. Städte eine Kopie der in Wien gelebten strukturellen Ordnung, innerhalb derer man sich sicher fühlte. Von Wien aus sah man Graz, wie fast alles außer den Metropolen Budapest und Prag, als Provinzstadt an, dafür war es jedoch zu groß und geschichtsträchtig. Tatsächlich war Graz einmal die Residenzstadt von Innerösterreich gewesen, wenn auch im Zeitraum von 1564 bis 1619. In jene Zeit fällt die erste entscheidende Stadtentwicklung. Einerseits errichtete man Befestigungswälle gegen die anstürmenden osmanischen Heere und wurde so wesentlicher Teil eines Bollwerks, das sich von Wien der Reichsgrenze entlang bis hinab zur adriatischen Küste zog. Es entstanden Monumentalbauten wie das Landhaus in der Herrengasse, dessen Außenfassade oberitalienischen Vorbildern nachempfunden ist und dessen Innenseite ein prächtiger Renaissance-Arkadenhof ziert. Die Abwanderung des Hofes im Jahr 1619 zurück nach Wien verringerte zwar die politische Bedeutung des Standortes, die kunstvollen städtebaulichen Veränderungen blieben jedoch konserviert. Im Laufe der folgenden Jahrhunderte beobachtete man in Graz die politischen und kulturellen Vorgänge in Wien sehr genau, allerdings aus dem Abstand einiger Reisestunden, die somit keine unüberbrückbare, wohl aber eine in vielen Dingen nicht unerwünschte Distanz bedeuteten.

In diesem »k.u.k. Pensionopolis« Graz verzeichnet das amtliche Geburtenregister, dass am 28.August 1894 dem Ehepaar Sophie und Leopold Böhm in der Schulgasse Nummer 17 ein Sohn geboren wurde, den es Karl August Leopold nannte. Zwei weitere Knaben, Leopold und Walter, werden in den Jahren darauf ebenfalls noch im elterlichen Schlafzimmer des Gebäudes zur Welt kommen. Sophie Böhm beginnt ein Tagebuch, in dem sie die Entwicklung ihres ersten Sohnes von der Geburt bis zu seinem zweiten Lebensjahr minutiös festhält. Als Erwachsener wird Karl Böhm vergeblich nach diesem kostbaren Dokument suchen, von dem ihm nur mündlich berichtet werden kann. Auch er wird später ein Diarium führen, darin jedoch nur akribisch notieren, was ihm bei seinen musikalischen Aufführungen als Dirigent gelang und was nicht. Karl Böhms Bindung zu seiner Mutter war von Anfang an sehr eng, man erzählte ihm später, dass auch kurze Abschiede von ihr meist sehr tränenreich verliefen und Sophie oft einen Leierkastenmann engagierte, der im Hof vor dem Hause spielte, um den weinenden Knaben durch das, was ihn am meisten faszinierte – den Klang von Musik –, abzulenken. Die Töne einer regelmäßig durch die Schulgasse paradierenden Militärmusikkapelle, wie man sie in den Romanen Joseph Roths literarisch verewigt findet, faszinieren ihn bereits als Kleinkind. Es sah fast so aus, übertreiben ältere Mitglieder seiner Familie später gern ein wenig, als hätte er bereits im Kindesalter dazu dirigieren wollen. Zahlreiche Impressionen aus der Kindheit und Jugend von Karl Böhm haben sich auf Fotografien erhalten, denn die Familie bedient sich des neuen Mediums, um sich regelmäßig porträtieren zu lassen, bevorzugt vom »k.u.k. österreich. & königl. Belg. Hof-Fotografen« Leopold Bude.

Die Schulgasse liegt nicht in einem der Nobelviertel, aber unweit der Grazer Innenstadt. Die Architektonik des langgezogenen, zweistöckigen, von einem Balkon gesäumten Familienhauses repräsentiert historistische Zitate des Nürnberger Stils und wirkt fast wie ein kleines Schloss mit Türmchen. Im Innenhof ist ein großer Garten angelegt, die Wohnung selbst dokumentiert gutbürgerlichen Wohlstand. Karl Böhm erinnert sich später an gediegene Möblierung unter mit Motiven der »Vier Jahreszeiten« dekorierten Stuckplafonds. Doch auch moderne Technik hält Einzug in das im altdeutschen Stil konstruierte Haus. Leopold Böhm installiert, um gelegentlich Körpergewicht verlieren zu können, ein von einem Ölofen beheiztes, für die damalige Zeit luxuriöses »Heim-Dampfbad«, eine Art Sauna, die eines Nachts in Brand gerät, der jedoch rechtzeitig gelöscht werden kann. Die Brandflecke bleiben in dem Raum sichtbar, in dem der Knabe Karl seine Schularbeiten macht.

Es existiert eine von Leopold Böhm bei einem Fotografen in Auftrag gegebene Ansichtskarte, auf der er sich 1906 auf schneebedeckter Straße vor dem Familiensitz positioniert, hinter dem man die Pfarrkirche von St. Andrä erkennt.1 Im Haus nebenan befand sich ein Bäckerladen, den sich sein Vater Nicolaus als Lebensunterhalt eingerichtet hatte. Als dieser am 16.März 1869 im 48.Lebensjahr starb, meißelte man »bürgerl. Bäckermeister und Realitätenbesitzer« auf seinen Grabstein am Steinfeldfriedhof, denn das Haus in der Schulgasse befand sich bereits in Familienbesitz. Nach seinem Tod bewohnten es neben der Familie Sophie und Leopold Böhm samt deren drei Söhnen noch seine Witwe Rosa sowie eine Köchin, ein Dienstmädchen und ein Buchhalter. Der Familienname Böhm ist als sprechend anzusehen, denn väterlicherseits entstammte man Mitte des 19.Jahrhunderts aus dem tschechischen Eger eingewanderten Deutschböhmen. 1855 hatte die Familie in Graz den »Bürgerbrief«, also den Erwerb der vollen bürgerlichen Rechte, gewährt bekommen. Der mütterliche Teil, Familie Franz, hatte seine Wurzeln im Elsass, der dazugehörige Großvater war Kunstschnitzer und parlierte noch auf Französisch. Eine nicht untypische familiäre Konstellation für den Vielvölkerstaat der Donaumonarchie.

Als sein erstes Wort definiert Karl Böhm später »Min« und das steht seiner Interpretation nach für »Musik«. Alles, was Töne erzeugen kann, beeindruckt ihn bereits als Kleinkind, woraus er seinen frühen Wunsch erklärt, Musiker zu werden. Das wird ihm vom Vater jedoch zunächst versagt, der ihn stattdessen anweist, seinem Vorbild zu folgen und Jura zu studieren. Doktor Leopold Böhm ist Rechtsanwalt und Syndikus des Grazer Stadttheaters, das 1899, fünf Jahre nach Karls Geburt, errichtet wurde und sich bereits nach wenigen Jahren erste künstlerische Meriten erwarb. Die theatermusikalische Tradition der Stadt Graz reicht bis ins 17.Jahrhundert zurück und beinhaltet musikbegeisterte habsburgische Kaiser wie Ferdinand III. gleichsam wie die Komponisten Johann Joseph Fux und Christoph Willibald Gluck, die hier ebenso gastierten wie die Theatergruppe von Emanuel Schikaneder, dem Librettisten von Mozarts Zauberflöte. Der bekannteste »Wiener« Volksschauspieler des frühen 20.Jahrhunderts, Alexander Girardi, stammte ebenso aus Graz wie der »Wiener« Operettenkomponist Robert Stolz.

Das Grazer Stadttheater ist einer der für die Doppelmonarchie typischen repräsentativen Theaterbauten des Wiener Architektenduos Ferdinand Fellner und Hermann Helmer. War man dort engagiert, spielte man zwar »in der Provinz«, allerdings an einem Ort, der nicht nur in Wien bald als solide Ausbildungsstätte künstlerischer Talente akzeptiert war. »Dort, in Graz«, hielt Karl Böhm stets fest, »habe ich gelernt, was ich von einem Sänger verlangen kann und was nicht«.2 Wer in Graz reüssiert, empfiehlt sich auch anderswo für höhere Aufgaben, von diesem Urteil wird auch Karl Böhm selbst profitieren.

Ein Ereignis aus der Musikhistorie wird in Thomas Manns Roman Dr. Faustus erwähnt: Richard Strauss’ als revolutionär empfundene Oper Salome erlebte 1906 in Graz ihre österreichische Erstaufführung, nachdem sie die Wiener Zensur zuvor für die von Gustav Mahler geleitete Hofoper verboten hatte. Richard Strauss selbst hatte bei der Premiere den Taktstock geführt, die Grazer Oper engagierte auch in der Folge renommierte Dirigenten wie Ernst von Schuch, Felix von Weingarten und Franz Schalk, die bald alle auch zum Bekanntenkreis von Leopold Böhm gehörten. Dieser war somit den Umgang mit Künstlern gewohnt und hatte dadurch längst jeglichen verklärten Blick auf das vom Publikum verehrte Klientel verloren. Er hatte weniger mit dessen Glanz als vielmehr mit dem dazugehörigen Elend zu tun, erlebte zu oft, dass jemand aus dem Heer mittelmäßig Begabter in finanzielle oder andere Schwierigkeiten geriet, weshalb er seinen Erstgeborenen eindringlich vor der Wahl eines künstlerischen Berufes ohne anderweitige Absicherung warnte. Nur wenige erreichten dabei ihr Ziel, wird sich auch sein Sohn später überzeugt zeigen, die Mehrzahl reiht sich in das namenlose Heer der »Mittelmäßigen« ein. Das Verdikt des Vaters wird auch das des Sohnes: »Diese Menschen verdienen nicht nur weniger Geld als die ›Erfolgreichen‹, sie sind auch ihr ganzes Leben lang hindurch todunglücklich, da sie die Schuld an ihrem Versagen nicht ihrer eigenen mangelnden Begabung, sondern den Quertreibereien ihrer Kollegen oder dem fehlenden Glück – das es in der Kunst nicht gibt – zuschreiben.«3

Karl Böhm beginnt also zunächst gehorsam ein Jura-Studium an der Grazer Universität, damit er, falls sich seine musikalischen Pläne nicht gewinnbringend verwirklichen lassen, in der väterlichen Kanzlei in der dem Familienwohnhaus nahegelegenen Annenstraße Nr.10 Unterschlupf finden kann. Die wird später an seiner Stelle sein Bruder Leopold übernehmen.4 Karl Böhm scheint das musikalische Talent sprichwörtlich in die Wiege gelegt. Die Mutter ist eine begabte Pianistin, sein Onkel Karl Link Opernsänger. Der Vater, ein begeisterter Wagnerianer und früher Bayreuth-Besucher, verfügt über eine passable Baritonstimme, die er ausbilden ließ. Er wird beim Intonieren italienischer Opernpartien (zumeist in seine Stimmlage transponierte Tenorarien) regelmäßig vom Grazer Akademischen Gesangsverein und bald auch von seinem Sohn am Klavier begleitet. Man pflegt bei Böhms nicht nur gehobene Hausmusik, sondern organisiert auch konzertante Opernvorführungen für bis zu 150 Zuhörer, denn im Salon von Sophie und Leopold Böhm sind namhafte Sänger und Sängerinnen ebenso zu Gast wie Dirigenten und Musikgelehrte.

Durch seinen Vater hat Karl Böhm somit früh Kontakt zum Grazer Musikleben, sieht mit acht Jahren Wagners Lohengrin neben seinen Eltern in deren Opernloge, und da er als Kind zeitig Klavierunterricht erhält, macht er zunächst Pianist zu seinem ersten Berufswunsch. Während seiner Gymnasialzeit unterweist ihn der Dirigent des lokalen Gesangsvereins in Harmonie-, Kompositions- und Kontrapunktlehre, er beginnt zu komponieren, schreibt Lieder nach spätromantischen Vorbildern wie Hugo Wolf oder Joseph Marx, von denen manche auch im Druck erscheinen.5 In der Schulzeit führt eine Fleischvergiftung zu einer schmerzhaften Augenmuskellähmung, deren Spätfolgen immer wieder heftige Kopfschmerzen hervorrufen, weshalb der Junge den Unterricht öfters vorzeitig verlassen darf. Diesen Umstand nutzt der Schüler aus und kommt zum Erstaunen seines Vaters in einem Jahr auf 198 Fehlstunden. Auf genauere Nachfrage gesteht er später, statt dem Unterricht beigewohnt zu haben, zu jener Zeit lieber im Stadttheater die Proben von Richard Strauss’ Oper DerRosenkavalier verfolgt zu haben.

Nachdem er 1913 die Schule abgeschlossen hat, finanziert ihm sein Vater nach großbürgerlichem Vorbild ein Studienjahr in Wien, wo ihm der Dirigent und spätere Direktor der Wiener Staatsoper Franz Schalk künstlerische Unterstützung angedeihen lässt. Es ist ein guter Zeitpunkt, um Wien zu besuchen. Zu dieser Zeit ist die Stadt in kultureller und politischer Hinsicht eine der interessantesten in Mitteleuropa. Man diskutiert die Schriften Sigmund Freuds, dessen Traumdeutung 1900 im Druck erschien. Karl Kraus publiziert regelmäßig seine satirische Zeitschrift Die Fackel, Egon Schiele wird 1913 vom Bund Österreichischer Künstler, deren Präsident zu jener Zeit Gustav Klimt ist, als Mitglied akzeptiert. Ein Konzert von Arnold Schönbergs revolutionärer neuer Musik im Musikvereinssaal musste im selben Jahr wegen Zuhörertumulten abgebrochen werden. Im Café Central sitzen nicht nur Literaten wie Peter Altenberg, Egon Friedell oder Anton Kuh, dort politisiert auch der später als Trotzki bekannt gewordene 34-jährige Lew Dawidowitsch Bronstein. Der um ein Jahr ältere Jossif Dschugaschwili, der seit 1912 den Kampfnamen Stalin führt und Jahrzehnte später Trotzkis Ermordung beauftragen wird, lebt ebenfalls in der Stadt, in der sich zur selben Zeit der 24-jährige Arbeitslose Adolf Hitler erfolglos als Postkartenmaler versucht.

Franz Schalk rät Karl Böhm zu einem Privatstudium, das dem talentierten jungen Künstler eine schnellere Ausbildung ermöglichen soll, als sie ihm eine Musikakademie bieten könnte. An der juristischen Fakultät in Graz ist er inskribiert, Prüfungen legt er dort auch ab, Vorlesungen jedoch besucht er vornehmlich in Wien – und alle davon im Bereich Musik. Mithilfe des Vaters hat er Stammplätze im k. u. k. Hofburgtheater und dem k.u. k. Hofoperntheater, erlebt dadurch 1913 das Gastspiel des Tenors Enrico Carusos in Wien. Auch bei der Eröffnung des Wiener Konzerthauses im Oktober 1913, die in Anwesenheit von Kaiser Franz Joseph I. stattfindet, ist Böhm zugegen. Im Sommer 1914 geht seine Wiener Studentenzeit abrupt zu Ende, als bekannt wird, dass der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand, der einunddreißig Jahre vor Böhm ebenfalls in Graz zur Welt gekommen war, in Sarajewo ermordet wurde. Böhm muss zurück in seine Geburtsstadt und wird bald nach der Kriegserklärung der Monarchie angemustert. Er hat jedoch Glück, wird durch familiäre Protektion – sein Onkel Rudolf Freiherr Stöger-Steiner von Steinstätten ist der letzte Kriegsminister Österreich-Ungarns – der Versorgungstruppe zugeteilt und kann neben seinem Dienst in der Nähe von Graz sein Jura-Studium weiterführen. 1916 gelingt es ihm, nach einer schweren Bronchitis wegen Tbc-Verdachts als kriegsuntauglich ausgemustert zu werden.6 Wieder in Zivil, profitiert er von den Lücken, die der Krieg in den auf reibungslosen Vollzug angewiesenen Produktionsablauf der Grazer Theaterwelt reißt. Den Berufswunsch Pianist hat er aufgegeben, wird stattdessen Korrepetitor an der Oper, muss bereits im März 1917 als Dirigent einspringen und leitet eine Vorstellung von Victor Ernst Nesslers Oper Der Trompetervon Säckingen. Die Fähigkeit, ein Orchester dirigieren zu können, die er offiziell nie erlernt hat, wird ihm Weltruhm eintragen. Er gibt später zu, anfangs nicht einmal gewusst zu haben, wie man einen Viervierteltakt korrekt schlägt, demonstriert jedoch in dieser Situation erstmals das für sein Wesen typische »zähe Arbeiten an sich in der Erkenntnis, dass man zuerst von sich selbst das Höchste fordern müsse, um es erst dann von den anderen verlangen zu dürfen«.7 Böhms Einsatz ist von Anfang an vorbildlich, bis zu zwei Kilo an Körpergewicht büßt er oft bei einer Vorstellung ein. Nachts studiert er für seine Jura-Prüfungen, tagsüber und abends arbeitet er in der Oper.

Während der junge Dirigent mit seiner Karriere beschäftigt ist, geht der für Österreich desaströse Krieg im Herbst 1918 zu Ende, zerfällt die Monarchie, in der Karl Böhm geboren wurde und vierundzwanzig Jahre gelebt hat. Der greise Monarch Franz Joseph I. stirbt bereits 1916, sein Nachfolger Kaiser Karl muss abdanken und das Land verlassen. In Wien beginnt man im Oktober 1918 nach einem eigenen Staat zu rufen, nachdem alle anderen Kronländer diesen Schritt bereits davor gesetzt haben. Die österreichischen Sozialdemokraten fordern die republikanische Staatsform, in einer Proklamation ruft ein Staatsrat aller Parteien den deutsch-österreichischen Staat aus. In Graz regiert man zu diesem Zeitpunkt bereits autonom. Ein Wohlfahrtsausschuss kümmert sich um die Versorgung der hungernden Bevölkerung und damit auch um den sozialen Frieden. Am 6.November 1918 beschließt die Provisorische Landesversammlung im Landhaus, dass sich das geschlossene deutsche Siedlungsgebiet des ehemaligen Kronlandes Herzogtum Steiermark nunmehr als »Land Steiermark« zur eigenberechtigten Provinz erklärt und dessen Beitritt zum Staat Deutschösterreich, der am 12. November vor dem Parlament in Wien feierlich verkündet wurde. Am selben Tag pilgern an die 20 000 Menschen auf den Franzensplatz vor dem Grazer Schauspielhaus, von dessen Balkon die Proklamation verkündet wird. Der Platz wird aus diesem Anlass später in »Freiheitsplatz« umbenannt. Im Gegensatz zu Wien verläuft die Geburt der »Ersten Republik« in Graz gewaltfrei, auch wenn das neue Bundesland wie der Rest Österreichs noch lange an den Folgen des verlorenen Krieges zu zehren hat. Das geruhsame »Pensionopolis« ist Geschichte. Statt schwadronierender Militärpensionisten prägen nun heimkehrende Soldaten, die meisten davon verwundet, verstümmelt und vom Grauen der Ereignisse gezeichnet, das Stadtbild, in dem viele Menschen um ihre tägliche Essensration kämpfen müssen.

Die Grazer Oper spielt an jenem geschichtsträchtigen Tag Richard Wagners Das Rheingold, Karl Böhm steht jedoch nicht am Pult. Während viele einer ungewissen Zukunft entgegensehen, verläuft seine berufliche Laufbahn ganz nach Plan. Am 4.April 1919 promoviert er an der Grazer Universität pflichtgemäß zum Dr.jur. Die väterliche Kanzlei ist freilich längst keine Option mehr für ihn, denn Böhm erarbeitet sich an der Oper Erfolg um Erfolg, dirigiert Repertoirevorstellungen ebenso wie Uraufführungen und hat die Position eines Generalmusikdirektors vor Augen, die er jedoch 1921 wegen eines anderen Angebotes ausschlägt. Er hat ein Telegramm aus Bayern erhalten, in dem ihm der renommierte Dirigent Bruno Walter die Stelle des vierten Kapellmeisters am Münchener Nationaltheater anbietet. Die Position in der bayerischen Hauptstadt scheint verglichen mit dem Grazer Angebot eine Degradierung, aber Böhm denkt strategisch, sieht die Möglichkeiten, die ihm eine Anstellung am deutschen Traditionshaus mit Weltgeltung eröffnen kann. In Graz wurde er geboren, hat er seine ersten beruflichen Schritte unternommen und wird dorthin immer wieder gern zurückkommen. Seine Karriere wird er woanders machen.

Von München nach Darmstadt

»München leuchtete«8, diese Beschreibung von Thomas Mann wird bis heute im Zusammenhang mit der bayerischen Landeshauptstadt gern zitiert, nicht selten zu Werbezwecken und meist ohne Kenntnis ihres Ursprungs. Sie entstammt Manns 1902 entstandener frühen Erzählung Gladius Dei, diese spielt Ende der Jugendstilzeit und kritisiert am Beispiel des einträglichen Handels mit dekorativer Renaissancekunst in München die Rückbesinnung auf eine Zeit künstlerischer Reproduktion, die letztlich allem Neuen Hemmnis ist. Ein nicht nur in der bayerischen Metropole bekanntes Problem. München Anfang der 1920er-Jahre hatte nur mehr wenig mit dem aus Manns Novelle gemein. Von der Anfangsbeschreibung in der Erzählung, dem amüsanten Leben in der »schönen und gemächlichen Stadt«, den festlichen Plätzen, antikisierenden Monumenten, der ethnisch bunt gemischten Bevölkerung, den Kunstzeitschriften lesenden jungen Leuten, die Wagner-Motive pfeifen und abends die Theater besuchen, mag sich allerdings noch einiges erhalten haben, als Karl Böhm 1921 seinen Dienst in dem wie ein antiker Tempel gestalteten Opernhaus am Max-Joseph-Platz antritt. Auf Straßen und Gassen öffentlich intonierte Opernmotive kennt Böhm bereits aus Graz, ebenso die Kriegsversehrten und Abfallsammler, die in beiden Städten immer noch zum Straßenbild gehören. Als Kontrast dazu wecken auf Litfaßsäulen bunte Plakate das Bedürfnis nach neuen Konsumprodukten. Firmennamen prägen sich aufdringlich ins Bewusstsein der Flanierenden ein. Die Werbeindustrie kreiert erste »corporate identities«, unverwechselbare Designs, die ein Markenbewusstsein installieren sollen. München leuchtete nun auch nachts, im Neonlicht seiner Reklameschilder.

In München lernt Karl Böhm das von ihm als überzeugter Wagnerianer bisher etwas vernachlässigte Repertoire seines Landsmannes Wolfgang Amadeus Mozart besser kennen, ein Œuvre, dessen Interpretation ihm Jahrzehnte später weltweite Anerkennung sichern wird. Als Vermittler fungiert dabei sein Mentor Bruno Walter. Der aus einer deutsch-jüdischen Familie stammende, 1876 als Bruno Walter Schlesinger in Berlin geborene Dirigent wurde 1894 in Hamburg Assistent des damaligen Direktors Gustav Mahler und folgte diesem 1901 an die Hofoper nach Wien, wo er zehn Jahre später die österreichische Staatsbürgerschaft annahm, seinen Familiennamen aus dem Pass tilgen ließ und fortan nur mehr unter seinem Künstlernamen Bruno Walter auftrat. 1913 nahm Walter ein Engagement in München an, wo ihn Thomas Mann 1916 gegen den antisemitischen Anwurf verteidigte, Walter sei seiner jüdischen Herkunft wegen ungeeignet, Wagner zu interpretieren.

Im Oktober 1923 dirigiert Böhm mit Ariadne auf Naxos seine erste Richard-Strauss-Oper in München und berichtet seinen Eltern schriftlich davon. Das Kuvert ist mit Briefmarken im Wert von fünf Millionen Deutscher Reichsmark frankiert, ein Dokument der Inflationszeit. Die enormen Schulden der Weimarer Republik – 155 Millionen Mark plus der Reparationsforderungen der Alliierten – können mit Steuermitteln allein längst nicht mehr bewältigt werden. Der Entschluss der Regierung, mehr Geldscheine drucken zu lassen, ist fatal, löst einen Währungsverfall aus, der im Sommer 1923 zu einer Hyperinflation führt. Unvorstellbare 500 Trillionen Mark sind im Umlauf. Der Wert der deutschen Währung fällt innerhalb eines Jahres von 49000 Mark für einen Dollar im Januar auf 4,2 Millionen im November. Lohnauszahlungen mussten in Wäschekörben abtransportiert werden, Kinder basteln Drachen aus den nahezu wertlosen Banknoten. Das Schlosspark-Theater in Berlin verlangt kein Geld, sondern Lebensmittel als Eintritt: Die billigsten Plätze erhält man für zwei Eier, der teuerste Platz ist für ein Pfund Butter zu haben. Erst mit der Einführung der »Rentenmark« im November 1923 kann die Inflation beendet werden. Diese Binnenwährung setzt den Wert einer Rentenmark mit einer Billion der alten Mark fest. Der Staat hat seine Schulden durch das Hasardspiel nun im Griff, der Preis dafür war jedoch hoch: Die Sparer haben ihre Einlagen verloren, die Wirtschaftsnot steigt.

Von all dem berichtet Karl Böhm seinen Eltern nichts, er bleibt, wie stets in seiner Karriere, auf die Musik und sein persönliches Erleben fixiert, erzählt nur von seiner erfolgreichen Ariadne. Mit deren Komponisten wird ihn später eine Freundschaft verbinden, Böhms Interesse gilt in jener Zeit jedoch auch weniger arrivierten zeitgenössischen Tonsetzern wie Maurice Ravel oder Igor Strawinsky. Die Musikgeschichte ist durch die von ihnen verkörperten neuen Strömungen im Umbruch, aber auch die Zeitgeschichte marschiert nicht weit von Böhms luxuriösem Arbeitsplatz Anfang November 1923 in eine finstere Zukunft. Der in Wien als Kunstmaler erfolglose Adolf Hitler ist mittlerweile in Deutschland ein erfolgreicher Demagoge geworden. Seine Reden geißeln die Regierung, das wirtschaftliche Elend spielt seinen Plänen zunehmend in die Hände. Seine Partei, die 1919 gegründete NSDAP, ist landesweit noch nicht sehr populär, mancherorts bereits verboten, rekrutiert in Bayern aber bereits 55000 Mitglieder. Am Abend des 8.November 1923 rufen Hitlers Schergen im Münchener Bürgerbräukeller die »nationale Revolution« aus. Zulauf aus dem Umland hat ihre Schlagkraft gespeist, sie ziehen marodierend durch die Straßen, devastieren eine SPD-Zeitungsredaktion, plündern Geschäfte und jüdische Wohnungen, nehmen deren Inhaber als Geiseln. München leuchtet nun bedrohlich, im Widerschein spiegelt sich bereits eine allzu nahe Zukunft von gespenstischem Gepräge. Nachdem die NSDAP am 9. November den Münchener Bürgermeister Eduard Schmid gefangen nimmt, schlägt die Staatsgewalt zurück und stoppt damit Hitlers angekündigten »Marsch auf Berlin«. Während Karl Böhm im Nationaltheater Strawinskys Oper DieNachtigall probt, fallen auf dem nahegelegenen Odeonsplatz Schüsse, und Soldaten riegeln das Theater ab. Vierzehn Putschisten und vier Polizisten sind gestorben, die NSDAP wird verboten, Hitler zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt, aber nach wenigen Monaten auf Bewährung entlassen. Wie bei vielen Zeitgenossen differiert die Art der Schilderung der Ereignisse auch bei Böhm, betrachtet man die Version aus dem Jahr 1938 und jene aus seiner 35 Jahre später entstandenen Autobiographie. Die zeitgenössische Version findet man in H.E.Weinschenks Buch Künstler plaudern aus dem Jahr 1938. Der Tag wird darin als »Markstein in der deutschen Geschichte« gepriesen, Böhm – oder ein Autor in seinem Namen – formulierte, er sah »die vor den mörderischen Kugeln der Feinde zurückweichenden Nationalsozialisten. Unter ungeheurer Aufregung erlebten wir den Abtransport der Verwundeten, sahen Blut, das für die Idee vergossen wurde, die siegreich geworden ist«.9 Böhm bestritt später, die Sachlage so beschrieben zu haben. Die »geläuterte« Nachkriegssicht der Ereignisse findet sich in der Autobiographie: Hier berichtet Böhm, wie die Probe zu der Oper von Strawinski, »dessen Musik später als Kulturbolschewismus auf die Verbotsliste der Nazis kam«, unterbrochen wurde, als man die Schüsse vor dem Theater hörte: »Wir waren alle sehr aufgeregt, denn wir wußten ja nicht, was draußen vorgeht.«10

Während Böhm in den kommenden Jahren unter dem NS-Regime seine Karriere ausbauen kann, wird manche andere, darunter die seines Mentors Bruno Walter, jäh unterbrochen. Walter flieht 1933 vor dem Nazi-Terror nach Österreich, bis er ihn 1938 dort einholt und zur Emigration in die USA zwingt. Fast zehn Jahre sollten vergehen, bis Böhm und Walter einander wiedersehen würden.

Bruno Walter war nicht nur für Karl Böhms künstlerische Entwicklung von großer Bedeutung. Durch ihn lernt der gebürtige Grazer in München Thomas Mann kennen, »der mich menschlich und künstlerisch sehr gern hatte und dessen Tochter – ich erfuhr das erst später – ich einmal hätte heiraten sollen«.11 Erfahrung mit dem Thema Ehe hat er bereits. Karl Böhms erste Frau war die 1897 in Graz geborene Johanna Röbelen (in manchen Quellen auch Röbbelen geschrieben), eine Choristin der Grazer Oper; die im Juni 1921 in Wien geschlossene Ehe wurde in München im April 1927 geschieden. Wie aus amtlichen Dokumenten hervorgeht, nahm der römisch-katholisch getaufte Böhm in der Zeit seiner ersten Ehe auch das evangelische Glaubensbekenntnis seiner Frau an, wechselte nach der Scheidung jedoch wieder zum Katholizismus. Karl Böhms zweite Ehefrau wurde jedoch nicht Thomas Manns Tochter Erika, sondern die Sängerin Thea Linhard, einer Münchener Kaufmannsfamilie entstammend und musikalisch so begabt, dass sie bereits mit 16 ½ Jahren Schülerin der Sopranistin Maria Ivogün wurde. Karl Böhms Enkeltochter Sissy verweist im Zusammenhang mit dem Kennenlernen ihrer Großeltern auf einen wenig schmeichelhaften Satz ihres Großvaters, nachdem ihm Thea das erste Mal vorgesungen hatte: »Mein liebes Kindl. Es gibt jetzt zwei Möglichkeiten: Entweder du machst mit deinem dünnen Stimmchen nie Karriere, oder du wirst meine Frau«.12 Es mag sich dabei um ein Familienbonmot handeln, jedoch zitiert auch Karl Böhm als indirekten Beleg einen Ausspruch seines Mentors Bruno Walter: »Diese Thea Linhard hat eine süße, aber noch sehr kleine Stimme; sie ist ja auch erst siebzehn Jahre alt. Das Puccini-Orchester ist so furchtbar laut; dämpfen Sie, dämpfen Sie!«13 Ihr Sohn beschreibt Thea Böhm später als »in allen Facetten ihres Wesens und Daseins außergewöhnliche Frau«.14 Über vieles, das er mit ihr erlebt hat, wird er später nüchtern und kritisch urteilen, die auf Schallplatte konservierte Stimme seiner Mutter wird ihn jedoch bis ins hohe Alter zu Tränen rühren.

Thea Linhard beeindruckte Zeitgenossen spätestens auf den zweiten Blick und manche bereits beim ersten gesungenen Ton. Keine zarte, aber eine markante Gestalt, mit großen, dunklen, ausdrucksvollen, etwas auseinanderliegenden Augen. Die Oberlippe hielt sie oft leicht hochgezogen, so als wollte sie noch etwas sagen, zögerte aber, es auszusprechen. Als sie Karl Böhm kennenlernt, trägt sie ihr dunkles Haar im zum Stil der 1920er-Jahre passenden Pagenkopf-Schnitt. Geboren wurde sie als Theresia Anna Linhard am 13.Februar 1903 in München, als Tochter des Mehlhändlers Wilhelm Johann Linhard und seiner Frau Anna Barbara, geborene Wörner. Thea Linhard ist zum Zeitpunkt der Eheschließung mit Karl Böhm bereits Witwe, ihr erster Ehemann wurde am 20.Juli 1922 Richard Hans Heinrich David Kellerhals, ein Schauspieler der Münchener Kammerspiele, der am 25.November 1925 im Alter von nur 32 Jahren verstarb.

1920, mit 17 Jahren, debütierte Thea Linhard am Stadttheater von Bamberg, ein Jahr später sang sie an der Bayerischen Staatsoper in Giuseppe Verdis EinMaskenball unter dem Dirigat von Bruno Walter. Im selben Jahr verkörperte sie unter der künstlerischen Leitung Karl Böhms die Rolle der Mimi in Puccinis La Bohème. Sechs Jahre später heirateten die beiden am 2.Mai 1927 auf dem Standesamt 1 in München. Als Trauzeugen fungierten die Väter der Brautleute. Die Eheurkunde vermerkt, dass der Kapellmeister und Doktor der Rechte, Karl August Leopold Böhm, »geschieden, der Persönlichkeit nach aufgrund der Aufgebotsverhandlungen anerkannt […] wohnhaft in München, Maximilianstraße 15«15, die verwitwete Opernsängerin Theresia Anna Kellerhals, geborene Linhard, wohnhaft in der Ismaninger Straße 102, zu seiner Frau nimmt. Karl Böhm hat zuvor laut der Einbürgerungsurkunde vom 6.April 1927 die Staatsangehörigkeit im Freistaat Bayern durch Einbürgerung erworben, die sich jedoch nur auf ihn und nicht auf Familienangehörige erstreckt.

Am Tag nach der Hochzeit dirigierte Böhm seine Abschiedsvorstellung in München. Dem Wunsche ihres Mannes folgend, beendet Thea Böhm nach der Hochzeit ihre berufliche Tätigkeit beziehungsweise reduziert diese auf einige wenige Konzerte. Die Ehe der beiden wird 54 Jahre halten und von den meisten Beobachtern als »glücklich« beschrieben werden, was sicher auch dem Umstand geschuldet ist, dass Thea Böhm eigene berufliche Interessen völlig der Karriere ihres Mannes unterordnet. Sie übernahm stattdessen die Funktion einer Managerin, überwachte Terminplanung und Gehaltsverhandlungen. Manche Bekannte konstatierten, Thea Böhms Dasein für den Musiker Karl Böhm würde »eine energische Kraftquelle aus List und Liebe bedeuten«.16 Erst ihr gemeinsamer Sohn wird dem Credo der »perfekten Ehe« nach dem Tod der Eltern widersprechen. Aber auch er wird bestätigen, dass sich seine Mutter primär um seinen Vater gekümmert habe und dieser sie, ihrer Sachkenntnis seinen Beruf betreffend, perfekt in seine Hingabe zur Musik habe integrieren können. Zulasten des gemeinsamen Kindes allerdings.

Man darf die sechs Jahre, die Karl Böhm in München verbringt, als durchweg erfolgreich ansehen. Dennoch blickt er bereits 1924, obwohl mittlerweile Erster Kapellmeister am Haus, begehrlich in Richtung Darmstadt, interessiert sich für eine Position am dortigen Opernhaus, will nach Differenzen mit Hans Knappertsbusch, der Bruno Walter 1922 als Leiter der Bayerischen Staatsoper nachfolgte, sein Engagement schon 1925 beenden, erfüllt aber noch seinen zwei weitere Jahre dauernden Vertrag. Aufgrund seines Münchener Repertoires, er hatte dort Wagners DerRing des Nibelungen, Tristan und Isolde sowie alle populären Mozart-Opern dirigiert, weigert er sich, in Darmstadt vor Antritt des neuen Postens ein Probedirigat abzulegen, was man akzeptiert. Im Herbst 1927 tritt Karl Böhm schließlich den Posten als Generalmusikdirektor des Hessischen Landestheaters in Darmstadt an, ab dem 2. September ist das Ehepaar Böhm dort in der Neckarstraße Nr.6 gemeldet. Zu jenem Zeitpunkt ist Thea bereits schwanger.

Nach dem Karriere-Aufstieg von Graz nach München mag Darmstadt wie ein künstlerischer Rückschritt wirken, tatsächlich gab es dort einen der progressivsten deutschen Theaterbetriebe jener Zeit, man sprach vielerorts sogar lobend von einem »Kultur- und Experimentiertheater«. Generalintendant war der frühere Max-Reinhardt-Schauspieler Carl Ebert, das Betriebsbüro leitete Rudolf Bing, ein gebürtiger Wiener, der 1950 Direktor der Metropolitan Opera in New York wurde. Für Opernregie zuständig war ein weiterer Österreicher, der damals erst 22-jährige Arthur Maria Rabenalt, dessen für die damalige Zeit sehr modern anmutender Regiestil nicht unumstritten war. Siegfried Wagner etwa lobte die Darmstädter Lohengrin-Produktion, was das Musikalische betraf, sah die Inszenierung jedoch als Parodie an. Die meisten Bühnenbilder schuf Wilhelm Reinking, der Rabenalt ebenso von dessen früherer Station Würzburg nach Darmstadt begleitete wie die Ballettmeisterin Claire Eckstein. Bald geisterte das Bonmot von der Erfolgsformel »Rabenkingstein AG« durch das hessische Landestheater. Dazu kam mit Karl Böhm ein erfahrener Generalmusikdirektor. Die führenden Theaterleute Darmstadts waren Anfang 30 oder jünger und gingen voller Energie an ihre neue Aufgabe. Manche ihrer Produktionen wurden als »revolutionär« oder sogar »umstürzlerisch« betrachtet, die Avantgarde wurde ein wesentlicher Teil ihres Spielplans. Karl Böhm bemüht sich neben dem klassischen Repertoire, das er bereits in München pflegte, auch darum, moderne Werke knapp nach deren Uraufführung sofort in Darmstadt aufzuführen, darunter 1930 Das Leben des Orest von Ernst Křenek und 1931 Alban Bergs Wozzeck. Letztere Opernaufführung wurde von dem Wiener Komponisten persönlich besucht und gewürdigt. Dazu kamen Werke von Ermanno Wolf-Ferrari, Arthur Honegger, Paul Hindemith und weiteren zeitgenössischen Komponisten. Neben den langen und ausführlichen Aufzählungen von Werken und Namen aus dieser Zeit findet sich in Karl Böhms Autobiographie auch ein lapidarer kurzer Satz: »Im Jahre 1928 kam am 16. März unser einziger Sohn Karlheinz in Darmstadt zur Welt.«17

1 Karl Böhm als Soldat in Graz, 1914

2 Künstlerpostkarte der Opernsängerin Thea Linhard, München 1926

3 Thea und Karl Böhm, 1928

4 Karlheinz Böhm auf dem Wickeltisch mit Vater Karl und Großvater Leopold in Kärnten, Sommer 1928

5 Karlheinz und Karl Böhm, 1928

6 In Darmstadt, 1929

7 Mit der Großmutter Anna Linhard im Erzgebirge, 1935

8 Mit der Mutter im Ferienhaus »Spatzennest«, 1935

9 In Dresden, 1935

10 In Waldidylle bei Dresden, 1938

11 Familie Böhm mit Hund Rex, 1938

12 Karlheinz Böhm mit seinem Vater und Maria Cebotari in Wien, 1944

13 In Graz, 1946

14 Das Ehepaar Karl und Thea Böhm mit Sohn Karlheinz in ihrer Wiener Wohnung, 1952

15 Mit Hildegard Knef in »Alraune«, 1952

16 In der Komödie »Der Weibertausch« an der Seite von Gertrud Kückelmann, 1952

17 Zwischen Brigitte Bardot und seiner ersten Ehefrau Elisabeth Zonewa, 1954

18 Dreharbeiten zu »Die Hexe« in Wien, 1954

19 Interaktion mit Anita Björk in »Die Hexe«, 1954

20 An den Lippen von Margit Saad in »Schwedenmädel«, 1955

21 Drehpause bei »Sissi«, 1955

Zweiter Teil: Der Sohn

Das Nomadenkind

Als Erwachsener wird er erstaunt feststellen, dass er kaum Erinnerungen an seine Kindheit hat. Diese Zeit im Leben von Karlheinz Böhm – in den Geburtsunterlagen aus Darmstadt finden sich außerdem sowohl die Schreibweisen »Karl Heinz« als auch »Karl-Heinz« – scheint verloren. Er wird sich auch nie wirklich auf die Suche danach machen. Immerhin vermag er Bruchstücke davon auf alten Fotografien wiederzufinden, die Bildlegenden dazu kommen fast ausschließlich aus den Erzählungen anderer. Es sind Wahrheiten aus zweiter Hand, wie er sie später in seinem Beruf als Schauspieler selbst auch kreieren wird. Als prägendsten Eindruck seiner Kindheit wird er stets den Vater nennen, für seine Jugend einerseits den Zweiten Weltkrieg und andererseits ungeheure Einsamkeit.

Die erste Fotografie von ihm entsteht am Sonntag, den 18.März 1928, zwei Tage nach seiner Geburt, in der »Darmstädter Privatfrauenklinik und Entbindungsanstalt« in der Riedeselstraße 52. Sie zeigt Thea Böhm im Morgenmantel, mit scheuem Lächeln über ihr Neugeborenes gebeugt. »Ich habe meine Karriere abgebrochen, vorläufig einmal«, wird sie später über diese Zeit sagen, »und wir waren in Darmstadt, mein Mann war dort Generalmusikdirektor, es war eine wunderschöne Zeit, er hat dort herrliche Vorstellungen gemacht – und ich hab meinen Karlheinz bekommen. Unseren Sohn […], von dem ich vom ersten Tag an gewusst habe, dass er Schauspieler wird.«18

Karl Böhm, der am Tag der Geburt seines Sohnes eine Vorstellung von DerRosenkavalier dirigierte, steht auf dem ersten Bild mit seinem Kind im Hintergrund und wirkt ein wenig verloren in seiner neuen Rolle. Auch auf einer anderen Fotografie aus dem Sommer desselben Jahres, in der Sommerfrische in Velden am Wörthersee in Kärnten, beugt er sich ein wenig hilflos über seinen auf dem Wickeltisch vor ihm liegenden Stammhalter. Der sich ebenfalls auf das Gestell abstützende Großvater Leopold wirkt dagegen deutlich entspannter. Sein Zwicker über der breiten Nase ist derselbe geblieben wie zur Kinderzeit seiner Söhne, sein an den Schläfen korrekt kurz geschnittenes Haar wölbt sich über der Stirn seit seiner Jugend zu einem schwer domestizierbaren gewellten Haarschopf, der eine silberne Färbung angenommen hat. Aufenthalte am Wörthersee, wohin bereits namhafte Musiker wie Johannes Brahms und Gustav Mahler regelmäßig in die Sommerfrische fuhren, gehören zur angenehmen Routine der Familie Böhm, seit Karls Bruder Leopold die Kärntnerin Elsa Mößlacher, die gemeinsam mit ihrer Schwester Ruth Besitzerin des Schlosshotels in Velden am Wörthersee ist, geheiratet hat. Man logiert an einem geschichtsträchtigen Ort. Das um 1600 vom Kärntner Adelsgeschlecht der Khevenhüller erbaute Schloss wechselte im Laufe der Jahrhunderte mehrfach den Besitzer und wurde ab dem Ende des 19.Jahrhunderts nach mehreren Umbauten zunehmend für den Fremdenverkehr genutzt. Ab den 1950er-Jahren verwendete man es auch für Film- und Fernsehproduktionen, deren populärste von 1990 bis 1992 die TV-Serie Ein Schloß am Wörthersee wurde. In diesem noblen Ambiente treffen sich die Brüder Böhm Ende der 1920er-Jahre samt ihren Familien jeden Sommer, was durch zahlreiche Fotos dokumentiert ist. Auch 1930 sind Karl und Thea mit ihrem Sohn wieder zum Urlaub in Kärnten. Von allen Kindheitszeugnissen sind Karlheinz Böhm die Urlaubsfotos am Wörthersee später am liebsten. Sie bleiben Dokumente unbeschwerten Lebens und einer intakten (Groß-)Familie, in der man zumindest für die Dauer der Ferien füreinander Zeit hat. Ein Bild zeigt den kleinen strohblonden Karlheinz 1930 mit dem für die Zeit typischen Pagenkopf-Haarschnitt, während er mit einem Dreirad hantiert. Seine Kinderzeit ist nicht mit persönlichen, wohl aber fotografischen Erinnerungen belegt. Begriffe wie Heimat oder Zuhause verbindet er später damit nicht. Beim Blättern in alten Aufnahmen sieht man Karlheinz 1928 als fröhliches Kleinkind im Stubenwagen, 1929 getragen von seinem stolz lächelnden Vater oder 1931 wie einen kleinen Oskar Matzerath mit Blechtrommel auf einem Balkon. Letzteres Bild stammt aus dem zweiten Wohnsitz der Familie in Darmstadt in der Ohlystraße Nr.33.

Karlheinz Böhm verbringt seine frühe Kindheit in komfortablen Häusern, umgeben von sorgsam ausgewähltem Spielzeug und einer überschaubaren Anzahl an vertrauten Menschen. Der Vater verfolgt weiter seine Karriere, nutzt jede gute Chance, die sich ihm bietet, verlässt Engagements vorzeitig, um bessere zu erhalten. Die Mutter kümmert sich mehr um ihren Mann als um ihren Sohn, das übernehmen Kinder- und Dienstmädchen sowie die Großmutter aus München. Dauerhafte Beziehungen zu anderen Kindern werden dadurch keine aufgebaut, wie Karlheinz Böhm später erkennt: »Nomadenkind, das ich war, habe ich rasch entsprechende Schutzmechanismen entwickelt. Man läßt sich dann eben nicht auf etwas ein, denn in dem Moment, wo man es doch tut, wird man sofort wieder rausgerissen, und das tut weh. Also beginnt man, Menschen und Dinge in eine gewisse Oberflächlichkeit abzuschieben aus lauter Angst vor der Trennung.«19

Eine gewisse Bindungsangst wird ihn lange Jahre seines Lebens begleiten und künftige Beziehungen überschatten. Um die erste solcher Trennungen bewusst wahrnehmen zu können, ist der Junge noch zu klein. Bereits am 25.Juli 1931 verlässt sein Vater die erfolgreiche Zwischenstation Darmstadt, um ein lohnenderes Angebot aus dem Norden Deutschlands anzunehmen. Er wird Erster Kapellmeister an der Hamburger Staatsoper, die Familie übersiedelt am 25.Juli 1931 in die Hansestadt. – »Jetzt lassen Sie mich hier allein in diesem Bumsnest«20, zitiert Karl Böhm den Kommentar Carl Eberts, als er ihm mitteilte, den Posten des Generalmusikdirektors in Hamburg anzunehmen. Böhms eigene Ansicht über das damalige Darmstadt – abseits des Theaters, wie er betonte – war nur mäßig gehobener formuliert, auch Ebert und Bing verließen die Stadt bald nach Böhm zugunsten lukrativer Positionen in Berlin. Warum die Stelle in Hamburg vakant wurde, erwähnt Böhm in seinen Memoiren nicht. Sein Vorgänger Egon Pollak hatte seinen Posten nicht freiwillig verlassen, er emigrierte 1931 nach heftigen Polemiken gegen ihn, die vor allem auf seine jüdische Herkunft abzielten, in die USA.

Stand er seinem hessischen Arbeitsplatz trotz künstlerischer Herausforderung durchaus kritisch gegenüber, so war Hamburg für Karl Böhm Liebe auf den ersten Blick – und die Zuneigung beruhte auf Gegenseitigkeit. Die junge Familie wohnt in der Isestraße 119. Für das Nomadenkind ändert sich in der neuen Umgebung nicht viel an seiner Lebenssituation. An den in Hamburg besuchten Kindergarten und die dortigen Spielkameraden hat Karlheinz Böhm im Alter keine Erinnerungen mehr. Jahrzehnte später werden sich Menschen aus Afrika ihm gegenüber als Nomaden bezeichnen, und er wird von sich behaupten, ebenfalls einer gewesen zu sein. Seine Gegenüber werden darüber laut lachen, er höchstens lächeln, denn er hat nicht wirklich übertrieben.

Wie zuvor in München und Darmstadt besucht Karl Böhm seine Grazer Eltern, in Hamburg erlebt Leopold Böhm seinen Sohn zum letzten Mal im Orchestergraben. Er, der einst vor einer Musikerkarriere gewarnt hat, unterstützt die seines erfolgreichen Erstgeborenen nun tatkräftig. 1932 versucht er beim damaligen österreichischen Unterrichtsminister Anton Rintelen zu intervenieren, um seinem Sohn ein Engagement bei den Salzburger Festspielen zu ermöglichen, was jedoch misslingt. Das spätere erfolgreiche Wirken Karl Böhms in Salzburg sollte der Vater nicht mehr erleben. Als Leopold Böhm am 10.Dezember 1933 stirbt, kondoliert der Komponist Alban Berg in einem sehr persönlichen Schreiben an Karl Böhm und hebt darin die große Liebe Leopolds zu seinem Sohn hervor.

Auch Karl Böhm demonstriert in jener Zeit Familiensinn, indem er Fotografien, die ihn mit Frau und Kind zeigen, in Hamburger Programmheften abdrucken lässt. Auf einem Privatfoto aus jener Zeit blickt er zu seinem Sohn, der wohl auf einer Erhöhung steht, lächelnd auf. Im Leben wird es stets umgekehrt sein. Der junge Karlheinz, mit Pagenschnitt und Matrosenanzug, dreht dabei den Kopf ein wenig zur Seite, als fürchtete er direkte Beurteilung selbst bei einem freundlichen Gesichtsausdruck seines Vaters. Auf einer anderen Fotografie aus dem Jahr 1933 wirkt Karlheinz Böhms etwas unsicherer Blick eingefroren; unter dem perfekt geschnittenen Pagenkopf blickt er fragend in Richtung Kamera. Der nackte Oberkörper lässt ihn dabei noch schutzloser wirken. Ein Porträt, auf dem der kleine Karlheinz diese Frisur trägt, hängt Jahrzehnte später in Karl Böhms Wiener Villa als Teil einer seltsamen Trinität: rechts davon befand sich ein barocker Putto-Kopf und daneben ein Porträt des jungen Dirigenten Karl Böhm.

In Hamburg sagt Karl Böhm jenen Satz, der von ihm selbst und anderen gern zitiert und mittlerweile oft hinterfragt wird. Nachdem man ihm 1931 den Posten des Generalintendanten angeboten hat, setzt man 1933 bei der nach der Etablierung des Ermächtigungsgesetzes diktatorisch regierenden NSDAP voraus, dass er bereits inoffizielles Mitglied sei. Als Böhm verneint, legt man ihm den Beitritt nahe, was er mit der Begründung ablehnt, sich bereits anderweitig verpflichtet zu haben: »Ich gehöre nur einer Partei an, der musikalischen.«21 – »Ich erinnere mich ganz genau« war einer von Böhms Lieblingseinleitungssätzen bei seinen Erzählungen, auch seine Autobiographie trägt diesen Titel. Ob er es in diesem Falle ebenfalls tat, wusste vermutlich nur er selbst »ganz genau«. Karl Böhm wird kein Parteimitglied, ist aber in NS-Kreisen wohlgelitten, nachdem er 1933 wahrscheinlich aus Kalkül dem »Kampfbund für deutsche Kultur« beitritt, der sich vermutlich im Grunde entgegen Böhms eigentlicher Gesinnung auch gegen die Besetzung jüdischer Künstlerinnen und Künstler wandte, mit denen Böhm bis dato offenbar vorbehaltlos zusammengearbeitet hatte.22 Es sind von Karl Böhm einige, vielleicht auch pflichtschuldig absolvierte positive Stimmen zum Wirken des Dritten Reiches verzeichnet, in vielen Fällen gelang es ihm jedoch, sich vor dem politischen Diskurs durch Flucht in seine musikalische Tätigkeit zu retten. Ein Künstler habe mit Politik nichts zu schaffen, doziert er später, was allerdings speziell in Zeiten einer Diktatur und der von ihr restriktiv geregelten Kulturpolitik so einfach nicht gelten kann. Demokratische Erziehung oder Vorbildung kannten Männer seiner Generation allerdings kaum, sie wurden in das autoritäre System einer Monarchie hineingeboren, das nach einem kurzen, von politischen Grabenkämpfen gekennzeichneten demokratischen Versuch in Zeiten großer wirtschaftlicher Not durch ein totalitäres System abgelöst wurde. Obwohl dem Großbürgertum zuzuzählen und bald mit gutem Einkommen versehen, imponiert Karl Böhm vorerst wie vielen anderen die durch die Nationalsozialisten herbeigeführte wirtschaftliche Stabilität nach Jahren sozialen Elends, ohne deren weitere Ziele und Umstände zu hinterfragen. Als es um das Vergeben einflussreicher Posten geht, profitiert Böhm von seinem Können, aber auch dem Umstand, dass mancher potenzielle Konkurrent in die Emigration flüchten musste, politisch missliebige Künstler ihrer Ämter enthoben werden, und dem Umstand, mit den neuen Machthabern auf gutem Fuß zu stehen. Am 30.Mai 1938, kurz nach der als »Anschluss« bezeichneten Angliederung Österreichs an das Deutsche Reich, begrüßte der Dirigent das Publikum im Wiener Konzerthaus vor einem Konzert, »ohne dazu verpflichtet gewesen zu sein«,23 mit dem Hitlergruß und ließ das Horst-Wessel-Lied spielen. Böhm befürwortete den »Anschluss« Österreichs an das Deutsche Reich am 10.April 1938 mit den Worten: »Wer dieser Tat unseres Führers nicht mit einem hundertprozentige JA zustimmt, verdient nicht, den Ehrennamen Deutscher zu tragen.«24

Im März 2015 stellte der Wiener Journalist Thomas Trenkler die Frage, ob der nach Karl Böhm benannte Interpretationspreis des Landes Steiermark trotz seiner Nähe zum NS-Regime weiter so heißen solle. Auch den Salzburger Festspielen empfahl er im gleichen Zug, den Böhm zu Ehren bezeichneten »Karl-Böhm-Saal« zu überdenken. Die Präsidentin der Festspiele, Helga Rabl-Stadler, kündigte daraufhin an, der Festsaal werde aufgrund von Böhms außergewöhnlichen künstlerischen Verdiensten nicht umbenannt. Es werde jedoch »analog zur Vorgehensweise der Stadt bei belasteten Straßennamen« eine Tafel angebracht, auf der an eine Internetseite verwiesen werde, »wo in Deutsch und Englisch die Persönlichkeit Böhms dargestellt wird als das, was er war: ein großer Künstler, aber politisch fatal Irrender«.25 Erst postum wird Böhms NS-Vergangenheit medial thematisiert und dabei mitunter dramatisiert. So nannte man ihn in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 2.Mai 1995 »einen ziemlich ekelhaften Nazi«, andere namhafte Zeitungen außerhalb Österreichs ließen sich zu ähnlichen Formulierungen hinreißen. Ihm Begeisterung für das Regime zu unterstellen, entbehrt, sieht man von einigen wenigen einschlägigen Zitaten ab, eines schlüssigen Beweises, ihn als »Nazi« zu titulieren, erscheint unangebracht. Unzweifelhaft ist jedoch, dass Böhms Karriere in der NS-Zeit nur angepasster Kooperation und funktionaler Effektivität im Sinne der Machthaber möglich war. Seine Beteuerungen, er sei stets »unpolitisch« gewesen, wie es auch andere Künstlerinnen und Künstler gern für sich in Anspruch nahmen – und was man in den auch nach dem Krieg noch stark vorbelasteten Ländern Österreich und Deutschland als generellen Persilschein akzeptierte –, gelten längst als widerlegt. »Politisch war […], was dem Regime nützte«, formuliert der Musikhistoriker Fred K.Prieberg, der auch die Frage, ob Historiker nach Moral fragen sollten, mit Ja beantwortet. »Denn es war Moral in ihren unzähligen Schattierungen, die Musikgeschichte machte, nicht ausschließlich, aber doch in ganz wesentlichen Phänomenen, und gerade der NS-Staat gedieh mit Hilfe solcher Abstufungen der Moral, die sich gegeneinander ausspielten, zur schiefen Ebene abwärts glattschleifen ließen.«26

Familienintern sieht man die Position Karl Böhms in jener Zeit differenziert. Sein Urgroßneffe Christian Böhm erinnert sich an Erzählungen aus dem Verwandtenkreis, die Karl Böhm eher Distanz zum NS-Regime zuerkennen: »Es gab aber ein anderes Familienmitglied, das mit den Nazis sympathisierte, mit dem sich Karl prompt anlegte, ihn einen Trottel nannte und prophezeite, Hitler werde Deutschland in einen Krieg führen …«27 Dass Karl Böhm seinen Sohn Jahre später während der Kriegsjahre nicht auf ein deutsches, sondern ein Schweizer Internat schickte, mag, wie es Karlheinz Böhm für sich deutete, davon zeugen, dass er ihm den Kriegsdienst für eine Sache ersparen wollte, von der er selbst nicht – oder nicht mehr? – überzeugt war.

1933 nimmt Karl Böhm eine Einladung nach Wien für ein Gastdirigat bei Wagners Tristan und Isolde an der Staatsoper an, an die sich ein weiteres Konzert mit den Wiener Philharmonikern anschließt, ehe ihn sein Berufsweg nach Dresden führt. Dort wird er 1934 auf Intervention des NS-Parteiapparats Direktor der Semperoper, nachdem sein Vorgänger Fritz Busch sein Amt aus politischen Gründen niederlegen musste. Nachdem Busch den NS-Schergen jegliche Kooperation verweigert hatte und seine kritische Meinung zu dem Bestseller Mein Kampf öffentlich kundgetan hatte, wurde am 7.März 1933 während einer Vorstellung von Verdis Rigoletto ein Pfeif- und Buh-Konzert organisiert. Ein Schauspieler trat auf, erklärte Busch trotz seines auf Lebenszeit ausgestellten Vertrages für abgesetzt, unter anderem weil er, obwohl Arier, zu viele Juden und ausländische Sänger am Theater engagiert habe. Obwohl Hitler selbst die eigenmächtige Aktion der Dresdner Parteigruppe kritisierte und per Telegramm die sofortige Wiedereinsetzung Buschs forderte, kam es nicht dazu. Einer rasch ausgefertigten Unterschriftenliste gegen Busch wagten sich nur sieben von vierzig Ensemblemitgliedern zu entziehen, worauf Busch seinerseits die Konsequenzen zog und das Land verließ. Wer immer Busch nachfolgte, wussten sowohl Regimeanhänger als auch -gegner, konnte dies nur im Sinne der Partei tun. »Zumindest damit wird klar«, schreibt der österreichische Historiker Oliver Rathkolb, »dass Karl Böhm […] voll und ganz den ideologischen Kategorien der neuen Machthaber entsprochen haben muß, ohne deshalb Parteigenosse zu sein«.28 1935 kann Böhm gegenüber der Partei darauf verweisen, dass er in Wien viele Anhänger im nationalsozialistischen Lager habe und daher sein Wirken dort »propagandistisch von größtem Vorteil für Deutschland sein könnte«.29 Bei den Nürnberger Parteitagen dirigierte er in deren feierlichem Teil Wagners Meistersinger, aus den Tagebüchern von Goebbels geht durchgängige Wertschätzung für Böhms künstlerische Arbeit hervor. In regimetreuen medialen Beschreibungen Böhms aus jener Zeit lobt man »sein lebenswarmes, urgesundes Musizieren, dem nichts Nervöses anhaftet«.30 Andererseits arbeitet Böhm in Dresden aber auch mit regimekritischen Künstlern wie Oskar Fritz Schuh oder Caspar Neher zusammen und setzt sich für dem Regime nicht genehme Komponisten wie Boris Blacher ein.

»Dr.jur. Karl Böhm, Generalmusikdirektor der Dresdener Staatsoper« steht 1934 auf seiner Visitenkarte. Neun Jahre wird er dort bleiben, es ist das längste fixe Engagement seiner Karriere. Die Semperoper gehörte wegen ihrer in Fachkreisen gerühmten Akustik und nicht zuletzt wegen der zahlreichen dort uraufgeführten Werke von Richard Strauss zu den renommiertesten Häusern im deutschsprachigen Raum. Für Karl Böhm war es einer der wichtigsten Schritte in seiner Karriere. Neun Jahre arbeitet er in Dresden, freundet sich in der Zeit mit Richard Strauss an, dirigiert die Uraufführungen von dessen Opern Die schweigsame Frau (1935) und Daphne (1938), die Partitur der letzteren widmet ihm der Komponist persönlich. Leonard Bernstein wird später bewundernd feststellen, Karl Böhm habe allen anderen Dirigenten seiner Zeit vorausgehabt, dass er der letzte gewesen sei, der viele Komponisten, darunter Strauss, Berg, Hindemith oder Pfitzner persönlich gekannt habe und sie noch selbst zur Interpretation ihrer Werke habe befragen können.

Mit einigen Opernproduktionen gastiert Böhm im In- und Ausland, darunter 1936 in London, am Opernhaus von Covent Garden und der Queen’s Hall, dort erhält er erstmals das Angebot, eine Schallplatte aufzunehmen. Es ist bei der Betrachtung des Phänomens Karl Böhm stets zu beachten, dass seine Popularität später auch dem Umstand zuzuschreiben ist, dass seine künstlerische Karriere bis ins Zeitalter medialer Verwertung hineinreichte und er mit über 200 Schallplatteneinspielungen neben Herbert von Karajan und später Leonard Bernstein zu den Pionieren neuer Aufnahme-Technologien gehörte.

Familie Böhm wohnt in den Jahren 1934 bis 1943 in Dresden, zunächst in der Dampfschiff- und später in der Angelikastraße Nr.4, nahe dem Waldschlösschen, in einer zweistöckigen Gründerzeitvilla mit Garten. Es sollte auch nach ihrer Abreise ein geschichtsträchtiges Haus bleiben. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Gebäude von der Roten Armee konfisziert und mitunter von illustren Persönlichkeiten bewohnt. Wo heute die Antroposophische Gesellschaft residiert, arbeitete in den Jahren 1985 bis 1990 der spätere russische Präsident Wladimir Putin im Dienste des KGB.

Der kleine Karlheinz Böhm besucht in Dresden regelmäßig die Oper, muss allerdings stets nach dem ersten Akt nach Hause und ins Bett. Er berichtet später, in jenen Jahren fünfzehn Mal DieWalküre gesehen zu haben, allerdings immer nur den ersten Akt. Bereits mit vier Jahren durfte er den Proben bei Karl Böhms Gastspiel von Die Meistersinger von Nürnberg in München lauschen – und es gelang ihm zur Erheiterung des Bühnenpersonals problemlos bei Wagnerklängen einzuschlafen.

An seine Zeit in Dresden hat Karlheinz Böhm ansonsten »flüchtige Erinnerungen an immer neue Schulen, deren Namen ich noch weiß, doch sonst fast nichts. Vielleicht entstehen ja gewisse Verdrängungsmechanismen, weil man etwas gar nicht so genau wissen will, weil man Angst hat, sich emotional irgendwie festzulegen. Ich bin fest davon überzeugt, daß ich Teile meiner Kindheit und Jugend verdrängt habe, um sie nicht zu störenden Elementen meiner Entwicklung zu machen«.31 Er ist sich allerdings später der Tatsache bewusst, insofern privilegiert gewesen zu sein, als er in einer Familie aufwuchs, die Bildung als selbstverständlich ansah – und sich diesen Anspruch auch leisten konnte. Dass Jahrzehnte später einmal Schulen nach ihm benannt werden, hätte sich der mittelmäßige Pennäler in jener Zeit wohl kaum träumen lassen. Auf einem Klassenfoto der Volksschule in der Wägnerstraße in Dresden-Blasewitz aus dem Jahr 1934 lachen die Kinder und der Lehrer gemeinsam für den Fotografen, wobei die Mimik von Karlheinz wie so oft bei solchen Gelegenheiten etwas verhalten wirkt. 1936 posiert er für ein privates Foto vor seinen Spielsachen: einem großen Kasperletheater mit dazugehörigem Handpuppenensemble, davor eine veritable Stofftiermenagerie mit Bären, Hunden, Elefanten, Affen, Pferden, Vögeln.

Immer wieder begegnen ihm später Menschen, die ihn auf die gemeinsame Zeit in Dresden ansprechen. Ein Klassenkamerad ist der spätere Verleger Rolf Heyne; als der ihm im Erwachsenenalter ein Foto zeigt, auf dem sie gemeinsam mit Heynes Hund abgebildet sind, kann Böhm den Namen des Tieres, im Gegensatz zu dem mancher Menschen aus dieser Zeit, sofort nennen. Hunde gehören zu Böhms frühen Lebenserinnerungen, meistens sind es Schäferhunde, die praktischerweise alle Rex benannt wurden. Auch er selbst wird sich später Tiere halten, ebenfalls Hunde, gelegentlich auch Katzen.

Kulinarische Erinnerungen prägen Böhms Dresdener Kindheit, vor allem die an die zweirädrigen Karren der Händler mit dem Lößnitzer Spargel darauf, den er gern isst. Der Metzger kommt ebenfalls ins Haus, was einmal zur Folge hat, dass sich Thea Böhm am Monatsende über eine ungewöhnlich hohe Rechnung wundert. An Fleisch wird, mit Ausnahme des traditionellen sonntäglichen Schweinebratens, nämlich gespart, genauere Nachforschungen ergeben, dass jemand aus der Familie ungewöhnlich viel weißen Speck geordert und konsumiert hat – und dieser Jemand war der kleine Karlheinz.

Bezeichnenderweise sind die Erinnerungen von Karlheinz Böhm an die Dresdner Zeit primär an das ihn umsorgende Dienstpersonal gebunden und weniger an seine Eltern. Er erinnert sich an das Kindermädchen Erna, mit ihren langen, blonden, kranzförmig um den Kopf gebundenen Zöpfen, deren hohe, schlanke Gestalt ihm als Kind riesenhaft erscheint. Gegen ihre autoritäre Erziehung lehnt er sich oft auf, läuft dann protestierend zur Mutter, die daraufhin eine Vermittlerrolle einnimmt. Mit zunehmendem Alter wird er vermuten, sich damals weniger gegen Ernas autoritäre Erziehung, sondern vielmehr dagegen gewehrt zu haben, dass die Eltern die Erziehungsfunktion zum Großteil abgegeben hatten: »Ich wollte Eltern haben, eine Mutter, einen Vater, die für mich da sind.«32 Seine Mutter, wirft er ihr später vor, war mehr an der künstlerischen Entwicklung ihres Mannes interessiert als an ihrem kleinen Sohn. Die Momente, da sie sich ihm widmet, bleiben kostbar. Er liebt es, wenn sie für ihn Kinderlieder singt oder Richard Strauss’ Komposition Morgen, findet ihren Sopran später immerhin auf Tonträgern konserviert. Besonders ihre Interpretation von Ein Männlein steht im Walde rührt ihn, er identifiziert sich in seiner kindlichen Phantasie mit dem einsamen kleinen Geschöpf, bis ihm dabei die Tränen kommen.

Der Vater pocht auf Disziplin, möchte zuhause Stille haben, nach oder vor einem Tag voller Kämpfe gegen Dissonanzen im Orchestergraben. Er habe stets ein wenig Angst vor jungen Menschen gehabt, wird ein Mitglied der Wiener Philharmoniker Jahre später über Karl Böhm sagen, vor ihrer Unfertigkeit und der damit einhergehenden Unwägbarkeit, ob sie den orchestralen Klangkörper zuverlässig ergänzen könnten. Diese Angst vor der jugendlichen Unberechenbarkeit mag sich auch gelegentlich im Privaten widergespiegelt haben. Karl Böhm fordert in seinem Hause Ruhe – und das, wie sein Sohn schmerzlich feststellt, »um ungestört arbeiten zu können. Es mußte Totenstille sein. Es durfte nicht gespielt werden, es durfte keine Musik gemacht werden, ich durfte nicht Klavier üben, ich durfte überhaupt nichts tun.«33 Zwar sei er als Kind nie geschlagen, aber von der Mutter eingeschüchtert worden, die Ruhe des Vaters unter keinen Umständen zu stören.

Karl Böhm spricht mit dem Sohn im österreichischen Dialekt, den er nie ablegt, vermischt dabei oft gehobene Vergleiche mit trivialen Formulierungen. Auch Zärtlichkeit hat im streng genormten Tagesablauf ihren Platz, doch nur gelegentlich und zumeist nach erfolgter Aufforderung von väterlicher Seite: »Brille ab, schmusen!«34