Romy spielt sich frei - Günter Krenn - E-Book

Romy spielt sich frei E-Book

Günter Krenn

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Beschreibung

Als süße junge Kaiserin „Sissi“ erobert Romy Schneider ein Millionenpublikum. Der große Erfolg ist jedoch nicht alles – sie möchte ihren eigenen Weg gehen, sich lösen vom Mief der deutschen Nachkriegszeit und von der Schauspieltradition der Familie, mit der sie in Gestalt von Mutter Magda Schneider und Grossmutter Rosa Albach-Retty alltäglich konfrontiert ist. Sie stellt Fragen, verurteilt manches scharf und arbeitet sich bis zu ihrem frühen Tod an ihrer Herkunft ab. Ihre berührende Lebensgeschichte spiegelt so auch die Geschichte der Familie und ihrer starken Frauen wider: Sie erzählt vom Ringen um Selbstbestimmung und Unabhängigkeit im Theaterund Filmgeschäft, von der Vereinnahmung durch Politik und Medien, von zweifelhaften Verstrickungen und Irrwegen in turbulenter Zeit.

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Während der Arbeit an Sissi. 1955. Drehpause einer „Kaiserin“.

Im Jahr 2008 traf ich im sächsischen Zwickau bei der Präsentation meiner Romy-Schneider-Biografie eine Frau, die sich mit „Ich bin eine Kollegin von Romy“ vorstellte. Auf Nachfrage erklärte sie mir: „Ich habe auch ein Kind verloren.“ Ihr und allen anderen „Kolleginnen und Kollegen von Romy“ sei dieses Buch zugeeignet.

Günter Krenn

Der Anfang vom Ende

Rosa

Wanderjahre im 19. Jahrhundert

Eine Dynastie entsteht

Ihre Vorbilder: Clara Schumann und Josef Kainz

Ihr Mann: Karl Walter Albach

Ihr Titel: Hofschauspielerin

Ihr Sohn: Wolfgang Helmuth Walter

Magda

Vom Büro zur Bühne

Von der Bühne ins Studio

Filmstar(s) im Dritten Reich

Zwischen Selbstkritik und Eigenlob

23. September 1938: Romy wird geboren

12. März 1945: Die Stunde null

Das Imperium schlägt zu

Romy

Von der Schule ins Studio

Am Weg zum Klischee

Die dreiteilige Kaiserin

Mit Alain Delon in die Freiheit

Die Hofschauspielerin tritt ab

Der alternde Wolf bleibt

Die Stiefmutter im Hintergrund

Als Star zur Hölle und zurück

Gentleman Harald Meyen und Sohn David treten auf

Der Vater geht

Comeback mit Alain und das liebe Geld

Ihre wilden 1970er und Daniel Biasini

Aus dem Alltag einer alten Dame: Rosa

Die dunklen Jahre einer Dynastie

Trauerjahre einer Schauspielerin

Das Ende

Nach Romy

Die ewige Mutter!

Die ewige Tochter?

Die Zeiten ändern sich …

Anmerkungen

Dank

Bildnachweis

Impressum

Mit Ernst Marischka am Set zu Sissi II. 1956. Noch isst Romy ihrem Regisseur aus der Hand.

Szene aus L’Enfer. 1964. Sieben Jahre nach dem letzten Sissi-Film: Eine neue Schauspielerin „entsteht“.

Mit ihrer Tochter Sarah Biasini. 1981. Ein Schnappschuss, wie er scheinbar nur dem Fotografen Robert Lebeck gelingen konnte.

Es ist etwas Eigenartiges um unsere Erinnerungen […] Selten kommen sie, wenn man sie haben will, wenn man sie herbeigesehnt. Meistens schlagen sie wie Blitze in unsere Gedanken ein, wecken Gefühle, die uns einmal sehr glücklich oder traurig gemacht haben. […] Manchmal, wenn ich nachts nicht schlafen kann, stelle ich mir das Leben als riesiges Kaleidoskop vor, das man nur ein bisschen schütteln muss, und schon purzeln die Erinnerungsbilder kunterbunt durcheinander. Es ist ein Spiel zwischen Traum und Wirklichkeit. Zwischen Wehmut und Glück. Zwischen Resignation und Faszination.

Rosa Albach-Retty, 1978

Ich träume oft von Romy. Ich rede jeden Tag mit ihr. Sie ist für mich nicht tot. Sie ist da. Ich warte manchmal sogar auf ihren nächsten Anruf. Da wir nicht zusammenlebten, hat sich für mich nichts geändert. Gleich wird sie anrufen […] so, wie es immer war.

Magda Schneider, 1990

Es gibt nur ein Leben, und ich will es leben.

Romy Schneider, 1977

Die Einzige, die mich unter Druck setzt, bin ich selber. Ich versuche, stets mein Bestes zu geben. […] Wenn man mich mit meiner Mutter vergleicht, heißt das ja auch, dass sie in den Herzen und Gedanken der Menschen noch immer lebendig ist.

Sarah Biasini, 2021

Rosa Albach-Retty. 1979. Wenn ihr etwas schwerfällt, kann sie seit 1974 sagen: „Man ist ja keine 100 mehr …“

Es hat jede Affär’ ihren Hintergrund, ihr Milieu: Die Kulissen stimmen unsagbar gut zu dem, was gespielt wird.

Heimito von Doderer, Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre, 1951

Der Anfang vom Ende

Sie wird nicht zur Beerdigung ihrer Großmutter gehen.

Romy Schneiders Flugticket von Paris nach Wien ist erst für ein paar Tage nach dem Ereignis gebucht, damit sie allein am Grab Abschied nehmen kann. Ihre Anwesenheit beim Festakt, das weiß sie, würde zu viele Paparazzi anlocken, die sich weniger für ihre Anteilnahme als für ihr nahezu öffentliches Privatleben interessieren und damit Romy und nicht Rosa zum Zentrum des Anlasses machen: „Ich will nicht im Mittelpunkt dieser Trauerfeier stehen, die durch mein Erscheinen ihre eigentliche Bedeutung verlieren würde. Das hätte Großmama nun wirklich nicht verdient.“1 Erst ein Jahr zuvor war das Begräbnis ihres Exmannes nach dessen Selbstmord ein willkommener Anlass dafür, Jagd auf Fotos der trauernden Romy zu machen. Die Augen hinter großen Sonnenbrillen nur notdürftig verborgen, sich an einer Zigarette und ihrem Handgepäck festhaltend, navigiert sie sich wie per Autopilot gesteuert durch ein auf sie eröffnetes Blitzlichtgewitter. Mit ihren verweinten Augen lässt sich mittlerweile gutes Geld verdienen – und der Höhepunkt dieser Konjunktur, ihr Horrorjahr 1981, steht noch bevor. Beruflich befindet sich Romy Schneider in jener Zeit zwischen zwei Filmarbeiten und kurz vor einem körperlichen Zusammenbruch, ausgelöst durch zu viel Arbeit und eine ungesunde Kombination aus Alkohol und Medikamenten.

Beerdigungen machen ihr Angst, wie das bei den meisten Menschen der Fall ist. Beerdigungen zwingen dazu, Bilanz zu ziehen. Man sieht sich ungewollt mit der Endlichkeit des eigenen Lebens konfrontiert und muss lernen, damit umzugehen, dass man einen anderen Menschen nie wieder sehen wird. Das Ereignis bedingt ein Familientreffen, so freiwillig oder erzwungen wie bei anderen großen, unvermeidlichen Anlässen. Die Verwandtschaft demonstriert Geschlossenheit, Verbundenheit. Die geweinten Tränen sind zumeist echt, die gesprochenen Worte salbungsvoll, würdigend und pathetisch. Die Hinterbliebenen können heimlich Rechenspiele veranstalten, wer von ihnen der oder die Nächste sein könnte, je nach statistischer Wahrscheinlichkeit oder Gutdünken.

Begräbnisse bringen auch mit sich, dass sich eine Familie wieder mit sich selbst beschäftigt, sich Fragen stellt, wer der oder die Verstorbene war, wer man selbst ist. Es ist also ein guter Zeitpunkt, sich einer bestimmten Familie zu nähern. Besonders schmerzhaft sind solche Abschiede bei Menschen, die in jungen Jahren aus dem Leben gerissen werden – und die Leserschaft wird im Laufe dieser Geschichte an einige, allzu früh ausgehobene Gräber geführt werden. In diesem Falle, wir schreiben Mittwoch, den 3. September 1980, kann man in den zahlreichen Nachrufen auf die Verstorbene jedoch vom stolzen Alter von 105 Jahren lesen. Ort der Handlung ist die Ehrengrab-Abteilung des Wiener Zentralfriedhofs, die, an der von der Kirche zum heiligen Karl Borromäus abgehenden Hauptallee angesiedelt, eher einem Freilichtmuseum denn einer Nekropole gleicht. Der größte Friedhof Österreichs scheint zu wissen, was er der Fremdenverkehrswirtschaft schuldig ist. Zahlreiche Touristinnen und Touristen besichtigen die dort aufgestellten steinernen Visitenkarten für die Ewigkeit, fotografieren die Ruhestätten gefeierter Musiker wie Ludwig van Beethoven, Johannes Brahms, Johann Strauß, Hugo Wolf, Arnold Schönberg, aber auch von bekannten Schauspielern wie Hans Moser, Theo Lingen, Werner Krauss, Albin Skoda, dem Regisseur Georg Wilhelm Pabst. Die heute zu Grabe Getragene ist demnach prominent, viele der deswegen Anwesenden tragen ebenfalls bekannte Namen.

Im Vordergrund Trude Marlen, Magda Schneider und Wolfdieter Albach bei Rosas Begräbnis auf dem Wiener Zentralfriedhof. 3. 9. 1980. Die Grande Dame einer Schauspieldynastie ist nicht mehr.

„Tempus fugit – Die Zeit flieht“, das könnten aufmerksame Betrachter anstelle von Ziffern als Buchstabenfolge an der Uhr der berühmten Jugendstilkirche im Hintergrund der Begräbnisszene ablesen, und doch scheint sich Romy Schneiders Großmutter, wegen der man sich heute hier eingefunden hat, dieser Tatsache lange erfolgreich widersetzt zu haben. „Meine Großmutter hat noch mit 80 Theater gespielt. Ich möchte nicht so wie sie arbeiten und auch nicht 105 Jahre alt werden“2, wünscht sich Romy zwei Jahre später in ihrem letzten Interview, das bereits postum erscheint. Die verstorbene Greisin hieß Rosa Albach-Retty, war Burgschauspielerin, bis 1918 sogar k. u. k. Hofschauspielerin. Ihr biblisches Alter brachte es mit sich, dass sie nicht nur Kolleginnen und Kollegen, sondern schon manchem Familienmitglied ins Grab hinterher blicken musste. „Mit der habe ich noch gespielt“, das wird ebenso im Laufe der Jahre zu einer Phrase ihrer Erzählungen wie die erstaunte Feststellung, sie überlebt zu haben. „Am Ende ihres Lebens“, erzählt ihre Urenkelin Patrizia Albach über Rosa, „hat sie immer wieder zu meinem Vater, der Arzt ist, gemeint, 105 Jahre seien genug. Sie sei allein, alle ihre Bekannten und Freunde tot, ob er ihr nicht etwas geben könne, damit es schneller geht […] Das hat ihn einerseits belastet, andererseits konnte er sie mit seinem Humor wieder umstimmen.“3 Rosas Argumente zu entkräften ist freilich unmöglich. Ihr Mann starb 1952, ihr einziger Sohn, Wolf Albach-Retty, Romys geliebter Vater, 1967. Nur sie selbst ging aufrecht, diszipliniert und fast unverwundbar anmutend durch die sich unbarmherzig wandelnde und letztlich doch entfliehende Zeit. Ihre Villa in Wien hat sie schon vor Längerem aufgegeben, sie lebt seit Jahren in einem Künstlerheim in Baden. Die nur wenige Kilometer entfernte Bundeshauptstadt scheint ihr seither so fern wie New York.

Ihre Eltern sind schon lange tot, haben nur die Anfänge der außergewöhnlichen Dynastie erlebt, die sie mitbegründet haben. Dennoch ist der nun Verblichenen ihre Mutter vor fast sechs Jahren erschienen: an ihrem 100. Geburtstag am 26. Dezember 1974. Eine Szene, die sich in ihrer Kindheit abgespielt hat, kommt ihr an diesem Tag plötzlich in den Sinn. Gegen die ihr aufgezwungene Zucht und Ordnung rebellierend, fläzte sie sich als Dreizehnjährige neben ihren Vater mit übergeschlagenen Beinen zuhause in einen Sessel. Das war zu jener Zeit eine für ein wohlerzogenes Mädchen verbotene Haltung, denn eine Dame saß mit geradem Rücken an der Stuhlkante, winkelte ihre Beine schräg zur Seite ab, wobei Knie und Knöchel stets schicklich beieinander blieben. Die dazukommende Mutter herrscht ihr Kind daher an, sich nicht so „unanständig“ zu benehmen – die Jugendliche befolgt pikiert die Anordnung. Aus unbegreiflichen Gründen steht der Hundertjährigen die lang zurückliegende, fast vergessene Begebenheit an diesem düsteren Wintertag wieder vor Augen. Vielleicht weil sie den Anblick ihrer früh verstorbenen Mutter auf deren Totenbett im Jahr 1898 für immer als eine sie traurig stimmende Erinnerung in sich trägt, mit ihm alles verloren schien, was an ihrer Kindheit schön, heiter und unbeschwert war. An diesem runden Geburtstag kann sie die Mutter nun wieder deutlich wahrnehmen, spüren, riechen, hören, bittet sie deshalb laut um Verzeihung, streckt eine Hand nach der ihren aus. Jetzt, fast neunzig Jahre später, löst sich alles in Versöhnung auf, nimmt die Mutter die Entschuldigung an, lächelt ihr verständnisvoll und alles Ungemach der Vergangenheit aufhebend aus der Ewigkeit zu. Die Tochter fühlt eine vertraute Hand zärtlich über ihr Haar streichen, so wie damals, in Berlin, im Jahr 1887 …

Rosa

Rosa Clara Franziska Helene

Der Schauspieler soll sich nicht alltäglich machen. Ein gewisser Nimbus echter, weihevoller Künstlerschaft, die unnahbar ist für das Triviale und Gemeine, soll ihn auch im profanen Leben auszeichnen.

Ernst von Possart,Lehrgang des Schauspielers, 1901

Romy in einem Kostüm für Sissi. 1955.

Rosa als Rita in Ludwig Fuldas Talisman am Deutschen Theater in Berlin. 1891. Romy hat ihre Großmutter immer sehr verehrt.

Rosa. 1894. Eine sogenannte Profil-perdu-Ansicht mit vorbildlich aufrechter Körperhaltung, aufgenommen im Atelier Tietze in Bad Elster.

Wanderjahre im 19. Jahrhundert

Die ersten beiden außerfamiliären Menschen, die Rosa in ihren Lebenserinnerungen erwähnt, sind Generalfeldmarschall Helmuth von Moltke und Otto von Bismarck. Beiden begegnet sie Ende des 19. Jahrhunderts in Berlin. Und es ist vielleicht für manche ihre künftigen politischen Entscheidungen bezeichnend, dass sie ihr historiografisches Koordinatensystem mit zwei Zentralgestalten der deutschen Reichsgründung von 1871 beginnt. Beide hatten maßgeblichen Anteil an Preußens politischer Vormachtstellung nach den deutschen Einigungskriegen, als Siege gegen Dänemark, Österreich und Frankreich das Staatsgebiet sowie auch das deutsche Selbstbewusstsein erheblich vergrößerten. „Den großen Moltke“, damals 82 Jahre alt, trifft sie im Alter von acht Jahren, das ist 1882, im Frühling bei einem Spaziergang an der Hand ihrer Mutter im Berliner Tiergarten. Die bleiche, hagere Gestalt in Schwarz, deren Körpergröße ein Zylinderhut, im Volksmund „Angströhre“ genannt, noch nach obenhin verzerrt, muss der Kleinen riesenhaft erschienen sein. Als sie den Blick seiner stahlblauen Augen wohlwollend auf sich fühlt, knickst sie artig, er lobt ihr Aussehen und ihre Manieren, lüftet den Zylinder und fragt nach ihrem Namen, den sie ihm verrät: Rosa Retty. Dafür erntet sie von ihm den mit einer metallisch schnarrenden Stimme gesprochenen Kommentar: „Rosa. Das passt zu dir!“1 Die obligatorisch folgende Frage, ob sie denn auch ein braves Kind sei, wird von der Mutter bejaht, worauf der Feldmarschall beiden Damen noch einmal seine Höflichkeit offeriert und Rosa mit dem Auftrag verlässt, dass es so bleiben möge.

Das zweite und letzte Treffen mit dem als „der große Schweiger“ Apostrophierten findet im Jahr 1890 im Rahmen eines Empfangs im Palais des Grafen Dönhoff statt, bei dessen Buffet Rosa, inzwischen 16 Jahre alt, mit den Töchtern des Hauses gerade eine Tasse Tee trinkt. Der mittlerweile 90-jährige Moltke, ein Freund der Familie, kommt aus dem Salon, wo er in einer Herrenrunde Whist gespielt hat. Er fragt sie nach ihrer Herkunft, ist froh, dass sie behütet aufwächst, und erzählt ihr von seiner entbehrungsreichen Jugendzeit in der Landkadetten-Akademie in Kopenhagen. Als besondere Leistung seinerseits führt er keine politischen Taten an, sondern den Bau von Brücken und Wasserleitungen an den Dardanellen, die er neben den Befestigungsanlagen dort entworfen hat. Die pompösen Trauerbekundungen nach Moltkes Tod im April 1891 sind die ersten, die Rosa im Gedächtnis bleiben, die ostentative Theatralik daran beeindruckt die Schauspielerin: Schwarze Stoffe verhängen die Gaslaternen der Prachtstraße Unter den Linden, sogar der Leierkastenmann am Oranienplatz im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg ändert sein Repertoire und besingt den „Heldengreis“, der die Einheit Deutschlands garantierte.

Den zweiten, für diese Epoche wichtigen Mann lernt Rosa ebenfalls im Palais Dönhoff in der Wilhelmstraße 63 kennen: Reichskanzler Otto von Bismarck, den sie im Vergleich zu Moltke als größer und dicker beschreibt, mit milchweißem, fast mädchenhaftem Teint und einer sehr hohen Stimme. Rosa, die später am Theater und beim Film erlebt, wie man dort Geschichte umgestaltet, wird feststellen, dass man den Reichskanzler im Film zwar äußerlich nachahmt, ihm aber ein sonores, männliches Timbre zuerkennt, denn: „Kein Regisseur hätte es damals gewagt, den ‚Eisernen Kanzler‘ im Falsett reden zu lassen.“2 Rosa gegenüber ist Bismarck Kavalier, würdigt ihre darstellerischen Fähigkeiten auf der Bühne, streicht sich dabei Erdbeermarmelade aufs Brot und trinkt genießerisch stark gesüßten Tee. Es macht Rosa ebenso stolz wie verlegen, dass der Kanzler sie zum Abschluss mit seinem Lorgnon wie ein naturkundliches Exponat inspiziert und, nachdem er die Stehbrille wieder abgenommen hat, charmant ihren zweifellos auf Fleiß basierenden Erfolg lobt. In dem Film Mädchen in Uniform wird Rosas Enkelin Romy im Jahr 1958, klein und eingeschüchtert wirkend, vor einem imposant an die Wand hinter ihr gepinseltem Zitat Bismarcks posieren: „Der Mensch ist nicht auf der Welt, um glücklich zu sein, sondern um seine Pflicht zu tun.“

Berlin erlebt Ende des 19. Jahrhunderts einen beispiellosen wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwung. Am 18. Januar 1871 wird es zur Reichshauptstadt proklamiert, die in den Kriegen eroberten Gebiete sowie die hohen Reparationszahlungen durch Frankreich ermöglichten eine Potenzierung der industriellen Kapazität und damit ökonomische Prosperität, weshalb sich die neue Metropole ständig vergrößert. Hatte die Stadt 1850 nur 300.000 Einwohner, sind es 1877 rund eine Million, die sich bis 1905 sogar noch verdoppelt. Die neue Hauptstadt wird zunehmend modernisiert, erhält eine effiziente Kanalisationsanlage, elektrische Straßenbeleuchtung und ein Telefonsystem.

Rosa Retty geht mit offenen Augen und gespitzten Ohren durch diese Zeit, sieht die Entwicklung des Kurfürstendamms von einem unwegsamen Karrenweg, bei dem man bei einem Spaziergang noch im Schlamm stecken bleiben konnte, zu einer Promenaden-Allee, hört, dass man im Juni 1884 die Fundamente für das Reichstagsgebäude aushebt. Sie erlebt den Verkehr einer modernen Stadt, wie sie ihn bislang nie kannte, hört bis in die Nacht hinein die Geräusche der Trillerpfeife des Kondukteurs in der von Pferden gezogenen Straßenbahn. Autos sieht man noch keine auf den Straßen, hier fahren Kutschen. Ein- und Zweispänner, die „Kremser“ mit einem von vier Eisenstangen getragenen Planen-Dach. Rosa sieht aber auch weniger luxuriöse Modelle, darunter die „Auswandererwagen“, die vom Schlesischen zum Anhalter Bahnhof fahren, oder Leichenwägen vierter Klasse, die nur bei Dunkelheit unterwegs sind, um ihre mit einer Decke kuvertierte Fracht in billigem Holz zu transportieren. In einem noblen Zweispänner begegnet ihr eines Mittags der 1871 inthronisierte Kaiser Wilhelm I. Da ihn andere Passanten ebenfalls erkennen, fährt der Monarch bald grüßend durch ein ihm zujubelndes Spalier. Rosa erweist ihm ihre Reverenz, wie sie es auch künftig mit Autoritäten halten wird.

Rosa Retty wird zwar eine begeisterte Berlinerin, doch ihre Geschichte beginnt in einer anderen, vierhundert Kilometer weit entfernten deutschen Stadt. Geboren wird sie als Rosa Clara Franziska Helene Retty am 26. Dezember 1874 im hessischen Hanau, wo ihre Eltern zu jener Zeit am Theater engagiert waren. „Im selben Jahr wie Hofmannsthal, zwei Jahre nach Grillparzers Tod“, stellt Hilde Spiel in ihrem Porträt Rosas 105 Jahre später fest.3 Ihr Vater Rudolf Wilhelm Albert Retty kommt 28 Jahre vor ihr am 20. Februar 1846 in Lübeck zur Welt, weil auch seine Eltern Schauspieler und dort im Engagement sind. Er ist 1874 ein vielbeschäftigter Bühnendarsteller, dessen Bariton im Sprech- wie im Musiktheater bis hin zu Opernrollen eingesetzt wird. An den Wochenenden schreibt er Feuilletons für Zeitungen und bearbeitet Stücke, um sie für Inszenierungen vorzubereiten, denn auch als Regisseur, eine erst Ende des 19. Jahrhunderts aufkommende und „Spielleiter“ genannte Profession, bewährt er sich. Seine Tochter wird sein Können später mit einem Begriff umschreiben, der zu jener Zeit noch gar nicht erfunden ist: „Allroundtalent“. Als Basislektüre schwört Rudolf Retty auf Ernst von Possarts 1901 erschienenen Lehrgang des Schauspielers, das auch für seine Tochter zu einer wichtigen Anleitung für ihren Beruf wird. In Rosas Erinnerung ist der Vater ein Romantiker, bevorzugt bei der Wohnungssuche Innenstadtatmosphäre, logiert wenn möglich in alten Barockhäusern in Kirchennähe. Vielleicht leitet ihn als Wanderschauspieler dabei die Sehnsucht nach bürgerlicher Atmosphäre im Stadtzentrum, als sei er ein alteingesessener Citoyen. Die Tochter genießt die gemeinsamen Ausflüge an Nachmittagen, seine Erklärungen zu Flora und Fauna. Was sie von ihm lernt, ist vor allem, mit wenig zufrieden zu sein, seine Maxime lautet: „Je weniger du vom Leben verlangst, desto mehr gibt es dir!“4

Rosas Mutter, Maria Catharina Retty, geborene Schaefer, ist 1874 ebenfalls als Schauspielerin in Hanau engagiert. Sie ist ausgebildete Opernsängerin, singt jedoch nach der Geburt ihrer Tochter mit ihrem Koloratursopran nur mehr für diese. Rosas Lieblingsspeise ist Danziger Kaffeebrot und ihr Essverhalten irritiert die Familie. Schon als Kind isst sie lieber die dick mit Butter bestrichene Brotrinde und lässt das Innere übrig, sehr zum Ärger ihrer Mutter. Diese ist fleißig, führt detaillierte, in Wachstuch gehüllte, blau karierte Haushaltsbücher, um das Familienbudget sparsam zu verwalten. Ihre Kochkunst schließt neben der gutbürgerlichen deutschen auch die niederländische Küche ein, denn ihre Mutter Catharina van Meerten stammt aus Lommel im Brabant, weshalb Fleisch und Wurst im Hause Retty meist mit scharfem Senf gewürzt werden.

In Rosas Erinnerung hat sich die Mutter ihre Schönheit ihr ganzes kurzes Leben lang bewahrt: große, dunkle Augen in einem anmutigen Gesicht mit schmaler Nase und vollen Lippen, ausgestattet mit einer guten Figur. Ihren das Gegenüber fixierenden Blick verdankt sie einem Trachom, einer bakteriellen Augenentzündung, an der sie in ihrer Jugend leidet, erst nach ein paar kostspieligen Operationen und längerer Nachbehandlung kann die Gefahr einer Erblindung abgewehrt werden. Jahrelang muss die Tochter danach der Mutter Wimpern mit einer Pinzette auszupfen, weil die ruhige Hand des Kindes ihr einen teuren Arztbesuch erspart.

Von ihrem Vater erhält „Roselchen“ mit sechs Jahren eines der schönsten Geschenke ihres Lebens: einen Kanarienvogel namens Hansi, dessen freizügige Haltung bei zumeist offenem Käfig sich eine Katze zunutze macht und sein Leben auf rüde Art beendet. Rosa lernt dadurch früh unwiederbringlichen Verlust kennen. Die Mutter versteht ihren Schmerz, schafft es unter Wahrung ihrer sparsamen Prinzipien jedoch, der Tochter einen kompletten Satz an Trauerkleidung auszureden – sie kauft ihr nur eine Schürze und eine Halskrause in Schwarz. Als Rosa 1889, nachdem bekannt wird, dass sich der österreichische Thronfolger, Kronprinz Rudolf, in Mayerling erschossen hat, als Vierzehnjährige erneut einen Trauerflor verlangt, weil sie und ihren Freundinnen Fotografien des Adeligen sammeln, wie es spätere Generationen mit denen von Filmstars tun werden, geht dies der Mutter dann doch zu weit. Als Ersatz für Hansi bekommt Rosa einen schwarzen Dackel geschenkt. Und von diesem Zeitpunkt an werden vierbeinige Begleiter aus der Geschichte der Rettys und ihrer Nachfahren nicht mehr wegzudenken sein.

Woran Rosa sich früh gewöhnen muss, sind Ortswechsel. Noch während seiner zweiten Spielzeit in Hanau meldet sich Rudolf Retty am 2. April 1875 mit Ehefrau und Tochter nach Gießen ab. Der Vater nimmt Sommer- und Wintergastspiele an, weshalb Rosa immer wieder die Schule wechseln muss und später die Sesshaftigkeit umso mehr schätzen lernt. Immer wieder weint das Kind, weil es Abschied nehmen muss von Freunden, einer Umgebung, in die es sich eingelebt hat, während das Familiengeschirr, die Bücher und die Kleidung wieder in Reisekoffern verstaut werden. Weil Rosa als Kind an Blutarmut leidet, gastiert ihr Vater im Sommer mit Vorliebe in der Nähe von Kurorten an der Ostsee, darunter in seiner Heimatstadt Lübeck, in Heringsdorf oder Stettin, denn die Ärzte hatten dem Kind zur Kur Meeresluft empfohlen.

Rosa als bereits populäre Schauspielerin. 1890er Jahre. Das Porträt stammt von dem Hof-Fotografen Wilhelm Höffert aus Berlin. Ein Rollenfach springt gleichsam aus dem Bild.

Im Jahr von Rosas Geburt wohnten die Rettys in Hanau am Paradeplatz 17 (heute: Am Freiheitsplatz). Rosas Taufe wird im Taufbuch der evangelisch-lutherischen Johanneskirche am 24. Januar 1875 verzeichnet. Als Paten wurden eingetragen: Clara Maria Johanna Berger verwitwete Retty, die Großmutter des Kindes, sowie die Schauspielerin Helene Katharine Maria Schüle. Seinen Rufnamen erhält der Täufling nach der Schwester seiner Mutter, Rosa Köth. Rosas Großmutter Clara wird als Schauspielerin aus Königsberg mit zwei Kindern bezeichnet. Auch mütterlicherseits gibt es Verbindungen zum Schauspielerberuf. Rosas Großvater Carl Ludwig Schaefer war als Student Mitglied einer fahrenden Schauspieltruppe und lernte bei einem Gastspiel im belgischen Lommel die Tochter des Stadthauptmanns kennen, die um 1813 geborene Catharina Margareta Huberta van Meerten, ein Kind aus einer von dessen fünf Ehen. Da dieser sich weigert, seine Tochter mit einem Schauspieler zu vermählen, fliehen die beiden aus der Stadt – und heiraten ohne seine Einwilligung. Ein frühes Dokument dafür, dass zahlreiche Damen der hier erzählten Familiengeschichte dazu neigen werden, in entscheidenden Phasen ihres Lebens eigene Entscheidungen zu treffen. Wir wissen wenig über Catharina van Meerten, aber wir dürfen bei ähnlich verwegenen Entscheidungen ihrer Nachfahrinnen ihr verständnisvolles Lächeln voraussetzen.

In Homburg kommt schließlich am 24. September 1851 Rosas Mutter zur Welt, die mit 17 Jahren in einer Opernaufführung erstmals Bühnenluft schnuppert und am 30. Oktober 1874 mit 23 Jahren in Frankfurt/Main Rudolf Retty heiratet. Geboren wurde der zwar in Lübeck, seine Vorfahren lebten ebenfalls an der Ostsee, jedoch im Südosten der Halbinsel Samland, in Königsberg. Die Stadt wurde 1946 zusammen mit dem Großteil Ostpreußens der Russischen Sowjetrepublik eingegliedert und in Kaliningrad umbenannt. Große und identitätsstiftende Teile der für unsere Geschichte relevanten historischen Gebäude wurden im Zweiten Weltkrieg zerstört und nicht wieder aufgebaut. Nur auf kolorierten Lithografien und alten Fotografien hat sich der unprätentiöse Charme der ehemals Königlichen Barockstadt mit ihren im Stil der Backsteingotik erbauten Kirchtürmen erhalten.

Eine Dynastie entsteht

Am 11. April 1852, nachmittags gegen 13 Uhr, ertrinkt im Königsberg durchziehenden Fluss Pregel ein Mann, dessen Alter im Totenbuch der Stadt auf 62 Jahre geschätzt wird. Er heißt Gottlieb Adam Adolph Retty.5 Sein Nachname findet sich in mehreren Varianten geschrieben, etwa auch Prettÿ oder Rettÿ. Geboren wurde er am 8. Oktober 1790 im etwa 120 Kilometer entfernten Rastenburg (heute: Kętrzyn/Polen). Zu seinen Lebzeiten erreichte das Königreich Preußen unter Friedrich Wilhelm II. (1744–1797) seine größte Ausdehnung. Aus dem früheren Flickenteppich aus kleinen Fürstentümern war eine Großmacht geworden, die sich durch Kriege eine militärische Vormachtstellung in Mitteleuropa sicherte. Das machtpolitische Rückgrat war eine mustergültig aufgebaute Armee, in der aufgrund der allgemeinen Wehrpflicht auch Gottlieb Adam Adolph Retty Dienst tat. In den Jahren 1821 und 1822 war er Hautboist (Oboenbläser), ab 1823 Musikmeister im 1. Infanterie-Regiment der preußischen Armee, aus der er im Jahr 1832 als Invalide in Ehren entlassen wurde. Wann genau er die Stelle als Hof- und Schlossküster in der protestantischen Schlosskirche zu Königsberg einnahm, ist nicht überliefert, sicher ist nur, dass er sie bis zu seinem Tod innehatte. Es war eine gute und sichere Position, denn die Hauptstadt des Herzogtums Preußen hatte Anfang des 18. Jahrhunderts einen großen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt. Nach dem Zusammenschluss der Städte Altstadt, Kneiphof und Löbenicht gelangte Königsberg durch den Handel zu wirtschaftlichem Reichtum. Holländische und englische Handelsschiffe ankerten im Brackwasserbereich des Frischen Haffs vor der Pregelmündung und tauschten dort englische Fabrikate, Wein und Kolonialwaren gegen Naturprodukte ein, die von jüdischen Händlern aus dem benachbarten Polen geliefert wurden. Ganz in der Nähe dieses kommerziellen Umschlagplatzes am Hafen lag das Haus des Riemermeisters Johann Georg Kant, dessen viertes von insgesamt elf Kindern, Immanuel Kant, im April 1724 geboren wurde und einige der wichtigsten Werke der Philosophie verfassen sollte.

Der Hof- und Schlossküster Adam Adolph Retty wurde eine Woche nach seinem Ableben, am 18. April 1852, in Königsberg beerdigt, das geht aus den Unterlagen der Altstädtischen Kirche hervor. Das sind die ersten amtlich verbürgten Angaben zu einem Mitglied der Familie Retty. Wir kennen auch die Lebensdaten seiner Gemahlin Henriette Amalie, geborene Vogel (deren Nachname in anderen Dokumenten „Vogler“ geschrieben wird). Geboren im Jahr 1801, starb sie am 8. Mai 1849, also drei Jahre vor ihrem Mann, den Dokumenten nach um acht Uhr abends im Alter von 48 Jahren an „Abzehrung“, also Tuberkulose. Beerdigt wurde sie am 15. Mai 1849, geheiratet hatte sie Gottlieb Retty mit zwanzig Jahren am 9. Februar 1821 in Königsberg. In den Sterbedokumenten ist von acht Kindern die Rede, insgesamt wurden aber neun Geburten verzeichnet. Für den Fortgang dieser Geschichte am wichtigsten ist ihr Erstgeborener, Rosas Großvater Gottlob Adolph Herrmann Retty, geboren am 12. Dezember 1821, getauft am 4. Januar 1822 nach evangelischer Tradition.6

Rudolf Retty. 1894. Rosas geliebter Vater, den sie als Heldendarsteller, „père noble“, Regisseur und Autor bewunderte.

Mag man seinen Vater ob seiner musikalischen Tätigkeit schon in den Bereich der Künstler einreihen, so beginnt mit Gottlob Adolph Herrmann die Theatertradition der Rettys. Und sie fällt in eine künstlerisch interessante Epoche: Das deutsche Theater hatte sich im 18. Jahrhundert im Zeitalter der Aufklärung immer stärker gegen die absolutistischen Königs- und Fürstenhäuser gewendet, ein bisher ungekanntes Freiheitsstreben ausgelöst und sozialkritische Stoffe auf der Bühne populär gemacht. In einer berühmt gewordenen Rede betrachtete Friedrich Schiller 1784 die „Schaubühne“ als eine „moralische Anstalt“. Schauspielerpersönlichkeiten wie August Wilhelm Iffland (1759–1814), nach dem ein ab dem 20. Jahrhundert an außergewöhnliche Schauspieler vergebener Ring benannt ist, strebten Anfang des 19. Jahrhunderts nach einer realistischen Darstellung auf der Bühne. Die Folgen des Revolutionsjahres 1848 lösten einen Theaterboom aus. Nicht nur Metropolen wie Berlin und München errichteten neue Häuser, dazu kamen an die 150 Hof- und Stadttheater, an denen auch die Rettys künftig gastieren würden.

Wann und wie Gottlob Adolph Retty Schauspieler wurde, ist nicht belegt, auf jeden Fall heiratet er seine Frau, während er 1844 am Stadttheater im schlesischen Glogau (heute: Głogów/Polen) im Rollenfach „Jugendlicher Liebhaber und Naturbursche“ tätig ist. Seine Gattin, Mademoiselle Clara Maria Johanna, geborene Presch, übt als „Jugendliche Liebhaberin und Soubrette“ denselben Beruf aus. Geboren wurde sie am 20. November 1823 in Berlin-Brandenburg als uneheliche Tochter des königlichen Hofjägers Johann Gottfried Presch und dort auch am 27. November 1823 getauft.

1845 gehen Herr und Frau Retty als „Liebhaber bzw. Liebhaberin und Chormitglieder“ vom Theater Glogau ab und werden vom Stadttheater Lübeck engagiert. Eine Volkszählung registriert Adolph (24) und Clara Retty (21), die in jenem Jahr in der Glockengießerstraße in Lübeck wohnen, und gibt bei beiden als Geburtsort Berlin an, was jedoch nur bei Clara zutrifft. In Lübeck kommt im Februar 1846 Rosas Vater Rudolph zur Welt. Drei Jahre später wird am 4. Januar 1848 in Rendsburg/Schleswig-Holstein ein zweiter Sohn geboren: Johannes Mathias Richard Retty, Rosas Onkel. 1853 ist ein Wohnverhältnis der inzwischen vierköpfigen Familie in Mannheim/Baden belegt. Wie Gottlob Adolph Rettys weiteres Leben verlief, bleibt im Unklaren, doch zumindest einige Indizien lassen sich finden. Während Frau Retty ab dem Jahr 1854 nur mehr im Fach „Mütter, komische Mütter, komische Alte“ besetzt wird, brilliert Herr Retty im Bereich „Liebhaber und Bonvivants“ – und das offenbar nicht nur auf der Bühne. Spätestens seit dem Jahr 1858 findet sich an den Theatern, an denen er engagiert ist (Flensburg, Kiel, Hamburg, Bielefeld, Dortmund, Cleve, Freiburg im Breisgau), immer ein „Frl. Ernestine Schneider“ (der Nachname ist in dieser Familiengeschichte nicht ohne Ironie), das besetzt wird als „Erste sentimentale oder tragische Liebhaberin“ – und dies vermutlich auch im Leben von Herrn Retty.

Wann und wie sich das Ehepaar offiziell getrennt hat, ist ungewiss, bestätigt ist erst ein Eintrag im Hamburger Sterberegister mit der Nr. 1349/1885. Dort steht, dass der Schauspieler am 11. April 1885 im Alter von 63 Jahren in seiner Wohnung in Hamburg, Naß 3, um 9 Uhr vormittags verstarb, wie ein Heildiener „aus eigener Wissenschaft“ bezeugt. Gottlob Adolph war lutherischer Religion und wird im Amtsregister als „ledig“ geführt, doch solche Täuschungen der Behörden waren in jener Zeit nicht schwer zu bewerkstelligen. Als sein Sohn Rudolph seine bereits schwangere Catharina am 30. Oktober 1874 in Frankfurt/Main heiratet und im selben Jahr Rosa in Hanau geboren wird, führt das amtliche Register ihre Großmutter (elf Jahre zu früh) bereits als „verwitwet“. Am 24. Februar 1886 heiratet Clara Retty in Niederrad-und-Oberrad/Hessen ein zweites Mal. Ihr Ehemann, der Expedient und vormalige Schauspieler Carl Heinrich Louis von der Ahé, genannt Berger, wurde am 25. Februar 1818 in Dresden geboren.7

Von einer kuriosen Familien-Reliquie kann Rosa später nur mehr erzählen. Sie befand sich ihren Angaben nach in einem Kästchen mit persönlichen Dingen, einer seltsamen Zeitkapsel aus dem Besitz ihres Vaters. Darin sammelte er zwei Ochsenzähne, rostige Nägel, einen abgenutzten Federkiel, ein handbemaltes Schächtelchen und einen goldenen Siegelring. Die Geschichte um diesen Ring hat ihr der Vater einmal so erzählt: Er hatte einst ein Schreiben erhalten, wonach in Mittelitalien ein Schloss samt Park als Erbgut auf ihn warteten. Auf einen nachforschenden Brief hin stellt sich heraus, dass es sich um eine Ruine samt Grundstück handelte, die mehr Investitionen erfordert, als sie je an Gewinn eingebracht hätte, weshalb eine Verzichtserklärung leicht vonstattenging. Der Ring befindet sich angeblich seit Generationen in Familienbesitz, seine Geschichte geht zurück bis ins 16. Jahrhundert, als ein Mitglied einer italienischen Familie namens Ferretti nach Russland auswanderte und sich in St. Petersburg als Porträtmaler einen guten Ruf erwarb. Dort verliebte der Italiener sich in eine Ungarin, danach siedelten ihre Nachkommen auf österreichischem Hoheitsgebiet. Wann sich der Familienname von Ferretti in Retty umgewandelt habe, sei unklar. Ein Mann aus dem Geschlecht der Ferrettis, Kardinal Giovanni Maria Mastai-Ferretti, wurde 1846 zu Papst Pius IX. gewählt. In sein Pontifikat fallen die Verkündung zweier Dogmen: jenes der Unbefleckten Empfängnis Mariens und das der päpstlichen Unfehlbarkeit. Rosa benützt die Geschichte in ihrer Autobiografie, um ihre Enkeltochter Romy in ein Verwandtschaftsverhältnis zu dem Pontifex zu rücken, fragt aber schnippisch: „Glauben Sie, daß man das dem Papst antun soll?“8

Die Historie rund um den sagenhaften Ring und somit eine Verbindung Romy Schneiders zu einem illustren Kirchenfürsten ist historisch nicht belegbar, wohl aber natürlich zu Malern, die von Italien bis nach Russland wirkten. Auf der Suche nach den italienischen Spuren der Familie Retty landet man in dem Ort Laino, einer lombardischen Gemeinde in der Provinz Como. Ab dem Anfang des 17. Jahrhunderts ist hier eine Künstlerfamilie namens Retti dokumentiert, die Arbeiten in ganz Europa ausführten. Zu ihnen gehörte Andrea Retti (auch Reddi oder Reddy geschrieben, geboren um 1595 in Laino, gestorben nach 1635 in Wien), ein italienischer Architekt und Stuckateur, der den Umbau der Stiftskirche Klosterneuburg bei Wien mitgestaltete. Lorenzo Mattia Retti (auch Retty geschrieben, geboren 1664 in Laino, gestorben 1714 in Ludwigsburg) arbeitete als Stuckateur und Architekt in Polen. Leopoldo Retti (geschrieben auch als Leopold Retty, 1704–1751) war als Architekt in Süddeutschland tätig.9 Eine direkte Verbindung zu unserer Geschichte könnte ein Dokument im Geheimen Staatsarchiv Berlin beinhalten. Aus ihm geht hervor, dass die Erben des Malers Leopold Retty aus Rastenburg/ Ostpreußen Ansprüche auf den Nachlass eines Paul Wilhelm Retty in Laino erheben. Dem Ehepaar Leopold Retty und Dorothea Retty, geborene Krausin, in Rastenburg/Kętrzyn wurden Ende des 18. Jahrhunderts mindestens drei Kinder geboren. Es wäre möglich, dass eines davon Gottlieb Adam Adolf Retty war, der 1790 in Rastenburg zur Welt kam. Urkundlich belegen lässt es sich bis dato nicht, doch würde sich dadurch manches aus den Erzählungen Rosas erklären lassen.10

Rosa. 1890er Jahre. Solche Blicke müssen Schriftsteller wie Arthur Schnitzler inspiriert haben.

Ihre Vorbilder: Clara Schumann und Josef Kainz

Nach all den Ausführungen rund um die Theaterfamilie Retty ist es an der Zeit, wieder zu den Zentralpersonen dieser Geschichte zurückzukehren: zu Rosa und ihren Eltern. Im Herbst 1887 tritt Rudolph Retty nach vielen Jahren an Provinztheatern ein Engagement am Deutschen Theater in Berlin an, dessen Direktor Adolph L’Arronge ist. Der Spielplan setzt auf eine wohldosierte Mischung von Klassikern und volkstümlichen Stücken, dieses Konzept machte L’Arronge zum erfolgreichsten Theaterleiter des Wilhelminischen Zeitalters. In Berlin beziehen die Rettys eine Wohnung in der Woehlertstraße 19 im dritten Stock. Rosa besucht die Höhere Töchterschule und erhält Klavierunterricht. Noch vor Mathematik, Physik, Chemie, Französisch, Geschichte, Literaturgeschichte und Musik steht „Gutes Benehmen“ auf dem Lehrplan, das sich auch in vorbildlich aufrechter Körperhaltung zeigen musste. Diese wird ihr ein Leben lang erhalten bleiben.

Rosa hat zu jener Zeit nicht vor, nach dem Vorbild ihrer Eltern den Schauspielberuf zu ergreifen, sie möchte Pianistin werden. Ihr Vorbild ist Clara Schumann, die sie auf Empfehlung des Dirigenten Hans von Bülow spielen hört. Das Konzertprogramm bleibt der jungen Rosa nicht in Erinnerung, wohl aber Claras langes, schwarzes, von einem weißen Stehkragen abgeschlossenes Kleid sowie ihr samtener Kapotthut, dessen Schleifen unter dem Kinn der Pianistin zusammengebunden waren. Die theatrale Erscheinung der damals fast siebzigjährigen Pianistin beeindruckt Rosa mehr als ihre künstlerische Leistung, sodass sie am Ende sogar zu klatschen vergisst. Bereits mit vier Jahren gibt ihr die Mutter Klavierunterricht, später engagiert man dafür die Kapellmeister jener Theater, an denen der Vater engagiert ist, darunter ist der später als Dirigent berühmt gewordene Felix Weingartner. Diesen begeistert weniger ihr Spiel, sondern viel mehr ihre Gesangskunst – er rät ihr zu einer Karriere als Opernsängerin. Ob sie dafür begabt genug wäre, wird sie nie herausfinden, denn Adolph L’Arronge beordert sie für eine Statistenrolle mit wenig Text auf die Bühne, ein Befürworter dieser Tat ist ein Schauspieler, der in ihrem Leben eine bedeutende Rolle einnehmen wird: Josef Kainz.

Sein Name ist einer der wenigen, die von den Schauspielernamen jener Zeit noch im Gedächtnis mancher gespeichert ist. Nicht zuletzt durch die Tatsache, dass ein renommierter österreichischer Theaterpreis, die Kainz-Medaille, nach ihm benannt ist. Die erste davon wird im Jahr 1958 an Rosa verliehen. Josef Gottfried Ignaz Kainz wird hundert Jahre davor in Wieselburg, dem heute in Ungarn gelegenen Mosonmagyaróvár geboren, erhält in Wien Schauspielunterricht und gelangt nach Engagements in Marburg, Leipzig und Meiningen 1880 an das Nationaltheater in München. In der bayerischen Hauptstadt muss er mehrfach Solo-Vorstellungen für einen seiner größten Bewunderer geben: den sagenumwobenen König Ludwig II. von Bayern. Ab dem Jahr 1883 ist Kainz in Berlin tätig und spätestens sein Engagement dort macht ihn zu einem der gefragtesten Schauspieler seiner Zeit, der um seinen Wert weiß und sich daher entsprechende Gagen aushandelt, die er in seinen aufwändigen Lebensstil investiert. Er brilliert als Don Carlos, Romeo, Hamlet, Richard III. und in zahlreichen anderen Hauptrollen. Was ihn über andere erhob, war wohl ein absolut originärer Stil, bei dem sich wendiger Körpereinsatz mit sensibler Darstellung verband. Den Kult rund um seine Person vergrößerte auch der Umstand, dass es zahllose Fotos von ihm gab, die ihn in unterschiedlichsten Rollen zeigten und vom Publikum eifrig gesammelt wurden. Während vor ihm „Naturkünstler“ auf ihre Begabung setzten, etablierte er eine Neuerung im Schauspielberuf, wie Egon Friedell festhielt: „Kainz hat das Moment der Arbeit in seine Kunst eingeführt, das ihr bis dahin fremd war. […] Seine Mittel waren denen vieler anderer keineswegs von Natur aus überlegen; aber sie waren mit einer bis dahin unerhörten Kraft ausgebildet, verfeinert und beherrscht.“11

Rosa mit Josef Kainz in Franz Grillparzers Die Jüdin von Toledo. 1904. „Er spielte, fern von jeder Schablone, mit einer Natürlichkeit, die sensationell wirkte“, schwärmte Rosa über ihr schauspielerisches Vorbild.

Aushangzettel des k. u. k. Hofburgtheaters in Wien. 19. 10. 1907. Dort debütierte Rosa 1891 als „Einspringerin“, 1912 wird sie schließlich zur Hofschauspielerin ernannt.

Aus heutiger Sicht ist die Verklärung von Kainz nicht leicht nachvollziehbar. Der optische Eindruck wurde nie auf Film festgehalten, die erhaltenen Schallplatten klingen für heutige Ohren zu pathetisch. Tatsächlich sind wir nicht mehr gewohnt, jenes deklamatorische Singen in der Stimme als Kunstform zu akzeptieren, im Gegensatz zum Gesang in der Oper ist uns jener Sprechstil völlig fern. Heute muss Theatersprache „natürlicher“ klingen, egal, ob man ein modernes oder klassisches Stück spielt. Selbst Rosa konnte sich im Alter nicht mit den historischen Tondokumenten von Kainz anfreunden, fand, dass sie einen völlig falschen Eindruck vermitteln. Wenn es nach ihr ginge, betont sie, müssten alle Stimmaufnahmen von Kainz vernichtet werden.

Außer ihrem Vater, so hält Rosa fest, war Kainz ihr einziger Lehrer – und diese beiden scheinen ihr als Instruktoren genügt zu haben. Sie besucht an den Nachmittagen das Stern’sche Konservatorium, verbringt ihre Vormittage zumeist damit, bei Theaterproben zuzusehen und dem Schauspielpersonal bei einem Kaufmann Essen zu holen. Als eine Schauspielerin ausfällt, wird Rosa gebeten einzuspringen, der Inspizient stößt sie 1891 förmlich auf die Bühne – und sie spielt wider Erwarten völlig unbeschwert. Wie schon ihren Vater, so überzeugt Kainz Rosa darin, dass im Schauspielberuf nicht nur der Körper, sondern auch die Stimme täglich trainiert werden muss. Jeden Morgen übt der Mime selbst, einen Korken im Mund, schwierige Textpassagen möglichst deutlich auszusprechen. Rosa tut es ihm gleich und arbeitet so an ihrer später von Kritikern und Publikum gerühmten Sprechtechnik. Lehrer und Schülerin werden sich bei den Übungen nahekommen; mag sein, dass Rosa in ihren Erinnerungen ein paar Mal abblendet, wenn die Geschichte zu sehr ins Private gerät.

Rosa lernt schnell und leicht. Lampenfieber, wie es später ihren Sohn Wolf und ihre Enkelin Romy fast unüberwindlich plagt, hat sie nur vor der Vorstellung, mit dem ersten Schritt auf die Bühne ist es verflogen. Ihre Methode, sich völlig in ihre Bühnenfiguren zu versetzen, hat natürlich den Nachteil, dass sie sich oft nur schwer wieder davon lösen kann. Bei tragischen Stücken wie Ibsens Nora führt das später oft sogar zuhause zu Weinkrämpfen, die Beruhigungsspritzen zur Folge haben. Ihre Enkelin Romy wird dies bei mancher ihrer Filmrollen ebenfalls durchleiden müssen.

Ihr erstes Engagement hat Rosa am Deutschen Theater, sie gastiert aber auch am Berliner und dem Lessingtheater. Gastspielreisen führen sie bis nach Kopenhagen. Mit 18 Jahren lernt sie den damals 30-jährigen Gerhart Hauptmann kennen, erlebt seine Transformation von einem anfangs eher schüchternen, an Bleistiften saugenden Autor zu einem sich 1942, mit achtzig Jahren beinahe „goethisch“ gebenden Heros der deutschen Bühne. Sie extemporiert in seinem Stück Der Biberpelz – und betont, ihre Interpretation in späteren Regiebüchern wiedergefunden zu haben. Eine das Spiel Rosas lobende Rohrpostkarte Hauptmanns bewahrt ihr Vater viele Jahre auf. Rosa trifft auch den stets gut frisierten Henrik Ibsen, der sich erst die Haare zerrauft, bevor er sich dem Berliner Publikum mit bohemeartiger Mähne präsentiert. Ein anderer deutscher Dichter, Hermann Sudermann, schreibt ihr die Rolle der Rosl in seiner Schmetterlingsschlacht auf den Leib, von ihm bekommt sie nach der geglückten Premiere den ersten Handkuss ihres Lebens.

Rosas erster großer Schwarm wird der gebürtige Russe Kolja Solowetschik, es ist eine platonische, romantische Liebe. Das Theater, das weiß sie längst, wird sie nie aufgeben, für keinen Mann der Welt. Ihr winkt 1895 ein Engagement am Deutschen Volkstheater in Wien und sie will gerne in die Stadt übersiedeln, in der sich das legendäre Burgtheater befindet. Als sie sich im Lessingtheater verabschiedet, rufen ihr die Leute zu, sie möge bleiben. Sie beteuert, nicht „Adieu“ sagen zu wollen, sondern „Auf Wiedersehen“, obwohl Ersteres angebracht gewesen wäre.

Karl Albach. Um 1896. „Der hochgewachsene, fesche Offizier verbeugte sich und strahlte mir unverwandt in die Augen.“ Mit diesen Worten schildert Rosa die erste Begegnung mit ihrem späteren Ehemann.

Ihr Mann: Karl Walter Albach